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Jörg Kastner

Die Schwerter des Germanicus

Folge 5 der 12-teiligen Romanserie Die Saga der Germanen

Historischer Roman

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Kapitel 8 – Der Reisende von Ostia

Der Weihrauch, der auf dem Altar des Jupiter in einer großen Schale verbrannte, stieg in einer dicken, weißen Fahne in den blauen Himmel, als wolle er sich dort mit den weißen Wolken verbinden. Sein kräftiger Geruch vermischte sich mit dem weniger angenehmen der geschlachteten Tiere zu einer eigenartigen Bittersüße, die so schwer in der Luft hing, dass Tiberius sie auf der Zunge zu schmecken glaubte.

Der Princeps, der den silberglänzenden, goldverzierten Muskelpanzer und den mit einer breiten Goldborte gesäumten Purpurmantel des obersten Heerführers trug, war froh, dass die Einwohner Ostias den Opferaltar auf dem freien Platz vor dem Jupitertempel errichtet hatten. Im Innern des großen Gebäudes wäre der Geruch kaum zu ertragen gewesen. Zehn große Stiere und zehn prächtige Hengste, alles blütenweiße und makellose Tiere, verbreiten im Tod einen größeren Gestank als hundert Gefallene auf dem Schlachtfeld.

Endlich war auch der letzte Stier verendet, nachdem erst die Axt eines Opfermetzgers vor seinen Schädel geschlagen und dann das vergoldete Messer des Mannes in den Hals und den Leib des Tieres gefahren war. Die Lederschürze des Opfermetzgers war rot vom Blut der Tiere, die Tiberius dem Jupiter darbrachte. Vergeblich bemühten sich die Opferdiener, alles auslaufende Blut in ihren vergoldeten Schalen aufzufangen, während der Opfermetzger den Stier zerlegte. Blutbefleckt wie die Schürze des Metzgers waren auch der Sockel des Altars aus weißem Marmor und die grauen Steinplatten rundherum.

Sorgsam entnahmen die Priester des Jupiter dem Stier die Innereien und legten sie zu den Eingeweiden auf dem Altar. Während sie die noch körperwarmen Organe eingehend betrachteten und die Ergebnisse ihrer Studien untereinander diskutierten, beobachtete Tiberius amüsiert die Gesichter der Menge. Patrizier und Plebejer, Bürger und Freigelassene waren im Tempelbezirk der Hafenstadt Ostia zusammengeströmt, um ihren Princeps zu sehen und ihn zu verabschieden.

Es verwunderte den Herrscher nicht, dass er viele spöttische Gesichter sah, Gesichter von Menschen, die das Urteil der Priester bereits zu kennen glaubten. Denn schon einmal hatte Tiberius hier gestanden und dem Jupiter geopfert, um zu erfahren, wie die Vorzeichen für seine Reise nach Germanien standen. Und die Priester hatten mit ernsten Mienen verkündet, dass alle Zeichen schlecht ständen. Neptun, der Gott des Meeres, sei erzürnt und würde den Princeps auf immer verschlucken, sobald dieser sich hinaus auf offene See wagte, so laute Jupiters Warnung. Also kehrte Tiberius nach Rom zurück, und seine Flotte wurde wieder entladen.

Natürlich hatte er damals die Priester des Jupiter bestochen, so wie er dem Gott des Lichtes und des Himmels, Beschützer Roms und des Staates, auch heute reichlich Gold als Weihegeschenk vermacht hatte. Natürlich ahnten das die Klügeren unter den Zuschauern. Und natürlich ahnten sie auch, dass Tiberius gar nicht daran interessiert war, ins ferne Germanien zu fahren, um seinen Adoptivsohn Germanicus bei der Niederschlagung der Meuterei zu unterstützen. Bei seiner ersten scheinbaren Abreise und auch heute beugte sich der Princeps lediglich dem Druck der Öffentlichkeit und der Mehrheit des Senats – und dem Drängen Livias.

Die Mutter des Princeps gab vor, es sei zum Besten ihres Sohnes, wenn dieser sich selbst um die Meuterei kümmere. Es hebe sein Ansehen und mindere die Gefahr, die Rom selbst drohte, sobald die Meuterei sich ausbreitete. Doch Tiberius glaubte zu wissen, was Livia Drusilla, die sich seit dem Tod des Augustus Julia Augusta nennen durfte, wirklich antrieb. Die alte Frau wollte seine Macht beschneiden und ihre Stellung als Mitregentin ausbauen.

Bis jetzt hatte Tiberius das erfolgreich verhindert, was sie wohl kaum angenommen hatte, als sie alles daransetzte, ihn zum Nachfolger des Augustus zu machen. Aber Tiberius hatte nicht vor, die willenlose Puppe seiner Mutter zu sein. Als im Senat Anträge gestellt wurden, Livia mit den Ehrentiteln ‚Parens – Erzeugerin‘ und ‚Mater Patriae – Mutter des Vaterlandes‘ zu schmücken und Tiberius fortan ‚Sohn der Julia‘ zu nennen, war der neue Princeps erstmals scharf gegenüber den Senatoren aufgetreten und hatte nachdrücklich darauf bestanden, bei den Ehrungen von Frauen Maß zu halten, wie er auch für seine eigene Person bei Titeln und Ehrenbezeugungen Zurückhaltung üben wolle. Tiberius hatte verhindert, dass seiner Mutter zur Erinnerung an ihre Aufnahme in das Julische Haus ein Altar geweiht wurde. Und er hatte vereitelt, dass ihr ein Liktor zugewiesen wurde, womit er ihr jegliche Exekutivgewalt absprach.

