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Inhalt 

Ein Fall für den Familienrat

Der magische Schrankexpress

Robins ohrenzwickende Erfindung

Von leuchtenden und unsichtbaren Haustieren

Mit Oma Luna in die Menschenwelt

Spuk um Mitternacht

Verbündete oder Feinde?

Oma Lunas Entscheidung

Wiedersehen mit Emily

Pech für Beppo!

Verschwunden im Nirgendwo!

Einbruch im Lehrerhaus

Ophelia in großer Not

Das Abenteuer beginnt

Das Tal der Täuschungen

Der fieseste Zauber von allen!

Zauberduell in der Bibliothek

»Sag das noch mal!« Tante Juna blickte ihre Nichte Maila Espenlaub ungläubig an.

Maila schluckte verzweifelt. Das, was sie zu beichten hatte, war nicht einfach. Sie hatte Mist gebaut. Großen Mist!

»Ich dachte, ich hätte Onkel Justus verhext«, erklärte sie mit tonloser Stimme. »Nach diesem grässlichen Streit letzten Samstag, weißt du.«

Tante Juna nickte langsam. »Den werde ich nie vergessen. Alles ist rausgekommen. Dass ich und du Hexen sind. Und du bist schuld! Ich konnte mein Geheimnis über so lange Zeit bewahren, Justus hat nichts von meinen Zauberkräften gemerkt. Aber kaum bist du zu Besuch, kommt alles ans Licht!« Sie holte tief Luft. »Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich nie zugelassen, dass du mich hier in der Menschenwelt besuchst. Du hättest in Großhexenfurt bleiben können – oder noch besser dort, wo der Pfeffer wächst!«

So wütend und gleichzeitig traurig hatte Maila ihre Tante noch nie erlebt. Sie war doch ihre Lieblingstante, und sie hatten sich bisher immer gut verstanden. Aber diese Zeit schien unwiederbringlich vorbei zu sein. Am liebsten wäre Maila im Erdboden versunken. Aber sie musste dieses Gespräch durchstehen. Es war sehr wichtig.

»Bitte hör mir zu«, bat Maila leise. »Ich war überzeugt, dass ich Onkel Justus aus Versehen in die Steinfigur verwandelt hatte, die auf dem roten Bollerwagen vor der Haustür steht. Ich hatte den Zauberstab aus dem Bad benutzt.« Sie konnte nicht weiterreden, weil ihre Stimme versagte. Maila hatte gewusst, dass der Zauberstab viel zu mächtig für sie war. Schließlich besaß ihre Familie in der Hexenwelt einen Zauberladen, und man hatte sie oft genug davor gewarnt, solche gefährlichen Dinge mit bloßen Händen zu berühren. Aber der Zauberstab, der in Tante Junas Badezimmer scheinbar als Stütze in einem Pflanzkübel gesteckt hatte, war eine zu große Versuchung gewesen. Maila hatte ihn herausgezogen, um zu verhindern, dass Onkel Justus im Zorn mit zwei Koffern das Haus verließ. Da hatte es einen gewaltigen Knall gegeben, und Maila war von einer unsichtbaren Macht gegen die Wand geschleudert worden. Als sie kurz darauf
wieder zu sich gekommen war, war Onkel Justus verschwunden gewesen. Stattdessen stand vor der Haustür plötzlich ein roter Bollerwagen mit einer steinernen Buddhafigur und zwei Geranientöpfen. Maila hatte fest geglaubt, dass dies ihr Werk gewesen war. Ihr schlechtes Gewissen war riesengroß.

Aber in Wahrheit verhielt es sich ganz anders. Und das war noch viel, viel schlimmer.

