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Schweizer
Migrations-
geschichte

Von den Anfängen
bis zur Gegenwart

André Holenstein
Patrick Kury
Kristina Schulz

HIER UND JETZT

Einleitung

1 Am Anfang waren Einwanderer

Migration und eidgenössischer Gründungsmythos

Migrationsbewegungen der Frühzeit

Wanderungen im römischen Vielvölkerreich

Spuren in Orts-, Gewässer- und Gebirgsnamen

2 Stadtgründungen und Landesausbau im Hoch- und Spätmittelalter

Brennpunkt Stadt

Bürgerrecht und Bürgergeld als Instrumente der Regulierung

Migrationsräume und Zielorte

Die Migrations- und Integrationspolitik der Stadt Zürich

Der Migrationshintergrund der städtischen Machtelite

Der Landesausbau der Walser in den Hochalpen

Ursachen und Motive der Walserwanderung

Migration in der Wirtschaft der Walser

3 Die militärische Arbeitsmigration ab dem 15. Jahrhundert

Phasen der militärischen Arbeitsmigration

Das Sozialprofil der Militärunternehmer

Das Sozialprofil der Soldaten und Unteroffiziere

Die Allianzen mit den europäischen Mächten als Faktor der Migration

4 Die zivile Arbeitsmigration in der frühen Neuzeit

Handwerksgesellen, Hausierer, Kaufleute

Die Bündner Zuckerbäcker

Handwerker und Gewerbetreibende aus den südalpinen Tälern

Baumeister, Freskomaler, Stuckateure und Maurer

Künstler und Kunsthandwerker

Studenten, Geistliche und Reformatoren

Gelehrte und Wissenschaftler

Hauslehrer, Erzieher und Erzieherinnen, Gouvernanten

Alpwirtschaft, Küherwesen und Schwabengängerei

5 Flucht- und Zwangsmigration im 16. bis 18. Jahrhundert 97

Kriegsflüchtlinge

Glaubensflüchtlinge im 16. Jahrhundert

Glaubensflüchtlinge im 17. und frühen 18. Jahrhundert

Politische Flüchtlinge

Französische Revolutionsflüchtlinge

Flucht- und Zwangsmigration innerhalb der Eidgenossenschaft

6 Die permanente Auswanderung ab Ende des Dreissigjährigen Krieges

Beweggründe der Auswanderer

Das Sozialprofil der Emigranten

Massnahmen zur Minimierung der Auswanderungsrisiken

7 Unterwegs in der Eidgenossenschaft der frühen Neuzeit

Wirtschaftliche und lebenszyklische Faktoren der Binnenmigration

Regional- und geschlechterspezifische Muster

Bürgerrechts- und Arbeitsmarktpolitik als Faktoren der Migration

Einschränkungen des Bürgerrechts auf dem Land

Nichtsesshaftigkeit als Marginalisierungsfaktor

8 Inländer und Ausländer im modernen Staat des 19. Jahrhunderts

Inländergleichstellung in der Helvetik und im neuen Bundesstaat

Eingeschränkte und unerwünschte Mobilität

Der Status der Ausländer

Urbanisierung und Land-Stadt-Migration

Soziale und konfessionelle Segregation

9 Freiheit und Bildung im jungen Bundesstaat

Asylland zwischen freiheitlichen Idealen und aussen-politischen Realitäten

Ausländischer Druck auf Liberale und Republikaner

Umgang mit Sozialisten und Anarchisten

Massenmigration aus Osteuropa

Die Rolle der jüdischen Gemeinden

Bildungsmigration in die Schweiz

10 Im «wilden» Westen und Osten: Auswanderung als Massenphänomen

Migration nach Übersee

Migration nach Afrika, Asien und Ozeanien

Siedlungsprojekte als Massnahmen gegen Pauperismus

Mehr Rechtssicherheit für Auswandernde

Koloniale Verstrickungen

Ethnozid an den Native Americans

Auswanderung in europäische Länder

Die Russische Revolution und ihre Folgen

11 1888 – Die Schweiz wird zum Einwanderungsland

Der Beginn des «Jahrhunderts der Italiener»