Livia wehrte sich wie eine Löwin, aber nicht in der Öffentlichkeit, dazu war sie zu klug. Wie hätte es ausgesehen, hätte sich die Mutter gegen den Sohn, die Augusta gegen den neuen Augustus gestellt. Insgeheim intrigierte sie, schürte den Aufruhr unter den Patriziern, die Unzufriedenheit mit der zögernden Haltung des Tiberius in Bezug auf die Heeresmeutereien. Zwar hatte Drusus Minor gemeldet, der Aufruhr im Illyricum sei beigelegt, aber noch war keine Nachricht über die Beendigung der Aufstände am Rhenus nach Rom gelangt, und die Rückkehr der senatorischen Gesandtschaft unter Munatius Plancus war überfällig. Tiberius hatte sich darauf berufen, diese Rückkehr abwarten zu wollen, aber die von Livia aufgestachelten Senatoren hatten ihm das nicht als vernünftige Haltung, sondern als weiteres Zaudern ausgelegt. Und so war der Princeps zum zweiten Mal gezwungen gewesen, den Tiber nach Ostia hinunterzufahren, um hier den Reisenden zu spielen.

Der Oberpriester drehte sich um, blickte in die Menge und dann auf den Herrscher. Er war ein mittelgroßer, hagerer Mann mit einem glatt rasierten, würdevollen Gesicht. Würde strahlte seine ganze Erscheinung und Haltung aus, woran auch der Umstand nichts änderte, dass Toga und Tunika von den Eingeweiden der Opfertiere beschmutzt waren.

„Hört, was Jupiter, der Gott der Krieger, über die Reise unseres Imperators Tiberius Julius Caesar gesagt hat!“ Spannung breitete sich auf vielen Gesichtern aus, doch auf einigen blieb die spöttische Belustigung die vorherrschende Regung. „Alle Zeichen stehen gut. Wenn der Imperator auch Fortuna, der Göttin des Glücks und des Schicksals, die das Ruder des Lebens in den Händen hält, in ihrem nahen Heiligtum noch ein Weihegeschenk darbringt, steht nichts einem günstigen Verlauf der Reise entgegen. Dann werden göttliche Winde unseren Princeps beflügeln!“

„Er trägt ein bisschen dick auf“, bemerkte spitz, aber mit der Angelegenheit angemessen ernster Miene Gnaeus Calpurnius Piso, der die senatorische Abordnung anführte, die mit dem Princeps nach Ostia gefahren war, um ihn hier – angeblich – zu verabschieden. Livia dagegen hatte es nicht für nötig gehalten, ihren Sohn zum Hafen zu begleiten, was Tiberius zwar ärgerte, was er aber in Anbetracht seines eigenen Verhaltens ihr gegenüber verstand.

„Ja“, bestätigte der Herrscher und verbarg nur mühsam die Belustigung angesichts der eben noch spöttischen und jetzt überaus erstaunten Gesichter. „Und das Weihegeschenk für Fortuna war auch nicht vereinbart.“

„Die Priester des Jupiter schanzen ihren Kollegen vom Heiligtum der Fortuna etwas zu“, stellte Calpurnius Piso fest. „Vermutlich ist es ein Abkommen auf Gegenseitigkeit.“

Nachdem Tiberius sich bei Jupiter für sein Wohlwollen bedankt hatte, begab sich die Prozession zum nahen Heiligtum Fortunas, das so klein war, dass es kaum die Bezeichnung Tempel verdiente. Nur kurz hielt sich Tiberius mit der Übergabe des Weihegeschenks in Form einiger kostbarer Goldarbeiten auf. Plötzlich ermüdete ihn die Komödie, die er hier spielte. Außerdem juckte seine Haut am ganzen Körper. Es war der Ausschlag, der ihm schon seit seiner Kindheit zu schaffen machte und gegen den kein Arzt etwas tun konnte. Am liebsten hätte er sich überall gekratzt und gescheuert, am Kopf, an den Beinen und auch dazwischen. Nur mühsam beherrschte er sich.

Der Zug formierte sich neu, verließ unter pompösem Trompetengeschmetter den Tempelbezirk im Westen der Stadt und wandte sich dem Hafen an der Tibermündung zu. Der Weg, den Jünglinge mit Rosenblüten bestreuten, war von Schaulustigen gesäumt, die den Princeps in seiner von acht kräftigen Numidern getragenen Prunksänfte betrachten wollten. Die der Sänfte voranschreitenden Liktoren hatten die Rutenbündel links geschultert, doch jeder hielt noch eine schmalere Rute in der Rechten, um zu vorwitzige Zuschauer durch schmerzhafte Streiche auf ihre Plätze zu verweisen.

Im Hafen wartete eine eindrucksvolle Flotte auf den Imperator, insgesamt zwanzig Kriegsschiffe. Einige von ihnen kreuzten jenseits des Hafenbeckens auf See, aus Sicherheits- und auch aus Platzgründen. Schließlich mussten hier auch noch die Handelsschiffe anlegen, die Gold, Zinn und Blei aus Hispanien, Eisen, Wolle und Felle aus Britannien, Töpferwaren und Olivenöl aus Gallien, Wein und Honig aus Griechenland, Holz und Pferde aus Kleinasien und aus den verschiedensten Gebieten das für Rom so wichtige Getreide brachten. Die geräumige Galeere, die den Princeps beherbergen sollte, war ebenso prunkvoll verziert wie die mit Purpur- und Gold-Applikationen versehene Sänfte, aus der er jetzt stieg. Sklaven schleppten eilig die letzten Truhen mit den persönlichen Habseligkeiten des Herrschers an Bord.

Dieser wandte sich an seine Begleitung und an die zusammengeströmte Menge, um sich für das Geleit und die guten Wünsche zu bedanken. Tiberius wies auf die voraussichtlich lange Dauer seiner Abwesenheit und darauf hin, dass in Rom alles seinen rechten Gang gehen werde. Er betonte sein Vertrauen in den durch Calpurnius Piso vertretenen Senat und in seine Mutter und Mitregentin Livia Julia Augusta. Dann ging er unter den Jubelrufen der Menge auf das Schiff.

Der Trierarch ließ den Anker lichten und die Segel setzen. Sie waren im Purpur des Herrschers gehalten, und das große Hauptsegel war mit den Schattenrissen einer Wölfin und zweier kleiner Kinder, Romulus und Remus, verziert. Schon wollten sich die Rojer in die Riemen legen, um das Schiff aus dem Hafen zu bringen, da schoss ein schnittiger, leichter Segler durch die Einfahrt und holte die Segel so spät ein, dass er der bauchigen Galeere des Princeps den Weg versperrte.

