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Corinna Kastner

Allein mit der Mafia

Roman

hockebooks

Dank

Dieser Roman hätte nicht geschrieben werden können ohne jede Menge Unterstützung.

Mein Dank gilt daher meinen „Testlesern“: meinem Mann Jörg Kastner, der mit mir außerdem die toskanischen Bergdörfer und Neapel erkundet hat; meiner Mutter Ursula Koch für ihre Geduld und die beständige Ermutigung, nicht aufzugeben; Gerit Stenitzer und Susanne Rase für jede Menge Kommentare und Anregungen; Louise Kämmerer für viele, viele Diskussionen bei ebenso vielen Cappuccini und für die ständigen Hinweise, dass Männer anders denken als Frauen.

Meinem Agenten Roman Hocke danke ich für viele hilfreiche Tipps, konstruktive Kritik und Ratschlag in italienischen Fragen.

Ines Schumann gebührt ein dicker Dank dafür, dass sie es klaglos ertragen hat, eine Zeit lang beinah täglich über den neuesten Stand der Dinge informiert und mit Marco Masini beschallt zu werden.

Mein Dank aber auch und besonders an Neapel. Was der Schriftsteller Luciano de Crescenzo über seine Heimat gesagt hat, habe ich selbst erleben dürfen: „Neapel ist nicht bloß eine Stadt – Neapel ist eine Geisteshaltung.“

Die Autorin

Corinna KastnerCorinna Kastner

„Ein Buch zu schreiben, ist für mich wie ein Abenteuer, in dem ich selbst zuweilen genauso überrascht werde wie die Leser.“

Corinna Kastner, geboren in der Rattenfängerstadt Hameln, arbeitet am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung in Hannover. Seit 2005 veröffentlicht sie schauplatzorientierte Spannungsromane. Nachdem sie ihre Leser mit ihren ersten drei Romanen Eileens Geheimnis, Das Erbe von Ragusa und Die geheimen Schlüssel (Lübbe) begeistert hat, belegte sie mit Die verborgene Kammer (ebenfalls Lübbe) 2010 den dritten Platz beim DeLia Literaturpreis. Es folgten die beiden Regios Fischland-Mord und Fischland-Rache (emons), mit denen sie nicht nur ihrer Liebe zum Fischland an der Ostsee, sondern auch der zum Genre Krimi folgte. Corinna Kastner lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Jörg Kastner, in Hannover.

Teil 1

I.

An jenem Abend, an dem alles begann, war die Mafia für mich nichts weiter als eine dubiose Organisation aus wahlweise Italien, China oder Russland, von der ich zwar gehört hatte, die mich aber weder interessierte, geschweige denn etwas anging. Hätte mich jemand danach gefragt, wäre meine gleichgültige Antwort gewesen, dass ich Schutzgelderpressungen von der kleinen Pizzeria um die Ecke bloß aus Filmen kenne, in denen irgendein Commissario mal wieder allein gegen die Mafia kämpfte.

Ein paar Stunden später hätte ich ganz was anderes gesagt.

An jenem Abend war ich eine langweilige graue Maus mit einem unscheinbaren, langweiligen Leben. Ich arbeitete in der Firma meines Vaters in der PR-Abteilung, was am Anfang ziemlich spannend gewesen war. Da aber jeder Job nach zehn Jahren Routine wird, blieb auch mir das nicht erspart. Noch eine Routine hatte sich eingeschlichen: mein Dauerverlobter Alex. Natürlich arbeitete er auch für meinen Vater und war nicht interessanter als der Rest meines Lebens. Trotzdem war ich gar nicht mal so unzufrieden, obwohl ich mir zuweilen wünschte, es würde endlich mal was passieren – nicht dass ich hätte sagen können, was genau das sein sollte. Im Großen und Ganzen jedenfalls hatte ich es mir bequem eingerichtet mit Alex, einer netten Eigentumswohnung und zweimal Urlaub im Jahr.

Ich saß mit meinen Freundinnen im La Piazzetta, vor uns standen Pasta mit Sahnesößchen, wir tranken Rotwein dazu und lästerten über alle, die gerade nicht da waren. Alles wie immer. Nach zwei Stunden ungehemmten Lachens waren wir wieder so weit aufnahmebereit, um uns an das Dessert zu machen. Es spielte keine Rolle, dass die meisten von uns lieber auf den Nachtisch hätten verzichten sollen.

Ines winkte Enrico, dem Kellner, der uns mit vergnügtem Lächeln und in einem netten Mischmasch aus Deutsch und Italienisch nach unseren Wünschen fragte. Pannacotta, Tiramisu, Cassata, Tartufo. Die Auswahl war so groß wie kalorienreich. Wir schwatzten weiter und achteten gar nicht darauf, dass die Kellner nicht wie gewohnt zwischen den Tischen hindurcheilten, sondern auf rätselhafte Weise verschwunden waren. Bis Ines meinte: „Das dauert aber heute mit dem Dessert. Allmählich krieg ich wieder richtig Hunger!“

Auch mein Magen meldete sich gerade unüberhörbar. „Ich frag mal, wo der Nachtisch bleibt“, verkündete ich und ging hinüber zur Theke, hinter der Enrico stand.

„Sie haben uns doch wohl nicht etwa vergessen?“, fragte ich lächelnd.

No, no, Signorina, das Dessert kommt sofort.“ Er lächelte ebenfalls, allerdings wirkte das bei ihm etwas gequält, sein Blick huschte zur Tür, die in die Küche führte.

Etwas unsicher hakte ich noch einmal nach. „Ist alles in Ordnung?“

Den Blick nicht von der Tür nehmend, antwortete Enrico geistesabwesend – und zum ersten Mal seit ich ihn kannte vollkommen akzentfrei: „Sicher, geht gleich weiter.“

Ich zuckte mit den Schultern und wandte mich ab, da hörte ich aus der Küche laute Stimmen und Geräusche, die an eine Schlägerei erinnerten. Ich blieb stehen. In der Küche fiel etwas mit lautem Scheppern zu Boden. Ich schaute Enrico an, der blass geworden war.

„Bitte, Signorina“, brachte er schließlich heraus und fand dabei nur mit Mühe sein Lächeln – und den Akzent – wieder. „Setzen Sie sich, ich bin sofort für Sie da.“

Als ich zu unserem Tisch zurückkehrte, merkte Susanne gleich, dass etwas nicht stimmte. „Ich könnte wetten, dass da was im Busch ist“, erklärte ich und berichtete von den Geräuschen aus der Küche.

„Schutzgelderpressung!“, sagte Elke sofort.

„Quatsch!“, protestierte Susanne. „Wir sind doch hier nicht beim Paten! Das ist nur die Piazzetta.“

„Na und?“, gab Elke zurück. „Egal, was es ist, wenn da eine Schlägerei im Gange sein sollte, müssen wir auf jeden Fall die Polizei rufen.“

„Wegen einer Streiterei in der Küche?“, fragte Ines amüsiert. „Vielleicht schlagen die sich da nur, weil der Koch was mit der Schwester des Küchengehilfen angefangen hat. Die Polizei wird sich bedanken.“

„Und wenn das nun doch mehr ist? Wo sind denn plötzlich alle Kellner hin?“

Man konnte Elke nun übereifrige Fantasie nachsagen oder nicht, aber sie hatte recht. „Ich ruf jetzt an.“ Damit zog sie ihr Handy hervor.

