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Doris Jannausch

Als hätten Funken
die Nacht erhellt

Roman

hockebooks

Hänsel und Gretel – und der böse Wolf

Es gingen so viele Leute weg. Einfach weg aus der DDR. Wilhelm Pieck, der Präsident, war gestorben. Eigentlich war er gar nicht so unbeliebt gewesen; er hatte sich zurückhaltend gegeben, nicht so fanatisch wie die anderen, er schien auch etwas gebildeter zu sein. Nun war er tot. Der »Spitzbart« Ulbricht wurde sein Nachfolger. Die Bevölkerung hatte nichts zu lachen, weniger denn je. Die von ihm eingeführte DDR-Flagge (Hammer, Zirkel und Ährenkranz) wehte überall. Nur Fahnen.

Franziskas Abneigung gegen jede Art von Fahnen verstärkte sich, falls das überhaupt noch möglich war.

Und dann, in der »befreundeten Sowjetunion«, dieser Chruschtschow! Wenn er sich mit seinem Vasallen Ulbricht traf, wurde die Situation unerträglich. Schon vom optischen Standpunkt: Zwei mühsam verklemmt grinsende Staatsoberhäupter, die sich ständig gegenseitig applaudierten. Auch ein Wandel in Ton und Sprache trat ein. Der Spitzbart vertauschte die Rolle des Scharfmachers mit der des Familienvaters, der seinen Schäfchen das richtige Herdenverhalten beibringen wollte. Diese penetrant-primitive Verlogenheit wirkte ebenso grausam wie vorher der gewalttätige Stalinismus, den sie nun abzubauen versuchten.

»Personenkult ist falsch«, erklärte Ulbricht. »Wir wollen diesen Fehler nie wieder begehen.«

Doch mit seiner Macht wuchs auch der Kult um seine Person.

In Dresden das Café Prag. Es befand sich auf dem Altmarkt, im ersten Stock. Gepflegte Atmosphäre. Auf der Breitseite die Bühne. Vor den Fenstern die hässlichen Bauten der sozialistischen Einschüchterungsarchitektur: Weiße, kalte Wohnblöcke.

Im Frühjahr traten Franziska und Gunnar im Café Prag auf, vier Wochen lang. Sie hatten ihre Texte verschärft, machten Anspielungen auf die miserable Versorgungslage: Es gab kaum Fleisch, noch immer kein Klopapier, Obst und Gemüse ganz selten, und wenn, roch es verfault, lag welk und verschmutzt in den Säcken, genau wie die Kartoffeln, an denen Lehmklumpen hingen, oft größer als die Knolle selbst. Es gab keine Schuhe und Strümpfe, trotz der Wirkwarenfabriken in Sachsen. Dort wurden Waren für den Export hergestellt.

Die Bevölkerung war verärgert.

Kein Wunder, dass die Zuschauer die Glossen des Moderatorenpaares bejubelten. Da war zum Beispiel der Sketch »Hänsel und Gretel«. Gunnar mit kurzen Hosen und einem Hütchen auf, Franziska mit Schürzchen und Zöpfen: »Guck mal, Hänsel, das Häuschen da, mit Rosinen und Pfefferkuchen und den vielen Mandeln!«

»Wo denn?«

»Na dort – drüben.«

»Jaaaa – drüben

»Drüben«, das war Westdeutschland. Das verstanden alle. Immer Applaus und Lachen. Die Zuschauer kamen, um das Sprecherpaar zu sehen. Das war Kabarett, da konnte man die Ventile öffnen.

Das missfiel den Genossen. Sie bestellten das Moderatorenpaar eines Tages vor der Nachmittagsvorstellung ins Rathaus.

Das Rathaus in Dresden! Wiederaufgebaut und innen von steriler Kälte. Wie aus einem Albtraum.

»Welches Zimmer?« Franziska ertappte sich dabei, dass sie am liebsten auf Zehenspitzen geschlichen wäre.

»Rathaussaal«, erwiderte Gunnar, ebenso kleinlaut.

»Im Saal?!«

Von außen kannte Franziska das eindrucksvolle Rathaus, vor allem als Ruine. Oft genug hatte sie davor auf die Straßenbahn warten müssen, an eisigen Wintertagen, der Krieg war ja erst seit ein paar Monaten zu Ende gegangen, nun musste sie dahin oder dorthin fahren, zu einer Behörde oder zu dem Ort, wo das Ensemble spielte. Straßenbahnen fielen aus, es verging eine halbe Stunde oder eine ganze, ehe endlich ein Wagen kam, zuckelnd, quietschend und total überfüllt.

Die Rathausruine war ihr bekannt. Während des langen Wartens hatten sie oft genug die Fensterhöhlen gezählt und die Figur betrachtet, die auf dem ausgebrannten Turm stand, als einzige übrig geblieben von all den vielen, vergoldeten Figuren: den Arm hoch erhoben, wie zum Hohn, über den Ruinen dieser einst so wundervollen Stadt.

Nun hatten sie das Rathaus wiederaufgebaut, und die Genossen regierten darin.

»Seid ihr Buresch-Hill?«, fragte ein Mann, der im Gang auf sie zu warten schien.

Sie nickten und folgten ihm in den riesigen Sitzungssaal. Ein endlos langer Tisch. Sie nahmen an der Schmalseite Platz, Schulter an Schulter, wie die Sünder vor der Inquisition. Dann ließ man sie erst mal warten, das war nicht neu, das gehörte zur Taktik.

Endlich erschienen drei äußerst ernst dreinblickende Genossen. Sie grüßten nicht, stellten sich auf der gegenüberliegenden Schmalseite auf.

Franziska, wie immer auf Höflichkeit bedacht, grüßte. Es kam keine Antwort.

»Lass es lieber«, flüsterte Gunnar, der ebenfalls blass aussah. Er kannte diese Angstmacher vom Dienst.

Dann kam der Obergenosse. Fein angezogen, doch ja, nicht wie sonst die Leute seiner Partei, mit offenem Hemdkragen und Schlabberhose. Er trug sogar eine Krawatte.

»Kollegen …« Er blieb stehen, zwischen ihnen lag die Unendlichkeit. »Uns ist da einiges zu Ohren gekommen. Das Programm, wie ihr das macht, so geht das nicht.«

»Was machen wir denn?«, erkundigte Gunnar sich unschuldsvoll.

»Ihr wiegelt die Leute auf«, der Mann sprach ein einwandfreies Hochdeutsch, wirkte glatt und anmaßend. Auch die anderen blieben stehen. Auf eine Diskussion ließen sie sich gar nicht erst ein.

Gunnar wurde als »Genosse Hill« angesprochen, von Franziska nahmen sie keine Notiz. Sie zitterte vor Wut, aber sie beherrschte sich. Diese Ohnmacht! Dieses Ausgeliefertsein. Wieder mal saß sie vor einem Tribunal von Fanatikern, die glaubten, eine Ordnung nach ihrer Idee aufbauen zu müssen, auf Kosten aller Menschen, die sie sich untertan machen wollten.

Hörte das nie auf?

Der Hass über diese ungeheure Überheblichkeit nahm ihr den Atem.

»Was habt ihr zu eurer Rechtfertigung zu sagen?«

Die Mienen der »Inquisitoren« bewiesen, dass jede Antwort von vornherein vergeblich sein würde.