Tiberius tat erstaunt, als er die Männer an der Reling des anderen Schiffes erblickte, und rief seinem Schiffsführer zu: „Es ist Munatius Plancus mit den anderen Senatoren. Bring mich zurück an Land, Trierarch, sicher hat die Gesandtschaft Interessantes zu berichten.“

Wenig später begegneten sich Tiberius und die aus Germanien zurückgekehrten Senatoren am Rande des Hafenbeckens, umringt von der neugierigen Zuschauermenge. Der Princeps forderte Munatius Plancus auf, seinen Bericht in knappen Worten gleich hier zu erstatten, denn es ginge alle Bürger Roms etwas an.

„Schlechte See behinderte unsere Rückkehr, edler Tiberius, Sohn des vergöttlichten Augustus“, begann Plancus. „Jetzt aber können wir dir berichten, dass dein Sohn, der Prokonsul Julius Caesar Germanicus, die Meuterei in Germanien niedergeschlagen hat. Die Legionen stehen wieder treu zu Rom, und jegliche Gefahr ist gebannt.“

Tiberius wartete ab, bis das aufgeregte Geschnatter der Menge sich gelegt hatte. Dann sagte er mit einem breiten Lächeln, wie man es selten in seinem ernsten Gesicht sah: „Jupiter sei Dank, dass er dich und deine ehrwürdigen Begleiter noch rechtzeitig zurückkehren ließ, edler Munatius Plancus. Jetzt, wo ich Germanien in guten Händen und die dortigen Legionen treu zu Rom stehend weiß, erübrigt sich meine Reise, und ich kann weiterhin in der Liebe baden, mit der Roms Bürger mich überschütten.“

Die Menge konnte gar nicht anders, als auf diese geschickt gewählten Worte mit Beifall zu reagieren. Tiberius nahm den Beifall für seine gezielte Schmeichelei als solchen für seine Entscheidung, in Rom zu bleiben. Er bedankte sich bei den Bürgern für ihr Einverständnis und stieg dann in seine Sänfte.

Einige der Zuschauer sahen allerdings auch reichlich verprellt aus, so die nicht in den Plan eingeweihten Priester des Jupiter-Tempels. Als der Reisende von Ostia nach Rom zurückkehrte, freute er sich schon auf das bestimmt nicht minder komische Gesicht seiner Mutter.

Livia reagierte in der Tat höchst erstaunt auf die unerwartete Rückkehr ihres Sohnes und konnte ihren Ärger kaum verbergen.

„Sie hat ausgesehen, als sei sie ihrem zu den Göttern gegangenen Gemahl wiederbegegnet“, bemerkte feixend Calpurnius Piso, als er sich abends mit Tiberius in dessen Haus zu einem intimen Essen unter vier Augen traf. „Ich glaube, jetzt hat sie endgültig eingesehen, dass ihr alles Intrigieren nichts nützt, dass sie dir hoffnungslos unterlegen ist.“ Der Senator hob seinen Weinbecher und lachte: „Mulier taceat! – Das Weib möge schweigen! Auf dich, Tiberius, auf den unangefochtenen Herrscher Roms!“

Auch Tiberius hielt seinen goldenen Becher hoch und lächelte Calpurnius Piso an. „Nein, auf dich, mein Freund, der du den genialen Einfall hattest, Munatius Plancus und seine Begleiter so lange zurückzuhalten, bis sich ihr Schiff mit meinem trifft, das war wirklich ein Meisterstück!“

„Nein, nur eine Frage der Überredung und Bestechung. Ich hatte meine Zweifel, dass der ehrbare Plancus sich auf so etwas einlässt, aber die schlimmen Erfahrungen in Germanien scheinen seinen Stolz gebrochen zu haben.“

Sie tranken, und dann erkundigte sich Calpurnius Piso nach dem Bericht der Senatoren.

„Er entspricht überhaupt nicht den Äußerungen, die Plancus im Hafen von Ostia gemacht hat. Er wäre von den Meuterern fast ermordet worden und musste das Oppidum Ubiorum Hals über Kopf verlassen.“

Der Senator wirkte gar nicht mehr belustigt. „Wir sollten die Meuterei nicht auf die leichte Schulter nehmen, Tiberius. Auch wenn du es vor dem Senat abstreitest, Rom könnte tatsächlich bedroht sein.“

Tiberius winkte ab und steckte eine in Honig gebackene Traube in seinen Mund, die er genüsslich zerkaute. „Vor einer Stunde erhielt ich per Eilkurier Nachricht aus Germanien. Die Götter sind mit uns und haben die Lüge, die wir Plancus in den Mund legten, in Wahrheit verwandelt. Germanicus scheint seine Truppen tatsächlich wieder in der Gewalt zu haben. Jedenfalls ist er mit ihnen zu einem Feldzug gegen die aufsässigen Germanen aufgebrochen.“

Calpurnius Piso nahm ebenfalls eine Traube aus der großen Silberschüssel, steckte sie aber noch nicht zwischen die Lippen, sondern fragte zuvor: „Da wir gerade von der Lüge sprechen, hat dir dein spezieller Kundschafter auch schon Bericht erstattet?“

„Du meinst Appius Aemilianus Silius?“

Calpurnius Piso kaute schmatzend und nickte.

„Ja, er war hier.“ Tiberius sagte das mit einem tiefen Seufzer, der Unzufriedenheit mit dem Bericht des Senators ausdrückte. „Germanicus hat es rundweg abgelehnt, mich mithilfe des Senats zu ersetzen.“

„Das scheint dich zu bekümmern“, stellte Calpurnius Piso verwundert fest. „Wo du über die Treue deines Adoptivsohnes doch sehr erfreut sein solltest!“

„Mein Kummer entspringt der Frage, ob die Treue Germanicus diese Antwort geben ließ oder...“

„Oder?“, fragte der Senator, als der Herrscher schwieg und nachdenklich durch den Freund hindurchsah, mit einem Blick, der bis ins ferne Germanien zu reichen schien.