„Jetzt warte erst mal! Stell dir vor, die rücken hier an, und es ist gibt weiter keine Probleme als eine Menge verbrannten Pizzateig!“, wagte ich einzuwenden.

„Besser Vorsicht als Nachsicht.“ Elke hatte schon gewählt und bestellte tatsächlich mit leiser Stimme die Polizei ins Restaurant.

Ich war mir nicht ganz sicher, was ich eigentlich mehr befürchtete: dass Elkes Sorgen berechtigt waren oder dass wir uns komplett lächerlich machten und hinterher eine Klage wegen was auch immer am Hals hatten.

Keine fünf Minuten später betraten zwei Beamte das Restaurant. „Hat hier jemand die Polizei gerufen?“, fragte ein Streifenpolizist, kaum älter als fünfundzwanzig.

Elke hob die Hand wie in der Schule. Flüchtig schaute ich hinüber zu Enrico, der beim Auftauchen der Uniformen kreideweiß geworden war. Vielleicht war doch was dran an unseren Befürchtungen? Zu diesem Schluss kamen wohl auch die beiden Polizisten, die sich an Enrico wandten.

Bis heute weiß ich nicht, was mich für ein Teufel ritt. Vielleicht dachte ich, dass jetzt endlich mal etwas wirklich Aufregendes passierte, etwas, das mich herausriss aus der gnadenlosen Monotonie meines Alltags. Jedenfalls stand ich hinter einem der Polizisten, als sie die Tür zur Küche aufstießen.

Eine Sekunde später wünschte ich mich zurück in mein langweiliges Dasein. Es knallte, und etwas zischte an meinem Kopf vorbei, das mich beinah getroffen hätte. Stattdessen traf es den jungen Streifenpolizisten, der gar nicht mehr dazu kam, seine Waffe zu ziehen. Er stieß einen erschrockenen Schrei aus, gleichzeitig riss es ihn zu Boden. Ich registrierte gerade noch, dass die Kugel ihn an der Schulter erwischt hatte, da wurde ich von hinten gepackt und spürte etwas Kaltes an meiner Schläfe.

„Keiner bewegt sich“, sagte eine unangenehme Stimme dicht an meinem Ohr. „Oder sie ist tot.“

Ein Arm drückte mir fast die Kehle zu, ein zweiter schob mich rücksichtslos nach vorn, vorbei an dem zweiten Polizisten, der, die Waffe in der Hand, regungslos verharrte, vorbei an unserem Tisch. Ich sah nichts von meinen Freundinnen, nur die mit italienischen Fresken bemalte Decke des Restaurants, die auf mich zuzukommen schien.

Neben dem Mann, der mich festhielt, erschien plötzlich der Schemen eines zweiten, der ihm die Tür aufhielt, während im Restaurant selbst noch gespenstische Stille herrschte. Ich hatte das Gefühl, zu ersticken und versuchte, mehr Luft zu bekommen, da lockerte sich der Griff um meinen Hals. Benommen nahm ich wahr, dass wir vor einem dunklen Wagen standen, auf dessen Rückbank ich unsanft gestoßen wurde. Gleich darauf stiegen die beiden Männer ein, einer neben mir, der andere schob sich hinters Lenkrad, ließ den Motor aufheulen und schoss mit quietschenden Reifen die Straße entlang. Alles, was ich je für sicher und selbstverständlich gehalten hatte, war von einem auf den anderen Moment wie weggewischt.

„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“, brüllte der Mann, der mich jetzt zwar losgelassen hatte, aber noch immer mit der Waffe vor meinem Gesicht herumfuchtelte. „Wer zum Teufel hat die Bullen gerufen? Wieso muss immer uns so was passieren? Das nächste Mal soll sich Massimo selbst …“

Der Mann am Steuer fuhr ihm mit einem italienischen Wort über den Mund. Zumindest klang es wie ein Wort. Es hätten aber auch zwei oder drei sein können. Trotzdem gehörte nicht viel dazu, das, was gesagt worden war, zu interpretieren. „Halts Maul!“

Ich saß da, zitterte vor Angst und bemühte mich dennoch krampfhaft, es nicht zu zeigen, auch wenn es den beiden vermutlich egal war, ob ich Angst hatte oder nicht. Die wollten bloß weg, und ich war ihnen nützlich gewesen.

Hinter uns hörte ich Sirenengeheul und fragte mich, ob ich darüber erleichtert sein sollte. Ich hatte genug gehört von Geiselnahmen, die blutig ausgegangen waren, von Geiseln, die in letzter Sekunde erschossen wurden, weil die Polizei nicht genau das tat, was man von ihr verlangte.

„Fahr schneller!“

Die Antwort kam wieder auf Italienisch, klang aber nicht so panisch wie die Stimme des Mannes mit der Pistole in der Hand. Ich verstand nicht, was der Fahrer sagte, ich begriff nur, dass er der Beherrschtere war. Von nun an wurde die gesamte Unterhaltung auf Italienisch bestritten. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redeten, obwohl es mit Sicherheit auch um mich ging. Draußen war es inzwischen dunkel geworden, ich hatte also nicht nur damit zu kämpfen, dass ich nicht wusste, was mit mir passieren sollte, sondern auch, dass ich meine Gegner kaum richtig sehen konnte.

Irgendwann mussten sie zu einer Einigung gekommen sein. Der Mann hinter dem Steuer raste weiter in wahnwitziger Geschwindigkeit durch die Straßen, kümmerte sich weder um rote Ampeln noch um entgegenkommenden Verkehr. Er fuhr schweigend und hatte jede Menge damit zu tun, die Polizeiwagen abzuhängen, die immer noch hinter uns waren. Er musste Bremen sehr gut kennen, er fuhr durch Gegenden, in denen ich nie zuvor gewesen war, obwohl ich mein ganzes Leben hier verbracht hatte. Schließlich ließen wir die Stadt hinter uns. Die durchdringenden Sirenen waren mittlerweile verstummt, unsere Flucht schien erfolgreich verlaufen zu sein. Was wurde in so einem Fall unternommen? Großfahndung, Straßensperren, Hubschraubereinsätze, das gab es zwar im Fernsehen, aber ich hatte keinen blassen Schimmer von der Wirklichkeit.

Wohin waren meine Entführer mit mir unterwegs? Warum ließen sie mich nicht endlich frei? Der Zweck meiner Geiselnahme war erfüllt, was wollten sie noch von mir? Die Stille im Wagen ließ mir jede Menge Gelegenheit, mir alles Mögliche über mein Schicksal auszumalen. Es gab nicht gerade überwältigend viele Alternativen – und keine davon gefiel mir besonders. Erst recht nicht, als mir ein Grund einfiel, weshalb ich noch immer in diesem Auto saß: Ich konnte sie identifizieren. Der Gedanke, dass das alle anderen Gäste im Restaurant vielleicht sogar viel besser konnten als ich, beruhigte mich wieder etwas. Schließlich hatte ich nicht wie der Rest auf einem Logenplatz gesessen und zusehen können.

