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Jörg Kastner

Eine Falle für Varus

Folge 3 der 12-teiligen Romanserie Die Saga der Germanen

Historischer Roman

hockebooks

Kapitel 11 – Der Todestag

Schreiend fuhr Publius Quintilius Varus auf seinem einfachen Feldlager hoch und stellte erleichtert fest, dass der Schrecken, der ihn gequält hatte, nur ein Traum gewesen war. Ein seltsamer Traum. Er hatte sich selbst gesehen, aber in dreifacher Ausfertigung. Der Varus, der er selbst war, hatte zwei älteren, grauhaarigen Kopien gegenübergestanden. Sie hatten ihn durchdringend angestarrt, waren auf ihn zugetreten und hatten ihre Hände vorgestreckt, in denen plötzlich Schwerter lagen. Er wusste genau, was sie von ihm wollten. Doch sein Versuch, vor ihnen zurückzuweichen, misslang. Eine unsichtbare Mauer in seinem Rücken hielt ihn auf. Da begann er zu schreien …

Er fühlte sich erleichtert, dass es nur ein Traum gewesen war. Doch als er sich umsah, wurde ihm bewusst, dass wenig Grund zu Freude und Erleichterung bestand. Der Boden rund um sein Lager war schlammig. Eine Schlamperei der Soldaten, die den Abflussgraben um sein Zelt ausgehoben hatten. Die Furcht vor den Germanen nagte an ihrer Disziplin. Das helle Schimmern, das den dicken Zeltstoff durchdrang, verkündete den Anbruch des Tages. Würde er endlich eine Wende zum Besseren bringen?

Jedenfalls nicht, was das Wetter anging. Es regnete noch immer heftig, wie er an dem ständigen Trommeln auf den Zeltplanen erkannte. Und ein heulender Sturmwind zerrte an dem großen Zelt des Feldherrn, so heftig, dass die große Öllampe, die von der Decke herunterhing und für ständige Helligkeit sorgte, quietschend an ihrer Bronzekette hin und her schwang. Aber vielleicht waren seine Truppen jetzt stark genug, den Germanen zu widerstehen. Bestimmt waren die Legionen XVII und XIX im Lauf der Nacht eingetroffen. Es musste einfach so sein!

Diesmal würde er nicht den Fehler begehen, sein Heer so weit auseinanderzuziehen. Er würde seine Truppen zusammenhalten und diesen verfluchten Verräter Arminius mit geballter Macht schlagen!

Dass er das Anrücken der beiden Legionen nicht gehört hatte, war erklärbar. Die Erschöpfung hatte ihn tief schlafen lassen, nachdem ihm die warmen, weichen kleinen Körper von Pollux und Helena wohlige Entspannung und Ruhe verschafft hatten. Kaum dachte er an sie, da steckte Pollux, durch den Schrei seines Herrn alarmiert, seinen blonden Lockenkopf durch einen Trennvorhang. Varus lächelte ihm zu und trug ihm auf, Maximus und Numonius Vala zu ihm zu bringen.

Als der Legat des Augustus wieder allein war, beschäftigte sich sein Geist mit den Bildern seines Traums. Lange hatte dieser Traum ihn in Frieden gelassen. Weshalb kehrte er ausgerechnet jetzt zurück?

Er wusste die Antwort, aber er wollte sie nicht wahrhaben. Damals, als er ein Waisenkind war und die anderen Kinder ihn mit ihrem Spott überzogen, weil Varus’ Vater dem Beispiel von Varus’ Großvater gefolgt war und seinem Leben selbst ein Ende bereitet hatte, tauchte dieser Traum zum ersten Mal auf. Fast war der kleine Publius so weit gewesen, sich mit einem Küchenmesser das Leben zu nehmen. Aber das Messer war stumpf gewesen, und er hatte es nicht fertiggebracht. Seitdem kehrte der Traum in unregelmäßigen Abständen zurück. Manchmal lagen viele Jahre dazwischen. Er kam stets dann, wenn Quintilius Varus sich in einer verzweifelten Lage befand. Aber noch nie hatte Varus ihn mit solcher Heftigkeit geträumt.

Die beiden älteren Versionen seiner selbst waren beides Männer namens Sextus Quintilius Varus gewesen. Männer von seinem Blut. Männer, die freiwillig ihrem Leben ein Ende bereitet hatten. Sein Großvater, der sich als Proprätor in Spanien aus Gründen das Leben genommen hatte, über die seine Familie stets geschwiegen hatte. Und sein Vater, der sich nach der Schlacht von Philippi von einem Freigelassenen töten ließ. Dass sie in seinem Traum sein Gesicht hatten, war nicht verwunderlich. An keinen der beiden Männer hatte Varus eine persönliche Erinnerung. Aber weshalb drängten sie ihm das Schwert auf? War es eine Botschaft der Götter? War seine Lage so hoffnungslos, dass es keinen anderen Ausweg mehr gab?

Sollte Octavian Augustus, nachdem er bei Philippi schon über Varus’ Vater triumphiert hatte, der auf der Seite von Brutus und Cassius kämpfte, jetzt auch noch über Varus triumphieren? Hatte der Imperator gewusst, dass er Varus in den Tod schickte, als er ihn zu seinem Legaten in Germanien bestimmte? Zuzutrauen war es diesem verschlagenen Greis! Vielleicht hatte der Princeps sogar geahnt, dass Varus seine Hände nach dem Thron ausstrecken wollte.

Das Erscheinen von Maximus erlöste Varus von seinen quälenden Gedanken. Das schneidige Auftreten des hünenhaften, kerzengerade vor ihm stehenden Präfekten, sein vorschriftsmäßiger Gruß und seine trotz der widrigen Umstände saubere Uniform mit dem spiegelblanken Muskelpanzer gaben dem Feldherrn neuen Mut. Solange solche Männer für ihn fochten, war nichts verloren. Varus würde die Schlacht gewinnen und den selbstmörderischen Fluch von seiner Familie nehmen!

