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Ashley Carrington

Insel im blauen Strom

Roman

hockebooks

Epilog

Prince Edward Island
1969

Der Taxifahrer, in dessen Wagen sie vor dem Flughafengebäude von Charlottetown stieg, wollte ein Gespräch mit ihr anknüpfen. Ihr Gesicht käme ihm bekannt vor, ließ er sie redselig wissen, doch wisse er nicht woher. Doch Emily dachte nicht daran, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Ihre einsilbigen Antworten brachten ihn schnell dazu, seine Versuche aufzugeben und sich damit abzufinden, dass sie sich nicht mit ihm unterhalten wollte.

Emily ließ sich bei halb heruntergekurbeltem Fenster den Fahrtwind ins Gesicht wehen, ohne sich Gedanken um ihre Frisur zu machen, atmete in tiefen, ruhigen Zügen die salzhaltige Luft ein und konnte sich an der vertrauten Landschaft einfach nicht sattsehen. Die Strecke führte durch leuchtende Rapsfelder, die im Licht der Nachmittagssonne wie ein Meer aus flüssigem Gold wogten.

Wie sehr hatte sie sich im Innersten ihrer Seele doch nach dem Tag gesehnt, an dem sie auf ihre geliebte Insel im blauen Strom heimkehren würde! Nicht zu Besuch, sondern heimkehren, im wahrsten Sinne des Wortes. Und dieser Tag war nun gekommen, das wusste sie, was immer auch geschehen mochte. Die Insel hatte ihr nicht von ungefähr die Stoffe für fast all ihre Romane geschenkt. Hier gehörte sie hin, mit Leib und Seele, und hier würde sie auch wieder leben, nun, da ihre Kinder erwachsen waren und ihre eigenen Wege gingen.

In Summerside ließ Emily den Fahrer vor einem Blumengeschäft auf der Central Street anhalten und wies ihn dann an, sie zum Friedhof hinter der katholischen St.-Paul’s-Kirche zu bringen.

»Warten Sie hier, aber es kann etwas dauern.«

»Solange der Gebührenanzeiger läuft, können Sie sich so viel Zeit nehmen, wie Sie wollen, Ma’am«, erwiderte der Taxifahrer gleichmütig, zog eine Zeitung unter dem Sitz hervor und machte sich daran, das Kreuzworträtsel zu lösen.

Emily legte den Blumenstrauß auf das Grab, strich mit einer zärtlichen Geste über den kalten Stein und führte stumme Zwiesprache mit ihrer Mutter, die ihr im Tode so viel näherstand, als sie es zu Lebzeiten je gewesen war. »Ich werde dich jetzt öfter besuchen kommen, Mom«, sagte sie und begab sich in die Kirche, wo sie vor dem Marienaltar eine Kerze aufstellte und eine Weile im Gebet verbrachte.

Getröstet und gestärkt zugleich kehrte sie zu ihrem Taxi zurück und nannte dem Fahrer nun die Adresse in der Russell Street. Als er wenig später vor dem Haus anhielt und sein Blick auf das Ladenschild Forester’s Fine Fabrics fiel, da schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn und rief geradezu triumphierend: »Natürlich! Sie sind die Schriftstellerin Emily Forester! Ich wusste doch, dass ich Ihr Gesicht schon einmal gesehen habe. Meine Frau leiht sich alle Ihre Bücher aus, und da ist doch immer ein Foto von Ihnen drauf!«

Emily kam nicht umhin, ihm ein Autogramm für seine Frau zu geben. Dann beglich sie die Rechnung, nahm ihren leichten Reisekoffer vom Rücksitz und stieg schnell aus.

Ihr Elternhaus machte einen traurigen, leicht heruntergekommenen Eindruck. An dem Gebäude hatten schon seit Jahren kein Anstreicher und kein Dachdecker mehr Hand angelegt. Überall blätterte Farbe von den Brettern, und auf dem Dach mussten dringend schadhafte Schindeln ersetzt werden. Das Schaufenster des Geschäftes war lieblos mit einem Laken verhängt, und in der Ladentür hing ein primitives Pappschild mit der Aufschrift: »Für unbestimmte Zeit geschlossen!!« Das doppelte Ausrufezeichen wirkte wie eine unfreundliche Warnung.

Emily nahm ihren Koffer und ging um das Gebäude herum, in dem sie kein Lebenszeichen entdecken konnte. Sie wusste jedoch, dass Leonora zu Hause war. Sie hatte am Morgen vor dem Abflug noch bei ihr angerufen, aber sofort wieder aufgelegt, als ihre Schwester abgenommen und sich gemeldet hatte. Im Hof stieß sie auf einen großen Haufen Asche und verkohlte Sachen, die wohl ein Feuer in einem mehr oder minder unbeschadeten Zustand überstanden hatten. Sie konnte einen halb verbrannten Stiefel, den Ärmel einer Jacke, eine Gürtelschnalle, eine Ecke vom Schachbrett sowie das Endstück eines Bettpfostens erkennen. Als sie ein Stück weiter verbogene, rußgeschwärzte Eisenteile aus der Asche zog, sah sie, dass es sich um die Räder des Rollstuhls handelte. Und da begriff sie, dass Leonora alle persönlichen Habseligkeiten ihres Vaters – angefangen von seiner Kleidung und seinen Schuhen bis hin zu seinem Rollstuhl und Bett –, dass sie all das zerrissen und zertrümmert, hier im Hof aufgetürmt und in Brand gesteckt hatte.

Die Küchentür war verschlossen, und niemand meldete sich auf ihr Klopfen hin. Aber das beunruhigte Emily nicht. Sie wusste, dass ihre Schwester nicht weit sein konnte und gewiss bald zurückkommen würde, was ihr ein Blick durch das Küchenfenster verriet. Denn auf dem Tisch stand ein frischgebackener Laib Brot zum Abkühlen auf einem Rost.

Sie kannte auch die Stelle, wo Leonora stets einen Zweitschlüssel versteckte. Emily verschaffte sich damit Einlass und ging mit einem beklemmenden Gefühl durch das verlassene Haus. Sie fand das Zimmer ihres Vaters völlig ausgeräumt vor. Nichts hatte Leonora zurückgelassen, sie hatte alle Spuren von ihm im Haus getilgt – und dennoch würde er hier immer zugegen sein.

Emily zwang sich, jeden Raum zu betreten und sich den erschreckenden Bildern zu stellen, die sich ihr aufdrängten, während sie daran dachte, was ihre Schwester hier erlitten hatte. Als die Flut sie zu überwältigen drohte und ihr plötzlich der kalte Schweiß ausbrach, kehrte sie hastig in die Küche zurück und beschäftigte sich damit, Wasser aufzusetzen und Tee aufzubrühen.

Es dämmerte schon, als Schritte über den Hof hallten. Es war ihre Schwester. Emily hatte bis auf das kleine Teelicht, das im Stövchen unter der Teekanne brannte, keine Lampe in der Küche entzündet. Sie sah, wie Leonora, die sich nur als Schattenriss vor der Tür abzeichnete, einen Moment verharrte, als sie das schwache Kerzenlicht in der Küche bemerkte.