Undeutlich erkannte ich zwischen der Kopfstütze und dem Sitz des Fahrers hindurch die Leuchtanzeige der Uhr: kurz vor zehn. Etwa zwanzig Minuten waren erst vergangen, seitdem ich unvorsichtigerweise vor der Küchentür im Weg gestanden hatte. Das immer noch anhaltende Schweigen zerrte jetzt an den Nerven meines Aufpassers, der sich plötzlich wieder rührte. Was er gesagt hatte, war nicht schwer zu verstehen. Der Fahrer kam ganz offensichtlich einer Aufforderung nach, als er das Radio einschaltete, aus dem das übliche Gedudel erklang, doch dann wurde der Song plötzlich unterbrochen.

„Eben erreicht uns die Meldung“, sagte eine noch sehr jung klingende weibliche Stimme, an der das Schönste war, dass sie eine Sprache sprach, die ich verstand, „dass bei einer Schießerei in einem Restaurant in der Innenstadt Anna Hoffmann, die Tochter des Microtronics-Inhabers Martin Hoffmann, entführt wurde. Bisher gibt es noch keine Lösegeldforderung. Weitere Angaben wollte die Polizei derzeit nicht machen.“

Na, großartig, dachte ich mit einem Anflug von Galgenhumor. Bisher hatten die Typen keine Ahnung gehabt, wer in ihrem Auto saß. Ich war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, meine Entführung nichts weiter als ein Zufall. Jetzt hörte ich, wie der Fahrer leise durch die Zähne pfiff. Dann sagte er etwas, auf das er von seinem Partner keine Antwort bekam, der mir dafür plötzlich seine Waffe in die Seite stieß.

„Hast du nicht gelernt, dass man antwortet, wenn man gefragt wird?“

„Dann müssen Sie sich schon die Mühe machen, deutsch zu reden“, wollte ich fauchen, heraus kam bloß ein Krächzen.

„Du bist die Tochter von Hoffmann?“ wiederholte der Mann am Steuer seine Frage.

Ich nickte nur resigniert, es hatte ja wohl keinen Sinn, das zu leugnen. Verbesserte oder verschlechterte das meine Lage? Wenn sie Lösegeld wollten, würden sie mich vielleicht nicht umbringen. Andererseits: vielleicht doch. Was machte das schließlich für einen Unterschied, wenn sie das Geld erst hatten?

Die beiden Männer fielen ins Italienische zurück. Dem Fahrer schien etwas eingefallen zu sein, seine Sätze hörten sich nicht mehr wie Maschinengewehrfeuer an, er redete langsamer, als dächte er laut. Der andere widersprach ein paarmal und setzte sich wohl tatsächlich am Ende durch. Der Fahrer griff nach einem Handy, drückte eine Taste mit einer eingespeicherten Nummer und wartete, während der Mann neben mir nervös mit den Fingern auf den Sitz trommelte.

Nach einem Moment begann der Fahrer zu sprechen, seine Stimme klang eine Spur weniger selbstbewusst als noch ein paar Augenblicke zuvor. Meine Entführer gehörten bestimmt nicht zur Spitze ihrer Organisation in Bremen. Sie waren nur die Handlanger, und holten jetzt wahrscheinlich Rat ein von jemandem, der mehr zu sagen hatte als sie. Dann hielt dieser Jemand am anderen Ende der Leitung einen längeren Monolog, der Mann vor mir hörte eine ganze Weile nur zu, murmelte hin und wieder ein „“ bis er sich zum Schluss mit einem längeren Satz verabschiedete. Nachdem er das Gespräch beendet hatte, schmiss er mit einem Aufstöhnen das Handy auf den Beifahrersitz.

„Was ist nun?“, fragte sein Partner ungeduldig, wobei er sogar vergaß, Italienisch zu sprechen.

Der Fahrer war klüger. Ich sah, wie er mich im Rückspiegel beobachtete, bevor er anfing zu erläutern, was weiter geschehen sollte. Ein paarmal meinte ich, ein oder zwei Namen herauszuhören, einer klang wie Lombardi, aber das konnte ich mir auch ebenso gut nur einbilden. Welcher Name es auch immer war, er löste einen Protest des Mannes neben mir aus. Er wurde zunächst harsch unterbrochen, doch was der Fahrer dann sagte, wirkte offenbar beruhigend auf seinen Freund.

Sì, sì“, brummte der schließlich vor sich hin, während er mich von oben bis unten musterte. Es tröstete mich kaum, dass er von mir genauso wenig sehen konnte wie ich von ihm. Aber die Frage nach dem Grund für diese Musterung jagte mir trotzdem kalte Schauer den Rücken hinunter.

„Sie brauchen keine Angst zu haben“, bequemte sich der Mann vor mir zu versichern. „Wenn Sie tun, was wir sagen, wird Ihnen nichts passieren.“

War das nicht das, was alle Entführungsopfer zu hören bekamen?

„Und was wollen Sie, dass ich tue?“, fragte ich leise.

„Schlafen Sie. Wir haben einen weiten Weg vor uns.“ Mit dem nächsten Satz sprach er wieder seinen Partner an, ich verstand ihn nicht.

Ich wusste, er hatte recht. Wenn ich das hier überstehen wollte, musste ich Kräfte sammeln. Aber wie sollte ich unter einer solchen Anspannung einschlafen können? Ich zwang mich, den Kopf gegen das Seitenfenster zu lehnen und die Augen zu schließen. Kurz darauf öffnete ich sie wieder. Auch wenn es verführerisch war, in einer Traumwelt zu versinken und zu vergessen, wo ich war, auch wenn ich noch so viele Kräfte sammeln musste: Ich durfte nicht einschlafen. Selbst wenn ich im Wagen kaum etwas sehen konnte. Das war immer noch besser, als den Entführern völlig schutzlos ausgeliefert zu sein. Ich musste wach bleiben, immerhin könnte ich so außerdem die Straßenschilder lesen und erkennen, wohin wir unterwegs waren.

Über eine Stunde hielt ich durch, so zu tun, als schliefe ich. Während der ganzen Zeit hoffte ich auf Großfahndungen, Hubschraubereinsätze und Straßensperren, eben auf alles, an das ich vorhin gedacht hatte. Aber die Entführer waren sehr schnell gewesen, sie hatten die Streifenwagen abgehängt und es geschafft, aus Bremen herauszukommen. Ihre Instruktionen erhielten sie praktisch nebenbei, während der Flucht. Niemand verlor unnötig Zeit. Wir waren der Polizei einfach durchs Netz geschlüpft.