„Ich freue mich, dich zu sehen, Maximus“, sagte Varus leutselig. „Warum ist Numonius Vala nicht mitgekommen? Inspiziert er die Verstärkung?“

„Die Verstärkung?“, wiederholte Maximus, und auf seiner Stirn bildeten sich tiefe Falten. „Wovon sprichst du, Varus?“

„Von den Legionen XVII und XIX. Nach dem harten Nachtmarsch bedürfen sie sicher einiger Aufmunterung. Sind meine Legionäre denn schon genügend ausgeruht, um es Arminius zu geben?“

Zu den Falten auf der Stirn des Präfekten gesellte sich die steile Falte an der Nasenwurzel. „Die Legionen XVII und XIX existieren nicht mehr, edler Varus. Sie sind aufgerieben worden. Ihre Adler sind gefallen.“

„Aber … aber sind sie denn nicht in der Nacht zu uns gestoßen?“

„Nur einzelne Versprengte, alles in allem nicht mehr als zweihundert Mann. Und sie haben bestätigt, was wir vorher schon ahnten. Der goldene Adler der Legion XVIII ist der letzte, unter dem noch römische Soldaten marschieren.“

Obwohl sie so weit in den Höhlen lagen, schienen die Augen des Legaten hervorzuquellen. Sein feistes Gesicht verzerrte sich, und er kreischte: „Das ist nicht wahr! Du lügst mich an, Maximus! Warum tust du das?“

„Ich lüge nicht, Varus.“ Der Präfekt blieb ruhig. „Ich habe keinen Grund dazu.“

Der Mann auf dem zerwühlten Lager schüttelte seinen Kopf. „Ich glaube dir nicht, Maximus. Ich will sofort meinen Stellvertreter sprechen, Numonius Vala! Wo ist er überhaupt, wenn nicht bei den Legionen XVII und XIX?“

In Maximus’ Gesicht arbeitete es, als er betreten nach einer Antwort suchte. „Nicht mehr da“, sagte er schließlich leise.

„Was heißt das nun wieder?“

„Während der Nacht hat sich Numonius Vala mit der gesamten Reiterei abgesetzt.“

„Abgesetzt? Zu welchem Zweck?“

„Ich nehme an, um sein Leben zu retten.“

„Du … du meinst, Numonius Vala … ist geflohen?“

Der Präfekt nickte. „So sieht es aus. Viele der Zivilisten sind mit ihm gegangen. Vielleicht haben sie ihm Geld versprochen, wenn er sie lebend aus der Falle bringt.“

Diesmal hatte Maximus tatsächlich gelogen, vielmehr: Er hatte nicht die ganze Wahrheit gesagt. Er selbst hatte den Plan mitgeschmiedet und Flaminia überredet, sich mit Primus der Reiterei anzuschließen. Nach dem gestrigen Desaster und der Nachricht vom vollständigen Untergang der Legionen XVII und XIX wusste er, dass die römische Armee diese Schlacht nicht mehr gewinnen konnte. Nur ein Narr konnte etwas anderes glauben. Er selbst war geblieben, um Varus zu beruhigen. Und weil er nicht anders konnte. Er war Soldat und fühlte sich an seinen Eid gebunden.

Varus streifte die Decken ab, sprang vom Lager auf und trat auf einen syrischen Teppich, der unter dem Gewicht des Legaten tief im Matsch einsank. „Schick ihnen Truppen nach, Maximus! Nimm deine Garde und bring mir Numonius Vala zurück – lebend! Ich will ihn selbst für das büßen lassen, was er mir angetan hat!“

„Das ist unmöglich. Sein Vorsprung ist zu groß. Seine Reiter sind schneller als unsere Fußtruppen. Außerdem würden wir nur in die Arme der Germanen laufen.“

Maximus seufzte und hoffte, dass Numonius Vala den Barbaren entging. Sicher war er sich dessen nicht. Zumindest – und das war beruhigend – hatte er nach dem Abrücken der Kavallerie keinen Kampflärm gehört.

Varus’ eben noch durchdringender, flammender Blick brach sich, und das Feuer wurde zu einem kaum erkennbaren Flämmchen. „Dann ist alles … verloren, Maximus? Arminius hat uns besiegt?“

„Solange wir leben, sind wir nicht besiegt. Wir werden kämpfen und, wenn nötig, auch sterben!“

Hoffnung keimte in Varus auf. „Hast du einen Plan?“

Maximus nickte. „Ich habe Späher ausgeschickt. Etwa fünf Meilen vor uns ist ein bewaldeter Hügel, ringsum von flachem, offenem Land umgeben. Wir müssen diesen Hügel erreichen, uns dort einigeln, eine Festung bauen. Wir haben noch eine Legion, meine Gardeinfanterie und die Geschütze. Wir müssen dort ausharren, bis dein Neffe Lucius Nonius Asprenas mit Entsatz anrückt.“

„Jaaa, das werden wir tun“, klammerte sich der Legat bereitwillig an den Strohhalm. „Der gute Lucius Asprenas wird uns helfen. Sobald er Kunde von unserem Schicksal erhält, wird er mit seinen beiden Legionen anrücken und diese unwürdigen Barbaren auslöschen. Nicht wahr?“

„Ja“, sagte Maximus und wusste, dass sie sich etwas vormachten. Bis Lucius Asprenas seine Legionen mobilisiert und ins Cheruskerland geführt hatte, würde die Schlacht längst geschlagen sein.