Langsam kam sie ins Haus und blieb auf der anderen Seite des Tisches stehen, als traue sie sich nicht weiter. Keine der beiden Frauen wagte zu sprechen. Schließlich brach Leonora das lange Schweigen. »Hast du schon lange gewartet?«, fragte sie mit unsicherer Stimme.

»Nein«, antwortete Emily. Was bedeutete schon eine Stunde, nachdem sie über vierzig Jahre darauf gewartet hatte, sich mit ihrer Schwester zu versöhnen? »Ich habe uns Tee gekocht.«

Leonora nickte, als hätten sie das so ausgemacht, und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. »Ich habe mich so geschämt und nicht zu hoffen gewagt, dass du kommen würdest.«

»Wer bin ich, dass ich den ersten Stein werfen könnte?«, antwortete Emily mit einer Frage. »Aber lass uns nicht darüber reden. Nicht heute. Später ja, da wird Zeit genug sein für alles, was es darüber noch zu sagen gibt, aber nicht jetzt. Erzähl mir lieber wie es in Edmundston gewesen ist. Hast du deine Tochter gefunden?«

Ein zaghaftes Lächeln erschien auf Leonoras Gesicht. »Ja, ich habe Elizabeth gesehen. Sie wohnt mit ihrer Familie in einem hübschen Reihenhaus. Ich bin ihr sogar unauffällig gefolgt, als sie mit ihren Kindern in die Stadt zum Einkaufen gefahren ist. Aber ich hatte nicht den Mut, sie anzusprechen. Es war einfach zu viel. Schon meine Tochter nur zu sehen und ihr so nahe zu sein, dass ich sie jeden Moment hätte berühren können, wenn ich es gewollt hätte, war fast mehr, als ich verkraften konnte. Beim nächsten Mal – oder vielleicht schreibe ich ihr auch zuerst einen Brief. Ich weiß es noch nicht. Es hat auch keine Eile.«

Emily nickte. »Das kann niemand für dich entscheiden, Leonora. Du musst tun, was dein Herz dir sagt. Aber wenn ich dir helfen kann, lass es mich wissen. Ich möchte so gerne etwas für dich tun, aber gleichzeitig habe ich Angst, etwas falsch zu machen.«

»Du könntest mir helfen, das Haus zu verkaufen und irgendwo anders in Summerside ein neues Geschäft aufzumachen. Ich kann hier nicht länger leben. Am liebsten würde ich dieses Haus eigenhändig mit der Axt kurz und klein schlagen oder in Flammen aufgehen lassen, so wie ich es mit Vaters Sachen getan habe«, gestand ihre Schwester.

Emily versprach, sich um den Verkauf zu kümmern, und fasste im Stillen den Entschluss, dafür zu sorgen, dass ihre Schwester in bester Geschäftslage eine Tuchhandlung mit dem entsprechenden Sortiment eröffnen konnte, so wie sie es sich immer gewünscht hatte. Finanziell konnte sie sich das problemlos leisten. Und was bedeutete schon Geld gegen das Wunder, ihre Schwester wiedergefunden zu haben?

Nach einer Weile brachte sie das Gespräch auf Byron. »Vor ein paar Jahren hast du geschrieben, dass er wieder auf der Insel lebt.«

»Ja, er ist vor fünf, sechs Jahren zurückgekehrt«, bestätigte Leonora. »Er soll lange Jahre in Australien, am Persischen Golf und in Alaska als Flieger für große Ölgesellschaften gearbeitet haben, die dort neue Quellen erschließen und Pipelines verlegen. Offenbar hat er dabei so blendend verdient, dass er es sich dann leisten konnte, diese gefährliche Fliegerei an den Nagel zu hängen, nach Prince Edward Island zurückzukommen und sich ein hübsches Haus und ein Boot zu kaufen. Er unterrichtet zweimal die Woche in Charlottetown am Technischen Institut, aber nicht weil er das Geld braucht, sondern weil es ihm Spaß macht.«

»Und er wohnt drüben in Stratford?«

Leonora nickte. »Direkt am Ufer vom Hillsborough River. Aber verheiratet ist er nicht.«

Überrascht und mit plötzlich beschleunigtem Pulsschlag sah Emily ihre Schwester an. »Aber du hast doch geschrieben, dass er mit seiner Frau dort lebt!«

»Ja, das habe ich, aber damals wusste ich noch nicht, dass er nur einmal kurz verheiratet war, und das nur knapp ein Jahr. Dann haben sie sich scheiden lassen, weil sie erkannten, dass sie einen Fehler begangen hatten«, berichtete Leonora. »Ich glaube, seine Frau dachte nicht daran, solch ein unstetes und abenteuerliches Leben mit ihm zu teilen. Auf jeden Fall hat er danach nicht wieder geheiratet. Und bei der Frau, die mit ihm in dem Haus am Fluss wohnt, handelt es sich um seine verwitwete ältere Schwester Mary.«

»Oh!«, entfuhr es Emily.

Und dann überraschte Leonora sie mit der Frage: »Kannst du dir vorstellen, dass Byron alle deine Bücher besitzt und eine Mappe, in der er alle Artikel aufgehoben hat, die über dich in den letzten Jahren erschienen sind?«

Emily lachte ein wenig verlegen auf. »Woher willst du denn das wissen?«

»Erinnerst du dich noch an Harold Cobbs, den ältesten Bruder meiner Freundin Deborah?«

»Natürlich, er hat doch mit seiner Frau Evelyn im Haus seiner verwitweten Schwiegermutter Wilma Marsh in Charlottetown gewohnt«, erinnerte sich Emily.

»Missis Marsh ist natürlich längst tot, aber Harold und Evelyn wohnen noch immer dort, und ihre Tochter Jane ist mit Byrons Schwester befreundet. Ich glaube, sie haben beide mal eine Zeitlang in ein und derselben Konservenfabrik gearbeitet und sogar zusammen an einem der Streiks teilgenommen. Auf jeden Fall hat Deborah sie auf mein Betreiben hin ein wenig über Byron ausgehorcht.«

»Das Boot, das er besitzt, ist … ist es vielleicht ein ehemaliges Lobsterboot?«, fragte Emily.

»Ja, genau. Und weißt du, auf welchen Namen er es getauft hat?«

»Nein.«

»Er hat es Forever E. genannt.«

Ein Schauer überlief Emily. »Forever E.«, murmelte sie und dachte lange und mit klopfendem Herzen darüber nach, welchem Byron sie morgen wohl begegnen würde. Denn morgen würde sie all ihren Mut zusammennehmen und ihn endlich wiedersehen.

Leonora störte sie nicht in ihren Gedanken. Später deckten sie dann gemeinsam den Tisch, schnitten das frische Brot an und aßen zu Abend, ohne viel zu reden. Sie sprachen auch nicht ein Wort, als Emily den Brief ihrer Mutter hervorholte, ihn auf einen alten Teller legte und ihn mit Leonoras Feuerzeug in Brand steckte. Emily nahm die Hand ihrer Schwester und hielt sie fest, während sie schweigend und unter Tränen zusahen, wie der Brief sich unter den Flammen krümmte und zu schwarzer Asche verbrannte.