Maila räusperte sich. »Onkel Justus ist gar nicht der, für den wir ihn gehalten haben«, fuhr sie fort. »In Wirklichkeit heißt er Jupiter Siebenhorn und ist kein Mensch, sondern ein Hexer. Ein sehr starker Hexer, Tante Juna. Und«, sie musste Luft holen, denn das, was sie jetzt zu sagen hatte, war besonders schwer, »und er hat es auf dein Baby abgesehen.«

»Auf mein Baby?«, fragte Tante Juna erschrocken. Alles Blut wich aus ihrem Gesicht. Sie tastete nach ihrem Bauch, der sich vielversprechend wölbte. »Auf meine Knutschkugel

Knutschkugel war der Kosename für das ungeborene Baby. Weder Tante Juna noch Maila wusste, ob es ein Junge oder Mädchen war. Tante Juna hätte es leicht mit ihren Zauberkräften herausfinden können, aber sie wollte sich lieber überraschen lassen. Maila verstand das nicht. Sie hätte gerne Bescheid gewusst! Insgeheim tippte sie auf ein Mädchen.

Tante Juna hatte sich wieder gefangen. »Wer behauptet das?«, fragte sie. »Das sind ungeheuerliche Anschuldigungen, Maila! Ich will wissen, wie du auf so etwas Absurdes kommst!«

»Wir haben seit heute einen neuen Schulleiter, Luzian Morchelstiel«, berichtete Maila. »Er vertritt Onkel Justus. Ich habe ihn schon einmal in Großhexenfurt gesehen, als er in unseren kleinen Zauberladen gekommen ist. Oma Luna kennt Luzian von früher. Jetzt arbeitet er für den Magischen Kontrolldienst. Der Kontrolldienst ist hinter Onkel Justus her. Ihm wurden vor einigen Jahren zur Strafe seine magischen Kräfte entzogen, und er wurde in die Menschenwelt verbannt. Ich weiß nicht, was Onkel Justus Schlimmes angestellt hat, aber inzwischen konnte er seine Hexenkräfte wiedergewinnen. Er will unbedingt in die Hexenwelt zurückkehren! Um den Zauberbann zu überwinden, braucht er jedoch zusätzlich die Kraft durch ein Kind seines magischen Blutes.« Mailas Herz klopfte heftig. »Fiona, seine Tochter aus erster Ehe, hat keine Zauberkräfte. Aber dein Baby …« Sie beendete den Satz nicht, sondern starrte auf Tante Junas Bauch. Sie wünschte sich von Herzen, dass es ihr gelingen würde, das winzige ungeborene Wesen mit all ihren Kräften zu beschützen.

Tante Juna sagte minutenlang gar nichts. Sie saß in sich zusammengesunken da und blickte aus dem Fenster. Maila wagte nicht, ihr ins Gesicht zu schauen. Dann erhob sich Tante Juna schwerfällig aus ihrem Sessel und ächzte: »Ich brauche dringend ein Glas Wasser.« Sie schlurfte in die Küche, drehte den Wasserhahn auf und ließ Wasser in ein Glas laufen. Maila war ihr gefolgt. Sie hatte jetzt alles gesagt. Trotzdem blieb die Erleichterung aus. Was würde Tante Juna tun? Oder besser, was sollten sie beide tun? Maila war ratlos.

Tante Juna trank das Wasserglas in großen Zügen leer. Dann wandte sie sich um. »Wir müssen den Familienrat einberufen«, entschied sie. »Das ist eine Angelegenheit von äußerster Wichtigkeit.«

Maila sah mit Schrecken, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie trat auf ihre Tante zu und umarmte sie vorsichtig, um das Baby nicht zu sehr zu drücken.

»Ach, Maila«, schluchzte Tante Juna. »Ich habe Justus wirklich geliebt. Ich dachte, er ist der Mann, auf den ich immer gewartet habe. Ich war mir ganz sicher …« Sie schniefte.

»Luzian Morchelstiel sagte auch, dass Justus einen Liebeszauber über dich verhängt hat«, murmelte Maila. »Du musstest dich in ihn verlieben, ob du wolltest oder nicht. Du kannst nichts dafür.«

»Ein Liebeszauber?«, wiederholte Tante Juna fassungslos. Sie löste sich von Maila und schob das Mädchen eine Armlänge von sich. »Oh verflixt, das hätte ich wissen müssen! Wie konnte mir das nur passieren? Ich war immer überzeugt, so etwas zu merken … Wie furchtbar! Alles ist so furchtbar!«

Sie griff nach einem Taschentuch und putzte sich die Nase. Dann schien sie sich wieder etwas gefasst zu haben. Maila bewunderte ihre Tante dafür. Schließlich war soeben deren ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden.