»Nun«, Gunnar antwortete überlegt und beherrscht, »es kann doch nicht verboten sein, Kritik zu üben?!«

»Keineswegs«, sagte Genosse Unbekannt, »aber es muss eine positive Kritik sein.«

»Und wo fängt die positive Kritik an?« Nun konnte Franziska nicht länger mehr den Mund halten. Doch sie legte freundliches Interesse in ihre Frage, was sie Mühe kostete, denn ihre Empörung brachte sie fast um.

»Das müsste euch bekannt sein«, erwiderte der Mann mit Schärfe. »Sie richtet sich gegen alles, was wir abstellen und ändern können. Zum Beispiel persönliches Versagen, wodurch der Allgemeinheit Schaden zugefügt wird oder wenn sich einer unseren Zielen entgegenstellt und den Fortschritt verhindert, das muss angeprangert werden, weil es im Interesse unserer Werktätigen liegt.«

Wenn sie sprachen, diese Leute, ging die Sprache auf Stelzen, wie es ihnen eben eingehämmert wurde. Gegen diesen »Parolenton« klang Gunnars Stimme fast erschreckend natürlich.

»Und ihr meint, ein paar Szenen auf der Kabarettbühne könnten den Staat ins Wanken bringen?«

»Das ist der Anfang«, sagte der Obergenosse. Die anderen nickten dazu, wie sich das gehörte. »Wir wissen, wie es bei dem Volksaufstand in Ungarn war. Da haben die Intellektuellen die böse Saat gesät, Leute wie ihr, das ist gefährlich.«

Als Franziska hörte, welche Macht sie angeblich besaßen, versickerte ihre Wut. Spottlust kam auf, und sie musste sich sehr zusammennehmen, dass sie nicht lachte oder wenigstens grinste. Ihr Sketch »Hänsel und Gretel« als zündender Funke eines Volksaufstands!

Es folgte eine Litanei von Belehrungen, die sie an ihrem Ohr vorbeiziehen ließ. Nach einem besorgten Blick auf die Armbanduhr meldete sie sich schließlich zu Wort.

»Was ist, Kollegin?«

»Unsere Nachmittagsvorstellung! Sie fängt in dreißig Minuten an. Sollen wir etwa das Publikum warten lassen?«

»Ihr könnt gehen«, sagte der Obergenosse im herablassenden Ton eines Monarchen, der einen Gefangenen laufen ließ. »Aber keine aufwieglerischen Bemerkungen mehr.«

»Haben Sie unser Programm gesehen?«, erkundigte sich Franziska. Sie spürte, wie sich Gunnars Knie mahnend gegen das ihre drückte.

Der Mann hatte es nicht nötig zu antworten.

»Ihr kriegt Ärger, wenn auch nur noch ein Wort …«

»Tja dann«, sagte Gunnar und erhob sich, »dann können wir uns leider nur noch aufs Witze erzählen beschränken. Das ist aber genau das, was ein Conférencier nicht sollte. Es ist eine Niveaufrage, nicht?«

Der Obergenosse zuckte die Achseln. »Dann erzählt eben Witze«, sagte er. Und wieder nickten die anderen, von denen keiner ein Wort von sich gegeben hatte.

Sie waren entlassen.

»Es ist vorbei mit Hänsel und Gretel«, meinte Franziska, auf dem Weg zurück zum Altmarkt, der in der Nähe lag. »Sieht ganz so aus.« Gunnar zog ihren Arm durch den seinen und drückte ihn an sich. Er verbarg seine Niedergeschlagenheit hinter Galgenhumor. »Der böse Wolf hat sie verschlungen.«

»Wie das Rotkäppchen«, sagte Franziska. »Der Wolf ist sehr gefräßig. Er verschlingt alles. Und wenn wir nicht aufpassen – auch uns.«

Sie passten auf, zunächst. Die Vorstellungen waren flau, und das Publikum zeigte sich enttäuscht. Eine Zeitung schrieb: »Das Sprecherpaar Buresch-Hill hält nicht das, was man sich von ihm versprochen hat. Ihr Repertoire ist kalter Kaffee.«

Sie probten, noch in Dresden, neue Texte, um die Lücken zu füllen. Nächtelang saßen sie in der Pension beisammen. Sie schrieben und übten, sie verwarfen und stritten sich sogar. Aufbrausend war immer nur Franziska. Je intensiver sie proben wollte, umso mehr ging Gunnar in die Reserve. Sie geriet in Panik.

»Du drehst nicht genügend auf«, warf sie ihm vor. »Deine stoische Ruhe bringt uns nicht weiter.«

Sie war gewöhnt, hart zu proben, ohne Rücksicht auf Müdigkeit oder aufkommende Unlust.

Doch Gunnar machte da nicht mit.

Inas Verdacht, er könne nicht »komödiantisch« sein, fiel ihr wieder ein. Er war fleißig und geschickt, ein guter Sprecher, aber kein Komödiant.

»Du bist eben kein Schauspieler«, fuhr sie ihn ungeduldig an. Sein Gleichmut ärgerte sie.

»Nie gewesen«, gab er achselzuckend zurück. »Aber das hast du doch gewusst.«

»Was wir jetzt machen, zusammen machen, hat mit der Bühne zu tun«, rief sie ihm empört zu. »Das bedeutet harte Arbeit auch hinter den Kulissen. Also lass es uns weiter versuchen.«

Doch von ihm kam nichts mehr, er wollte nicht.

»Du hast keinen Ehrgeiz«, stellte sie anklagend fest.

Nun aber lachte er, sein gutes, nachsichtiges Lachen. »Franzi«, sagte er sehr lieb, »auch wenn ich ihn hätte wie du: wozu? Hier – in der DDR? Stell dir vor, ich hätte als Genosse Ehrgeiz gehabt. Wäre dir das recht gewesen?«

»Das ist wieder ein ganz anderes Thema«, stellte sie unzufrieden fest. Der Schwung war ihr genommen. »Wenn wir drüben wären«, überlegte sie, »im Westen – würde das etwas ändern, hättest du dann Ehrgeiz?« Darauf antwortete er nicht. Dieser Gedanke war Utopie.

Zwar wollten sie im Sommer zu den Eltern nach Freiburg fahren. Den Pass hatten sie bereits beantragt, das musste einige Monate vorher geschehen und keiner, der das tat, wusste, ob er die Genehmigung zu einer Reise in die Bundesrepublik überhaupt bekommen würde. Bei ihnen sah es nicht so aus. Gunnar als Genosse! Außerdem waren sie beide zu bekannt. Zu viele Leute aus Wirtschaft und Kultur hatten sich schon nach dem Westen abgesetzt. Die Regierung zog die Zügel an. Auch Bundesbürger durften nur noch mit Genehmigungspflicht nach Ostberlin. Weshalb? Weil es unter ihnen zu viele »Menschenhändler« gab, die DDR-Bürger zur Flucht »anstifteten«. So lautete die Erklärung.

Nun, die Hills hatten nicht die Absicht, im Westen zu bleiben. Verträge für die nächsten Jahre waren abgeschlossen, auch für Funk und Fernsehen, und der Kontakt zu Westberlin blieb erhalten. Man konnte sich arrangieren, irgendwie. Dass sie zur »schaffenden Intelligenz« gehörten, war allerdings ebenso ein Vorteil wie auch ein Nachteil. Es gab Privilegien. Aber wenn sie auf der schwarzen Liste standen wie jetzt, behielt man sie scharf im Auge.

Sie setzten die neuen Texte ein, aktuell zwar, aber nicht politisch (beides war schwer auseinanderzuhalten!), langsam stieg wieder ihre Beliebtheit an, und wie vorher war das Café Prag voll besetzt.