Dann aber gewann der soldatische Geist die Oberhand über den Präfekten. Vielleicht zogen die Barbaren ab, wenn es den Römern tatsächlich gelang, sich zu verschanzen. Die Germanen waren als ebenso wilde wie wankelmütige Kämpfer bekannt. Geduld und Disziplin zählten nicht zu ihren Stärken. Sie waren nicht wie der römische Offizier, von dem auf der Militärschule erzählt wurde: Dem Befehlshaber einer Armee, die eine feindliche Stadt belagerte, sagte ein Unterhändler, die Eingeschlossenen hätten Lebensmittel für zehn Jahre. Der Römer blieb gelassen, bedankte sich für diese Nachricht und verkündete, die Stadt im elften Jahr einnehmen zu wollen. Die Belagerten ergaben sich noch am selben Tag.

Wenn die Barbaren starke Gegenwehr spürten, wenn sie sich an einem Gegner die Zähne ausbissen, ohne an ihre ersehnte Beute zu kommen, verloren sie schnell die Lust am Kämpfen. Leidvolle Erfahrungen mit germanischen Auxilien hatten das gezeigt. Das Problem war nur, dass Arminius’ Taktik bislang voll aufging. Er hetzte die römische Armee derart durch den Teutoburger Wald, dass sie gar nicht dazu kam, ihm vernünftigen Widerstand zu leisten.

Ja, sie mussten sich verschanzen. Dann konnte es gelingen, Arminius vielleicht nicht zu schlagen, aber seinem tödlichen Würgegriff zu entkommen!

Drei Stunden später musste Gaius Flaminius Maximus einsehen, dass er nicht nur Varus, sondern auch sich selbst etwas vorgemacht hatte. Der Wind nahm ständig an Stärke zu und schlug den sich weit nach vorn beugenden Legionären die dicken Regentropfen hart ins Gesicht. Jeder Schritt bereitete den Männern Mühe. Immer wieder wurden sie von den Offizieren dabei ertappt, wie sie Teile ihrer Ausrüstung fallen ließen, um sich den Marsch ein wenig zu erleichtern. Manche waren vor Erschöpfung wie von Sinnen und versuchten sogar, sich des Pilums zu entledigen, und sogar des Scutums, ihres einzigen Schutzes gegen den Tod durch die Speere und Schwerter der Barbaren.

Und die Barbaren kamen!

Die Sicht war so schlecht, dass sie anfangs nur Schatten waren. Aus den undeutlichen Umrissen wurden Gesichter, hässlich bemalte Fratzen, Mordlust in den Augen. Und das noch stärkere Aufheulen des Windes entpuppte sich als ihr Schlachtgesang, der Barditus, der den römischen Legionären Schauer über den Rücken jagte.

Wie vom Sturm herangewehte Geister fielen sie über die Marschkolonne her und verbreiteten abermals Panik und Verwirrung. Sie verschwanden, bevor die Legionäre sich zum Kampf stellen konnten. Und sie zu verfolgen, hätte bedeutet, sich von der Hauptmacht des Heeres zu trennen, sich vermutlich im Sturm zu verirren – und von einer Übermacht Germanen abgeschlachtet zu werden. So blieb den Römern nichts anderes übrig, als weiterzumarschieren und es hinzunehmen, dass aus dem Nichts auftauchende Kriegerhorden immer wieder große Lücken in ihre Reihen rissen.

Auch der Tross des Legaten wurde angegriffen, und Maximus’ Garde konnte den Überfall nur unter großen Verlusten abwehren. Als der aus einer Armwunde blutende Präfekt zu Varus ging, sah er, dass auch der Feldherr nicht verschont geblieben war. Eine blutige Furche war das Ergebnis eines Schwerthiebs, der seine linke Wange aufgerissen hatte.

„So geht es nicht weiter“, keuchte der zusammengesunken auf seinem Rappen hockende Varus. „Wir kommen kaum noch voran.“

„Du hast recht, edler Varus. Wir müssen die Germanen aufhalten, bis wir den bewaldeten Hügel erreichen.“

„Wie?“

„Lass die halbe Legion hier zurück. Die andere Hälfte soll sich mit den Geschützen zum Wald durchschlagen und dort die Verteidigungsstellung aufbauen. Dann stößt die erste Hälfte zu ihr.“

„Das hieße, uns schon wieder aufzuteilen.“

Maximus blickte Varus hilflos an. „Mir fällt nichts Besseres ein.“

Varus steckte sein Schwert zurück in die Scheide und straffte seinen plumpen Körper, was ihn für einen Augenblick wie einen wahren Feldherrn aussehen ließ. „Wir machen es so! Ceconius wird die Stellung hier halten. Wir marschieren weiter und nehmen die besten Truppen mit uns, die erste Kohorte, die Veteranen und deine Garde.“

Ceconius war nicht erfreut, als ihm Maximus die Nachricht überbrachte, aber der Präfekt fügte sich in sein Schicksal. Als Varus mit seiner zusammengeschrumpften Streitmacht weiterzog, hörten die Männer hinter sich den Kampflärm. Die Germanen hatten Ceconius keine lange Atempause gegönnt.

Seit fast zwei Stunden war Ceconius mit fünf Kohorten der Legion XVIII auf sich allein gestellt. Er fühlte sich nicht nur allein, sondern auch verloren. Noch nie hatte er eine Schlacht wie diese geschlagen. Er hatte nicht die geringste Übersicht über seine Truppen. Er sah nur die Männer der Kohorte, die ihn umgab. Alle anderen waren jenseits des Sturmvorhangs verschwunden. Er konnte weder durch Feldzeichen noch durch Hornsignale Verbindung zu ihnen halten und schickte deshalb Boten aus. Doch die Boten kehrten nicht zurück.