»Das Wichtigste ist jetzt, dass meiner Knutschkugel nichts passiert«, sagte Tante Juna entschlossen. »Justus darf mein Baby nicht in die Finger bekommen. Niemals!«

Maila nickte. Damit war sie völlig einverstanden. Sie hatte Onkel Justus noch nie leiden können – lange, bevor sich diese schlimme Geschichte mit dem Zauberstab und der vermeintlichen Verwandlung ereignet hatte. Gut, manchmal hatte sich Onkel Justus bemüht, nett zu Maila zu sein, und ein- oder zweimal war es ihm sogar gelungen, sie mit schönen Worten einzulullen. Aber die meiste Zeit war er ein unerträgliches Ekel gewesen, und Maila hatte sich oft gefragt, warum Tante Juna ihn geheiratet hatte.

Jetzt war es sonnenklar: Er hatte Tante Juna verhext! Maila ballte ihre Hände zu Fäusten. In diesem Moment wünschte sie sich, Onkel Justus säße wirklich als Steinfigur im Bollerwagen. Da hätten sie und Tante Juna ihn wenigstens unter Kontrolle. Aber so, wie die Dinge lagen, war Onkel Justus irgendwohin verschwunden, und das bedeutete Gefahr. Er konnte jederzeit mit seinen Zauberkräften zuschlagen. Maila und Tante Juna mussten höllisch auf der Hut sein.

Als hätte Tante Juna Mailas Gedanken gelesen, sagte sie: »Wir müssen unbedingt einen Schutzzauber um dieses Haus ziehen. Außerdem brauchen wir beide ein starkes Amulett, damit Justus uns nicht verhexen kann.«

Ohne weitere Erklärung marschierte sie aus der Küche. Maila blieb nichts anderes übrig, als ihr in den ersten Stock hinaufzufolgen. Nach ein paar Treppenstufen musste Tante Juna innehalten. Sie schnaufte schwer. Maila wusste nicht, ob es an Tante Junas Schwangerschaft oder an dem eben erlittenen Schock lag. Plötzlich hatte Maila Angst um ihre Tante. Wäre jetzt doch Oma Luna hier! Oder wenigstens Mama oder Papa! Was sollte Maila tun, wenn ihre Tante vor ihren Augen zusammenklappte?

»Es geht schon wieder«, sagte Tante Juna und nahm die nächsten Stufen in Angriff, diesmal so langsam wie eine alte Frau. Endlich waren sie oben. Tante Juna steuerte auf eines der Zimmer zu, in denen sich all die Sachen befanden, die sie von ihren weiten Reisen mitgebracht hatte.

Das Zimmer war dunkel. Tante Juna musste erst die Fensterläden öffnen, damit das Tageslicht hereinfiel. Sonnenstrahlen tanzten auf den verstaubten Möbeln und Souvenirs. Maila sah sich um und fühlte sich von den vielen Dingen ringsum wie erschlagen.

»Du wunderst dich vielleicht, warum ich all den Krempel aufgehoben habe«, meinte Tante Juna. »Aber es sind viele Maglings dabei. Du wirst ihre Kraft spüren können, wenn du dich länger im Zimmer aufhältst.« Sie seufzte tief. »Die Tapeten, die Fenster und auch die Tür besitzen eine spezielle antimagische Beschichtung, damit nichts von der Zauberkraft nach draußen dringt. Niemand sollte mich hier in der Menschenwelt als Hexe erkennen, schon gar nicht Justus. Tja, alles umsonst.« Sie seufzte noch einmal.

Maila stand still und konzentrierte sich. Sie nahm nichts von der Magie wahr, nicht einmal das leiseste Kitzeln oder Vibrieren.

»Ich kann keine Zauberkräfte fühlen«, sagte sie enttäuscht.