Irgendwann merkte ich, dass mir immer öfter die Augen zufielen. Das Letzte, was ich sah, war, dass wir auf eine Autobahnauffahrt zur A2 in Richtung Berlin fuhren. Wie viel Zeit vergangen war, als mich etwas weckte, wusste ich nicht. Es war unverändert dunkel, aber das Wageninnere war heller als zuvor. Wir standen an einer Tankstelle. Der Fahrer hatte das Auto verlassen, doch der Mann neben mir bewachte mich noch immer, an ein Entkommen war nicht zu denken. Kurze Zeit später fuhren wir weiter, und obwohl ich mich erneut bemühte, wach zu bleiben, gelang es mir nicht.

Das nächste Erwachen war weniger sanft. Ich spürte einen Stoß in meine Rippen und schlug erschrocken die Augen auf. Es war beinah hell draußen, doch bevor ich mehr erkennen konnte als einen einsamen Parkplatz mit einer schwach beleuchteten Imbissbude am anderen Ende, wurde mir der Kopf nach hinten gerissen und ein schweres schwarzes Tuch vor die Augen gebunden. Vermutlich sollte ich nicht nur daran gehindert werden zu sehen, wohin die Fahrt ging, sondern auch daran, später Phantombilder von meinen Entführern anfertigen zu lassen.

Während ich zwangsweise stillhielt, als die Augenbinde noch einmal zur Sicherheit straff gezogen wurde, hörte ich, wie sich die Tür neben mir öffnete.

„Vorsicht, es ist heiß“, sagte die Stimme des Fahrers. Damit drückte er mir einen Becher Kaffee in die Hand. Fast dankbar nahm ich ihn und trank zwei Schluck, an denen ich mir die Zunge verbrannte.

Allora?“, fragte der Typ an meiner Seite gespannt.

Va bene“, antwortete der Fahrer, und das verstand sogar ich. Was folgte, war jedoch wieder nur ein Schwall Wörter, die ich nicht mal auseinanderhalten konnte, die aber beide zufriedenzustellen schienen. Ich konnte nur vermuten, dass der Fahrer in der Zwischenzeit wegen weiterer Instruktionen mit jemandem telefoniert hatte. Vielleicht mit demjenigen, zu dem wir unterwegs waren.

„Was …“ Ich musste mich räuspern „Was haben Sie mit mir vor?“

„Wir gar nichts mehr, Signorina.“ Das war wieder der Fahrer. „Das werden andere entscheiden.“

Ich schwieg, aber als ich hörte, wie der Zündschlüssel im Schloss gedreht wurde, fragte ich in einer Anwandlung von Mut: „Könnte ich … ich meine, ich müsste mal …“

„Dafür ist keine Zeit. Aber wir sind nicht mehr lange unterwegs.“

Was hatte ich denn geglaubt? Dass ich in einem unbeobachteten Moment durch ein Gebüsch entwischen konnte? Seufzend lehnte ich mich wieder zurück.

Keiner der beiden Männer sagte etwas, bis wir etwa eine halbe Stunde später einen kurzen Moment anhielten. Der Fahrer musste sein Fenster heruntergelassen haben, ich spürte einen leichten Windhauch. Gleichzeitig hörte ich sein undeutliches Murmeln und vermutete, dass er uns in diesem Moment wohl durch eine Gegensprechanlage anmeldete. Ein Tor wurde geöffnet, und ich stellte mir vor, wie der Wagen eine lange Auffahrt entlang auf ein beeindruckendes weißes Gemäuer mit Marmorsäulen zufuhr. Wahrscheinlich hatte ich doch zu viele Mafia-Filme gesehen, denn zu allem Überfluss entstand ungewollt vor meinem inneren Auge das Bild eines ergrauten Paten mit Sonnenbrille, der von einem Leibwächter flankiert wurde und auf uns wartete.

Als ich an dieser Stelle mit meinen Gedanken angekommen war, hob ich reflexartig die Hand, um das schwarze Tuch von meinen Augen zu schieben. Ich kam nicht sehr weit, der Mann neben mir riss meinen Arm herunter und zischte: „Versuch das nicht noch mal! Ist besser für dich!“

Zitternd sackte ich auf dem Sitz zusammen. Was war in mich gefahren? Wenn ich überleben wollte, sollte ich lieber so wenig wie möglich sehen.

Kurz darauf wurde ich aus dem Auto geschoben und stand unsicher auf einem Kiesweg, auf dem ich mich mit meinen hochhackigen Schuhen nicht besonders gut halten konnte. Doch schon stolperte ich weiter vorwärts, die Stimme des Fahrers sagte dicht an meinem Ohr: „Vorsicht, Treppe“. Gerade noch rechtzeitig, sonst wäre ich im Dreck gelegen. Es waren vier Stufen, dann hielt mich eine Hand davor zurück weiterzugehen.

Der Mann, der stundenlang an meiner Seite gesessen hatte, war beim Wagen geblieben. Seine Schritte waren auf dem Kiesweg nicht zu hören gewesen, nur meine eigenen und die meines Chauffeurs. Er war es, der jetzt einen kurzen Satz sprach, den ich nicht verstand und auf den ein anderer Mann ebenso kurz antwortete. Es schien fast, als würden beide Männer sehr viel Wert darauf legen, nur so viel wie eben nötig zu reden. Wozu sollten sie auch Konversation betreiben, es fand schließlich nichts weiter als eine Warenübergabe statt.

Während ich mir versuchte vorzustellen, was für ein Bild wir drei auf dieser Treppe abgeben mochten, hatte ich den Eindruck, als sei da noch jemand. Jemand, der nicht sprach, sondern beobachtete. Dicht neben dem Mann, in dessen Gewalt ich mich jetzt wohl befand. Obwohl es sinnlos war, drehte ich meinen Kopf in die Richtung, in der ich die andere Person vermutete.

Die Stimme des zweiten Mannes sagte etwas, das wie ein endgültiger Abschied klang, dann hörte ich, wie der Fahrer die Stufen wieder hinunterging. Eine Wagentür wurde zugeschlagen, Kies wirbelte auf, meine Entführer waren fort. Und auf mich wartete eine neue Ungewissheit.

II.

„Willkommen in Ihrem vorläufigen Zuhause, Signorina.“ Ich fuhr zusammen, als ich begriff, dass ich gemeint war. Der Mann sprach perfekt Deutsch, aber seine italienische Herkunft war nicht zu überhören. Trotz des Akzents, der im Allgemeinen immer nett klingt, und trotz der aufgesetzten Höflichkeit hatte die Stimme nichts Sympathisches.

Links von mir nahm ich eine Bewegung wahr, ein kaum hörbares Rascheln. Ich hatte mich also nicht getäuscht. Da war noch jemand gewesen, an den der Mann vor mir sich jetzt wandte. Da er wohl kaum in Erwägung ziehen würde, sich mir vorzustellen, nannte ich ihn in Erinnerung an meine etwas verrückte Vorstellung von diesem Haus den „Paten“. Das war vielleicht nicht besonders originell, aber wenigstens einigermaßen passend.