Ein Gedanke setzte sich in seinem Kopf fest: Varus hat mich geopfert, um sein eigenes Leben zu retten. Er hat mich und meine Männer den Barbaren zum Fraß vorgeworfen, wie man es sonst nur mit den Sklaven in der Arena tut.

Dann warf er sein Schwert fort und forderte laut seine Soldaten auf, es ihm gleichzutun. Ein paar entsetzte Offiziere versuchten, ihm seinen Entschluss auszureden. Aber er blieb standhaft und ging durch die Reihen seiner Männer auf den Feind zu.

Der Tod hier hat keinen Sinn, dachte er. Vielleicht verschonen sie uns, wenn wir uns ergeben.

Waffenlos, mit ausgebreiteten Armen ging er durch den tosenden Sturm auf den Gegner zu, als ein großer, fast nackter Krieger vor ihm auftauchte und mit einem Schlag seiner Spatha einen Arm des Präfekten abtrennte. Verblüfft starrte Ceconius auf die Blut verströmende Wunde. Da traf die Klinge des Germanen seinen Schädel und löschte sein Leben aus.

Ähnlich wie Ceconius starben viele seiner Männer, die nicht wussten, ob sie sich ergeben oder weiterkämpfen sollten. Die übrigen wurden gefangen genommen.

Angewidert ritt Thorag über das Schlachtfeld. Die Schreie der Verwundeten und Sterbenden übertönten das Heulen des Sturms. Er hätte Ceconius eine ehrenvolle Kapitulation gegönnt, die tapfer kämpfenden Römer hätten sie verdient gehabt. Aber in dem gewaltigen Durcheinander war Thorag zu spät gekommen. Der Präfekt war schon tot, und das Abschlachten seiner Männer war nicht mehr aufzuhalten. Wie Thorag die Römer kannte, würden sie dem Präfekten später Feigheit und Unehrenhaftigkeit vorwerfen. So wie Männer sprachen, die nicht teilgenommen hatten am Kampf – an diesem Chaos aus Regen, Sturm, Eisen und Blut.

Obwohl man kaum fünfzehn Schritte weit sehen konnte, suchten seine Augen unermüdlich das Schlachtfeld ab. Ein wenig beruhigt stellte er fest, dass die meisten der gefallenen Römer Legionäre waren. Hinzu kamen einige Knechte, aber kaum Frauen. Jedes Mal, wenn er eine Frau sah, tot, verstümmelt, oder – sich verzweifelt wehrend oder in ihr Schicksal ergebend – den Misshandlungen der siegreichen Krieger ausgesetzt, sah er genau hin, ob es Flaminias schönes ovales Gesicht war. Er wollte sie vor dem Schlimmsten bewahren, wenn es möglich war.

Aber er fand sie nicht. Sie konnte sonst wo sein in den Urwäldern ringsum, versteckte sich womöglich vor den Germanen – oder war längst tot. Vielleicht war sie auch mit der Reiterei geflohen, deren Verfolgung Armin Onsaker übertragen hatte. Oder sie befand sich, was wahrscheinlich war, im Gefolge des Statthalters, dessen Rückzug Ceconius gedeckt hatte.

Dieser Gedanke veranlasste den jungen Gaufürsten, sich den Kriegern anzuschließen, die Varus verfolgten. Aber dies war nicht der einzige Grund. Er wollte auch mit Varus abrechnen, der ihn hatte auspeitschen lassen und der Eiliko in die Arena geschickt hatte.

In dem Unwetter konnte Thorag nur einen Teil seiner Krieger um sich sammeln. An ihrer Spitze ritt er weiter in den Sturm hinein, der sich irgendwann mit Kampflärm vermischte. Dann sah er vor sich hinter riesigen Baumwurzeln verschanzte Legionäre, die sich mit dem Mut der Verzweiflung gegen die Übermacht der immer wieder anstürmenden Cherusker, Marser, Sugambrer, Usipeter, Brukterer und Angrivarier verteidigten.

Thorag zog sein Schwert, rief laut den Namen seines Schutzgottes und drückte die Fersen in die Flanken des kräftigen Braunen. Er sprengte voran, und ihm folgten die rotbemalten Donarsöhne unter lauten „Donar, Donar“-Rufen.

Die Legionäre starben. Die Knechte, Zivilisten und Beamten, die sich mit Pilen, Schwertern und Schilden der Gefallenen bewaffneten, starben. Die zähen, in Jahrzenten des Krieges gestählten Veteranen starben. Maximus’ ausgesuchte Gardisten starben.

Fassungslos stand Quintilius Varus unter einer uralten Eiche, deren weit ausladende Krone den Regen ein wenig abhielt, und starrte in den Sturm hinaus. Noch sah er die Männer nicht sterben, hörte nur die Geräusche des Todes: das Waffenklirren und die Schreie, die sogar das Heulen des tosenden Windes übertönten. Noch hielt der Verteidigungsring. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis die Barbaren, diese Tiere in Menschengestalt, zu ihm durchdrangen. Ihr grauenhafter Barditus war immer deutlicher zu hören.

Einige Offiziere und hohe Beamte harrten hier vor dem hastig aufgestellten Zelt des Feldherrn mit ihm aus. Maximus nicht. Er kämpfte mit seinen Gardisten. Aber es war ein hoffnungsloser Kampf. Jetzt sah auch Varus ein, dass sie sich etwas vorgemacht hatten. Gewiss, sie hatten schützenden Wald erreicht, aber es war nicht der natürliche Festungshügel, von dem Maximus gesprochen hatte. So weit waren sie nicht gekommen. Es war sumpfiges Gebiet, in dem sie stecken geblieben und von den Barbaren überfallen worden waren. Sie waren nicht einmal dazu gekommen, ihre Geschütze aufzustellen. Mit der blanken Waffe kämpften sie – nicht einmal mehr ums Überleben, nur noch um Aufschub gegen das Sterben.