»Du lächelst«, sagte Leonora plötzlich.

Emily hielt noch immer die Hand ihrer Schwester. »Es ist zwar kein Gewitter und wir sind längst aus dem Alter heraus, wo man so etwas macht, aber könnten wir dennoch diese Nacht in einem Bett schlafen – so wie früher?«, fragte sie leise. »Du hast mir so schrecklich gefehlt … all die Jahre.«

»Du mir auch, Schwester«, flüsterte Leonora mit erstickter Stimme und drückte ihr die Hand, während sich ihre Augen wieder mit Tränen füllten.

Morgen, dachte Emily und hatte plötzlich das verrückte Gefühl, wieder jung zu sein und die Verheißungen eines langen Lebens noch vor sich zu wissen. Morgen, Byron! Morgen für immer und ewig!

Weitere Titel von Ashley Carrington bei hockebooks

Unter dem Jacaranabaum

978-3-943824-30-8

Diese Familiengeschichte beginnt im Jahr 1908 als Moira Mayfield mit ihrer Mutter ins australische Hinterland umsiedeln muss. Nur widerwillig gewährt ihnen ihre Tante Unterschlupf und Moira, die davon träumt Malerin zu werden, fühlt sich unerwünscht. Wann immer es geht, streunt sie in der Weite des Buschlands umher. Trost und einen kreativen Rückzugsort findet die sensible Moira unter der mächtigen Krone eines Jacarandabaums. Dem schüchternen Adrian Flynn dient der Baum ebenfalls als Zuflucht. Hier beginnt mit einem ersten Kuss die zaghafte Liebesgeschichte, die Moira schließlich bis nach Sydney und Melbourne führt. Doch der Jacarandabaum lässt sie niemals ganz los ... eine Familiengeschichte fürs Herz!

 

Flammende Steppe

978-3-943824-18-6

Südafrika zur Zeit des Burenkrieges: Lena van Rissek wächst Ende des 19. Jahrhunderts in der Provinz Transvaal auf Leeuwenhof, der Farm ihrer Eltern, auf. Eigentlich soll die älteste Tochter von Stefanus van Rissek den Nachbarssohn Fabricius Bloem heiraten, sie fühlt sich aber viel mehr zu ihrem Halbbruder Julian hingezogen. Auch der Einzelgänger ist innerlich zerrissen wegen seiner Zuneigung zu Lena.

Doch mit dem Auftauchen des britischen Lieutenants Lionel Faulkner werden Lenas Gefühle auf eine harte Probe gestellt: Eigentlich müsste sie ihn verachten, schließlich gehört er zu den verhassten Engländern. Lena findet dennoch nach und nach immer mehr Gefallen an dem jungen Offizier. Schließlich bricht der Burenkrieg aus. Bitteres Elend beherrscht den Alltag von Lena und ihrer Familie. Und die beiden Liebsten der jungen Farmerstochter kämpfen auf verschiedenen Seiten …

 

Küste der Verheißung

978-3-943824-97-1

England, zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Der junge Patrick O’Brien und seine Gefährtin Abigail Dixon müssen ihre Heimat verlassen. Denn der ehemalige Wildhüter und das 13jährige Mädchen haben zu lange schon Freier und Zuhälter hereingelegt, auch von einem Lord werden sie gejagt. In Südafrika wollen die beiden als Siedler einen Neuanfang in der Freiheit wagen. Doch in der Fremde trennen sich die Wege des ungleichen Paares, denn Patrick tritt einer Gruppe gesetzesloser Elfenbeinjäger bei. Abigail verliert seine Spur. Doch sie will Patrick, der sie in England beschützte, nicht vergessen. Aus tiefstem Herzen hofft Abigail, ihn eines Tages wiederzusehen …

Eine große Auswanderersaga aus dem Bestsellerkosmos von Ashley Carrington – angesiedelt im England und Südafrika zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

Der Autor

Ashley Carrington
Ashley Carrington

Mit einer Gesamtauflage in Deutschland von fast sechs Millionen zählt Rainer M. Schröder alias Ashley Carrington zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftstellern von Jugendbüchern sowie historischen Gesellschaftsromanen für Erwachsene. Letztere erscheinen seit 1984 unter seinem zweiten, im Pass eingetragenen Namen Ashley Carrington im Knaur Verlag. Seinem unter diesem Pseudonym verfassten Roman Unter dem Jacarandabaum wurde die besondere Auszeichnung zuteil, von der Bundeszentrale für politische Bildung in der Broschüre »Das 20. Jahrhundert in 100 Romanen« (Stiftung Lesen/Leseempfehlungen Nr. 112) zu den 100 lesenswerten Romane der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts gezählt zu werden. Rainer M. Schröder lebt an der Atlantikküste von Florida.

Meiner Frau Helga
in Liebe und Dankbarkeit

»Da ist ein Land der Lebenden
und ein Land der Toten,
und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe –
das einzig Bleibende, der einzige Sinn.«

Die Brücke von San Luis Rey
Thornton Wilder

Prolog

Prince Edward Island
1969

»Ist Ihnen nicht gut, Missis Forester?«

Emily Forester schreckte aus ihren beklemmenden Gedanken auf und schaute die Stewardess verständnislos an. Die junge Frau, die im Mittelgang der halbleeren Propellermaschine auf der Höhe ihres Sitzes stehen geblieben war, beugte sich mit besorgter Miene zu ihr herab.

»Wieso fragen Sie?«

»Sie weinen, Ma’am.« Die Stewardess warf kurz einen Blick auf den Brief in Emily Foresters Hand. Es war, als wollte sie auf diese stumme, diskrete Weise fragen, ob der Brief vielleicht die Ursache ihres Kummers sei. Er trug deutliche Brandspuren an den Rändern. Offensichtlich hatte man ihn im letzten Moment davor bewahrt, lichterloh in Flammen aufzugehen und vom Feuer verzehrt zu werden.

Emily wischte sich mit einer raschen Handbewegung die Tränen von den Wangen, ließ den Brief in ihren Schoß sinken und lächelte verlegen. »Ach, der Brief! … Er … er hat mich an einige romantische Erlebnisse in meiner Jugend erinnert«, sagte sie leichthin zu der jungen, attraktiven Frau, die vom Alter her durchaus ihre Tochter hätte sein können. »Und derlei Sentimentalitäten bringen mich immer schnell zum Weinen. Denken Sie sich nichts dabei.« Sie bemühte sich weiterhin zu lächeln, doch es kostete sie große Anstrengung.