„Bring sie runter.“

Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter, die mich vorwärts schob. Selbst wenn in mir der Gedanke aufgekeimt wäre, bevor wir das Haus betraten, wenigstens einen einzigen Fluchtversuch zu unternehmen, hätte ich ihn spätestens jetzt fallen lassen. Eine zweite Hand legte sich wie ein Schraubstock um meinen Oberarm und führte mich ins Haus. Nach einigen Schritten auf gefliestem Fußboden versanken meine Schuhe in einem weichen Teppich, auf dem ich unwesentlich besser gehen konnte als vor ein paar Minuten auf dem Kies. Ich knickte um, und nur die Hand meines Aufpassers bewahrte mich davor hinzufallen. Als er mich auffing, nahm ich einen schwachen Aftershave-Duft wahr. Vielleicht war das unwichtig, aber mir wurde klar, dass ich mir so viel wie möglich merken musste für den Fall, dass ich hier herauskam.

Hinter mir hörte ich wieder den Paten sprechen. „Lass sie nicht die Treppe runterfallen, sie ist ziemlich wertvoll.“

Der Mann, der mich führte, schwieg. Dass er trotzdem gehört hatte, was gesagt worden war, merkte ich nur daran, dass er für einen kurzen Moment innehielt, sodass ich vor der ersten Stufe gewarnt war. Ich zählte zehn Stufen, die Gott weiß wohin führen mochten, sechs mehr als vor der Eingangstür. Am Ende der Treppe gingen wir fünf Schritte geradeaus. Dann bedeutete mir mein Begleiter stehen zu bleiben. Eine Hand löste sich von meinem Arm, die er brauchte, um eine Tür zu öffnen. Schließlich drückte er mich in einen Raum, dann schloss er die Tür wieder. Ein Schlüssel wurde zweimal im Schloss gedreht.

Atemlos stand ich da und lauschte. Kein Ton war zu hören. Trotzdem rührte ich mich nicht, ungefähr zehn Minuten lang. Ich hörte absolut nichts, kein Geräusch aus dem Haus, kein Atmen, nichts. Zögernd berührte ich die schwarze Augenbinde, hob sie ein Stück. Niemand hielt mich zurück. Mit einem entschlossenen Ruck riss ich sie mir vom Kopf.

Ich hatte erwartet, in einem schmutzigen dunklen Kellerloch zu stehen, wo ich die nächsten Tage verbringen würde, bevor man mich entweder frei ließ oder etwas mit mir anstellte, an das ich lieber nicht denken wollte. Doch ich hatte mich geirrt. Zwar war der Raum tatsächlich nicht besonders hell, aber ansonsten ein ganz normales Zimmer, womöglich eins, das hin und wieder als Gästezimmer dienen mochte. Es fehlte nichts. Ein großes bequem aussehendes Bett stand an einer Wand, dahinter, unter einem sehr kleinen Fenster, zwei Sessel und ein kleiner Tisch. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Regal voller Bücher, darunter stand ein Schreibtisch. Neben dem Schreibtisch bemerkte ich eine halb offen stehende Tür.

Noch immer zögernd trat ich näher und spähte durch den Spalt. Dieser Raum war tatsächlich vollkommen dunkel. Ich suchte den Lichtschalter und musste blinzeln, als drei Halogenstrahler ein Badezimmer hell erleuchteten. Eine Duschkabine, über deren Rand flauschige Handtücher lagen, war das Erste, was mir ins Auge fiel. Zwei weitere Handtücher hingen neben einem großen Waschbecken.

Ich drehte mich wieder um und ließ meinen Blick ungläubig durch das Zimmer schweifen. Dann lief ich zum Fenster, doch es war zu weit oben, als dass ich wirklich hätte hinaussehen können, weshalb ich einen der Sessel heranschob. Die Mühe lohnte sich nicht. Alles, was ich durch das Eisengitter erkannte, waren ein Teil einer grünen Rasenfläche und ein paar Bäume im Hintergrund.

Erschöpft ließ ich mich aufs Bett fallen. Ich schloss die Augen und hoffte inständig, dass gleich ein Wecker klingeln und mich aus diesem Albtraum retten würde. Natürlich geschah nichts dergleichen. Ich war tatsächlich entführt worden. Von der Mafia. Wie in einem dieser grottenschlechten Filme mit Titeln wie „Schrei, denn der Pate wird dich töten“. Ich war überzeugt, ich würde in meinem ganzen Leben nie wieder ein italienisches Restaurant betreten, schwor mir jedoch in derselben Minute, dass ich genau das tun würde, wenn ich je die Chance dazu bekäme. Nur um mir zu beweisen, dass ich keine Angst mehr hätte.

Ich richtete mich wieder auf und trat an die Tür. Doch entweder war dieses verdammte Zimmer schallisoliert oder es war einfach kein Mensch in der Nähe. Was nutzte es, wenn ich hier herumsaß und mir alle möglichen Dinge ausmalte? Ich dachte wieder an die Worte des Mannes, der mich hergebracht hatte. „Schlafen Sie, wir haben einen weiten Weg vor uns.“ Das hatte ich wohl. Einen Weg, den ich bis zum bitteren Ende gehen musste, ohne dass mich jemand gefragt hätte, ob mir das gefiel.

Wie oft konnte man zur falschen Zeit am falschen Ort sein? Wie oft konnte man zur falschen Zeit ein Radio einschalten? Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr war ich überzeugt, dass ich längst wieder zu Hause wäre, wenn es Ricardo, Angelo, Francesco oder wem auch immer nicht plötzlich ohne Musik zu langweilig geworden wäre. Ich war nicht wirklich entführt worden. Bis die Typen das Geld meines Vaters gerochen hatten jedenfalls. Oder nein, nicht mal sie selbst, sondern ihr Boss, der sie angewiesen hatte, mich hierher zu bringen. Weit weg von Bremen. Weil ihm zu riskant war, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und er mich stattdessen lieber einem „Kollegen“ überließ – und dafür eine Art Provision kassierte?

Seufzend rieb ich mir die Schläfen, vielleicht würde mir eine Dusche gut tun, mich wieder aufnahmefähiger und wacher machen. Aber ich fühlte mich einfach zu erschöpft, hatte keine Energie aufzustehen. Da ließ mich ein Geräusch wie von der Tarantel gestochen hochfahren. Als sich die Tür öffnete, stand ich dahinter, ich wollte diejenige sein, die im Vorteil war, indem ich den sah, der kam, bevor er mich entdeckte. Zu meiner Überraschung betrat jedoch ein junges Mädchen mit einem Tablett in den Händen mein Zimmer. Einen Moment blieb sie verdutzt in der Tür stehen, weil sie mich nirgends entdeckte.

Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, sie einfach umzurempeln und zu versuchen zu fliehen, doch da wurden meine Überlegungen auch schon zunichtegemacht. Eine männliche Stimme auf dem Gang fragte etwas, offenbar war sie nicht allein gekommen. Zitternd stieß ich die Luft aus, die ich angehalten hatte. Sofort drehte sich das Mädchen um, während sie dem Mann eine Antwort gab, dann sah sie mich an.