Der unheimliche Schlachtgesang wurde lauter. Varus konnte bereits die Namen einzelner Stämme unterscheiden: „Cherusker, Cherusker!“ – „Marser, Marser!“ – „Sugambrer, Sugambrer!“ Und die der germanischen Götter: „Wodan, Wodan!“ – „Tiu, Tiu!“ – „Donar, Donar!“

Er hörte noch etwas anderes, ein leises Flüstern, das der Wind zu ihm herantrug, nur zu ihm: Nimm das Schwert, Quintilius Varus! Nimm das Schwert!

Varus sah wieder die Gesichter, die seinem glichen und doch die seines Vaters und seines Großvaters waren. Endlich begriff er, dass sie ihm nichts Böses wollten. Im Gegenteil, sie wollten ihn erlösen und ihn davor bewahren, den Barbaren in die Hände zu fallen. Nicht auszudenken, was diese Bestien mit ihm anstellten, erwischten sie ihn lebend.

Nimm das Schwert, Quintilius Varus! Nimm das Schwert!

„Ja“, sagte der Statthalter leise zu sich selbst und war ein wenig traurig, als er an den verlorenen Triumphzug durch Rom und an den Thron dachte, den er nie besteigen würde. „Ich werde es tun.“ Er hob den Kopf, blickte die Offiziere und Beamten an und sagte laut: „Sorgt dafür, dass mich niemand stört!“ Dann drehte er sich um und ging in sein Zelt.

Die Männer blickten ihm nach und sahen sich verstehend an. Sie wussten, was er vorhatte. Das Schicksal seiner Väter war ihnen bekannt.

Varus scheuchte alle Diener hinaus, legte seinen Purpurmantel ab und löste langsam, bedächtig die Stifte und Riemen, die Vorder- und Rückenteil seines Muskelpanzers aus dünnem, aber besonders gehärtetem Eisen zusammenhielten. Es war das erste Mal, dass der Feldherr diese Arbeit eigenhändig und ohne die Hilfe seiner Diener verrichtete. Es dauerte zwar viel länger so, aber weshalb sollte er sich mit dem Sterben beeilen?

Scheppernd fiel der Panzer neben ihm zu Boden. Es war ein angenehmes Scheppern. Varus empfand jedes Geräusch, das den Barditus überdeckte, als angenehm.

Er zog sein Schwert und betrachtete die Klinge, die ihn töten sollte. Mit beiden Händen umfasste er den Griff und drückte die Klinge gegen seine Brust. Aber weiter nicht. Es ging nicht. Er konnte es nicht.

Varus sank auf die Knie, stützte den Schwertknauf auf dem Teppich auf und wollte sich in das Eisen stürzen. Aber etwas hielt ihn zurück.

Du bist ein Feigling, Quintilius Varus, wie deine Väter!

Die Stimme in seinem Kopf wurde von einem Geräusch überlagert. Zwei Gestalten traten aus dem durch einen Vorhang abgetrennten Schlafgemach. Erst dachte er an die Barbaren, die ihn holen wollten. Dann lächelte er erleichtert, als er Pollux und Helena erkannte. Er war so erleichtert, dass er nicht den harten Ausdruck in ihren Gesichtern bemerkte.

Die Germanenkinder traten vor ihn und nahmen ihm das Schwert aus der Hand.

Da erkannte er, was sie vorhatten, und er dachte: Warum nicht? Es ist doch die Tradition meiner Vorfahren. Auch mein Vater hat sich von fremder Hand töten lassen.

Als die beiden Kinder die Klinge voller Hass und Abscheu tief in seine Brust stießen, blickte Varus sie dankbar an.

Ich bin meiner Väter würdig, dachte er, bevor er tot zu Boden sank.

Der Junge und das Mädchen standen vor der Leiche des Mannes, der sie so lange gepeinigt und entehrt hatte.

Sie hießen Gueltar und Guda, aber das hatte Varus nicht gewusst; es hatte ihn nicht interessiert. Er hatte auch nicht gewusst, dass sie mit ansehen mussten, wie römische Soldaten ihr Gehöft niederbrannten, wie sie ihren Vater langsam zu Tode folterten und ihre Mutter immer wieder vergewaltigten, während sie der blonden Barbarin, die sie in ihren Augen nur war, genüsslich ein Körperteil nach dem anderen abschnitten, Hände, Füße, Brüste. Er hatte nie gewusst, welchen Ekel, welche Scham und welchen Hass die Kinder, die er Pollux und Helena genannt hatte, empfanden, wenn sie ihm zu Diensten waren.

Gueltar und Guda glaubten, einen Teil dessen, was sie den Römern schuldeten, gerade bezahlt zu haben. Sie verließen das Zelt, indem sie am hinteren Ende zwischen Plane und aufgeweichtem Boden nach draußen schlüpften. Dort liefen sie in den Sturm hinaus, um sich den Aufständischen anzuschließen.

Sie hörten nicht mehr, wie die Männer, die vor dem Zelt gewartet hatten, hereinkamen und sich um die Leiche ihres Prätors versammelten.

Die Uniformen und Feldzeichen der Legatengarde zogen Thorag an. Viele der anderen Krieger, allen voran die Marser, rannten gegen die notdürftige Verschanzung an, hinter der die erste Kohorte und die Veteranen den goldenen Adler der Legion XVIII verteidigten. Jeder Stamm, jeder Gau, jeder Krieger schien von dem Ehrgeiz besessen, Armin den Adler und damit die Nachricht vom Untergang der letzten römischen Legion zu überbringen. Aber Thorag nicht. Er griff mit seinen Kriegern den kleinen Hügel an, auf dem die Garde kämpfte. Wo sie war, musste auch Maximus sein. Und wo er war, da konnte Thorag vielleicht Flaminia finden.