»Ach … Dann sind die Maglings wohl im Tiefschlaf«, erklärte Tante Juna. »Aber keine Sorge, wir werden sie schon aufwecken.«

Maila nagte an ihrer Lippe. »Meinst du nicht, es ist besser, wenn wir so schnell wie möglich nach Großhexenfurt reisen und uns mit den anderen beraten?« Jetzt, da sie wusste, wie gefährlich Onkel Justus oder vielmehr Jupiter Siebenhorn war, würde sie bestimmt keine Nacht mehr ruhig schlafen. Und wer weiß, wie lange es dauerte, bis Tante Juna einen Schutzzauber für das Haus gewirkt hatte und bis jeder sein eigenes Amulett besaß. Angeblich war Tante Juna ja eine starke Hexe, aber die Schwangerschaft schien ihre magischen Kräfte zu beeinträchtigen.

Tante Juna drehte gerade eine hölzerne Schale in den Händen. Sie blickte auf und sah Maila an. »Vielleicht hast du recht. Wir sollten lieber keine Zeit verlieren. Pack deine Sachen zusammen. Wir nehmen auch den Phönix und den fliegenden Teppich mit. Zwar gefällt es mir nicht, dass wir noch längst nicht alle Maglings gefunden haben, die aus dem Laden deiner Eltern ausgebüxt sind. Aber dies ist ein Notfall.«

Maila dachte an die Explosion im Keller des Zauberladens. Vor ein paar Wochen war Oma Luna bei der Herstellung eines neuen magischen Likörs ein Fehler unterlaufen. Der Kupferkessel war ihr und Maila um die Ohren geflogen. Zum Glück war ihnen nichts passiert, aber etliche magische Gegenstände – sogenannte Maglings – waren aus dem Laden und den anliegenden Gebäuden in die Menschenwelt geschleudert worden. Dort hatten sie nichts verloren und konnten sogar großen Schaden anrichten, wenn sie in falsche Hände gelangten. Deswegen war Maila in die Menschenwelt gereist, um die Maglings mithilfe ihrer Tante einzufangen und zurückzubringen. Maila erinnerte sich mit Schaudern an die
Reise in einem Regenfass. Das Gerüttel und Geschüttel während der magischen Fahrt war alles andere als angenehm gewesen. Und jetzt sollte es zurück in die Hexenwelt gehen … Maila hatte ihre Zweifel, ob sie und Tante Juna zusammen in das Fass passen würden. Und mit dem Gepäck, dem gefundenen Teppich und dem Vogelkäfig mit dem eingefangenen Phönix würde es enger werden als in einer Sardinenbüchse!

Tante Juna, die Mailas fragenden Gesichtsausdruck bemerkt hatte, lachte. »Nein, Maila, wir brauchen keinen Schrumpfzauber! Und wir müssen auch nicht in dem rostigen Fass reisen. Ich weiß da etwas Besseres!«

Maila riss neugierig die Augen auf, als Tante Juna zu dem wuchtigen Schrank im Zimmer trat und an die Türen klopfte.

»Der Schrank ist aus Ebenholz und sehr wertvoll«, sagte die Tante. »Aber nicht nur das Holz ist etwas Besonderes. Es handelt sich nämlich um einen Reiseschrank.« Sie öffnete eine Tür, aber Maila sah nichts außer Kleider und Mäntel, die dicht an dicht im Innern hingen. Tante Juna griff mit beiden Händen zu und beförderte die Klamotten auf einen Schaukelstuhl und ein altes Harmonium. Es waren sonderbare Kleider dabei. Sie schienen aus längst vergangenen Zeiten zu stammen. Maila musste niesen, als ihr der Geruch von Mottenpulver in die Nase stieg. Oder war es nur Staub? Wozu in aller Welt hob Tante Juna all diese Kleider auf? Wollte sie damit ein Kostümfest veranstalten?

Endlich hatte die Tante den Schrank leer geräumt. »Bitte sehr«, verkündete sie und klappte links und rechts ein gepolstertes Brett herunter. »Wir können ganz bequem im Sitzen reisen. Und weil wir unterwegs vielleicht ein bisschen durchgeschüttelt werden, gibt es sogar Sicherheitsgurte.«

Es wurden doch drei Tage, die Maila in der Hexenwelt verbrachte. Oma Luna, die sonst so patent war, brauchte Ewigkeiten, um sich zu entscheiden, was sie unbedingt mitnehmen musste. Letztendlich wollte sie nicht nur erfolgreich bei der Suche nach den Maglings sein, sondern auch herausfinden, wohin Onkel Justus verschwunden war. Sie war fest entschlossen, seine finsteren Pläne zu durchkreuzen.