Und dann kam es zu einer interessanten Begegnung, über die sie sich noch lange angeregt unterhielten.

Lukas Rilke war Operndirektor am Staatstheater geworden. Auf den Plakaten stand sein Name, ganz oben.

»Warum rufst du ihn nicht an?«, fragte Gunnar. »Ich möchte ihn gern kennenlernen.«

Franziska verschob den Anruf und kam zu dem Entschluss, sich lieber nicht zu melden. Zwar hatte es noch vor Gunnars Zeit Kontakte zwischen ihnen gegeben. Wenn er in Berlin war, besuchte er sie, das war noch in der Wohnung der Göttlichs: Eines Tages stand er vor der Tür. Und sie söhnten sich aus. Nun, da sie mit Jan nicht mehr zusammen war, gab es für Lukas keinen Grund mehr, sie anzufeinden. Die alte Anziehungskraft zwischen ihnen war allerdings noch vorhanden. Sehr stark sogar. Sie hatte ihn auch in Görlitz besucht, wo er einige Zeit Intendant gewesen war. Doch ihre Beziehung intensivieren, das wollte sie nicht. Er war schwierig, ganz auf sich und seine Arbeit bezogen – und er glaubte an den Sieg des Sozialismus: aus tiefstem Herzen, mit der festen Überzeugung von einem besseren Leben. Er war ein Idealist. Franziska hatte ihn hineinwachsen sehen in diese Idee, hatte erlebt, wie sein Glaube daran sich festigte und er seinen Weg ging, steil bergauf.

Lukas, der Dämon von einst.

Und dann kam dieser Nachmittag im Café Prag.

»Heute haben wir eine Konferenz bei uns«, verkündete der Ober Manni, der den Mitwirkenden Getränke und den Imbiss in die Garderobe zu bringen pflegte. »Die Leiter der Staatstheater tagen im Kabinett nebenan.«

Franziska lachte. »Haben die keinen Sitzungsraum im Theater?«

»Hier ist es gemütlicher«, antwortete Manni. »Mit Bewirtung.« Er grinste vielsagend.

Erst als Gunnar einwarf: »Dann wird ja Lukas Rilke auch dabei sein«, da erst dachte Franziska daran.

»Aber ja.« Der Augenbrauenstift in ihrer Hand zitterte. Was war los? Schlug ihr Herz schneller? Holte die Vergangenheit sie ein? Lukas bedeutete auch Jan. Plötzlich war alles, alles wieder da.

Sie stand auf der Bühne. Das Tageslicht fiel durch die Fenster hinter ihrem Rücken, und sie vergaß zunächst die bevorstehende Begegnung. Das Solo: »Der ideale Mann«. Das hatte sie wieder hervorgeholt aus der Ablage, es war unverfänglich und unpolitisch und kam immer gut an. Als sie den Applaus entgegennahm, öffnete sich die Tür und einige Leute erschienen. Sie schlichen auf Zehenspitzen, um nicht zu stören, zogen die Köpfe ein, wussten wohl alle, wie es ist, während einer Vorstellung hereinzuplatzen. Kein Zweifel: Die Staatsopernmänner! (Wieso eigentlich nur Männer?!) Franziska stand da und sah sie an. Trotz ihrer Kurzsichtigkeit erkannte sie Lukas. Sie spürte seine Gegenwart mehr als dass sie ihn sah.

»Ach, die Herren vom Staatstheater«, sagte sie lachend und verneigte sich in gespielter Ehrfurcht.

»Aaaah!« Das Publikum applaudierte. Die Männer waren verlegen, sie wollten schleunigst in den Konferenzraum, wozu sie aber das Café durchqueren mussten.

»Ganz besonders herzlich begrüßen wir den Herrn Operndirektor, der sich heute vom Gipfel des Olymp in unsere bescheidene Region begeben hat.« Sie sprach mit ironischem Pathos, wie sie es früher gern getan hatten, alle drei, als sie noch Freunde waren, Lukas, Jan und sie, als sie über die gleichen Dinge lachen und spotten konnten, sich gegenseitig beflügelten und sich einer eigenen verrückt-albernen Sprache bedienten.

Lukas blieb stehen, blickte zur Bühne, lächelte und warf ihr eine Kusshand zu. Seine Miene zeigte weder Überraschung noch Wiedersehensfreude. Dann verschwand er mit den anderen im Konferenzraum.

Die Vorstellung ging zu Ende. Der Ober Manni räumte das Geschirr in der Künstlergarderobe zusammen.

»Jetzt müssen sie aber mit ihrer Sitzung bald fertig sein.« Gunnar vertauschte sein Bühnenjackett mit seiner hellen, leichten Frühlingsjacke, warf einen prüfenden Blick in den Spiegel und sah kurz auf die Armbanduhr. »Wo bleibt dein Lukas?«

Manni stand an der Tür, das Tablett in den Händen. Er sagte: »Wenn Sie die Leute vom Staatstheater meinen – die sind weg.«

»Was?« Franziska feuerte den Abschminklappen auf den Tisch. »Das gibt’s doch nicht!« Jetzt erst merkte sie, wie sehr sie der Wiederbegegnung entgegengefiebert hatte.

Am nächsten Morgen rief sie ihn dann doch an. Es war nicht leicht, ihn ans Telefon zu bekommen, immer wieder nannte sie ihren Namen. Dann, endlich, Lukas!

»Wer ist da – Franzi, du – im Ernst? Wo bist du denn, von wo rufst du an – Himmel, was tust du denn in Dresden?«

»Ich trete auf, im Café Prag. Ich habe dich sogar von der Bühne offiziell begrüßt. Und du hast der Conférencière eine Kusshand zugeworfen.«

»Duuu?« Eine lange Pause. »Das warst du

»Was hast du denn gedacht?«

»Eine zauberhafte junge Frau im dreiviertellangen, grünen Kleid, die mich begrüßte. Der habe ich eben …« Hingesehen hatte er jedenfalls genau, sogar das »dreiviertellange grüne Kleid« war ihm aufgefallen. Doch erkannt hatte er sie nicht.

»Du wirfst fremden Damen Kusshände zu, also weißt du – habe ich mich denn so verändert – großer Gott!«

»So schlank, so zart – nichts, was mich an dich erinnerte!«

»Selbst nicht meine unnachahmliche, markante Stimme?«, spöttelte sie.

»Nichts, kein Gedanke. Wie sollte ich auch ahnen …«

»Mein Name steht groß auf den Plakaten, vor allem neben dem Eingang.«

»Hab’ nicht hingesehen, verzeih.«

Typisch für ihn, dass er nichts von seiner Umgebung wahrnahm, nur sich – und seine Mission.

»Franzi …« Er ließ den Namen förmlich auf der Zunge zergehen. »Können wir uns treffen – und wo?«

Ihre Termine waren nicht leicht aufeinander abzustimmen. Sie hatte täglich nachmittags und abends Vorstellung. Er – Proben, Konferenzen. Dann klappte es aber doch: Am nächsten Tag musste er zu einer Sitzung in den »Luisenhof«, oben, auf dem »Weißen Hirschen«. Zwei Stunden Zeit! Das passte auch ihr, also verabredeten sie sich.

»Ich würde ja vorschlagen, dass du zum Theater kommst, um mit mir zum ›Hirschen‹ zu fahren. Aber mein Auto ist in Reparatur. Wir könnten höchstens mit der Taxe …«

»Ich hole dich mit meinem Wagen ab«, sagte sie großartig.

Am nächsten Tag fuhr Gunnar sie zum Staatstheater, in dem sich auch die Oper befand.