„Signorina? Ich bringe Ihnen Frühstück, Sie müssen was essen.“

„Wie schön, dass Sie so besorgt um mich sind“, murmelte ich. Ich schaute auf das Tablett hinunter, auf dem ein Glas Orangensaft, eine Tasse Kaffee, zwei belegte Brötchen und ein gekochtes Ei standen. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, wurde mir plötzlich übel bei dem Anblick und dem Gedanken an Essen. Ich schlug die Hand vor dem Mund und flog geradezu ins Bad, schaffte es gerade noch zur Toilette, über der ich mich übergab. Außer dem Becher Kaffee am Morgen auf diesem Parkplatz hatte ich tatsächlich weder etwas gegessen noch getrunken, es war also nicht viel, was ich loswurde. Trotzdem ging es mir hinterher besser.

Das Mädchen stand abwartend vor dem Tisch, auf dem sie das Tablett abgestellt hatte. „Sie müssen was essen“, wiederholte sie und deutet auf den Sessel.

Einen Moment lang fragte ich mich, ob sie vorhatte, so lange dort stehen zu bleiben, bis kein Krümel mehr übrig geblieben wäre. Dann erst fiel mir der Mann ein, der auf dem Flur wartete. Mein Blick huschte hinüber zur Tür, doch während ich im Bad gewesen war, musste jemand sie wieder verschlossen haben.

„Versuchen Sie das nicht“, warnte das Mädchen mich leise, meinen Blick falsch interpretierend. Dann sagte sie lauter: „Ich komme in einer Viertelstunde wieder. Wenn Ihnen bis dahin einfällt, was Sie noch brauchen könnten, sagen Sie es mir.“

Als sie fort war, langte ich mit zitternden Fingern nach dem Käsebrötchen und zwang mich, es herunterzuwürgen. Ich verspürte keinen Hunger, aber was das Mädchen sagte, stimmte. Ich hatte nichts davon, wenn ich in einen Hungerstreik trat.

Man hätte die Uhr nach ihr stellen können, sie war nach genau fünfzehn Minuten zurück. Zufrieden nahm sie die Reste des Frühstücks hoch. Ich hatte nur das Ei stehen lassen. „Brauchen Sie noch etwas?“

„Ich wüsste gern, wo ich bin.“

Sie nickte, verzog aber ansonsten keine Miene. „Ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht helfen. Ich bringe Ihnen gern alles, was Sie benötigen, aber ich werde keine Fragen beantworten.“

„Nicht mal den nach Ihrem Namen?“ Ich nahm an, ich würde in der nächsten Zeit häufiger mit ihr zu tun haben, ich musste sie immerhin irgendwie anreden.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Aber wenn Sie wollen, können Sie mich Luisa nennen.“

„Das klingt ja fast, als würden Sie hier dauernd Entführungsopfer bewirten“, sagte ich sarkastisch. „Die Macht der Gewohnheit?“

Luisa antwortete nicht, sie drehte sich nur wortlos um und balancierte das Tablett beim Öffnen der Tür auf einer Hand.

„Warten Sie!“, rief ich ihr hinterher. „Wissen Sie, wer ich bin?“

Sie blieb kurz stehen, beschloss dann jedoch, auch diese Frage zu ignorieren. Oder war da ein kaum wahrnehmbares Nicken gewesen? Ich überlegte, was das bedeuten konnte. Schließlich hatte sie bisher auch den Mund aufgemacht. Bevor ich jedoch dazu kam, noch einmal nachzuhaken, war sie verschwunden und ich wieder mir selbst überlassen.

Das Frühstück hatte mir gut getan, ich fühlte mich halbwegs wie ein Mensch und war imstande, einigermaßen ruhig meine Situation zu überdenken. Mein Vater würde zweifellos das Lösegeld zahlen, wie hoch auch immer es sein mochte, also konnte ich mir die Wartezeit ebenso gut so angenehm wie möglich gestalten. Als Erstes nahm ich die Dusche, über die ich zuvor schon nachgedacht hatte. Während die warmen Wasserstrahlen auf mich niederprasselten, wanderten meine Gedanken zu Luisa. Sie sah aus wie eine typische Italienerin, ein bisschen kleiner als ich, fast schwarze Haare, dunkle Augen. Ihr Alter war schwer zu schätzen, ziemlich jung auf jeden Fall. Trotzdem hatte ich den Eindruck, als hätte sie schon sehr viel mehr erlebt, als ich je erleben würde. Zumindest hätte ich das angenommen, bevor ich hierher verschleppt worden war. Wenn ich es schaffte, sie für mich zu gewinnen – doch das war vermutlich aussichtslos, sicher legte sie nicht viel Wert darauf, mit ihrem Arbeitgeber aneinanderzugeraten.

Als ich aus dem Bad kam, entdeckte ich zu meinem Erstaunen auf dem Bett mehrere Kleidungsstücke. Luisa musste zurückgekommen sein, ohne dass ich es unter der Dusche gehört hatte. Eine Jeans, zwei T-Shirts, ein Pullover. Ich probierte die Sachen, die passten, als hätte ich selbst sie gekauft. Es tat gut, aus meinen verschwitzten eigenen Klamotten zu kommen, die ich kaum mehr anziehen mochte. Trotzdem war es ein seltsames Gefühl, dankbar für etwas sein zu müssen, das von meinen Entführern kam.

Erneut ließ ich meinen Blick durch das Zimmer schweifen, doch diesmal begnügte ich mich nicht damit, flüchtig das Mobiliar wahrzunehmen. Ich ging an den Wänden entlang, verschob das Bild, das über dem Bett hing und eine kitschige Bergschlucht zeigte, fuhr mit meinen Fingern über alle Kanten und Möbel auf der Suche nach einem Mikrofon, das mit Sicherheit irgendwo versteckt war. Nur so konnte ich mir das kaum sichtbare Nicken Luisas erklären. Außerdem gehörte es wahrscheinlich zu der üblichen Ausstattung, wenn in diesem Haus so etwas häufiger vorkam. Obwohl ich wirklich gründlich vorging, fand ich auch nach einem zweiten Durchgang nichts dergleichen. Was mich nicht vom Gegenteil überzeugte, als ich mich nach zwei erfolglosen Stunden wieder auf das Bett fallen ließ.

Die Stille um mich herum war nervtötend, wenn ich nichts zu tun hatte. Leider war ich nicht geübt in Gedankenspielen, um meinen Geist zu beschäftigen. Ich musste mir etwas einfallen lassen, wenn ich nicht ständig grübeln wollte. Ich sah hinüber zu dem Bücherregal über dem Schreibtisch. Von hier aus konnte ich nicht erkennen, um was für Bücher es sich handelte, nicht mal, ob sie in italienischer Sprache waren. Wenn das der Fall war, konnte ich Luisa vielleicht nach ein paar deutschen fragen, das sollte ja wohl eine ungefährliche Bitte sein.

Es stellte sich jedoch heraus, dass das nicht nötig war. Das Regal wirkte wie ein Rundumschlag aus einer Minibibliothek, ganz so, als hätte ein aufmerksamer Gastgeber für jeden Besucher und für jeden Geschmack etwas zur Auswahl angeschafft. Beinah lachte ich laut auf, als mir ein Commissario-Brunetti-Roman von Donna Leon in die Hände fiel. Das musste wohl ein Zeichen des ganz eigenen Humors des hauseigenen Paten sein. Ich nahm das Buch und legte mich damit aufs Bett, doch ich hatte kaum die ersten beiden Seiten gelesen, als Luisa wieder erschien, diesmal offensichtlich mit dem Mittagessen, das sie wortlos auf den Tisch stellte.