Der Stewardess, noch voller Enthusiasmus für ihren Beruf und aufrichtig um das Wohl ihrer Passagiere besorgt, war die Erleichterung deutlich anzusehen. »Dann ist es ja gut, Missis Forester. Darf ich Ihnen noch einen Martini bringen, bevor wir die Bordbar schließen? Wir landen in einer Viertelstunde.«

Nur mühsam widerstand Emily der Versuchung, sich noch einen zweiten Drink zu gönnen. »Nein, danke. Einer ist so früh am Nachmittag mehr als genug.« Dabei hatte sie das Gefühl, eigentlich alle Drinks auf Erden nötig zu haben. Ihre Vernunft sagte ihr jedoch, dass nichts sie vor dem schützen konnte, was nun auf Prince Edward Island vor ihr lag. Alkohol schon gar nicht. Im Gegenteil: Sie würde all ihre Kraft und Klarheit brauchen, um mit der erschütternden Wahrheit ins Reine zu kommen und vor den Dämonen der Vergangenheit nicht in die Knie zu gehen. Und um den Mut zu finden, Byron einen Besuch abzustatten.

Die Stewardess machte im ersten Moment ein enttäuschtes Gesicht, weil sie nichts weiter für ihren liebsten Passagier tun konnte, lächelte jedoch sofort wieder. »Dies ist meine erste Flugwoche, und Sie an Bord zu haben, ist für mich … ich meine natürlich für uns alle von der Quebec Air eine ganz besondere Ehre!« Sie errötete wie ein junges Mädchen unter dem Blick ihres ersten Schwarms. »Ich liebe Ihre Bücher. Sie … sie sind einfach wunderbar. Besonders wenn man auch von der Insel kommt. Ich bin an der Golfküste, in North Rustico, aufgewachsen.«

»Danke«, sagte Emily freundlich und rechnete insgeheim damit, dass die Stewardess sie im nächsten Augenblick um ein Autogramm bitten würde.

Die junge Frau war jedoch entweder zu gut ausgebildet oder zu schüchtern. Sie nickte ihr nur mit einem strahlenden Lächeln zu und ging weiter.

Emily unterdrückte einen schweren Seufzer, als sie wieder mit ihren Gedanken alleine war. Ganz langsam faltete sie den angekohlten Brief zusammen. Wie oft hatte sie ihn in den letzten Tagen schon zur Hand genommen und gelesen! Immer und immer wieder. Geradezu zwanghaft, wie eine Drogensüchtige, die sich wegen ihrer Haltlosigkeit selbst hasst, aber dennoch nicht von ihrem zerstörerischen Gift loskommt.

Mittlerweile kannte sie die Zeilen fast auswendig. Dennoch griff sie immer wieder zu diesen angesengten Seiten – in der trügerischen Hoffnung, bei der erneuten Lektüre vielleicht einen Hinweis zu finden, den sie bislang übersehen hatte und der die erschütternde, schreckliche Wahrheit ein wenig erträglicher machte. Doch einen derartigen gnädigen Hinweis gab es nicht, und so befiel sie jedes Mal aufs Neue das entsetzliche Gefühl, von einem überwältigenden Gewicht der Schuld und Ohnmacht schier erdrückt zu werden und keine Luft mehr zu bekommen.

»Warum nur, Leonora?«, murmelte sie und wurde von einer Woge brennenden Zorns und Aufbegehrens erfasst. »Warum hast du das getan? Und warum hast du mich von dir gestoßen und kein Vertrauen gehabt? Und warum habt ihr so lange geschwiegen? All die Jahre!«

Weil wir alle Gefangene unserer eigenen Schuld sind, beantwortete sich Emily die Frage mit einem Anflug von Bitterkeit selbst. Niemand entkommt seiner Vergangenheit. Die Vergangenheit prägt einen für immer – und dem Teufel begegnet man auf halbem Weg zu Gott. Wie recht Andrew damit doch hatte! Der Mensch ist nun mal das, was er liebt und tut, nicht, was er denkt und sagt. Und der gefährlichste Feind des Glaubens und der Liebe ist der Zweifel: die bohrende Frage, ob nicht alles nur Betrug und Selbsttäuschung ist. O ja, an Betrug und Selbsttäuschung hatte es in ihrem Leben keinen Mangel gegeben. So viel Schmerz und so viele Irrungen! Und wofür? Um jetzt voller Scham und Schuld erfahren zu müssen, dass nichts so gewesen ist, wie es einst den Anschein gehabt hatte? Dass sich hinter der Maske der Unschuld eine abscheuliche Fratze verbarg?

Warum habt ihr mir das angetan?

Die Propellermaschine der Quebec Air zog eine sanfte Linkskurve und verlor spürbar an Höhe. Emily hob unwillkürlich den Kopf und blickte aus dem Fenster. Ihr Gesicht hellte sich auf. Eine Weile vergaß sie, was sie bedrückte, denn unter ihr rissen die Wolken auf und gaben den Blick auf Prince Edward Island frei: ein gut zweihundertzwanzig Kilometer langer, sichelförmig geschwungener Streifen fruchtbaren Landes, der an der schmalsten Stelle bei Summerside, am Isthmus zwischen der Malpeque Bay im Norden und der Bedeque Bay im Süden, kaum sechs Kilometer aufwies und der sich an der breitesten Stelle auf vierundsechzig Kilometer ausdehnte, womit er in etwa die Größe der Karibikinseln Trinidad oder Tobago erreichte.

Aus der Luft sah Prince Edward Island mit seinem dichten Flickenteppich aus Wäldern, Wiesen und Weiden beinahe wie ein riesiger grüner Schmetterling mit bunten Farbtupfern aus. Besonders die knallgelben Flecken der Rapsfelder stachen ins Auge. Die Strände und Dünen entlang der Küste leuchteten dagegen im milden Licht der Frühlingssonne in einem warmen, sandgoldenen Ton. Wie feine Adern durchzogen die geteerten Straßen sowie die vielen schmalen Feld- und Waldwege mit der typisch lehmroten Erde der Insel den grüngefleckten Leib des Schmetterlings. Und er trieb, gleichsam ermattet und an den Flügeln zerzaust von seinem langen Flug durch stürmisches Wetter, auf den klaren, eisigen Fluten des Sankt-Lorenz-Stromes dahin, der sich hier im Nordosten von Kanada zwischen Akadien und Neufundland zu einem mächtigen Golf öffnet, bevor er sich in den unermesslichen Fluten des Nordatlantiks verliert.

Emilys Augen füllten sich mit Tränen, als ihr plötzlich mit überwältigender Klarheit bewusst wurde, was ihr diese Insel bedeutete, die sie vor mehr als drei Jahrzehnten noch am Tag ihrer Hochzeit verlassen hatte. Das dort unten war das Fleckchen Erde, wo Herz und Seele tiefere Wurzeln geschlagen hatten, als sie sich je hätte träumen lassen, wo sie größtes Glück, aber auch schmerzhafteste Verletzungen erfahren hatte. Ein Ort abgründigster Geheimnisse, die – wie ein verseuchter Brunnen, aus dem alle ahnungslos trinken – das Leben so vieler vergiftet und noch mehr Hoffnungen zerstört hatten.

Und doch fühlte sie sich nur hier wahrhaft zu Hause. Selbst wenn sie mittlerweile doppelt so viele Jahre in Lac-Saint-Germain und in Quebec wie auf der Insel verbracht hatte: Prince Edward Island und insbesondere die Gegend von Summerside und Charlottetown trugen das unverbrüchliche Siegel der Heimat und würden es immer tragen.