»In zwei Stunden, auf die Minute, komme ich zum ›Luisenhof‹«, versprach er und überließ ihr das Steuer. »Ihr habt euch sicher viel zu erzählen.«

»Willst du nicht gleich mit uns …«

Gunnar wollte nicht, aus Taktgefühl.

»Was soll ich dem Lukas sagen, wenn mein Mann plötzlich auftaucht, ohne an unserem Treffen teilgenommen zu haben?«

Gunnar grinste. »Sag ihm, ich hätte noch was zu erledigen!« Er gab ihr einen Kuss und verschwand.

Franziska saß im Auto vor dem Staatstheater. Minuten vergingen. Sie sah zum Eingang. Hier hatte sie den »Faust« gesehen, kaum fünfzehn Jahre alt! Hatte um eine Eintrittskarte gekämpft, während die Mutter mit Dascha, ihrem Freund aus der Tanzstunde, im Hotel »Annenhof« auf sie wartete. Gleich hinter dem Postplatz. Ganz in der Nähe. Als sie aus diesem Eingang gekommen war, verwirrt, verzaubert und erregt, stand ihr Entschluss fest: Ich werde Schauspielerin! Die wenigen Minuten, die sie vom Theater zum Hotel gegangen war, an einem wundervollen, lauen Pfingstabend, würde sie nie vergessen, nie. Hier war die Entscheidung gefallen, an dieser Stelle. »Ach neige, du Schmerzenreiche, dein Antlitz gnädig meiner Not …« Das Gretchen, ja, irgendwann würde sie es spielen, vielleicht sogar an diesem Theater.

Und dann wurde das Haus hier ebenso zerstört wie ihre Träume, ihre Hoffnungen. Und beide hatten sie neu angefangen: das Theater und sie. Aus den Träumen war Realität geworden. Die freilich sah anders aus. Aber es ist wohl so: Der Zauber des Lebens liegt nicht in dem, was es bietet, sondern in dem, was einer daraus macht. Das hatte Franziska gelernt.

»Hallo, Dame am Steuer, wovon träumst du?«

Lukas sah durchs Fenster, etwas älter geworden, natürlich, seine Haare waren grau, er wirkte noch wuchtiger und düsterer als früher, mit ernsten Augen, die niemals so lachten wie sein Mund.

»Ich träume von den ausgeträumten Träumen«, antwortete Franziska und lächelte Lukas zu. »Aber das ist eine längere Geschichte. Komm, steig ein.«

Sie begrüßten sich ohne die kollegiale Umarmung, die bei solchen Wiederbegegnungen üblich ist. Nach wie vor hielt eine gewisse Scheu sie zurück. Das würde wohl immer so bleiben.

»Wo ist dein Mann?«

»Woher weißt du –?«

»In Theaterkreisen spricht sich alles schnell herum.«

»Das ist wahr.«

Auch er hatte geheiratet, das wusste sie längst: eine Sängerin, die ihren Beruf an den Nagel gehängt hatte, weil es ihr genügte »Frau Rilke« zu sein. Genau das, was Lukas brauchte. Er war ein Mann mit kühlem Kopf und verhaltener Leidenschaft, er war klug und auf düster-ernsthafte Weise humorig, ein faszinierender Liebhaber, aber kein Mann zum Heiraten. Nicht für Franziska.

Und doch – oder gerade deshalb – war sie von seiner Ausstrahlung gefangen, von seiner leicht mit Heiserkeit belegten Stimme, den unsteten Augen, mit denen er sie nun doch ausgiebig betrachtete. Dann atmete er tief ein, wandte den Kopf, sah hinüber zum Zwinger, der im Sonnenlicht lag, von Baugerüsten umgeben. Für einige Augenblicke überfiel sie Ratlosigkeit, wie immer, wenn sie sich trafen. Vielleicht empfanden sie es beide. Es war, als säße Jan mit im Auto und gäbe seine spöttischen Kommentare von sich. Immer waren sie zu dritt gewesen.

»Willst du nicht endlich fahren?«, fragte Lukas amüsiert. Franziska schaute sich um: viel Verkehr. Sie fuhr zwar gern, aber nur, wenn sie sich hundertprozentig konzentrieren konnte. Und das konnte sie jetzt nicht.

»Ich – ich …«

So stolz war sie gewesen, so selbstsicher (»Ich hole dich mit meinem Wagen ab!«), auch sie war schließlich etwas geworden, auch ihr Weg führte nach oben; sie war längst nicht mehr »die kleine Buresch«, die er an dem Theater der kleinen sächsischen Stadt kennengelernt hatte. Das wollte sie ihm beweisen.

»Ich habe auch einen Wartburg.« Lukas erkannte die Situation. Er schmunzelte belustigt aber diskret. »Wenn du willst, fahre ich.«

»Ja, gern.« So schnell hatte sie noch nie einen Platz geräumt.

Als sie über die Elbbrücke fuhren, stand jemand mit dem Rücken an das Geländer gelehnt und lachte ihnen entgegen. Gunnar! Er hatte den heimlichen Beobachter gespielt und alles, alles mitbekommen.

Wenig später saßen sie auf der Terrasse des »Luisenhofes« und waren verlegen. Sie musterten sich mit verstohlener Neugier, als wollten sie das Fieber begreifen, das sie damals einander in die Arme getrieben hatte. Das Gespräch kam nur schwer in Gang. Sie bekamen das bestellte Essen, doch keiner aß. Sie nippten am Glas und wichen gegenseitig ihren Blicken aus.

Unter ihnen lag ausgebreitet die Stadt. Noch immer gab es Ruinen, viel zu viele, dazwischen die scheußlichen Hochhäuser der sozialistischen Architektur.

»Weißt du, dass Jan ebenfalls geheiratet hat?«, erkundigte sich Lukas unvermittelt, nicht ohne Anflug von Schadenfreude.

»Nein«, antwortete sie so beiläufig wie möglich, »aber ich hätte es mir denken können.«

»Eine Soubrette«, fuhr Lukas mitteilsam fort. Er entspannte sich allmählich, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Sie heißt Ilona. Ich war zur Hochzeit eingeladen, sie fand in Leipzig statt. Ilona ist dir sehr ähnlich. Auffallend sogar. Er wollte dein Ebenbild, das hat er mir gesagt. Eine neu erschaffene Franziska.«

»Na fein.« Sie hob das Glas und prostete ihm zu. »Dann sind wir ja alle im Hafen der Ehe gelandet.«

»Hoffentlich glücklich.« Er stieß mit ihr an, trank und setzte hinzu: »Leider ist meine Frau ziemlich eifersüchtig. Wenn sie wüsste, dass ich mit dir hier sitze …«

»Mit mir – was weiß sie denn von mir?«

»Allerhand.« Er senkte den Kopf auf eine für ihn typische Weise, presste das Kinn an die Brust und schmunzelte. »Sie weiß – dass …«

»Was denn – zwischen uns war doch nichts Besonderes?« Sie provozierte ihn, nun sollte er endlich Farbe bekennen, da er selbst davon angefangen hatte.

Und dann sagte er, der sich sonst niemals romantisch oder gar pathetisch ausdrückte, eher kühl-sachlich formulierte, mit ernstem Gesicht, und dabei sah er ihr kerzengerade in die Augen: »Unter den vielen Kurzgeschichten meines Lebens bist du …« Es ging ihm wohl doch nicht so leicht über die Lippen.