Thorag trieb den Braunen mitten zwischen die Verteidiger, hieb mit seinem Schwert auf ihre Köpfe ein und fing ihre Hiebe und Stöße mit seinem ramponierten Schild ab. Irgendetwas brachte sein Pferd zu Fall, und der Cherusker stürzte mitten zwischen die Römer. Erkannten sie den Donarsohn?

Ja!

„Proditor!“, schrie einer von ihnen und sprang mit zum Schlag erhobenen Gladius auf Thorag zu.

Der riss seinen Schild hoch. Unnötig. Eine Frame bohrte sich durch den Oberschenkel des Gardisten, und der Verwundete stürzte neben Thorag zu Boden. Der Edeling drehte sich zu ihm um und bohrte seinen Klinge in den Hals des Römers. Dann sah er dankbar zu Hakon auf, der auf dem von den Römern erbeuteten Fuchs saß, den er nach dem Verlust seines Schecken ritt.

Hakon lächelte grimmig und zog die blutige Spitze der Frame aus dem Bein des Römers. Das Lächeln gefror auf seinem Gesicht, und er fiel auf den von Thorag getöteten Gardisten. In Hakons Rücken steckte ein Pilum. Der vierschrötige Kriegerführer war tot.

„In Walhall wirst du einen Ehrenplatz finden“, sagte Thorag zu Hakon und schwang sich auf dessen Fuchs.

Er kämpfte sich weiter vor – und dann sah er Maximus. Der hünenhafte Präfekt stand neben dem in den Boden gerammten Signum seiner Garde und verteidigte es mit seinem Schwert. Er blutete aus vielen Wunden. Der Helm mit dem violetten Federbusch lag neben ihm im Dreck. Deutlich erkannte Thorag die silbernen Strähnen in seinem Haar.

Als Maximus den Edeling auf sich zureiten sah, löste sich der Präfekt von den anderen Gegnern, nahm das Pilum eines gefallenen Gardisten vom Boden auf und schleuderte es mit hassverzerrtem Gesicht nach Thorag. Der Cherusker duckte sich, und die Waffe flog über ihn hinweg. Er erreichte den Offizier und warf sich im vollen Galopp vom Pferderücken auf ihn. Beide fielen in den Schlamm und rangen miteinander.

Maximus’ kräftige Hände würgten Thorags Hals. Auf dem Gesicht des Präfekten zeichnete sich Befriedigung ab, als er das Antlitz des Gegners blau anlaufen sah. Thorag fühlte, wie seine Kräfte schwanden. Er zog sein rechtes Knie hoch und rammte es zwischen die Beine des anderen. Ein erstickter Schrei zeugte von Maximus’ Schmerz, und der eiserne Griff um Thorags Hals lockerte sich. Der Cherusker bekam seinen Dolch zu fassen, zog ihn aus der Scheide am Gürtel und stieß ihn in einen Arm des Präfekten. Maximus stöhnte und ließ ganz von ihm ab. Thorag rollte sich auf ihn und stieß erneut zu, diesmal in die Schulter.

Dann drückte Thorag die scharfe Klinge gegen Maximus’ Hals und fragte keuchend: „Wo ist Flaminia?“

„Was?“, krächzte der Präfekt ungläubig.

„Sag mir, wo Flaminia ist!“

„Was willst du von ihr?“

„Sie retten!“

Seltsamerweise lächelte der verwundete Offizier und murmelte: „Wahrlich, wenn jemand Grund dazu hat, dann du!“

Thorag verstand die Bemerkung nicht. „Wo ist sie?“, schrie er den Römer an.

„Bei Numonius Vala. Er ist mit der Reiterei geflo…“

„Ich weiß“, unterbrach Thorag ihn. „Er wird nicht weit kommen.“

Maximus’ Gesicht verdüsterte sich. Plötzlich riss der Präfekt die Augen auf, bevor sich eine Sekunde später eine Frame durch sein linkes Auge bohrte.

„Jetzt sieht der verdammte Römer aus wie ich“, lachte Garrit, der über Thorag und Maximus auf seinem Braunen saß und seine Frame aus dem Gesicht des toten Präfekten zog. Sein Lachen erstarb und er deutete auf seine Augenklappe. „So würde ich es mit dem Ebermann auch machen, dem ich das zu verdanken habe. Falls ich ihn fände. Auge um Auge!“

Während Blut und Eiter über das entstellte Gesicht des toten Offiziers liefen, verwandelte es sich für Thorag in das von Flaminia. Er riss sich los und stieg wieder auf den Fuchs.

„Wir müssen der Reiterei nach“, sagte er zu Garrit. „Ruf die Donarsöhne zusammen!“

„Wieso? Onsaker verfolgt die Reiter.“

„Eben! Sieht so aus, als könntest du bald deine Rache nehmen, Garrit.“

„Und was ist mit Varus?“

„Es ist vorbei.“ Thorag zeigte auf eine von Sesithar angeführte Gruppe von Cheruskern, die einen halb verkohlten Leichnam mit sich trugen und auf Thorag zukamen.

„Seht her, Donarsöhne!“, rief der Neffe des Segestes. „Das hier ist übrig vom edlen Varus. Er hatte keinen Mut mehr zum Kämpfen, nur noch zum Sterben.“

„Hat er sich selbst ins Feuer gestürzt?“, fragte Garrit.

„Nein“, lachte der siegestrunkene Sesithar. „In sein Schwert. Sein Gefolge wollte ihn verbrennen. Sie gönnen uns nicht, mit Varus den Sieg zu feiern.“ Dabei umfasste er den schrecklich verunstalteten, nach verkohltem Fleisch stinkenden Körper wie eine Frau und führte mit ihm einen verrückten Tanz auf.