Schließlich hatte Oma Luna zwei Koffer gepackt. Einer war voller magischer Hilfsmittel, die sie für ihre Suche brauchte, im anderen befanden sich ihre Klamotten, die wichtigsten Tropfen und Tinkturen, die sie benötigte, um fit und gesund zu bleiben, und ein paar dicke Liebesschmöker. Maila versicherte ihrer Großmutter, dass Onkel Justus’ Arbeitszimmer voller Bücher war und ihr der Lesestoff ganz bestimmt nicht ausgehen würde.

»Ich schätze mal, dass dieser Justus andere Bücher liest als ich«, meinte Oma Luna. »Aber vielleicht geben sie uns einen Hinweis, wo er sich jetzt aufhalten könnte.«

»Das hoffe ich auch«, sagte Maila. Sie war aufgeregt wegen der Reise und hatte auch ein bisschen Angst. Sicher würde es nicht ganz ungefährlich sein, Onkel Justus war schließlich ein mächtiger Zauberer. Ob Oma Luna und Maila ihm gewachsen waren? Maila verdrängte den unangenehmen Gedanken. Aber ein mulmiges Gefühl blieb trotzdem.

Endlich waren alle Vorbereitungen abgeschlossen, und auch Maila war sicher, dass sie nichts Wichtiges vergessen hatte. Sie hatte ihren kurzen Aufenthalt in der Hexenwelt genutzt, um sich ausgiebig mit ihren Freundinnen zu treffen. Diese hatten ihr jede Menge gute Ratschläge gegeben, nicht nur, was Zaubersprüche anbelangte, sondern auch in Bezug auf Jungs. Die drei Mädchen hatten einander versprochen, keine Geheimnisse voreinander zu haben und sich gegenseitig über alle neuen Entwicklungen zu informieren.

Schließlich war der Augenblick da, in dem Oma Luna und Maila mit ihrem Gepäck in den Reiseschrank stiegen. Wilbur in seiner Kuckucksuhr durfte natürlich auch wieder mit, denn der kleine Vogel gehörte zu Maila. Er war ihr schon so oft Trost in dunklen Stunden gewesen. Wilbur schaffte es immer wieder, sie aufzuheitern.

»Gute Reise«, sagte Damian Espenlaub zu seiner Mutter und zu Maila. Tante Juna winkte ihnen zu und streichelte dabei ihren Bauch, der schon wieder ein Stück gewachsen war, Alma umarmte die beiden Reisenden. Auch Opa Orpheus wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Gesicht. Er beugte sich vor und gab Oma Luna, die bereits angeschnallt war, einen dicken Schmatz auf den Mund.

»Ich werde dich bestimmt vermissen, mein Schatz«, sagte er. »Pass gut auf dich auf, Luna-Liebling!«

»Jetzt werde auf deine alten Tage bloß nicht sentimental«, gab Oma Luna mit gespielter Ruppigkeit zurück. »Und dass du mir ja meine Liköre in Ruhe lässt, hörst du?«

»Großes Hexer-Ehrenwort!« Opa Orpheus lächelte sie an. Seine blassblauen Augen glänzten schon wieder verdächtig, und er wandte rasch den Kopf ab.

»Waidmannsheil«, knurrte Robin. »Oder besser: Hals- und Beinbruch? Was sagt man, wenn man jemandem Glück für die Jagd wünscht – sowohl auf Maglings als auch auf Bösewichte?«

Er umarmte erst Oma Luna, dann Maila und flüsterte ihr leise ins Ohr: »Ich werde dich bald in der Menschenwelt besuchen, darauf kannst du Gift nehmen, Schwesterhexe!«

»Dann viel Erfolg mit deinem Ohrenschwinger, Brudergenie!«, gab Maila ebenso leise zurück.

Robin trat einen Schritt nach hinten. Gleich darauf wurden die Türen geschlossen. Nachdem Maila mit den Fingern geschnippt hatte, leuchtete das Band über ihnen auf.