»Na, was denn?«, half sie nach. »Die Unterhaltungsbeilage?«

»Der große Roman«, gestand er nach kurzem Zögern. Sein Gesicht war still und ohne Lächeln. Sogar die steile Falte auf seiner Stirn schien sich geglättet zu haben. Er war traurig. »Das weiß meine Frau.« Er griff über den Tisch und nahm ihre Hand. »Und dein Mann?«, fragte er. »Was weiß der?«

»Alles. Auch dass ich Jan geliebt habe und …«

»Noch immer liebst?«

Sie zog ihre Hand zurück und meinte achselzuckend: »Was spielt das für eine Rolle! Ich lebe mit ihm, und ich arbeite mit ihm. Daran wird sich nichts ändern. Ich habe eine gute Wahl getroffen. Einen besseren und zuverlässigeren Menschen als ihn, den gibt es nicht.«

»Das Gleiche behauptet auch Jan von seiner Frau«, sagte Lukas. »Auch sie hat sich damit abgefunden.« Dann ergänzte er leise, fast widerwillig: »Er bekennt sich dazu.«

»Wozu?«

»Zu seinem Gefühl für dich.« Er vermied das Wort Liebe.

Plötzlich musste Franziska lachen, so laut und herzlich, dass er sie irritiert ansah.

»Was ist daran so komisch?«

»Dass wir …« Sie brauchte eine Weile, ehe sie sprechen konnte und tupfte sich die Lachtränen aus den Augen. »Dass wir drei unseren Lebensgefährten gegenüber so rücksichtslos ehrlich sind. Ich frage mich, ob wir das aus Edelmut tun oder aus Egoismus.«

Er schien nachzudenken. Sie hörte auf zu lachen und beide wechselten einen schuldbewussten Blick.

Ein feines Dreigestirn waren sie gewesen! Versponnen in ein Netz von diffusen Gefühlen und Katastrophen. Sie hatten sich geliebt, gehasst, betrogen, verraten und verlassen. Was vor Jahren geschehen war, warf noch immer Schatten auf ihr Leben und auf jene, die es mit ihnen teilten.

Es wurde Zeit, in die Gegenwart zurückzufinden. Franziska wechselte die Tonart, riss Lukas aus seinen Gedanken und begann über ihre Arbeit zu sprechen und von den Schwierigkeiten mit den Parteileuten.

Auch Lukas verwandelte sich, er wurde wieder das, was er war. Er warnte sie.

»Stellt euch dem Fortschritt nicht entgegen«, sagte er. »Ihr habt eine Aufgabe, könnt Impulse vermitteln, mit Humor den rechten Weg weisen.«

»Ach, Lukas!«

»Ihr könnt den humanistischen Gedanken unserer Idee auf eure Art den Leuten klarmachen, könnt der sozialistischen Entwicklung von Nutzen sein, vor allem in der Kunst …«

»Hör auf«, unterbrach sie ihn ärgerlich, »mir wird übel. Du redest wie die anderen. Ich kann es nicht mehr hören!«

»Ihr werdet es hören müssen«, sagte er, »weil ihr in diesem Land hier lebt. Ausweichen kann keiner. Es ist ein Lernprozess. Jeder muss sich fügen.«

»Nein, fügen nicht«, widersprach sie. »Fügen heißt: sich bevormunden lassen. Ich verabscheue das System.«

»Ja, dann …« Er sah sie mit tiefem Bedauern an. »Dann könnt ihr euch gleich einen Strick nehmen und aufhängen.«

Franziska lachte wieder, was er nicht erwartet hatte. Er hob die Brauen und blickte sie verständnislos an.

»Genau das hast du Jan und mir vor zehn Jahren schon geraten – aber wir haben es vorgezogen, uns zu arrangieren.«

»Ein Leben lang sich arrangieren«, rief er verächtlich und schüttelte den Kopf. »Dann ist der Strick ehrlicher.«

»Es gibt noch eine dritte Möglichkeit.« Franziska setzte die Sonnenbrille auf, weil das grelle Licht des Frühlingstages sie blendete.

»Und zwar?«

»Nach dem Westen gehen – und dortbleiben.«

Doch daran glaubte sie selbst nicht. Es war viel zu spät, einen Start zu finden in einem Land, in dem das »Wirtschaftswunder« bereits in vollem Gange war.

Sie wechselten das Thema. Lukas warf einen Blick auf die Uhr. Gleich zwei.

»Meine Sitzung fängt bald an. Aber ich möchte dich hier nicht allein zurücklassen.«

»In spätestens fünf Minuten wird mein Mann hier sein, um mich abzuholen«, tröstete sie ihn.

»Und wenn er sich verspätet?«

»Er verspätet sich nicht.«

In dem Augenblick erschien Gunnar, gut gelaunt und schon von Weitem winkend.

Franziska machte die beiden miteinander bekannt. Sie unterhielten sich, ganz locker und heiter, dann mussten sie sich verabschieden, auch die Nachmittagsvorstellung stand bevor.

»Sie müssen uns besuchen, wenn Sie mal in Berlin sind«, schlug Gunnar vor. Er mochte Lukas, man konnte es ihm ansehen. »Sie können auch bei uns übernachten.«

»Ich komme bestimmt«, versprach Lukas – und dann gab es doch noch eine Umarmung.

Franziska blickte Lukas nach, wie er im Restaurant verschwand, mit hochgezogenen Schultern und etwas vorgerecktem Kopf, immer in sich versunken und doch in Eile, ein wenig an Beethoven erinnernd, in tiefen Gedanken, als komponiere er die »Missa solemnis«.

»Eine starke Persönlichkeit«, stellte Gunnar bewundernd fest, »Donnerwetter.«

»Das ist er«, stimmte Franziska zu und schickte Lukas einen Seufzer nach. Ihr war traurig zumute, sie wusste nicht warum, aber vielleicht war eine Ahnung in ihr, dass sie Lukas niemals wiedersehen würde.

Niemals mehr.

Denn alles kam ganz anders, als sie es geplant hatten.

Ein verpasstes Finale

Der Sommer kam. Die Zeit der Reise nach Freiburg rückte näher. Aber zuvor gab es noch zwei Engagements zu absolvieren: vierzehn Tage Kabarett in Rostock. Vierzehn Tage »Völkerfreundschaft«, nur eine kleine Reise: Norwegen und Finnland. Viel Seegang konnte da ja wohl nicht sein. Franziska beschloss, mitzufahren.

Sie mochten Rostock, die gute, alte, wenn auch sehr zerstörte Stadt, sie mochten das Kabarett, das sehr beliebt war und stets gut besucht, und sie freuten sich auf die Ferien in Westdeutschland.

Das machte sie mutiger – oder besser: leichtsinniger. Erneut schossen sie auf der Bühne ihre verbalen Giftpfeile ab. Zunächst noch recht harmlos, eine der Pointen aus Dresden (»Ja, drüben –!«), das war der Anfang, dann schwere Geschütze: ein Sketch über den gestelzt-pathetischen Parteijargon, ohne nähere Kenntnis der Sprache, wobei dieser betulich-primitive Tonfall zustande kam, hinter dem die gefährliche Macht lauerte. Durch das Lächerlichmachen dieser Abscheulichkeiten, mit denen sie alle Tag für Tag leben mussten, versuchten Buresch-Hill die Bedrückung zu mildern, es tat ihnen allen gut. Nichts geschah. Sie wiegten sich in Sicherheit. Und dann, am letzten Abend …

Tornado war ein Bauchredner. In der Pause kam er in die Garderobe und verkündete: »Du, Gunnar, da vorn, an der Bar, da sind ein paar Genossen, die wollen dich sprechen.«

»Jetzt?« Gunnar zog sich gerade um, schlüpfte in die Hose des Smokings. »Sag’ ihnen: nach der Vorstellung.« Er sollte, er musste aber gleich antreten.