Ja, es war ihre Insel. Ihre Insel im blauen Strom, zu der sie nun endlich zurückkehrte – zutiefst verstört, beschämt und bedrängt von quälenden Schuldgefühlen und Ängsten, aber auch mit dem unbändigen Mut der Verzweiflung an der Hoffnung festhaltend, dass vielleicht doch noch nicht alles verloren war. Nicht verloren sein durfte! Sie mochte Angst vor der Dunkelheit des Abgrunds haben, der sich vor ihr aufgetan hatte. Und dennoch hielt sie in solch dunklen Stunden an der Hoffnung fest, die Andrew einst mit den Worten in ihr gesät hatte: »Die Nacht ist bei aller Dunkelheit doch auch voller Sterne.«

Wann hat das alles bloß begonnen, fragte sich Emily, als die Propellermaschine ihren Landeanflug auf den Flughafen von Charlottetown, der Hauptstadt der Insel, begann. Wann nur war das einst für ewig unverbrüchlich gehaltene Band der schwesterlichen Verbundenheit zerrissen? Wann waren das Vertrauen und die Nähe ihrer großen Schwester Leonora geschwunden, die sie als kleines Mädchen so bedingungslos geliebt und angehimmelt hatte?

Emily brauchte nicht lange zu überlegen. Noch bevor die Maschine auf der Rollbahn des Wald-und-Wiesen-Flugplatzes aufsetzte, wusste sie die Antwort auf ihre Frage. Es hatte damit begonnen, dass sie im Winter 1926 im Alter von zehn Jahren an Scharlach erkrankte und mehrere Wochen lang von ihrer zwei Jahre älteren Schwester getrennt worden war, um diese nicht anzustecken. Danach begann sich die tiefe Kluft, die zu einem schrecklichen Abgrund werden sollte, zwischen ihnen zu öffnen. Und wenn auch das Verhängnis in Wirklichkeit schon viel früher seinen Anfang genommen hatte, so zeigte es in den letzten Wochen des bedrückend langen Winters von 1926 doch zum ersten Mal unverhohlen seine hässliche Fratze.

Ja, meine Krankheit machte den Ausbruch einer ganz anderen Krankheit erst möglich, dachte Emily und schauderte, als die Erinnerung sie wie ein Sog ergriff und mehr als vierzig Jahre zurück in ihre Vergangenheit zog …

Teil 1

Prince Edward Island
1926–1935

1

Erst zwei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit traf Doktor Norman Thornton mit seinem Pferdeschlitten bei den Foresters ein. Schnee bedeckte sein Cape aus grober schwarzer Wolle und fand sich, mit einigen kleinen Eisklumpen, auch in seinem dichten, zotteligen Vollbart, der die Farbe von Eisenspänen hatte.

»Dem Himmel sei Dank, dass Sie endlich da sind, Doktor!«, rief Agnes Forester ihm zu, kaum dass er die Zügel festgebunden hatte und vom Sitz gestiegen war. »Unsere kleine Emily glüht schon seit Stunden vor Fieber!« Der Vorwurf in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Doktor Thornton zog seine abgewetzte Ledertasche unter einer alten Pferdedecke hervor. »Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte, Missis Forester. Oder hätte ich Heather Wilkins vielleicht verbluten und ihr Kind mit der Nabelschnur um den Hals ersticken lassen sollen?«, antwortete er auf seine direkte, bärbeißige Art.

»Sie wissen schon, wie ich es gemeint habe«, sagte Agnes Forester verlegen und schloss hinter ihm die Tür.

»Halt den Doktor nicht mit unnötigem Geschwätz auf, Agnes!«, wies Frederick Forester seine Frau ungehalten zurecht. Und an seine älteste Tochter Leonora gewandt, die stumm und mit blassem Gesicht in der Tür zur Küche stand, sagte er mit bedeutend sanfterer Stimme: »Wenn deine Mutter schon jegliche Höflichkeit vergisst, so nimm wenigstens du dem Doktor das nasse Cape ab und bring ihm eine Tasse Tee!«

»Ja, Dad!«, erwiderte Leonora eilfertig und nahm den schweren Umhang entgegen.

»Der Tee kann bis nachher warten!« Doktor Thornton stiefelte die Treppe ins erste Obergeschoss hinauf, ging den kleinen, dunklen Flur hinunter, vorbei an den Zimmern der Eheleute, und stand einen Augenblick später an Emilys Bett. An der gegenüberliegenden Wand der kleinen Kammer, nur durch eine alte Wäschekommode mit vier Schubfächern getrennt, befand sich das Bett ihrer älteren Schwester Leonora.

Mit rotfleckigem, schweißglänzendem Gesicht und fiebrigen Augen blickte das zehnjährige Mädchen zu Doktor Thornton auf, der zunächst den Docht der Petroleumlampe auf der Kommode höherschraubte, um mehr Licht zu haben, und sich dann über sie beugte. »Hast du starke Halsschmerzen, mein Kind?«, fragte er.

Emily nickte.

Doktor Thornton befühlte ihre Stirn, entblößte kurz ihre Brust, um dort den Ausschlag zu begutachten, und forderte sie dann auf, den Mund zu öffnen und die Zunge herauszustrecken. »Natürlich, Himbeerzunge! Das Kind hat eindeutig Scharlach«, verkündete er mit ernster Miene. »Das Mädchen muss sofort isoliert werden. Die Krankheit ist höchst ansteckend und kann einen bösen Verlauf nehmen.«

»Wir könnten die Dachkammer für sie herrichten«, schlug Frederick Forester vor und rieb sich über den Ellbogen seines halbsteifen linken Armes, den er nur noch arg eingeschränkt gebrauchen konnte. Seit ihm im Ersten Weltkrieg auf einem französischen Schlachtfeld ein Granatsplitter diese schwere Verletzung zugefügt hatte, plagten ihn bei starker Kälte Schmerzen.

»Da ist es viel zu eisig!«, widersprach seine Frau.

»Ach was, eisig ist es zur Zeit in jedem Zimmer außer in der Küche und im Laden! Hier ist es auch nicht anders«, entgegnete Frederick barsch. »Sie liegt ja im Bett und bekommt aufgeheizte Ziegelsteine unter die Decke geschoben. Da hat sie es warm. Und da sie eh vor Fieber glüht, ist die Dachkammer so gut wie jedes andere Zimmer auch!«

Doktor Thornton enthielt sich jeglichen Kommentars. Die Insulaner pflegten ihren ganz besonderen Stolz. Kein Außenstehender wagte es, einem Mann in seine häuslichen Angelegenheiten auch nur im Ansatz hineinzureden. Selbst für ihn als Arzt galten ganz enge Grenzen, was er sagen und vorschlagen durfte. Und diese Ratschläge mussten in viele vorsichtige Formulierungen wie »möglicherweise«, »wer weiß, ob nicht vielleicht« oder »könnte eventuell mal gelegentlich eine Überlegung wert sein« verpackt werden, um auch ja jeglichen Eindruck von Besserwisserei zu vermeiden. Zudem musste er Frederick Forester recht geben: In allen oberen Räumen herrschte bittere Kälte. Aber das war im Winter der Normalzustand. Nicht nur bei den Foresters, sondern in so gut wie allen Häusern auf Prince Edward Island. Sogar in seinem eigenen Heim fand er an manchem Morgen den Wasserkessel festgefroren auf der Herdplatte vor, wenn er die Nacht zuvor vergessen hatte, noch gut Holz nachzulegen – was viele Inselbewohner für eine Verschwendung von kostbarem Brennholz hielten.