„Oder der Argwohn, der unvermeidliche Bruder der Herrschsucht“, beendete Tiberius seinen Satz.

Kapitel 9 – Die Nächte der Tamfana

In den Nächten der Tamfana wurde der Wechsel des Jahres gefeiert, der Übergang vom Sommer zum Winter, die Einbringung der Ernte und die Aufnahme der Geister der Verstorbenen ins Reich der Toten. Zu diesem bedeutendsten Fest der Marser waren sämtliche Sippen in das Gebiet um den großen Tempel geströmt, so zahlreich, dass sich die Feierlichkeiten über viele Meilen hinzogen, verteilt auf Siedlungen und große Gehöfte rund um Mallovends Burg, die sich ganz in der Nähe des Tempels auf einem Bergrücken erhob.

Fast alle Frilinge wollten die Erdgöttin ehren, sodass auf den entfernteren Höfen nur wenige zurückblieben, meist Frauen und Kinder, Alte und Schwache, die ein Auge auf Halbfreie und Schalke warfen. Angst vor der Schwächung des Stammesgebietes durch den Entzug der Krieger brauchte man nicht zu haben, denn die Waffenruhe während des Tamfana-Festes galt auch den Nachbarstämmen als unantastbar, so wie die Marser die heiligen Riten ihrer Anrainer respektierten.

Wie alle freien Stämme rechts des Rheins hatten auch die Marser kein Verständnis für das, was die Römer unter Pünktlichkeit verstanden. Bei den Germanen galt es als Tugend, sich Zeit zu lassen. Für einen freien Mann gab es keinen Grund, sich dem Zwang zu beugen, zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort zu sein. Und so kamen auch die Feiernden erst nach und nach zusammen, in jeder Nacht wurden es mehr. Zum Höhepunkt des Festes, den morgen beginnenden drei heiligen Nächten – der Nacht des Krieges, der Nacht des Schutzes sowie der Nacht der Toten und der Fruchtbarkeit – würden aber wohl alle anwesend sein, die Tamfana ehren und opfern wollten.

In dieser Nacht, vor der Nacht des Krieges, wurde noch einmal ungezwungen gefeiert, auch und besonders auf Mallovends Burg. Schon seit fünf Nächten bewirtete der Marserherzog seine Gäste: die zum Tamfana-Fest erschienenen Abordnungen fremder Stämme und die Edelinge der Marsersippen. Über den Feuern drehten sich Rinder, Schweine, Lämmer und frisch erlegtes Wild. In den Kesseln dampften heiße, schmackhafte Suppen. Es flossen Ströme von Bier, das frisch für diese Feier gebraut worden war, und von Met, den die Frauen aus dem Aufguss von Honigwaben gewonnen hatten. Tänze, Spiele und Gesänge gaben einen Vorgeschmack auf das, was in den drei kommenden Nächten noch lauter, vielfältiger und eindringlicher stattfinden würde.

Thorag genoss die Musik, das Tanzen, Lachen, Essen und Trinken. Seitdem Germar mit seinem Mordgesindel im Land der Donarsöhne aufgetaucht war, hatte das Leben des Donarfürsten aus Kämpfen und Gefahren, aus Sorgen und schließlich auch aus Verletzungen bestanden, die einen schwächeren Mann als Thorag nach Walhall geführt hätten. Aber der Donarsohn war ein Krieger, der ebenso gut einstecken wie austeilen konnte. Die Heilkräuter und die sorgsame Pflege, über die Armin persönlich wachte, taten bald ihre Wirkung. Thorag fühlte sich in der Lage, seinem Blutsbruder den Freundschaftsdienst zu erweisen, um den der ihn gebeten hatte. Er brach mit Mallovend ins Marserland auf, auch wenn das lange Reiten ein Stechen in seiner Brust und das Halten der Zügel ein Brennen in den narbigen Händen verursachte. Er verließ die Adlerburg nicht ohne düstere Gedanken, bedingt durch Gerolfs Blutadler und Aujas anhaltende Schwächeanfälle.

Im ersten Fall beruhigte Armin den Freund, er werde den Ebergau durch einen stattlichen Trupp Späher beobachten lassen. Tatsächlich tat sich dort nichts Auffälliges. Die Kundschafter meldeten keine größeren Kriegeransammlungen, die auf einen Angriffszug hindeuteten. Lediglich viele kleine Jagdgruppen streiften durch das Eberland, aber das war für diese Jahreszeit nichts Ungewöhnliches; kurz vor Ende des Sommers wurden noch einmal die Vorräte aufgefüllt, bevor die Frostriesen mit ihren kalten, weißen Mänteln alles Leben erstickten. Außerdem war Argast über das Geschehen auf der Adlerburg in Kenntnis gesetzt worden, und Thorags Kriegerführer hatte seinem Fürsten die Nachricht gesandt, er habe die Donarsiedlung auf einen Überraschungsangriff der Eberleute vorbereitet.

Im zweiten Fall war es Thusnelda, die sich aufopfernd um Auja kümmerte. Die jungen Frauen verstanden sich, vielleicht weil beide ein Kind erwarteten, sehr gut und schienen geneigt, der Blutsbrüderschaft ihrer Männer eine enge Freundschaft gegenüberzustellen. Thusnelda kümmerte sich um Auja, wie Armin sich um Thorag kümmerte, und versicherte dem Donarsohn, er brauche sich keine Sorgen um seine Frau zu machen. Aujas Angebot, ihn ins Marserland zu begleiten, wies Thorag, so schwer es ihm auch fiel, zurück. Wie Thusnelda richtig feststellte, brauchte Auja jetzt Schonung, nicht Anstrengung.