»Bin sofort wieder zurück.« Er gab, wie immer, Franziska einen Kuss zum Abschied. »Mach’ mal einstweilen dein Solo, ja?«

Sie machte ihr Solo. Danach noch ein Solo. Sie sagte an, sie sagte ab, sie sang ein Chanson und noch ein Chanson, das sie mit der Band gar nicht geprobt hatte, doch es ging recht gut.

Wo blieb Gunnar?!

Keine Zeit, nach ihm zu sehen. Die Bar lag abseits, sie hätte erst durch den Zuschauerraum gehen müssen, das war unmöglich.

Das Finale kam. Sie nannte alle Mitwirkenden, die kamen und verbeugten sich, ihr Herz schlug bis zum Hals, sie ahnte nichts Gutes, die Band spielte die Schlussmusik, es war kurz vor Mitternacht.

Tornado, der als Erster zur Bar ging, um sich dort zu stärken, kam total verstört in die Garderobe.

»Du«, sagte er atemlos, »komm schnell an die Bar. Die machen den Gunnar fertig.«

»Wer?«

»Na, die Genossen. Die reden auf ihn ein. Und er trinkt und trinkt, und weiß nicht mehr, was er sagt.«

»Gunnar trinkt?« Franziska wollte sich wenigstens das durchgeschwitzte Cocktailkleid ausziehen, doch sie ließ es bleiben und folgte Tornado.

Die Bar war gedämpft beleuchtet, in tiefes, schummriges Rot getaucht und fast leer. Auf einem Hocker saß Gunnar. Umgeben von vier Männern.

Franziska trat zu ihnen und sagte »Guten Abend«. Sie beachteten sie nicht. Sogleich schoss die Wut in ihr hoch, diese Masche hasste sie.

»Worum geht es?«, fragte sie scharf.

Gunnar, total benebelt, erblickte sie, strahlte, machte eine weit ausladende Armbewegung, um die Genossen zurückzudrängen und rief mit schwerer Zunge: »Genug jetzt! Ich muss raus – zum Finale.«

»Das Finale ist soeben gelaufen«, sagte Franziska. Die Männer, die Gunnar bedrängten, nahmen noch immer keine Notiz von ihr. Sie explodierte: »Verdammt noch mal«, fuhr sie die Genossen mit den schlechten Manieren an, »ich bin der andere Teil der Doppelconférence! Wenn es um unsere Texte geht, bin ich ebenso dafür zuständig.« Sie schob die ihr zugewandte Rückenkette auseinander und stellte sich in die Mitte. »Also –?!«

Der Leiter der Rostocker Gastspieldirektion schaltete sich vermittelnd ein. Er gehörte zwar auch der Partei an, war aber ein Genosse der milderen Sorte. Auch mochte er Franziska und Gunnar.

»Ihr habt wieder die unerwünschten Texte gebracht«, erklärte er halblaut, fast mit schlechtem Gewissen, dass er sich so weit herabließ. »Obwohl man euch in Dresden gewarnt hatte. Gunnar soll dazu Stellung nehmen. Aber das tut er nicht.« Dann leise in ihr Ohr: »Bring’ ihn weg, er redet sich um Kopf und Kragen!«

Gunnar hatte seinen Namen gehört, kippte einen Wodka und lallte: »Hört zu, ihr Armleuchter! Denkt ihr wirklich, dass ihr so einen Staat regieren könnt – mit Verboten und Drohungen …«

»Nimm doch Vernunft an, Genosse Hill!«

»Komm jetzt!« Franziska hängte sich bei Gunnar ein. »Ab ins Hotel!«

»Ich muss doch erst noch das Finale ansagen.«

»Das ist längst vorbei. Komm endlich.«

Doch Gunnar, der stets höfliche, hilfsbereite, sanfte, wehrte sich, sogar gegen Franziska. Er wollte sein Finale haben. Und er sagte: Er habe die Nase voll von der Schietpartei, und er fahre sowieso nach dem Westen, zu seinen Schwiegereltern, jawohl, und wenn sie ihn nicht in Ruhe ließen, dann komme er eben gar nicht wieder – so sähe das aus.

»Genug«, sagte einer der Parteifritzen und fasste Gunnar an. »Wir müssen dich bitten …«

Franziska schlug dem Mann auf die Hand.

»Lassen Sie ihn los! Sie merken doch, dass er nicht mehr nüchtern ist und dummes Zeug redet. Also, wenn Sie etwas wollen, müssen Sie schon mit mir vorliebnehmen!«

»Na schön.« Einer der Wichtigtuer richtete sich auf und geruhte, sich Franziska zuzuwenden. »Morgen früh, um zehn, erwarten wir euch im …«

»Morgen früh sind wir bereits auf der ›Völkerfreundschaft‹«, fiel sie ihm ins Wort, »und wir kommen erst in zwei Wochen zurück.« Auch sie richtete sich auf und hielt dem Blick stand. »Und jetzt möchte ich meinen Mann ins Hotel bringen.«

Tornado drängte sich heran und rief: »Ich fahre euch, wir alle bringen euch ins Hotel.«

Die Kollegen standen da wie aufgereiht. Sie machten Zeichen der Schadenfreude, weil Franziska die Herren von der Partei derart abservierte.

»Ich fahre«, entschied sie. »Aber ihr könnt uns ja begleiten.«

Gunnar hing am Tresen, wie keiner ihn je gesehen hatte. Und wieder lallte er: »Lasst mich raus – zum Finale!«

Die Straßen waren meist leer um diese Zeit. Darum werden sich viele Rostocker Bürger in dieser Nacht gewundert haben, was da wohl für eine Autokolonne an ihren Häusern vorbeifuhr. Vorneweg ein schwarz-weißer Wartburg. Sie hupten einander zu, immer wieder.

Nächtliche Ruhestörung?

Ein Zeichen von Solidarität in einer schweren Zeit.

Die Leute von der Bühne sind treu, die meisten jedenfalls. Sie halten zusammen. Wer etwas anderes denkt, der kennt sie nicht. Franziska wischte sich schnell eine Träne der Rührung aus den Augen und bog in die letzte Kurve ein.

»Die Sache wird ein Nachspiel haben.« Franziska versuchte Gunnar wach zu rütteln, sie hatte nur wenige Stunden geschlafen. Sie mussten schleunigst zum Hafen, mit allem Gepäck, das zum Teil noch im Kabarett lag. Der sonst so gewissenhafte Gunnar hätte es längst gepackt und ins Auto verladen. Aber jetzt lag er da, eingehüllt in eine Schnapsfahne, und schlief seinen Rausch aus. »Hörst du, Gunnar – ist dir klar, was gestern passiert ist? He, wach auf, das Schiff wartet nicht!«

Sie gab auf, ging hinab und bezahlte die Rechnung. Dabei sah sie sich um, sie fühlte sich unbehaglich. Einige Leute saßen da und frühstückten. Einer von ihnen behielt sie sicher im Auge – aber wer? Jemand beobachtete sie und hatte sie auch denunziert, das war klar. Wie sonst wären die Parteileute dahintergekommen, dass sie wieder die heiklen Texte brachten?

Da schaute jemand um die Ecke – und lachte.