Thorag konnte beim Anblick des toten Statthalters nicht die erhoffte Befriedigung finden. Er dachte daran, wie viele Römer es gab, die nur zu gern auf Kosten der unterdrückten Völker die eigenen Taschen füllten. Andere würden nach Publius Quintilius Varus kommen, vielleicht Bessere, vielleicht Schlechtere, auf jeden Fall Feinde. Augustus konnte die Schlappe kaum auf sich sitzen lassen. Plötzlich erkannte Thorag, dass der heutige Tag nicht das Ende eines großen Kampfes war, sondern nur der Anfang.

„Bringt den Toten zu Armin!“, sagte er. „Auch er wird mit Varus den Sieg feiern wollen.“

„Ja, das wird er“, rief Sesithar, lachte noch immer und wirbelte den Leichnam des Statthalters herum.

Während Varus noch tanzte, starben die letzten seiner Legionäre, und die Marser eroberten den goldenen Adler.

Kapitel 12 – Späte Enthüllungen

In der Eile hatte Thorag nur eine kleine Schar Donarsöhne zusammenrufen können. Die meisten seiner Männer, soweit sie noch lebten, waren weit über das Schlachtfeld verstreut, machten Beute und feierten ihren Sieg. Und von den Kriegern, die seinen Ruf hörten, konnte er nur die Berittenen mitnehmen, etwas über zwanzig Mann. Die Zeit drängte. Thorag schlug den Weg durch die kleine Schlucht ein, der nach Westen führte, dorthin, wo er Numonius Vala und die Flüchtenden vermutete – falls sie nicht längst Onsakers wilder Schar zum Opfer gefallen waren. Unterwegs stießen die Donarsöhne immer wieder auf die ausgeplünderten Überreste römischer Einheiten.

Sie waren schon drei Stunden durch den etwas nachlassenden Sturm geritten, als sie durch einen Wald des Grauens kamen. Überall hingen römische Soldaten und Zivilisten an den Bäumen, Opfer für Wodan, die an sein neun Nächte und Tage dauerndes Hängen erinnern sollten. Manchmal waren auch nur die Köpfe angenagelt oder auf Äste gepflanzt, während die ausgebluteten Körper auf dem Boden lagen. Mit Erschrecken erkannte Thorag, dass die Soldaten die Uniform der Reiterei trugen.

Dann trafen sie auf eine Gruppe betrunkener Eberkrieger, die sich an erbeutetem Wein berauschten. Sie luden die Donarsöhne ein, mit ihnen zu feiern, aber Thorag lehnte ab.

„Wo steckt Onsaker?“, fragte er.

Die Schwarzbemalten wussten es nicht.

„Habt ihr alle Römer getötet?“

„Ein paar von uns kämpfen noch“, lallte ein Ebermann und schüttete einen weiteren Becher Wein in sich hinein. „Aber es kann nicht mehr lange dauern.“

Die Donarsöhne ritten weiter. Jeder Frauenleiche sah Thorag ins Gesicht, und jedes Mal war er erleichtert, wenn es nicht Flaminia war. Er dachte schon ans Aufgeben, als sie auf den Kampfplatz stießen. Auf einer großen Lichtung hatten weit über hundert Eberkrieger eine kleine Gruppe Römer eingekreist. Die meisten römischen Soldaten waren schon gefallen. Die anderen hatten sich hinter den Leichen ihrer Kameraden und hinter ihren toten Pferden verschanzt. Sie verteidigten sich und eine Gruppe Frauen – darunter Flaminia!

Ja, sie war es eindeutig. Sie hockte auf dem Boden, drückte Primus an sich und hatte ihre blaue Palla um seinen Leib geschlungen, als könne der dünne Stoff den Jungen vor dem Tod bewahren.

Thorag führte seine Reiter auf die Lichtung und rief den wild brüllenden Eberkriegern wieder und wieder zu, dass sie den Kampf einstellen sollten. Tatsächlich hörten sie auf ihn, und ihr massiger Anführer, dessen Aussehen ein wenig an den Eberfürsten Onsaker erinnerte fragte, was los sei.

„Die Frauen und Kinder stehen unter meinem Schutz!“, erwiderte Thorag.

„Wer sagt das?“

„Ich, Thorag, Sohn des Wisar aus dem Geschlecht des Donnergottes.“

Der Schwarzbemalte lachte: „Und wenn du Wodans leiblicher Sohn wärst, uns hast du gar nichts zu befehlen, Thorag. Wir hören nur auf Onsaker, unseren Fürsten.“

„Dann holt ihn her und fragt ihn!“

„Und die Römer?“ Der Ebermann zeigte auf die Eingeschlossenen. „Sollen wir sie laufen lassen?“

„Sie können nicht entkommen.“

Der Schwarzbemalte grinste. „Nein, das können sie nicht. Weil wir sie jetzt töten werden!“ Er drehte sich zu seinen Leuten um, hob Schwert und Schild über seinen Kopf und brüllte aus Leibeskräften: „Tod den Römern! Vorwärts, Eberkrieger, Wodan ist mit …“

Weiter kam er nicht, weil Garrits Frame seinen Leib von hinten durchbohrte. „Auge um Auge!“, stieß der junge Krieger dabei hervor.

Aber es war bereits zu spät. Die Schwarzen setzten ihren Angriff fort und kämpften an zwei Fronten, gegen die Römer und gegen die Donarsöhne. Garrit war der erste von Thorags Kriegern, der ihnen zum Opfer fiel. Gleich drei Eberkrieger sprangen ihn an und rissen ihn vom Pferd. Einen tötete der Einäugige noch mit seinem Schwert, bevor die beiden anderen ihn zerstückelten.