Thidrik und die beiden Söhne des Schreiners Holte befanden sich unter den Donarsöhnen, die Thorag begleiteten. Tebbe natürlich, um bei seiner Gemahlin Amala zu sein und hier ein neues Heim zu gründen. Eibe wollte die Nächte der Tamfana an der Seite seines Bruders feiern, bevor er sich von ihm verabschiedete, auf lange Zeit gewiss, vielleicht für immer. Ähnlich erging es Thidrik, der mit Tebbe zum zweiten Mal einen Sohn verlor. Er mochte sich ein wenig fühlen wie in jener Unheilsnacht, als sein Sohn Hasko beim Kampf mit Thorag in sein eigenes Schwert gestürzt war.

Doch falls Thidriks Brust sich bei dem Gedanken an den nahen Abschied von Tebbe zusammenzog, ließ sich der ältere Mann das ebenso wenig anmerken wie der junge Eibe. Das ausgelassene Treiben im Herzen des Marserlandes duldete keine Trübsal; ernste Gesichter entkrampften sich rasch unter der Einwirkung von Met und Bier.

Da war es kein Wunder, das der abgehetzte Reitertrupp, der spät in der Nacht auf der Vendburg erschien, lange Zeit nicht ernst genommen wurde. Der Schaum, der aus den Mündern der Pferde troff, die von Müdigkeit gezeichneten Gesichter der fünfzehn Männer, ihre lauten Schreie, man möge sie schnell zum Herzog der Marser durchlassen, das alles erschien der ausgelassenen, trunkenen Menge nur ein neuer Spaß zu sein, zu dem einer der Fürsten seine Männer angestachelt hatte. Lachende, kreischende Marser scharten sich immer dichter um die Reiter, wollten ihnen Hörner mit Bier und Met reichen und fragten, welchen Feind es zu besiegen galt. Nur mühsam kämpften sich die Neuankömmlinge zu den Tischen vor, an denen die Fürsten unter freiem Himmel tafelten.

Thorag, der in ein angeregtes Gespräch mit einem Edeling vom Stamm der Usipeter vertieft war, stutzte plötzlich, als er den vordersten Ankömmling sah. Trotz des dicken Verbandes um den Kopf des Reiters, trotz der frischen Narbe, die seine linke Gesichtshälfte verunstaltete, erkannte der Donarsohn das längliche Gesicht mit dem stark vorspringenden Kinn sofort. Es gehörte einem Cherusker aus der Hirschsippe, dem Kriegerführer Ingwin.

Thorag sprang zum allgemeinen Erstaunen von der Bank und unterbrach dadurch den mit schwerer Zunge über die Römer lästernden Usipeter mitten im Wort. Der Donarsohn lief den Reitern entgegen und bahnte sich mit Bewegungen, die denen eines Schwimmers ähnelten, einen Weg durch die Menge, bis er endlich vor Ingwin stand und die Zügel des schwer atmenden Braunen ergriff.

Ingwins Wunden und der ernste, verbissene Ausdruck auf seinem Gesicht verrieten Thorag, dass auf der Adlerburg etwas Schwerwiegendes vorgefallen war. Als sich der Donarsohn danach erkundigte, sagte Ingwin: „Ich spreche am besten zu allen Fürsten. Die Zeit drängt, ich will mich nicht wiederholen.“

Inzwischen hatten auch die Umstehenden erkannt, dass es sich bei dem Auftritt der Reiter nicht um einen Spaß handelte, und machten den Hirschkriegern bereitwillig Platz. Vor der Fürstentafel stiegen die Reiter von den Pferden, tranken dankbar von dem dargebotenen Bier und stopften mit der Gier von Ausgehungerten Fleisch und Brotfladen in ihre Münder.

Mallovend trat neben Thorag und fragte: „Warum schickt Armin uns diese Krieger?“

„Das möchte ich auch gern erfahren“, erwiderte der Donarsohn und wartete angespannt ab, bis Ingwin das Trinkhorn absetzte, das er mit einem langen Zug geleert hatte. Das Herz des jungen Gaufürsten klopfte heftig bei dem Gedanken, Auja und Ragnar könnte etwas zugestoßen sein.

Der Führer der Hirschkrieger stieß laut auf und verbreitete den durchdringenden Geruch von gegorenem Weizen und Schafgarbe. „Armin hat uns nicht ausgesandt. Der Herzog erteilt derzeit niemandem Befehle.“ Ingwin war außer Atem, sprach leise und abgehackt. Verbittert biss er die Zähne zusammen und sah durch die umstehenden Männer, zum größten Teil Fürsten, hindurch.

„Was ist mit Armin?“, fragte Thorag. „Ist er krank oder verwundet?“

„Schlimmer“, seufzte Ingwin. „Er ist Segestes’ Gefangener!“

In den Gesichtern rund um den Kriegerführer zeichneten sich Überraschung und Unglauben ab. Die Männer traten noch näher an Ingwin heran, und Mallovend brummte: „Wenn du dir mit uns einen Spaß erlauben willst, Cherusker, lass dir gesagt sein, dass dies nicht die Art von Späßen ist, über die ich lache!“

„Ein Spaß?“ Ingwins Gesicht verzog sich und wurde jetzt von der entstellten linken Hälfte beherrscht: rohes, aufgeworfenes Fleisch. „Ich wäre froh, wenn es ein Spaß wäre! Aber der verfluchte Stierkrieger, der mir das Gesicht zerschnitten hat, hat dies ebenso wenig zum Scherz getan, wie der, unter dessen Pferdehufen mein Schädel beinah zertrümmert wurde. Und als ich dem einen mein Schwert in den Wanst und dem anderen den Dolch in die Gurgel stieß, hat auch niemand gelacht!“ Der Hirschkrieger redete sich in Wut. Seine Augen traten hervor. Die Hand, die das Rinderhorn hielt, zitterte.

Thorag führte ihn zur Tafel, wo Ingwin sich auf eine Bank setzte. „Berichte der Reihe nach, was sich ereignet hat, Ingwin!“ Am liebsten hätte er den Hirschkrieger sofort nach Auja und Ragnar gefragt, aber bei Ingwins aufgewühltem Zustand hätten zu viele Fragen den Bericht nur unnötig in die Länge gezogen.