Damit war die Angelegenheit entschieden. Agnes wickelte ihre kranke Tochter in warme Decken und wiegte sie in ihren Armen wie ein Baby, bis Frederick das Eisengestell von Emilys Bett auseinandergeschraubt, oben in der Dachkammer wieder zusammengebaut und auch die mit Stroh gefüllte Matratze die steile Treppe hinaufgeschafft hatte.

Bevor ihre Mutter mit ihr in der Dachkammer verschwand, erhaschte Emily noch einen kurzen Blick auf das angsterfüllte Gesicht ihrer Schwester, die am Fuß der Stiege stand und eine Hand erhoben hatte, als wollte sie ihr zum Abschied zuwinken. Sie sagte auch noch etwas, denn Emily sah, wie Leonora die Lippen bewegte. Doch nicht ein Wort drang durch das wilde Pochen und Rauschen, das ihre Ohren erfüllte. »Muss ich jetzt sterben, Mom?«, flüsterte Emily, und jedes Wort ließ die Schmerzen in ihrem Hals jäh aufflammen. »Komme ich jetzt vor Gottes Strafgericht?«

»Was redest du denn für ein dummes Zeug!«, schalt ihre Mutter sie liebevoll. »Natürlich wirst du nicht sterben. Du bist zäh und wirst das im Handumdrehen hinter dich bringen. Und habe ich dir nicht schon mal gesagt, dass du dir diese … harschen Buß-und Fegefeuerpredigten von Reverend Sedgewick nicht so zu Herzen nehmen sollst? Du hast nichts auf dich geladen, wofür du gestraft werden müsstest. Und überhaupt ist Gott kein unbarmherziger Richter.«

Emily sah ihre Mutter mit erleichterter Verwunderung an und ignorierte ihre starken Halsschmerzen. Es geschah selten, dass ihre Mutter so wie jetzt aus sich herausging und dermaßen offen zu ihr sprach. »Dann … dann stimmt das also alles gar nicht, was Reverend Sedgewick über Gott predigt?«

Agnes Forester zögerte kurz. »So kann man das auch nicht sagen. Reverend Sedgewick ist gewiss ein ehrenwerter und gottesfürchtiger Mann, mein Kind. Aber es gibt nun mal Menschen, die reden immer nur von der Finsternis und vergessen darüber ganz, dass im Leben alles zwei Seiten hat – und diese andere Seite ist der lichte Tag mit dem Sonnenschein. Und Gott ist zuallererst das Licht und die barmherzige Liebe, mein Kind, nicht das Dunkel und das Strafgericht.«

Emily dachte kurz darüber nach. »Dann ist Mister Sedgewick also ein Prediger der Finsternis?«

Agnes Forester seufzte und vermied eine direkte Antwort. »Es ist traurig, dass manche Menschen sich beharrlich in die Dunkelheit verkriechen, anstatt ins warme Sonnenlicht zu treten. Leider zählt Mister Sedgewick zu ihnen.«

»Muss er einem dann nicht leidtun?«, krächzte Emily.

Ihre Mutter stutzte über die Frage und nickte dann mit einem feinen Lächeln. »Ja, das muss er wohl. Aber das bleibt besser unter uns, versprichst du mir das?«

Emily nickte ernst und kreuzte dann Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand zum Schwur. Mit ihrer Mutter ein solch gewichtiges Geheimnis zu teilen, war etwas Wunderbares und Aufregendes und gab ihr das Gefühl, schon fast erwachsen zu sein. Sie hatte noch nie mit ihrer Mutter ein Geheimnis geteilt, und Leonora bestimmt auch nicht.

»Ich bin gleich wieder bei dir und mache dir einen Wadenwickel«, versprach Agnes Forester und erhob sich vom Bett. Als sie die Stiege hinunterkam, drang von unten vor der Tür zur Küche die Stimme ihres Mannes zu ihr. »Was ist es denn geworden, der Zuwachs bei den Wilkins, Doc?«

»Wieder ein Junge, Frederick. Prächtiges Kerlchen. Fast neun Pfund schwer und kräftig wie ein kleiner Ochs!«

Agnes Forester hörte ihren Mann kurz und freudlos auflachen. »Der dritte Sohn, den Heather zur Welt gebracht hat. Ja, diese Frau weiß eben, worin ihre Aufgabe besteht und was sie ihrem Mann schuldig ist!«

Agnes wankte wie unter einem unverhofften Schlag ins Gesicht. Ihre Hand umklammerte das Treppengeländer, während sie sich so heftig auf die Lippen biss, dass ihr die Tränen kamen.

Doktor Thornton räusperte sich und sagte verlegen: »Nun ja, die Launen der Natur …« Er brach ab. »Ah, da ist ja der versprochene Becher Tee. Ich danke dir, Leonora.«

Die Männer gingen in die warme Küche.

Agnes Forester verharrte noch eine ganze Weile im dunklen, kalten Flur. Sie weinte bittere Tränen, weil sie in so vielen Dingen versagt und schwere Schuld auf sich geladen hatte. Besonders als Ehefrau, die ihrem Mann nur zwei Mädchen geschenkt und bei fünf schweren Fehlgeburten drei Söhne verloren hatte. Alles andere hätte Frederick ihr verzeihen können, nicht aber, dass sie ihm keinen Stammhalter geboren hatte. Dafür gab es keine Entschuldigung. Nicht nur in seinen Augen. Das war eine Schande und Schuld, die sie bis zu ihrem Tode quälen würde. Und als ob das noch nicht genug der Seelenpein wäre, gab es in ihrem Leben noch andere schwerwiegende Sünden. Manchmal glaubte sie, nicht mehr die Kraft und den Willen zum Weiterleben zu haben.

Aber allein dieser Gedanke war schon eine schreckliche Versündigung, der sie widerstehen musste. Und bisher hatte sie auch noch immer genug Kraft und Demut gefunden, um ihr Kreuz weiterhin klaglos zu tragen. Hatte sie ihr bitteres Los denn nicht auch mehr als verdient? Ja, wohl schon, daran gab es für sie nicht den geringsten Zweifel. Zu groß war die Schuld, die sie auf sich geladen hatte.

2

Das Fieber, das tagelang das Leben aus Emilys schmächtigem Körper zu brennen versuchte, bescherte ihr eine Vielzahl von Träumen – grässliche wie märchenhaft schöne. Oftmals verschwammen aber auch Wirklichkeit und Phantasie miteinander. Wann immer sie jedoch die Augen öffnete, sah sie ihre Mutter an ihrem Bett sitzen oder über sie gebeugt, wie sie ihr neue Wickel anlegte, ihr das Gesicht abwusch oder ihr heiße Fleischbrühe Löffel für Löffel einflößte.