»Bitte bring uns nach Schönburgstadt, Ulmenalle 13«, sagte Maila laut. Fast augenblicklich begann der Schrank zu vibrieren.

Oma Luna warf Maila einen zuversichtlichen Blick zu. »Los geht’s«, meinte sie. »Ohrenwackeln!«

Maila konzentrierte sich. Sie spürte, wie die Magie in ihr wuchs. Auch das Brummen des Schrankes wurde lauter. Maila klammerte sich mit einer Hand an ihrem Sitz fest, mit der anderen hielt sie die Kuckucksuhr, in der Wilbur sich versteckt hatte. Er hasste es, auf diese Weise zu reisen.

Bestimmt gab es angenehmere Mittel und Wege, um in die Menschenwelt zu gelangen. Maila wollte sich gar nicht vorstellen, wie der magische Schrank durch die Luft flog – sicher unsichtbar für jeden, der zufällig nach oben schaute. Es war anstrengend, dauernd mit den Ohren zu wackeln. Maila spürte, wie sich bei ihr Kopfschmerzen ankündigten. Oma Luna schien es ähnlich zu ergehen, sie ächzte leise.

»Ich bin schon lange nicht mehr so gereist«, murmelte sie. »Ich gestehe, ich hatte es schöner in Erinnerung! Vermutlich müssten bei diesem Schrank mal die Stoßdämpfer überprüft werden. Aber jetzt ist es leider zu spät dafür.«

Die Reise kam Maila diesmal endlos vor. Sie fragte sich insgeheim, ob der Schrank sich vielleicht verirrt hatte und ein ganz anderes Ziel ansteuerte. Mehrmals sackte er unterwegs plötzlich ab, und Maila hatte Angst, dass ihr letztes Stündlein geschlagen hatte. Doch der Schrank gewann immer wieder an Höhe. Auch Oma Luna war ganz grün im Gesicht und hatte die meiste Zeit die Augen geschlossen. Sie saß so verkrampft und reglos da, dass Maila befürchtete, sie sei schockgefroren. Das passierte bei älteren Hexen manchmal, wenn sie zu viel Stress hatten.

Endlich setzte der Schrank heftig auf dem Boden auf. Einen Moment lang schien es, als würde er nach vorne kippen. Maila stieß einen Schrei aus.

»Sie haben … Ihr Ziel … erreicht«, röchelte der Schrank und stand wieder aufrecht.

Oma Luna öffnete ruckartig die Augen. »Das nächste Mal müssen wir ihn vor der Reise mit Magie auftanken«, sagte sie und schnallte sich los.

Maila stieß die Türen auf. Helles Tageslicht flutete ins Innere. Der Schrank war mitten in Tante Junas Wohnzimmer gelandet.

Als Maila aus ihm heraussprang, sah sie aus dem Augenwinkel, dass Onkel Justus in seinem Sessel saß. Sie bekam einen Riesenschreck. Doch als sie genauer hinschaute, war der Sessel leer. Maila stöhnte laut. Das musste die Nachwirkung der Reise sein!

»Was ist los, Liebes?«, fragte Oma Luna. Sie wurstelte sich und ihre Koffer umständlich aus dem Schrank.

»Alles gut«, antwortete Maila. »Ich dachte einen Augenblick lang, dass Onkel Justus da ist.« Sie schluckte und streckte ihren Zeigefinger aus. »Hier, in diesem Sessel.«

Oma Luna stellte ihre Koffer ab und straffte sich. Vorsichtig näherte sie sich dem Sessel und schnupperte.

»Saß er oft in dem Sessel?«, wollte sie wissen.

Maila nickte. »Jeden Tag.«

»Dann hast du vermutlich sein magisches Echo wahrgenommen.« Oma Luna berührte die Armlehnen vorsichtig mit den Fingerspitzen und zuckte zurück. »O ja! Ich spüre es auch. Was für eine negative Energie! So eine Energie haben nur ausgesprochen böse Charaktere. Ich würde dir raten, Maila, dich nicht in diesen Sessel zu setzen, bevor ich einen Reinigungszauber gewirkt habe.«

Maila schüttelte den Kopf. Sie hätte sich ohnehin nie freiwillig in diesen Sessel gesetzt. Er sah zwar sehr bequem aus, aber alles an ihm erinnerte sie an ihren Onkel. Wenn man genau hinsah, konnte man sogar noch die Kuhle entdecken, die sein fettes Hinterteil hinterlassen hatte.