„Was gibt’s denn heute?“, fragte ich in munterem Ton, weil ich hoffte, sie damit in eine Unterhaltung verwickeln zu können.

Sie murmelte etwas vor sich hin, aus dem ich nur das Wort Pomodori heraushören konnte. Etwas mit Tomaten also, so gut war mein Speisekartenitalienisch immerhin. Bevor sie verschwand, versuchte ich es noch einmal. „Danke für die Sachen.“

Luisa nickte, sie schien es noch eiliger zu haben als ein paar Stunden zuvor. Gleich darauf verstand ich auch, warum. Jemand wartete vor der Tür, wahrscheinlich derselbe Typ, der sie am Morgen schon begleitet hatte. Seine Stimme klang noch sehr jung, und dem Ton nach zu urteilen, drängte er sie, sich nicht zu lange aufzuhalten. Sie sah mich nicht noch einmal an, bevor sie den Raum verließ.

Ich legte „Endstation Venedig“ zur Seite und setzte mich an den Tisch. Spaghetti mit Tomatensoße. Eigentlich war ich vom Frühstück noch gesättigt, aber wenn ich jetzt nicht aß, würde es kalt werden, und es gab nichts Schlimmeres als kalte Spaghetti mit kalter Soße. Ich nahm Gabel und Löffel und begann, die Nudeln aufzurollen. Erst, als ich schon den ersten Bissen im Mund hatte, fragte ich mich plötzlich, ob möglicherweise etwas da drin war, das ich besser nicht essen sollte. Nichts Tödliches, nur was Betäubendes vielleicht. Ich hielt im Kauen inne, überlegte kurz, ob ich ins Bad gehen sollte, entschied mich dann jedoch dagegen. Schließlich hätte auch schon was im Brötchen sein können, und da es mir unverändert gut ging – jedenfalls was meine Gesundheit betraf –, war das wohl nicht der Fall gewesen. Also schluckte ich die Pasta herunter und aß auch den Rest auf.

Eine Viertelstunde war in diesem Haus scheinbar die durchschnittliche Zeit, die einem zum Essen gegeben wurde. Pünktlich wie zuvor stand Luisa wieder vor mir, um das Geschirr abzuräumen. Diesmal versuchte ich nicht, sie zum Sprechen zu überreden. Meine Nase im Buch, tat ich so, als würde ich sie ignorieren. Doch als ich mit Brunetti bis zur Hälfte der Story gelitten hatte, schweiften meine Gedanken ab. Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis die Lösegeldübergabe stattfand. Sicher mindestens vierundzwanzig Stunden, eher länger. Bei den Summen, um die es hier vermutlich ging, musste selbst mein Vater sehen, wie er das Geld schnell zusammenkriegte.

Luisa kam noch einmal, um das Abendessen zu bringen. Das Ritual blieb das gleiche. Weder sie noch ich sagten ein Wort. Draußen wurde es bald zu dunkel zum Lesen. Statt das Licht anzuknipsen, legte ich das Buch zur Seite, starrte an die Decke und dachte darüber nach, wie viel an einem einzigen Tag passieren konnte.

III.

Zwei Tage lang geschah nichts weiter, als dass ich dreimal täglich eine Mahlzeit serviert bekam und Luisa nur das Allernötigste sagte. Ich begann, nun wirklich nervös zu werden. Warum dauerte das so lange? Wieso geschah überhaupt nichts? Hatten die Entführer denn nicht längst Kontakt aufgenommen? Hatte mein Vater die Polizei eingeschaltet und damit die ganze Angelegenheit gefährdet?

Während dieser Zeit schwirrten mir immer mal wieder ein paar verrückte Fluchtgedanken durch den Kopf, von denen ich doch wusste, wie sinnlos sie waren. Ich kam hier nicht raus. Außerdem war es erheblich sicherer, erst noch eine Weile auf eine friedliche Lösung zu hoffen, als mein Leben zu riskieren.

Am dritten Tag konnte ich mich nicht mehr auf ein Buch konzentrieren. Mittlerweile hatte ich den Brunetti und einen historischen Amsterdam-Roman gelesen, ein Buch über die Ardennen durchgeblättert und versucht, mich durch Erich Fromms „Haben und Sein“ zu quälen, das ich vor Jahren mal begonnen, aber nie zu Ende gelesen hatte. Jetzt musste ich feststellen, dass ich ungefähr an der gleichen Stelle genervt von dem verquasten Stil aufgab und stattdessen zu einer Krimikomödie griff, die ich zwar schon kannte, deren humorvoller Stil aber genau das war, was ich jetzt brauchte.

Luisa hatte gerade das Mittagessen abgeräumt, als ich erneut den Schlüssel im Schloss hörte. Überrascht sah ich auf, noch überraschter war ich, als Luisa wieder eintrat. Ich wollte sie gerade fragen, was sie vergessen hatte, da bemerkte ich, dass sie etwas in der Hand hielt, das mir bekannt vorkam und das ich erst wieder zu sehen geglaubt hatte, wenn ich diese Tortur hier hinter mir hatte. Das schwarze Tuch, das ich vor den Augen trug, als ich herkam. Eine unglaubliche Erleichterung durchflutete mich, ich schwang die Beine vom Bett und sah Luisa hoffnungsvoll an.

„Es ist also alles vorbei, ja? Ich kann gehen?“

Es erstaunte mich nicht, dass sie nicht direkt auf meine Frage einging, doch ich erschrak über den traurigen Blick in ihren Augen. „Bitte drehen Sie sich um“, sagte sie.

Meine Knie wurden weich. Was sollte das bedeuten? Ich tat jedoch, was sie sagte, ich hatte keine Wahl, vermutlich stand der Kerl wieder vor der Tür, der ihr helfen würde, wenn ich mich weigerte. Nachdem sie mir die Augen verbunden hatte, führte sie mich zu dem Stuhl vor dem Schreibtisch und hieß mich mit sanftem Druck niedersetzen. Aber sie war noch nicht fertig. Erst als sie auch meine Hände hinter der Stuhllehne zusammengebunden hatte, ging sie. Ich saß da, die Minuten verstrichen, ohne dass etwas passierte, und ich kam mir so hilflos vor wie im La Piazzetta, als ich die Waffe des Schutzgelderpressers an meiner Schläfe gespürt hatte. Im Gegensatz zu damals hatte ich nun allerdings mehr als genug Gelegenheit, mir auszumalen, was auf mich zukam.

Endlich – oder viel zu früh? – hörte ich wieder das Geräusch des Schlüssels, das mir fast zur Gewohnheit geworden war. Wer auch immer den Raum betreten hatte, nahm sich wohl Zeit, mich genau zu beobachten. Dann begann er zu sprechen, und ich erkannte die Stimme des Paten.