„Es geschah vor zwei Nächten“, begann der Kriegerführer und sprach jetzt merklich ruhiger. „Alle Fürsten und Gesandtschaften, die zu Armins Hochzeit gekommen waren, hatten die Adlerburg verlassen. Zuletzt zog Armins Oheim Inguiomar mit den Seinen ab. Segestes war damit der einzige bei Armin verbliebene Gaufürst. Ja, Segestes! Jetzt weiß ich, dass er nur auf diesen Zeitpunkt gewartet hat. Aber die Klugheit nützt leider dem nichts, der sie zu spät erlangt.“

Er griff nach einem Bierkrug, füllte das Horn zur Hälfte und leerte es sofort wieder.

„Weiter!“ drängte Thorag ungeduldig, und Mallovend begleitete die Aufforderung durch ein kräftiges Nicken. „Was hat Segestes getan?“

Achtlos ließ Ingwin das leere Rinderhorn auf den grob gezimmerten Holztisch fallen. „Er hat ein Festmahl gegeben, ähnlich dem diesen. Damit wollte er sich bei Armin für die Gastfreundschaft und den für Thusnelda gezahlten Preis bedanken. Da Armin Herr der Adlerburg ist, fand dieses Festmahl draußen im Wald statt.“

„Eine Falle!“, entfuhr es Thorag. „Das war natürlich eine Falle. Wie konnte Armin seinem Schwiegervater nur auf den Leim gehen? Segestes war nicht sein Gast, sondern sein Gefangener, das wussten beide.“

„Ja, es war eine Falle.“ Ingwin nickte betrübt, hob dann den Kopf und blickte den Donarfürsten mit funkelnden Augen an. „Aber du solltest Armin nicht zu Unrecht beschuldigen, Thorag. Natürlich ist es einfach, seinen Leichtsinn im Nachhinein zu verurteilen. Aber bedenke, dass der Hirschfürst sich noch in freudiger Stimmung über die gelungene Hochzeit befand. Außerdem schien Segestes völlig verwandelt. Er war freundlich zu jedermann, besonders zu Armin, und betonte, das Vergangene sei vergessen, und jetzt solle Armin für ihn sein wie ein Sohn.“

„Dieser Heuchler!“, brummte Mallovend und strich wütend durch seinen Bart.

„Stimmt, es war geheuchelt“, fuhr Ingwin fort. „Ich selbst machte mir meine Gedanken über dieses Festmahl. Aber auch ich fiel auf Segestes herein. Ich dachte mir, vielleicht täuscht er diese Freundlichkeit nur vor, und die von ihm ausgerichtete Feier entspringt der Berechnung mehr als seinem Herzen. Damit lag ich richtig, doch irrte ich mich über den Grund, dachte ich doch, der Stierfürst wolle nur sein Gesicht wahren.“

„Ja, da ist etwas dran“, meinte Thorag, der sofort verstand, was Ingwin meinte. „Indem Segestes so tat, als bedanke er sich für erwiesene Gastfreundschaft, verschleierte er die Tatsache seiner Gefangenschaft und wahrte nach außen den Schein.“

„Deine Worte waren meine Gedanken, Thorag. Deshalb ließ ich nur wenige Krieger aufziehen, um das Festmahl zu bedecken. Schließlich fand es am Fuße der Adlerburg statt, im Herzen des Hirschlandes. Doch mit der Dunkelheit kamen die Feinde in großer Überzahl, fielen über uns her und machten fast alle meiner Krieger nieder. Es ging sehr schnell. Segestes verschwand mit seinen siegreichen Männern, und sie nahmen Armin mit sich.“ Ingwins Züge verhärteten sich wieder, und seine Rechte krallte sich um den Schwertgriff an seiner Hüfte. „Aber diesen Verrat wird der Stierfürst noch bereuen. Für jeden gefallenen Hirschkrieger wird das Blut von zehn Stiermännern fließen!“

„Was ist mit Armins Frau?“, fragte Mallovends älterer Sohn Vendar. „Hat Segestes seine Tochter auch mitgenommen?“

„Ich nehme an, dies entsprach seinem Plan“, antwortete der Hirschmann. „Thusnelda sollte an der Feier teilnehmen, es sollte der Abschied von ihrem Vater werden. Aber dann ging es Thorags Frau sehr schlecht, und Thusnelda blieb auf der Adlerburg, weil sie sich selbst um die Kranke kümmern wollte. Das rettete sie vor dem Zorn ihres Vaters.“

„Wie geht es Auja jetzt?“, erkundigte sich Thorag erregt. Sein Herz raste schneller, als Wodans achtbeiniger Hengst laufen konnte. „Ist ihr etwas zugestoßen?“

Zu Thorags Erleichterung schüttelte Ingwin den Kopf. „Sie hat sich wieder erholt, Thorag. Deine Frau und dein Sohn befinden sich auf der Adlerburg, in Sicherheit.“

Thorag fühlte sich erleichtert und wischte mit seinem Hirschlederumhang den Schweiß ab, der auf seine Stirn getreten war.

Mallovend legte eine Hand auf Ingwins Schulter und verkündete laut: „Dein Racheschwur soll auch der meine und der meines ganzen Volkes sein, Hirschkrieger. Sobald die Nächte der Tamfana vorüber sind, werde ich ein Heer zusammenstellen, um meinem Waffenbruder Armin zu helfen!“

„Segestes ist nicht unser Feind“, wandte Vendar ein.