Ihre Mutter begleitete sie häufig in jene Träume, die von beglückend märchenhafter Art waren. Einmal jedoch verwandelte sich die friedvolle Atmosphäre in einen hässlichen Alptraum, der von einem Ausbruch an Gewalt beherrscht wurde. Emily vergaß alle Träume, bis auf diesen einen, wenn sie von ihm auch nur eine vage Erinnerung bewahrte. Es blieben nur einige wenige Bilder in ihrem Gedächtnis haften: ihre Mutter, die eine wunderschöne Kette mit kleinen jadegrünen Perlen in der Hand hielt und einen wundersamen Zauberspruch sagte, ein Wirbel von tausend Schneeflocken, die seltsamerweise jedoch keine Kälte, sondern Wärme und Sonnenschein mit sich führten, und dann das Bild einer groben Faust aus blauem Eis, die ihre Mutter zum Schreien brachte. Die Kette riss, und plötzlich floss Blut aus dem Mund ihrer Mutter, und in diesem Blut schwammen die einzelnen Perlen.

Über drei Wochen, bis in die zweite Märzwoche hinein, blieb Emily in der Dachkammer isoliert. Als sie die ersten zehn kritischen Tage überstanden hatte und das Fieber zu sinken begann, fragte sie nach ihrer Schwester und ihrem Vater: »Warum kommen Leonora und Dad nie zu mir?«

»Weil Doktor Thornton jeglichen Besuch verboten hat. Du könntest sie ja noch immer anstecken«, antwortete ihre Mutter.

»Und du allein kannst dich nicht anstecken?«, wunderte sich Emily und wünschte, wenigstens Caroline, ihre beste Freundin, dürfte sie besuchen kommen. Aber wer sollte sie mit ihrem Rollstuhl bis unter das Dach tragen? Denn Caroline Clark war seit ihrer Kinderlähmung vor vier Jahren auf Rollstuhl und Krücken angewiesen.

Agnes lächelte sie zärtlich an. »Ich bin deine Mutter, Kind. Wer sollte dich denn sonst pflegen?«, antwortete sie und richtete die Genesungswünsche der Nachbarn und Freunde aus – sowie die der wenigen Kunden, die den Stoffladen von Frederick Forester am östlichen Ortsrand von Summerside überhaupt noch zu betreten wagten, solange seine jüngste Tochter bekanntlich mit einer ansteckenden, gefährlichen Krankheit daniederlag.

Doktor Thornton machte regelmäßig Krankenbesuche. »Weil er weiß, dass er von mir ordentlich und umgehend bezahlt wird«, erklärte Frederick nicht ohne Stolz. »Die meisten seiner Patienten lassen ihn endlos auf seiner Rechnung sitzen. Und bei so mancher Niederkunft vergelten sie ihm seine Dienste, indem sie das Neugeborene raffinierterweise auf seinen Namen taufen lassen. Denn das ist Lohn, nämlich Gotteslohn, genug, so ist es nun mal der Brauch. Deshalb findet man in Summerside und Umgebung ja auch überdurchschnittlich viele Kinder, die Norman und Norma heißen. Glaub mir, dass der Doc diese Unsitte unter seinen zahlungsscheuen Patienten mehr als alles andere verflucht.«

Als Emily sich wieder besser fühlte, aber von Doktor Thornton zur Sicherheit noch immer in Quarantäne gehalten wurde, verbrachte sie viele Stunden vor dem kleinen Giebelfenster. Eingewickelt in mehrere Decken, kauerte sie in einem alten Korbstuhl, hauchte gegen die mit Eisblumen bedeckte Scheibe, um mit ihrem warmen Atem ein Guckloch zu schaffen, und blickte hinaus in die verschneite Landschaft. Am unterschiedlichen Glockenklang der Schlitten versuchte sie zu erraten, wer da wohl gerade über die verschneiten Felder an ihrem Haus vorbeiglitt.

Ihr Blick reichte weit: Ober den Obsthain der Duncans, die Farm von Silas und Hazel Robinson und die dahinterliegenden Felder, die sich wellenförmig wie die erstarrten Wogen einer einst bewegten See kilometerweit nach Norden und Osten erstreckten und von den Spuren der Pferdeschlitten durchzogen waren. Denn das schlichte Haus der Foresters mit dem schmalen Anbau hinter dem Laden, über dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift Forester’s Fine Fabrics hing, lag am äußersten nordöstlichen Ortsrand von Summerside.

Mit den feinen Stoffen war es jedoch nicht sehr weit her. Die wenigsten der knapp viertausend Einwohner der geschäftigen Hafenstadt begaben sich bis in die Russell Street, wo schon die ersten Farmen lagen, um bei Frederick Forester Stoffe einzukaufen, geschweige denn, um wirklich feines und teures Tuch zu erstehen. Dieses Geschäft machten zwei andere Kaufleute, die ihre eleganten und wohlsortierten Läden mit holzgetäfelten Verkaufsräumen und edlen Porzellanlampen über den goldbraunen Verkaufstischen im Herzen von Summerside hatten, nämlich unten im Süden, in der belebten Water Street am Hafen sowie an der Ecke Central und First Street. Wer bei Frederick Forester als Kunde in den Laden trat, gehörte zumeist zur Landbevölkerung und brauchte hauptsächlich derben Drillich für die Arbeit auf den Farmen, strapazierfähigen Kord, robuste Wolle für den Winter sowie einfaches Leinen und billigen Kaliko für die heißen Sommermonate – und ließ nicht selten bis zur nächsten Ernte oder zum nächsten Schlachttag anschreiben.

Emily verbrachte auch viel Zeit damit, von ihrem Bett aus auf die unzähligen Nägel zu schauen, mit denen die Dachschindeln befestigt waren. Gut daumenlang ragten sie aus den unverkleideten Sparren heraus, und an besonders kalten Morgen hing an jedem Ende ein kleiner weißer Eiszapfen. Dann stellte sie sich vor, sie befände sich in einem unterirdischen Eislabyrinth, das aus unzähligen solcher Eiszapfen bestand und aus dem sie nur dann wieder herausfand, wenn sie sich den Weg ganz genau merkte, den ihr Blick durch diesen Irrgarten aus Eis nahm. Aber sosehr sie sich auch bemühte, dieses Gedankenspiel möglichst lange hinzuziehen, es beanspruchte doch nur einen Bruchteil der schrecklich vielen Stunden, die sie vom Morgen bis zur nächsten Nacht allein in der Dachkammer verbrachte, isoliert von ihrer vertrauten Welt mit ihren vielfältigen Beschäftigungen, Ablenkungen, Pflichten und Begegnungen.