»Die Stimme kenne ich doch«, rief ein Mann freudig aus, so dass ihr ein Stein vom Herzen fiel: Der dünne Christian stand vor ihr!

Als sie ihn sah, blond und schmal wie ein Besenstiel, eine Gestalt aus längst vergangener Zeit, fiel sie in seine Arme und heulte sich ein bisschen aus. Sie berichtete, was vorgefallen war.

»Halb so wild.« Der gute »Junker Bleichenwang« zog sie an einen Tisch und spendierte ihr einen superstarken Mokka. »Ihr werdet sehen, es folgt nichts nach – wenn ihr euch an die Regeln haltet! Ich kenne die Taktik dieser Leute. Sie beobachten erst mal ’ne ganze Weile, ehe sie zuschlagen. Ich war in einer ähnlichen Situation, nein, in der Partei bin ich nicht, aber auf der Bühne habe ich mal extemporiert, das hat Ärger gegeben! Ich hab’ da was gesagt, was für Parteifritzen angeblich ›aufwieglerisch‹ geklungen haben soll. Es gab Drohungen und Vorladungen. Und dann, als ich genug gezittert hatte, luden die mich noch mal vor. ›Jetzt isses aus‹, dachte ich. Und weißt du, was sie mir angeboten haben? Eine Super-Filmrolle! So erziehen die sich die Leute. Bestechlich sind wir alle. Sie versuchen’s halt erst mal so.«

»Meine Güte«, staunte Franziska etwas erleichtert, »wenn das so ist, wird Gunnar demnächst der Star der DEFA!« Sie konnte wieder lachen, ein wenig zumindest. »Aber sag’ mir bitte, wie kriege ich ihn wach?«

Christian half ihr dabei; sie legten nasse, kalte Tücher auf ihn, bis er schaudernd aufsprang. Als er den dünnen Christian sah, wurde er sofort munter. Es war ihm peinlich. Doch schließlich löste sich alles in Lachen auf.

Trotzdem blieb die Stimmung zwischen Franziska und Gunnar gespannt. Sie nahm ihm übel, dass er die Kontrolle über sich verloren und sich betrunken hatte.

»Du hast alles in Frage gestellt.« Immer wieder legte sie los, auch als sie längst auf dem Schiff waren. »Was ist, wenn wir Berufsverbot kriegen und du ein Parteiverfahren – und das Visum können wir auch vergessen. Du erzählst denen triumphierend, dass wir nach Westdeutschland fahren!«

Gunnar war todunglücklich, ausgeliefert ihren Vorwürfen. Er konnte sich nicht verteidigen, fühlte sich schuldig.

Bei einem Landgang schlenderten sie durch Helsinki. Überall Stände mit Pommes frites. Der unangenehme Geruch nach ranzigem Öl. Breite Straßen, riesige Gebäude, kahl und unpersönlich, protzige Denkmäler. Scheußlich –! Oder empfanden sie nur so, weil ihnen der Abend in Rostock noch immer wie ein Albtraum im Gedächtnis saß und sie ein Nachspiel befürchteten?

»Da, sieh mal!« Gunnar blieb vor einer Buchhandlung stehen und zeigte ins Schaufenster. Franziska konnte nichts Besonderes entdecken. »In der Mitte, das Buch!«

Ein Buch über Jacques Offenbach. Na und? Dann erst las sie den Namen des Autors: Jan Kupelius.

Mitten in Helsinki.

Franziska lachte und sagte: »Dir entgeht wohl überhaupt nichts, was?«

Gunnar war sehr stolz. »Nichts«, antwortete er und pfiff, wie immer, wenn er zutiefst zufrieden war, leise vor sich hin.

Sie schlenderten weiter im Touristenstrom. Überall Passagiere der »Völkerfreundschaft«, die sie grüßten, anlächelten, ein Stück mit ihnen gehen wollten. Auf dem Schiff wurde unter Franziskas und Gunnars Regie meist Bingo gespielt und »Schaffelbord« oder sie starteten einen Rezitationsnachmittag. Nur selten mal ein bunter Abend, aber dann – unverfängliche Texte. Daran hielten sie sich nun. Ganz sicher war irgendwer mit an Bord, der sie im Auge behielt. Aber wer – wer? Der dicke Mann mit der Brille, der ihnen schon die ganze Zeit hinterherlief? Oder die beiden Frauen, die dauernd die Köpfe zusammensteckten, sie ansahen und tuschelten? Eine Atmosphäre von Unfreiheit und das beklemmende Gefühl von Bespitzelung, selbst hier, in dieser fremden, großen Stadt.

»Er hat sich, genau wie ich es sagte, also doch arrangiert«, bemerkte Franziska nach einer Weile.

»Wer?«

»Jan. Er schreibt Bücher, die unverfänglich sind.«

»Wann hast du das gesagt?«, wollte Gunnar wissen. Sie antwortete nicht. Ihr Herz war warm geworden, seit sie den Namen gelesen hatte: kein Schrecken mehr, kein Schmerz, nur eine herzliche Anteilnahme wie – für einen Leidensgenossen.

»Auch wir werden uns arrangieren.« Sie fasste, zum ersten Mal auf dieser Reise, neuen Mut, hängte sich bei Gunnar ein und ging mit ihm im Gleichschritt. »Wir schaffen es, pass auf, alles wird sich einpendeln.«

Er schaute sie verwundert an. »Natürlich schaffen wir es«, sagte er und drückte freudig ihren Arm. »Was hast du denn gedacht?«

Als das Schiff wieder im Hafen von Rostock einfuhr, spielte die Bordkapelle: »Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus …« Das kannten sie ja nun schon, doch es rührte sie immer aufs Neue.

Auf dem Parkplatz stand der treue »Winnie«, nicht ganz blitzblank, denn es hatte geregnet.

Sie wollten, nein, sie mussten zur Gastspieldirektion, um abzurechnen und danach sofort nach Berlin zurück.

Aber Genosse Kaltbecher, der Leiter, erwartete sie in seinem Büro und wünschte sie dringend zu sprechen.

Er saß hinter seinem Schreibtisch und sah bekümmert aus.

»Schieß los«, forderte Gunnar ihn auf. Er war auf alles gefasst.

»Wenn es um die unerwünschten Texte geht«, beugte Franziska vor, »also die haben wir auf dem Schiff nicht gebracht.« Und sie fügte mit einer Prise Ironie hinzu: »Wie Sie vielleicht schon erfahren haben.«

»Darum geht es nicht.« Genosse Kaltbecher, der ein »ganz Lieber« war, unterdrückte ein Schmunzeln. Dann sagte er: »Es ist so: Ihr müsst morgen Abend auftreten. Im Rathaussaal.«

»Dann können wir also nicht gleich nach Hause fahren!«, rief Franziska fassungslos. Sie dachte an den Pass, den sie abholen sollten. Gunnar dachte ebenfalls daran, doch er wartete ab.

»Nee.« Genosse Kaltbecher feixte. »Mit Nach-Hause-Fahren wird’s nischt. Morgen früh habt ihr Probe. Um 21 Uhr Vorstellung. Er freut sich schon auf euch.«

»Wer?«

»Genosse Walter Ulbricht«, antwortete Kaltbecher schlicht.

Es war also genau so, wie es der dünne Christian prophezeit hatte: Zuerst wurde tüchtig eingeschüchtert und gedroht, danach kam Funkstille, um die Angst, die Unsicherheit, die Beklemmung anzuheizen – und schließlich der »ehrenvolle Auftrag« – oder was sie dafür hielten: »Hier habt ihr eure letzte Chance. Bewährt euch. Aber wehe, wenn …« Ein Tanz auf dem Drahtseil über dem Abgrund. Bloß nicht die Balance verlieren!