„Es tut mir leid, dass sich das alles so lange hinzieht, Signorina Hoffmann. Das liegt nicht an mir, sondern an Ihrer Familie. Sie können mir glauben, ich habe Ihren Vater eindringlich darauf aufmerksam gemacht, dass es für Ihr Wohlbefinden sehr nützlich ist, mir eine gewisse Summe zur Verfügung zu stellen. Bedauerlicherweise hat er sich bisher nicht dazu bereitgefunden, meinen Forderungen zu entsprechen.“

Er machte eine kurze Pause, in der ich mich fragte, was da um Himmels willen schiefgelaufen war. Wieso sollte mein Vater so etwas tun?

„Ich bin bereit, auf eine Bitte Ihres Vaters einzugehen, wenn sich das Verfahren dadurch beschleunigt. Das ist allerdings das einzige Zugeständnis, das ich gebe. Sollte es nach weiteren achtundvierzig Stunden noch immer Schwierigkeiten geben, muss ich Maßnahmen ergreifen, die ich mehr als bedauern werde.“

Bedauern? Doch wohl nicht meinetwegen? Machen Sie sich bloß keine Umstände, wollte ich sagen, brachte aber kein Wort heraus. Plötzlich war jemanden neben mir, instinktiv zuckte ich zurück und spürte gleichzeitig eine Hand auf meiner Schulter, die ich überall wiedererkannt hätte. Der Pate war also nicht allein gekommen, nur hatten mich diesmal seine Worte davon abgehalten, den zweiten Mann wahrzunehmen. Der ließ mich wieder los, als ich mich entspannte, dennoch wich er mir nicht von der Seite. Erneut fiel mir das Aftershave auf, einprägsam, trotzdem nicht zu aufdringlich. Eine Sekunde später fühlte ich etwas Kaltes an meinem Ohr. Ich erschrak, begriff dann, dass das nur ein Handy war, und schloss daraus, dass meinem Vater jetzt seine Bitte gewährt wurde. Er wollte also einen Beweis, dass ich noch lebte. Mein Vater war in geschäftlichen Dingen immer umsichtig gewesen, sonst wäre er nicht dahin gekommen, wo er war.

„Kein Wort zu viel, wenn ich bitten darf“, befahl der Pate in meine Gedanken hinein. „Sagen Sie nur, dass es Ihnen gut geht.“

Zunächst hörte ich ein scheinbar endloses Tuten, dann ein nervöses „Hallo?“

Ich hatte meinen Vater selten nervös erlebt, er war die Beherrschung schlechthin, aber in diesem Fall war die Ausnahme wohl verständlich. „Hallo Papa, ich bin’s. Ich … mir geht’s gut, aber …“

Weiter kam ich nicht, das Handy verschwand von meinem Ohr, ich hörte das Piepen, als es abgeschaltet wurde. „Das reicht.“

Verblüfft wandte ich den Kopf nach rechts. Das war das erste Mal, dass der zweite Mann sprach. Seine Stimme war tiefer als die des Paten, unter anderen Umständen hätte sie mir vielleicht gefallen. Ähnlich wie der Pate hatte er einen leichten Akzent, klang ansonsten jedoch vollkommen ausdruckslos.

„Ich hoffe, Ihr Vater ist jetzt verhandlungsbereiter. Für uns beide.“ Das kam von dem Paten vor mir. Offenbar hatte der Mann mit der tiefen Stimme beschlossen, genug gesagt zu haben.

Kurze Zeit später war ich wieder allein. Während ich darauf wartete, dass jemand kam, der meine Fesseln löste, schoss mir durch den Kopf, ob sich dieser Anruf nicht zurückverfolgen ließ. Bevor jedoch bei diesem Gedanken Hoffnung in mir aufkeimen konnte, wurde mir klar, dass es sicher Mittel und Wege gab, das zu verhindern. Der Pate wäre so ein Risiko keinesfalls eingegangen.

Schließlich kam Luisa, befreite mich von dem Stuhl und schob mir die Augenbinde vom Gesicht.

„Luisa“, hielt ich sie zurück, als sie wie üblich wortlos gehen wollte. „Das ist nicht fair. Ich sitze hier jetzt seit drei Tagen und …“

„Wenn Ihr Vater bezahlt, müssen Sie nicht mehr lange hier sein“, unterbrach mich Luisa.

„Ich weiß nicht, warum er es bis jetzt nicht getan hat. Aber wenn ich noch länger vor mich hin schmore, werde ich verrückt. Könnten Sie nicht ein bisschen bleiben und mit mir reden?"

„Tut mir leid, aber das geht nicht.“

„Es tut Ihnen leid, ja?“ Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm, sie so anzufahren. Ausgerechnet Luisa konnte vermutlich am wenigsten für meine Lage, weniger sogar als ich selbst, aber ich musste meinen Frust und meine Angst einfach abreagieren. „Hier tut immer allen alles leid, verdammt!“, fuhr ich sie an. Erschrocken wich Luisa einen Schritt zurück, als ich vom Stuhl aufsprang. „Hört wenigstens mit dieser idiotischen Höflichkeit auf, ich kann’s nicht mehr ertragen!“

Halb erwartete ich den Mann, der Luisa immer begleitet hatte, in der Tür zu sehen, doch er kam nicht. War Luisa allein hier unten?

„Es tut mir leid“, wiederholte sie trotz meines Ausbruchs, „wenn Sie etwas brauchen …“

Das war ja nicht zu fassen! „Was brauchen? Klar! Nur zu, bringen Sie mir einen Schlüssel für diese Tür, damit würden Sie mich wirklich glücklich machen. Aber das ist wohl zu viel verlangt, was?“ Ich wartete nicht darauf, Luisas Rücken zu sehen, wenn sie das Zimmer verließ, sondern drehte ich mich selber um und starrte auf die Bergschlucht an der Wand.

Achtundvierzig Stunden. War das nicht der Titel eines Kinofilms? Wer hatte die Hauptrolle gespielt? Ich erinnerte mich nicht mehr. In diesem Drama jedenfalls spielte ich die Hauptrolle, aber ich war sicher, damit keinen Oscar zu gewinnen. Ich konnte nicht mal mehr meine Gefühle kontrollieren. Damit hatte ich früher nie Probleme gehabt, deshalb war mein Leben ja so langweilig gewesen. Ich hatte immer alles unter Kontrolle und war stolz darauf. Nichts konnte mich aus meinen gewohnten Bahnen werfen. Nichts außer einer kleinen Entführung jedenfalls.

Als Luisa am Abend wiederkam, hatte sie ihren Wachhund mitgebracht, sie ließ die Tür offen stehen, damit ich seinen Schatten deutlich erkennen konnte. Aber meine Wut war verraucht, ich würde sie nicht mehr anschreien. Stattdessen entschuldigte ich mich und äußerte eine Bitte, als sie das Tablett wieder abräumte: „Die Stille hier macht mich ganz kribbelig. Glauben Sie, ich könnte ein Radio bekommen?“

Misstrauisch sah Luisa mich an. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich glaube nicht, aber ich will sehen, was sich machen lässt.“