Thorag kannte nur ein Ziel: Flaminia!

Er verlor den Fuchs und kämpfte sich zu Fuß durch die Reihen der Schwarzbemalten bis zur Verteidigungsstellung der Römer vor, nur um dort von einem Zivilisten mit dem Pilum angegriffen zu werden. Der dickbäuchige Mann, ein Schankwirt oder ein Händler vermutlich, war im Kampf wenig erfahren. Der Cherusker wich dem Stoß mühelos aus und streckte den Gegner mit einem Schwerthieb nieder.

Ungehindert erreichte Thorag das Zentrum der Römerstellung, wo Frauen und Kinder auf das Ende warteten. Entsetzt sah er, dass viele der Frauen es vorgezogen hatten, lieber durch eigene Hand zu sterben als lebend in die Hände der Feinde zu fallen. Die Mütter, die den Freitod gewählt hatten, hatten vorher ihre Kinder getötet.

„Flaminia!“, schrie Thorag und sah über den ungeordneten Haufen noch lebender, im Todeskampf zuckender oder schon toter Leiber.

Endlich entdeckte er das leuchtende Blau ihrer Palla, die jetzt von einem obszönen Muster großer roter Flecke übersät war. Primus lag in seltsamer Haltung in ihren erschlaffenden Armen und rutschte langsam zu Boden. Auch seine Tunika war auf der Brust ganz rot.

Als Thorag die beiden erreichte, war Primus tot. Aus Flaminias Rechter fiel der blutige Dolch zu Boden. Die Frau atmete flach, ihre Augenlider flatterten. Aber die tiefe Wunde über ihrem Herzen zerstörte Thorags letzte Hoffnung.

„Warum?“, fragte Thorag, als er neben ihr auf die Knie fiel. „Warum hast du das getan, Flaminia?“

„Thorag?“ Es klang überrascht; sie schien ihn vorher nicht bemerkt zu haben. Wie auch, in diesem Getümmel. Der Kampf dauerte noch an.

„Warum hast du das nur getan?“, flüsterte Thorag. „Ich bin gekommen, um dich zu holen!“

„Maximus …“, röchelte sie. „Er gab mir … Dolch … sagte … besser tot … als Sklavin … Barbaren.“

„Vielleicht hätte ich euch retten können, dich und deinen Sohn!“, sagte Thorag, erfüllt von Trauer und Verzweiflung.

Flaminia lächelte schwach, strich über ihren Bauch und sagte matt: „Und … unser Kind …“

„Was meinst du damit? Du … du bekommst ein Kind?“

Noch während er das fragte, stieg eine seltsame Ahnung in Thorag auf. Er glaubte zu wissen, was Maximus’ seltsame Worte, die er kurz vor seinem Tod zu Thorag gesprochen hatte, bedeuteten. Aber er konnte, wollte es nicht wahrhaben.

Flaminia nickte schwach.

„Man sieht gar nichts“, sagte Thorag ungläubig.

Nur noch der Hauch eines Lächelns flog über Flaminias blasses Gesicht. „War … immer schon … schlank …“

Thorag wusste, dass ihr Leben jeden Augenblick beendet sein konnte. Und obwohl er die Antwort bereits kannte, stellte er die quälende Frage: „Wer ist der Vater?“

„Du.“

„Nein!“, entfuhr es ihm fast wütend. „Das kann nicht sein! Du wolltest Decimus Mola heiraten, den … ich im Kampf getötet habe.“

„Ich … musste heiraten … Wunsch von … Varus … Maximus …“ Noch einmal riss sie ihre schönen Augen weit auf. „Keine Zukunft … für uns … Cherusker …“

Flaminias toter Körper sank zur Seite, direkt in Thorags Arme.

Später wusste er nicht, wie lange er so dagesessen hatte, Flaminias noch warmen Leib gehalten und an sein Kind gedacht hatte, dass nie geboren werden würde. Alles um ihn herum war bedeutungslos geworden. Noch nicht einmal das Ende des Kampfes bekam er mit.

Natürlich siegte die Übermacht der Eberkrieger. Sie rissen Thorag hoch und schnürten seine Hände auf den Rücken. Das holte ihn in die Wirklichkeit zurück.

Fast alle Römer waren tot. Die Frauen, die nicht den Freitod gewählt hatten, bereuten das jetzt, als die Schwarzbemalten über sie herfielen. Nur eine Handvoll Donarsöhne hatte den Kampf lebend überstanden und war ebenfalls gefesselt worden, darunter der zornig blickende Tebbe.

„Wir sollten die Donarsöhne einfach töten!“, rief einer der Eberkrieger.

Ein anderer widersprach: „Nein, Onsaker würde das nicht gefallen. Er möchte bestimmt lieber selbst mit Thorag abrechnen.“

Und so war es. Als der Eberfürst nach einer halben Stunde auf dem Kampfplatz erschien, selbst vom Kampf an einem anderen Ort mit Blut bedeckt, war er über die cheruskischen Toten und Gefangenen fast erfreuter als über die Niederlage der Römer. Während seine Männer feierten, ließ er den gefesselten Thorag an eine abseits gelegene Eiche binden, wo sie niemand hören und sehen konnte. Er setzte sich vor Thorag auf einen Stein und starrte den Gefangenen eine ganze Weile schweigend an.

„Überlegst du, auf welche Weise du mich töten sollst, Onsaker?“

Der Eberfürst nickte. „So ist es.“

„Und deshalb hast du mich herbringen lassen? Du hättest mich eben einfach mit deiner Frame durchbohren oder mit dem Schwert erschlagen können. Nicht einmal Armin hätte es gewagt, dir einen Vorwurf zu machen, nachdem ich deine Krieger angegriffen habe.“

„“