Der Rathaussaal war hell erleuchtet und eindrucksvoll geschmückt. Nach der Sitzung standen die Genossen locker in Grüppchen beieinander, ein Sektglas in der Hand, wie es auch die »Kapitalisten« bei derartigen Gelegenheiten zu tun pflegten.

Der Genosse Staatsratsvorsitzende stand vor einem dichten, zugezogenen Vorhang am Fenster und unterhielt sich. Das kalte Buffet mit kulinarischen Seltenheiten, wie sie die Bürger des sozialistischen Staates noch nie gesehen hatten, wurde ständig umlagert. »Lakaien« in weißen Kellnerjacken balancierten Wein und Champagner auf silbernen Tabletts.

»Hast du schon mal Hummer gegessen?«, fragte Franziska und schauderte.

»Nein«, erwiderte Gunnar. »Ich glaube nicht, dass ich so was mag.«

»Schade.« Franziska seufzte und zeigte auf all die Scheußlichkeiten, die »auserwählte Leute« glaubten, essen zu müssen. »Hier hättest du Gelegenheit dazu gehabt. Austern gibt’s auch.«

Sie ließen sich eine Weißweinschorle bringen und zogen sich in die Garderobe zurück, um sich für die Vorstellung fertig zu machen.

In der ersten Reihe saß der Spitzbart. Er lachte, er applaudierte. Verfänglich war nichts an den Texten des Sprecherpaars. Ab und zu klatschte sich der Staatsratsvorsitzende sogar vor Lachen auf die prallen Schenkel. Nachher ließ er sich die Künstler vorstellen, drückte ihnen die Hand und sagte in seinem erbarmungslosen Sächsisch: »Nu, Gollächen, das hat mir gut gefallen. Ich hab’ so lachen missen! Also dann – weiter so!«

Franziska und Gunnar lächelten dankbar, tranken noch ein Glas mit ihm und verabschiedeten sich. Erst als sie im Hotel waren, sahen sie sich an und bekamen, zur gleichen Zeit, einen Lachanfall.

»Wir sind vor Ulbricht aufgetreten«, meinte Gunnar kopfschüttelnd. »Wir! Hättest du das gedacht – nach dieser Szene im Kabarett?«

»Alles, nur nicht das!«

»Immer die gleiche Taktik: Zuckerbrot und Peitsche.«

»Na …« Franziska wiegte den Kopf. »Wenn das Zuckerbrot gewesen sein soll, dann weiß ich, weshalb ich nichts Süßes mag!«

Die Peitsche blieb aus, wie es schien.

Nichts geschah, auch nicht, als sie nach Berlin zurückkehrten. Kein verdächtiger Brief, kein Anruf, nichts. Unheimliche Stille vonseiten der Partei.

»Also denn …« Franziska nahm allen Mut zusammen: »Auf zur Polizei – den Pass abholen!«

»Wenn das klappt, haben die etwas verschlampt oder sie wollen uns testen«, meinte Gunnar.

»Es ist Urlaubszeit«, warf Franziska ein und schloss das Fenster, um den Lärm zu dämpfen. »Die Genossen ruhen sich von uns aus.«

»Die Partei macht keinen Urlaub«, sagte Gunnar sarkastisch. »Bist du bereit?«

»Immer bereit«, antwortete sie mit dem wackeren FDJ-Ruf und nahm Haltung an.

Es war reinster Galgenhumor, den sie praktizierten. Jahrelang hatte ihnen nichts an der Reise nach Freiburg gelegen. Nun aber wollten sie es wissen.

Das Polizeirevier lag in der Nähe, ein paar Häuser weiter, auf der anderen Straßenseite. Im Flur eine lange Warteschlange. Sie stellten sich an. Jeder, der aus der Tür kam, wurde gespannt angestarrt: »Hat’s geklappt?«

»Abgelehnt.«

Immer wieder »abgelehnt«. Hängende Köpfe, Tränen. Der Traum von der Reise nach Westdeutschland war ausgeträumt.

Nur einer kam heraus und wedelte glückselig mit dem Pass: »Genehmigt, genehmigt!« Neidvoll sahen ihm die Wartenden nach.

Endlich kamen die Hills an die Reihe. Eine Beamtin in Uniform wühlte in der Kartei. Nein, da war nichts.

»Die Anträge sind da«, stellte sie fest, »aber kein Pass.«

Franziska bekam weiche Knie, Gunnar hielt sich tapfer, doch er war etwas blass. Sie hielten sich an den Händen, drückten sich die Finger wund.

»Moment mal«, sagte die Beamtin, »da ist ein Vermerk.«

Sie las, runzelte die Stirn, und es verstrichen bange Sekunden. »Sie wollen mit dem Auto fahren, stimmt’s? Da gibt’s eine Sondergenehmigung. Augenblick.«

Sie ging ins andere Zimmer, kam bald wieder, in der Hand – den Pass!

Die Hills unterschrieben einige Papiere, dann verließen sie die Amtsstube und machten, ohne sich abgesprochen zu haben, enttäuschte Gesichter.

»Was ist, was ist?«, wollten die Leute in der Schlange wissen.

»Abgelehnt«, antworteten beide, um keinen Neid zu erregen. Betrübt gingen sie die Treppe hinab. Erst auf der Straße blieben sie stehen, sahen sich ungläubig an, fielen sich um den Hals und rannten, wie kleine Kinder, Hand in Hand nach Hause.

»Übermorgen«, sagten sie aufatmend, »übermorgen geht’s also nach Freiburg.«

Am nächsten Tag entfalteten die Hills eine rege Geschäftigkeit: Sie ordneten die Papiere, brachten die Wohnung auf Hochglanz, Gunnar sortierte sämtliche Fotos, Dias und Schmalfilme, Franziska schloss ihre geliebten Tagebücher in der großen Kassette ein. Seit ihrem zwölften Lebensjahr führte sie die Tagebücher, da stand alles drin, und im Laufe ihres Lebens war irgendwer immer auf der Suche danach gewesen. Früher: die Mutter. Sie hatte das Tagebuch zwischen den Klaviernoten gefunden. Später: Jan. Es lag zwischen ihrer Wäsche, wo er nichts zu suchen hatte, außer natürlich – das Tagebuch. Sogar Gunnar konnte es nicht lassen! Er stöberte und fand: auf dem Kachelofen im dritten Zimmer, das sie nur als Abstellraum benutzten. Ein ideales Versteck – und dennoch! Er hatte Ina davon erzählt, und Ina berichtete es brühwarm Franziska. – Ständig gab es Ärger wegen der Tagebücher. Schon in der Schule waren sie von Mitschülerinnen gestohlen worden, und es kam zu dramatischen Zwischenfällen. Irgendwie landeten sie schließlich bei den Lehrern, und so erfuhren diese, was Franziska über sie dachte.

Inzwischen waren es sieben dicke Bücher geworden, die sie in einer grünen Blechkassette aufbewahrte und auf Reisen mitschleppte. Aber diesmal wollte sie den sorgfältig gehüteten Schatz lieber zu Hause lassen, damit es an der Grenze keine Schwierigkeiten gab.

Sie verschloss die Kassette, packte sie in einen Koffer und stellte den Koffer in die Ecke des dritten Zimmers. »Hoffentlich finden sie sie nicht«, sagte sie zu Gunnar, der im Wohnzimmer saß und das Kofferradio reparierte.

»Wer?«