Allein die Besuche ihrer Mutter und die des Arztes unterbrachen Emilys Einsamkeit, die mit jedem Tag quälender wurde. Keiner von beiden blieb jedoch lange genug, um ihre Sehnsucht nach Gesellschaft auch nur annähernd zu stillen. Doktor Thornton hielt sich nie länger als ein, zwei Minuten an ihrem Krankenbett auf, und ihre Mutter bekam spätestens nach einer halben Stunde Gewissensbisse, weil sie so lange ihre häuslichen Pflichten vernachlässigte. »Sei vernünftig, Kind! Ich kann hier nicht stundenlang bei dir sitzen und dem lieben Herrgott die Zeit stehlen. Die Arbeit im Haus tut sich nun mal nicht von selbst!«, sagte sie mehr als einmal, wenn Emily bettelte, sie möge doch noch etwas bleiben. Sie machte ihr jedoch ein Geschenk, von dem sie hoffte, dass es ihrer Tochter helfen würde, die vielen einsamen Stunden besser zu ertragen.

Freudig erregt öffnete Emily das zerknitterte braune Packpapier. Ihr fielen zwei brandneue Bleistifte entgegen, und dann hielt sie ein Buch in der Hand, auf dessen Deckel ein Bild abgedruckt war, das zarte Rosenblätter auf einem Spitzentaschentuch zeigte. Als sie das Buch aufschlug, das gar keinen Titel trug, stellte sie fest, dass alle Seiten leer waren. »Was ist das, Mom?«, fragte sie verwundert.

»Ein Tagebuch oder Poesiealbum, ganz wie du willst, mein Kind«, erklärte ihre Mutter mit strahlender Miene. »Du kannst tausend Dinge, die dir in den Sinn kommen, in dieses Buch malen oder schreiben. Da vergeht die Zeit wie im Flug. Später kannst du auch gepresste Blumen oder gar eine Locke deiner besten Freundin einkleben. Glaube mir, es ist etwas Wunderbares, so ein Tagebuch und Poesiealbum zu haben. Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Als junges Mädchen habe ich einst auch solch ein Buch besessen, und es war mein kostbarster Schatz.«

Emily hatte Mühe, sich ihre Enttäuschung über ein derart unpraktisches Geschenk nicht anmerken lassen. Was sollte sie mit so einem Buch? Weder verstand sie sich aufs Zeichnen, noch hatte sie vor, niederzuschreiben, was ihr durch den Sinn ging. Wozu auch? Sie wusste doch auch so, was sie beschäftigte. Und dass ihre Mutter einst Zeit damit verbracht haben sollte, in solch einem Büchlein irgendetwas aufzuschreiben, erschien ihr äußerst unglaubwürdig. Mit ihrer Mutter verband sie nur Bilder einer stets beschäftigten, schwitzenden Frau, die beispielsweise in der dampfenden Waschküche über das Waschbrett gebeugt stand oder die jeden Abend in der Küche den Teig für das Brot des kommenden Tages knetete und dabei nie vergaß, aus dem Vaterunser die Zeile »Herr, gib uns unser tägliches Brot« zu zitieren, bevor sie das Blech mit dem Teiglaib in den Ofen schob. Das Bild ihrer Mutter jedoch, wie sie etwas ganz und gar Unnützes tat, nämlich etwas in ein Tagebuch zu kritzeln, erschien ihr geradezu lächerlich und überstieg ihre Vorstellungskraft bei Weitem. Aber auch wenn sie nichts Rechtes mit diesem Buch voll leerer Seiten anzufangen wusste, so blieb es doch ein Geschenk, und allein das war schon etwas Besonderes, gab es Geschenke doch sonst nur zu Weihnachten. Ihre Mutter hatte ihr eine Freude machen wollen, das rührte sie, wie unsinnig die Wahl des Geschenkes auch ausgefallen sein mochte. Zudem sah das Bild mit den Rosenblättern auf dem Vorderdeckel wirklich hübsch aus. Und warum sollte sie nicht auch etwas besitzen, wofür sie keine praktische Verwendung wusste?

Mit diesen Gedanken fiel es Emily nun nicht mehr ganz so schwer, ein überzeugendes Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern, als sie sich artig für das wunderbare Poesiealbum bedankte.

»Du wirst sehen, es wird dir viel Freude bereiten!«, versicherte ihr die Mutter und hastete zurück zu ihrer Arbeit.

Wenn Caroline nicht gewesen wäre, hätte Emily die leeren Seiten des Poesiealbums vielleicht doch schon bald mit gelangweiltem Gekritzel verschmiert. Doch ihre Freundin bewahrte sie davor und machte ihr ahnungslos ein Geschenk, das Emily ihr ganzes Leben lang beglücken sollte.

Ob nun Fügung oder Zufall, auf jeden Fall brachte ihre Mutter ihr am nächsten Morgen ein schweres, in Leinen gewickeltes Paket ans Bett. »Das hat Mister Rhodes gerade im Laden für dich abgegeben«, teilte sie ihr mit, eine Spur von Stolz in der Stimme. »Ich soll dir die besten Grüße von Caroline bestellen, und er wünscht dir schnelle Genesung, natürlich auch im Namen seiner Herrschaft.«

Emilys Gesicht leuchtete auf. Sie fragte sich gespannt, mit was Caroline sie da wohl bedacht hatte.

Ihre Mutter bewegte jedoch etwas anderes. »Du wirst nicht glauben, wer zufällig im Laden stand. Edwina Cobbs! Natürlich hat sie sich nicht ein Wort entgehen lassen. In ein paar Stunden wird es die ganze Nachbarschaft wissen, dass der Commodore seinen Fahrer zu uns geschickt hat.« Sie lachte kurz auf. »Na, deinem Vater wäre es natürlich zehnmal lieber, wenn anstelle des Fahrers die Frau des Commodore mal unseren Laden betreten würde. Aber eine vornehme Dame wie sie lässt natürlich in Boston schneidern und würde sich nie im Leben ihre Stoffe in einem Geschäft wie dem unsrigen aussuchen.«

Das mit einer hübschen blauen Kordel verschnürte Leinenpaket enthielt drei in Leder gebundene Bücher und einen Briefbogen aus schwerem cremeweißen Büttenpapier, den Caroline wohl vom Sekretär ihrer Mutter stibitzt hatte, wie das Monogramm HC, das für Heather Clark stand, verriet. Caroline schrieb ihr mit schöner, rundschwingender Handschrift:

Liebe Emily,

ich bin keine große Briefeschreiberin, aber von wochenlangem Im-Bett-Liegen verstehe ich eine ganze Menge, wie Du weißt. Von Büchern, die mich oft vor dem Verzweifeln bewahrt haben und noch heute zu meinen treuesten Freunden zählen (natürlich erst lange nach Dir!), hast Du ja bisher nichts wissen wollen, Du Sturkopf. Aber vielleicht versuchst Du es jetzt doch einmal. Zeit hast Du ja genug. Du kannst beruhigt sein: Bücherlesen führt nicht bei jedem gleich zur Sucht so wie bei mir, und Du riskierst auch keine Blutarmut, wenn Du mal ein Buch zur Hand nimmst und ein paar Stunden darin liest. Ich habe drei von meinen Lieblingsbüchern für Dich ausgesucht. Wehe, sie gefallen Dir nicht! Lass auf alle Fälle den Kopf nicht hängen. Du bist bestimmt im Handumdrehen wieder auf den Beinen