Sein Vater zog die buschigen Brauen so weit herunter, dass sie fast mit seinem Bart verschmolzen. „Aber Armin ist unser Freund! Wir wohnten unter seinem Dach, wir tranken sein Bier, wir aßen seine Speise, wir lachten und sangen mit ihm – so wie Segestes! Seine Falschheit und sein Verrat an Armin machen ihn zu unserem Feind!“

Ingwin blickte den Marserherzog zweifelnd an. „Deine Hilfe ist höchst willkommen, edler Mallovend. Aber Armin benötigt sofort Beistand. Ich fürchte, wenn nicht um sein Leben, so doch darum, ihn jemals befreien zu können, wenn er zu lange der Gefangene des Segestes ist. Der Stierfürst war schon immer ein Freund der Römer. Er hat damals nichts unversucht gelassen, dieses Krummbein Varus von unserem Plan zur Vernichtung seiner Legionen zu unterrichten.“

Mallovends Brauen wanderten wieder nach oben, als der Herzog überrascht die Augen aufriss. „Du meinst, er will Armin den verfluchten Römern übergeben?“

„Auf meinem Ritt hierher hatte ich viel Zeit, mir Gedanken zu machen. Und ich dachte daran, was Segestes mit Armins Gefangennahme bezwecken könnte.“

„Segestes hat sich den Zorn der Römer zugezogen, als wir ihn zwangen, Varus’ Niederlage zuzusehen“, sagte Thorag. „Die Römer erwarten von ihren Verbündeten, dass sie ihnen beistehen und notfalls das Leben für sie opfern. Das hat Segestes – fast möchte ich sagen, leider – nicht getan. Im Gegenteil, er musste sogar hinnehmen, dass sein Neffe Sesithar die Leiche des Varus schändete und den Kopf des Römers aufspießte. Und Segestes’ eigener Sohn Segimund, der in der Ubierstadt am römischen Altar die Priesterweihe empfing, zerriss die Priesterbinden und eilte zu den Waffen, um sich Armins Aufstand anzuschließen. Das haben die Römer sicher nicht vergessen. Ja, Ingwin hat recht, wenn Segestes sich bei Tiberius und Germanicus einkaufen will, wird er einen hohen Preis zahlen müssen. Einen Preis wie das Leben des Mannes, der den Aufstand gegen Rom entfacht und angeführt hat!“

„Armins Leben“, bestätigte Mallovend düster. „Ihr Cherusker liegt wohl richtig, euer Herzog schwebt in höchster Gefahr und braucht dringend Hilfe. Ich selbst werde kommen, sobald ich kann. Aber als Herzog der Marser ist meine Anwesenheit beim Fest der Tamfana erforderlich. Andernfalls könnte die Erdgöttin uns zürnen, die Ernte im nächsten Sommer verderben und den Geistern unserer Verstorbenen den Weg ins Totenreich versperren. Ohne Tamfanas Segen könnte uns das Kriegsglück bei Armins Befreiung verlassen. Aber ich kann in der Zwischenzeit eine Streitmacht entsenden, wenn sich ein Anführer findet.“

„Thorag wird uns führen“, sagte Ingwin mit Bestimmtheit. „Der Fürst der Donarsöhne wird Armin befreien!“

„Ein guter Vorschlag“, meinte Mallovend.

„Nein!“ Eilard, Mallovends Vetter und Kriegerführer trat vor. Er wirkte erregt. Das Mahl auf seiner rechten Wange schien zu glühen, aber vielleicht lag das an dem roten Schein des nahen Feuers, über dem ein Ferkel briet. „Eine Streitmacht der Marser muss auch von einem Marser geführt werden. Ich biete mich dazu an. Dann kannst du, Mallovend, gemeinsam mit deinen Söhnen Tamfana huldigen.“

„Ich werde aufbrechen, um Armin zu helfen“, sagte Thorag ruhig und wandte sich dem Marserherzog zu. „Aber ich habe nichts dagegen, dass Eilard den Befehl über deine Krieger führt, Mallovend. Wichtig ist nur, dass Armin schnell Hilfe erhält.“

„Es war nicht mein Einfall, dass Thorag die Streitmacht gegen die Stiersippe führt“, erklärte Ingwin. „Als Armin, aus mehreren Wunden blutend, vor meinen Augen von vier kräftigen Stierkriegern verschleppt wurde, hat er mir zugerufen, ich solle zu seinem Blutsbruder reiten. Thorag soll an seine Stelle treten und den Verrat des Segestes rächen.“

„Ich – an Armins Stelle?“, fragte der Donarsohn verwundert. „Aber ich gehöre nicht der Hirschsippe an, bin nicht vom Blute Segimars und seines Sohnes Armin.“

„Dein Blut fließt in Armins Adern und das Blut Armins in dir“, sagte Mallovend. „Das bedeutet ebenso viel, wenn nicht noch mehr, denn dies beruht auf eurem freien Entschluss. Armin wusste sehr wohl, was er sagte. An wen hätte er sich wenden sollen, wo doch sein Bruder unter dem Namen Flavus den Römern dient?“

„An seinen Oheim Inguiomar“, schlug Thorag vor.

Mallovend wollte etwas erwidern, schluckte es aber hinunter und wirkte verlegen, wie man ihn sonst nicht kannte.

Ingwin sprach aus, was auch der Marserherzog dachte: „Als Armin gegen Varus aufstand, hat Inguiomar sich nur zögernd beteiligt. Er kämpfte noch nicht einmal gegen die drei Legionen des römischen Statthalters, sondern hielt die nicht besonders gefährliche Stellung im Herzen des Cheruskerlandes. Vielleicht befürchtet Armin, dass sein Oheim sich jetzt ähnlich zögerlich verhält. Du aber, Thorag, hast gegen Varus in vorderster Linie gefochten und hast mit eigener Hand einen der römischen Adler erobert. Das dürfte Erklärung genug sein für Armins Entscheidung.“

Dass Thorag Armin helfen würde, war für den Donarsohn keine Frage. Armin hatte ihn nach seiner Verletzung durch Gerolfs Speer gepflegt und ihm auch früher schon beigestanden, bevor sie sich entzweit hatten. Thusnelda kümmerte sich wie eine Schwester um Auja. Und dann, da hatte Mallovend recht, war da noch ihr verbundenes Blut. Was hatte doch der alte Fenrisbruder damals im Tal der toten Bäume gesagt, als Armin und Thorag den Bund schlossen: ‚Lasst euer Blut sich vereinigen, auf dass des einen Blut das Blut des anderen werde. Und tränkt die Erde, aus der alles erwächst, mit eurem gemeinsamen Blut, damit auch eure Brüderschaft aus ihr erwachse, als wäret ihr Kinder eines Vaters und einer Mutter!‘

Was ihn zweifeln ließ, war die Frage, wie Inguiomar auf eine solche Zurücksetzung reagieren würde. Nachdem Segestes sich als unversöhnlicher Feind seines Schwiegersohnes erwiesen hatte, wollte Thorag dem Cheruskerherzog nicht noch mehr Gegner in der eigenen Familie schaffen.