»Jetzt brauche ich erst einmal einen Tee«, verkündete Oma Luna. Sie holte aus ihrem Koffer eine bunte Dose mit ihren Lieblingskräutern. »Danach bin ich zu allen Schandtaten bereit.«

Maila lächelte und führte ihre Großmutter in die Küche. Auch hier roch es noch nach Onkel Justus, sodass Maila sofort das Fenster öffnete. Sie konnte nicht genau sagen, woraus der Duft bestand. Vielleicht eine Mischung aus Schweiß, süßlichem Rasierwasser und dunkler Magie? Auf alle Fälle ekelhaft!

»O ja, er hatte eine starke Präsenz«, murmelte Oma Luna und griff nach dem Wasserkocher. »Er hat diesem Haus, das eigentlich deiner Tante gehört, seinen Stempel aufgedrückt.«

»Wie meinst du das?«, fragte Maila verwirrt.

»Hunde markieren ihr Revier«, antwortete Oma Luna. »Das hat dein Onkel auch getan, allerdings mit Magie.«

Maila krauste die Stirn. »Und warum hat das Tante Juna nie bemerkt?«

»Das kann an dem Liebeszauber gelegen haben oder daran, dass sie schwanger ist. Da ändert sich der Geruchssinn«, sagte Oma Luna. »Auf alle Fälle geht es deinem Onkel um Macht. Sehr viel Macht! Juna kann von Glück sagen, dass sie rechtzeitig davongekommen ist.« Ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, öffnete sie einen Küchenschrank und nahm eine Kanne und zwei Tassen heraus. Das Wasser kochte inzwischen. Sie goss es in die Kanne und hängte ein Teesieb mit ihrer Kräutermischung hinein. Sofort begann es in der Küche aromatisch zu duften.

»Woher weißt du eigentlich, wo alles ist?«, wunderte sich Maila. »Du bist doch zum ersten Mal hier, und die Tassen stehen links oben. Du hast überhaupt nicht danach suchen müssen!«

Oma Luna lächelte verschmitzt. »Kindchen, ich bin eine Hexe«, sagte sie. »Hast du das vergessen?«

»Ich bin auch eine Hexe«, erinnerte Maila sie. »Aber ich habe ständig in den Schränken gesucht, wenn ich Tante Juna helfen wollte.«

»Ich bin viel älter als du«, erklärte Oma Luna. »Und mit den Jahren lernt man immer besser, zu spüren, wo die einzelnen Dinge sind. Man braucht gar nicht mehr darüber nachzudenken.«

Maila schloss die Augen und versuchte, ihre Teetasse zu spüren. Sie wusste, dass sie auf dem Tisch stand, aber sie konnte sie nicht fühlen, ohne die Hände auszustrecken. Enttäuscht machte sie die Augen wieder auf. Ob sie jemals eine so gute Hexe werden würde wie ihre Großmutter?

»Das üben wir mal«, versprach Oma Luna. »Ich verbinde dir die Augen, und du sagst mir, welche Gegenstände auf dem Tisch stehen. Ich wette mit dir, dass du schon nach einigen Versuchen die richtigen Dinge erraten wirst.«

»Hm«, machte Maila. Sie war skeptisch.

Aber jetzt gab es erst einmal Tee. Maila verbrühte sich fast, als sie die Tasse zum Mund führte. Doch der Tee weckte bald ihre Lebensgeister und schüttelte die Nachwirkungen der Reise ab. Sie fühlte sich wieder unternehmungslustig und konnte es kaum erwarten, ihrer Großmutter das Haus zu zeigen.

»Wir werden einiges ändern müssen«, sagte Oma Luna, nachdem Maila sie herumgeführt hatte. »Ich bitte dich, vorläufig das Arbeitszimmer deines Onkels nicht zu betreten. Und auch in deinem Zimmer, das eigentlich das Babyzimmer werden sollte, muss wenigstens eine andere Tapete her. Die Zwerge an der Wand sind keine guten Geister, auch wenn sie lustig und harmlos aussehen. Durch ihre Abbildungen können auf Befehl deines Onkels böse Kobolde ins Zimmer schlüpfen.«

Maila wurde blass. Und sie hatte in diesem Zimmer schon etliche Nächte geschlafen!