Aber die Zeit drängte, und Armins Blut, das auch Thorags Blut war, rief.

„Wie ich schon sagte, ich werde so schnell wie möglich aufbrechen“, erklärte Thorag. „Wenn Armin es wünscht, werde ich den Befehl über die Cherusker und alle sonstigen Krieger übernehmen, die sich uns anschließen wollen. Wenn Eilard die Marser anführt, soll es mir recht sein.“ Er blickte Eilard an. „Dann wird es zwei Truppen unter zwei Befehlshabern geben, aber ich bin sicher, dass uns derselbe Kampfgeist einen wird.“

Eilard lächelte dünn, als sei ihm dies nicht genug.

„Mein Vetter wird an der Spitze der Marser in den Kampf gegen Segestes ziehen“, entschied Mallovend. „Aber unter deinem Befehl, Thorag. So wie Armin uns gegen Varus und seine Legionen geführt hat, wird sein Blutsbruder uns gegen den verräterischen Stierfürsten führen!“

Jubel setzte ein. Ingwin und seine Begleiter jubelten, weil ein Cheruskerfürst und noch dazu ein Abkömmling des mächtigen Donnergottes sie anführen würde. Die Marser jubelten, wie sie es aus Gewohnheit taten, wenn ihr Herzog eine Entscheidung fällte, und weil es für einen Krieger stets ein Grund zur Freude war, in ruhmreichen Kampf zu ziehen. Nur einer jubelte nicht: Eilard.

Der untersetzte Kriegerführer verzog die Mundwinkel zu einer Grimasse, ein Lächeln, selbst ein dünnes, brachte er nicht mehr zustande. „Es sei, wie unser Herzog befiehlt“, presste er mühsam hervor.

Von da an war die Feier für Thorag beendet. Und, was diese Nacht betraf, auch für Mallovend. Der Herzog sandte Boten zu den Siedlungen, Höfen und den eigens für das Tamfana-Fest entstandenen Lagern aus Laubhütten rings um seine Burg, um Freiwillige für den Kriegszug gegen Segestes zu sammeln.

Thidrik, Tebbe und Eibe kamen zu Thorag und teilten ihm ihren Entschluss mit, an seiner Seite zu reiten. In allen drei Fällen lehnte Thorag ab.

„Tebbe muss bei seiner jungen Frau bleiben“, sagte er. „Nicht nur sie wird es wünschen, sondern auch Mallovend. Denke an deine Verpflichtung als Bindeglied zwischen den Stämmen der Cherusker und der Marser, Tebbe. Und denke an Amala, die bei diesem Fest ihrer Weihe als Priesterin empfangen sollte. Glaubst du nicht, mein Sohn, sie wird dich in den kommenden Nächten ganz besonders brauchen?“

Tebbe sah dies ein.

„Dann kämpfte ich für meinen Bruder mit!“, rief Eibe forsch. „Ich fürchte, unsere eilig zusammengewürfelte Streitmacht wird sowieso nicht sehr groß werden. Da kannst du einen Mann, der für zwei kämpft, gut gebrauchen, Thorag.“

„Nein“, blieb der Donarfürst unbeugsam. „Armin hat gewünscht, dass ich ihn in den Nächten der Tamfana vertrete. Nun muss ich fort, da sollen neben Mallovends Schwiegersohn zumindest dessen Bruder und der Mann, der wie ich Tebbe und Eibe ein neuer Vater geworden ist, an den Feierlichkeiten teilnehmen.“

„Danke, dass du einen alten Mann schonst“, sagte Thidrik säuerlich. „Du glaubst wohl, Segestes hört auf Meilen meine morschen Knochen knacken, wenn ich mit dir reite.“

„Manch jüngerer Krieger könnte es nicht mir dir aufnehmen, Thidrik, und das weißt du auch.“ Thorag legte die Hände auf die Schultern des Mannes, der einmal sein Todfeind gewesen und zu einem seiner engsten Vertrauten geworden war. „Ich nannte genau die Gründe, die mich bewegen. Ich wäre stolz und froh über jeden von euch an meiner Seite, aber in den Nächten der Tamfana ist hier euer Platz. Danach stoßt mit Mallovends Heer zu mir. Es ist bestimmt nicht verkehrt, wenn ein paar verlässliche Donarsöhne mit den Marsern reiten.“

„Ich verstehe“, grinste Thidrik. „Du kannst dich auf mich verlassen, Thorag.“ Er blickte die beiden Jungmänner neben sich an und verbesserte sich: „Auf uns!“

Am nächsten Vormittag verließ Thorag die Vendburg an der Spitze von vierhundert Kriegern. Er hatte auf mehr gehofft, aber die meisten Marser würden erst nach den drei heiligen Nächten bereit für den Krieg sein. Und mancher, der vielleicht kämpfen gewollt hätte, war einfach zu betrunken dazu. Die Mehrzahl der kampfbereiten Marser waren Jungmänner, die ihren ersten Kriegsruhm ernten wollten. Thorag hätte lieber mehr erfahrene Krieger bei sich gehabt.

Außer den Marsern gehörten Ingwin und seine Mannen sowie einige Donarsöhne zu seiner kleinen Streitmacht. Ihre Kampferfahrung musste die fehlende der jungen Marser ersetzen. Thorag glaubte fest daran, dass sie es schaffen würden, Armin zu befreien. Er machte sich erst gar keine Gedanken über das Ob, sondern beschäftigte sich während des harten Rittes angestrengt mit dem Wie.