»Keine Angst«, beruhigte Oma Luna sie. »Ich werde die Wände vorerst mit Magie versiegeln, dann kann nichts passieren. Aber in den nächsten Tagen werden wir die Tapete abkratzen und eine andere an die Wand kleben. Du schläfst besser erst einmal woanders.«

Maila nickte nur. Sie war bestürzt über das, was Oma Luna herausgefunden hatte. Vielleicht konnte sie ja in Fionas Reich schlafen. Die Tochter aus Onkel Justus’ erster Ehe war regelmäßig zu Besuch gekommen und hatte im Haus gleich zwei Zimmer für sich beansprucht. Sie waren wunderschön eingerichtet. Eines der Zimmer besaß sogar einen kleinen Balkon. Solange Onkel Justus verschwunden war, würde Fiona bestimmt nicht zu Besuch kommen. Also hatte Maila freie Bahn.

Oma Luna überprüfte die beiden Räume und das dazugehörige Badezimmer und nickte zufrieden.

»Keine negativen Energien«, meinte sie. »Du kannst getrost hier schlafen.«

»Fiona ist keine Hexe«, berichtete Maila. »Ich habe gehört, wie Onkel Justus sie dazu bringen wollte, mit den Ohren zu wackeln. Er ist fast ausgerastet, als sie es nicht konnte, und Fiona hat sich gefragt, was der ganze Blödsinn soll.«

Oma Luna wiegte nachdenklich den Kopf. »Sie kann trotzdem Magie in sich tragen, obwohl ich in diesen Zimmern nichts davon wahrnehmen kann. Vielleicht hat sie nur schwache Kräfte. Aber genauso gut ist es möglich, dass sie durch und durch Mensch ist und keinerlei Zauberkräfte geerbt hat.«

Also richtete sich Maila in den neuen Zimmern ein. Das riesige Himmelbett war ein Traum. Es besaß einen glitzernden Baldachin, und die weiche Matratze begrüßte Maila so wohlwollend, als hätte sie nur auf sie gewartet. Maila seufzte vor Glück. Hier ließ es sich wirklich gut aushalten!

Auch Wilbur gefielen die neuen Zimmer. Er konnte von einem Raum zum anderen fliegen. Sein Lieblingsplatz wurde sehr bald Fionas Schminktisch, wo er sich selbst im Spiegel betrachten konnte.

Oma Luna wanderte durchs ganze Haus und überlegte, wo sie am besten schlafen konnte. Schließlich kam sie in Mailas Zimmer.

»Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich auf der großen Couch nebenan schlafe?«, fragte sie.

Maila hatte nichts dagegen, dass sich Oma Luna in Fionas »Wohnzimmer« einquartierte. Sie würden beide genug Platz haben. Maila konnte gut verstehen, dass Oma Luna nicht im Ehebett von Tante Juna und Onkel Justus schlafen wollte.

Wahrscheinlich schwebte über dem Bett auch noch die dunkle Energie des bösen Hexers! Und das Letzte, was Maila wollte, war, dass Oma Luna etwas passierte. Sie brauchte doch ihre Hilfe! Sie mussten sich gegenseitig unterstützen, denn nur dann hatten sie eine Chance auf Erfolg.

Oma Luna begann fröhlich, ihre Sachen auszupacken. Ihre Kleider hängte sie in Fionas Schrank.

»Magst du eigentlich diese Fiona?«, fragte sie, während sie mit den Kleiderbügeln klapperte.

Maila verzog das Gesicht. »Nicht besonders«, gestand sie. »Sie kommt mir verwöhnt und eigensinnig vor. Und sie hat mich behandelt wie ein Baby, nur, weil ich zwei Jahre jünger bin als sie.«

»Vielleicht ist sie ja gar nicht so übel, wie du denkst«, meinte Oma Luna. »Jedenfalls riechen ihre Sachen gut. Ich kann keine negative Energie feststellen.«