Manchesterkapitalismus am Gotthard

Zielorte und Aufstiegschancen italienischer Migranten

Herkunft und soziale Zusammensetzung der Migrantengruppen

Wohlhabende Gäste

Migrationspolitische Vorstösse um 1900

Massnahmen zur stärkeren Kontrolle transnationaler Migration

12 Wendepunkt Erster Weltkrieg: Das Fremde wird zur Bedrohung

Rückgang der Arbeitsmigration und Zuzug neuer Migrantengruppen

Humanitäre Hilfe und Betreuung von Kriegsgefangenen

Krise, Not und Stimmungswandel

Umfassende Kontrollen: Das bundesstaatliche Migrationsregime

Von der Kontrolle zur Abwehr

«Überfremdung» wird zum beherrschenden Schlagwort

13 Asylland im Zeitalter der Weltkriege

Vom Flüchtlingsregime des Völkerbunds zum «wilden Kontinent»

Zwischenkriegszeit: Die Schweiz als Durchgangsland

Zwischen den Fronten: Die Rettungsinsel schliesst ihre Pforten

Formen und Bedingungen des Aufenthalts

Hilfe und Selbsthilfe

Die Ära der Flüchtlinge: Vorgeschichte der Nachkriegszeit

14 Neutralität und humanitäre Sendung: Neufindung in der Nachkriegszeit

Flüchtlingsregime im Schatten der Gewalt

Zum Umdenken aufgefordert

Neutralität und Solidarität

Flüchtlingspolitische Massnahmen

15 «Freie Welt» im Kalten Krieg

Postkoloniale Schweiz

Von Budapest in die Schweiz

Vom Alpenland im Kalten Krieg

… zum Kalten Krieg im Alpenland

Ost-West-Migrationen: Europa und die Schweiz

Offene Arme und Missverständnisse

Günstiger Arbeitsmarkt und politischer Wille

Existenz im Schatten des Bruchs

16 «Trente Glorieuses»? Hochkonjunktur und Überfremdungsängste

Die Süd-Nord-Migrationen der Wirtschaftswunderjahre

Man hat Arbeitskräfte gerufen

… und es kamen Menschen

Deutungen in Wissenschaft und Populärkultur

Überfremdungsängste

Selbstorganisation

«Integration» als «Assimilation»

«Trente Glorieuses»?

17 Die Schweiz und die Globalisierung der Arbeitskraft

Vom liberalen zum restriktiven Asylgesetz

«Die offene, die solidarische Schweiz»

Die Schweiz im Zeichen der europäischen Integration

Globalisierung der Arbeitskraft

Fördern und Fordern: Neue Wege in der Integrationspolitik

Später Triumph der Überfremdungsgegner

Migration – eine historische Normalität: Einsichten und Ausblicke

Anhang

Literaturnachweise zu den einzelnen Kapiteln

Bibliografie

Anmerkungen

Abbildungsnachweis

Verwendete Abkürzungen

Autorin und Autoren

Dank

Einleitung

Migration betrifft unzählige Menschen weltweit. Noch nie waren so viele Frauen, Männer und Kinder unterwegs wie heute. Kein Land ist von Wanderungsbewegungen ausgenommen, ob sie nun grenzüberschreitend stattfinden oder im Landesinneren. Die Bewegungen gehen aus von Menschen, die ihre Familien zusammenführen möchten, von hoch ebenso wie von niedrig qualifizierten Arbeitsmigranten, von Menschen, die Asyl suchen, und anderen Flüchtlingen.

Auch die Schweiz zeichnet sich durch ein hohes Migrationsgeschehen aus: Ein Drittel der gegenwärtig in der Schweiz lebenden Bevölkerung ist in den letzten fünfzig Jahren eingewandert oder besitzt einen eingewanderten Elternteil, ein Viertel ist im Ausland geboren. Entsprechend weist die Schweiz heute – ähnlich wie vor dem Ersten Weltkrieg – nach Luxemburg den höchsten Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung in Europa auf. Dass die Schweiz seit Beginn des 21. Jahrhunderts sowohl demografisch als auch wirtschaftlich zu den Ländern mit hohen Wachstumsraten in Europa zählt, steht in engem Zusammenhang mit der Migrationsentwicklung.1 Eine wichtige Rolle spielte dabei das Abkommen über die Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und den Staaten der Europäischen Union (EU), das im Sommer 2002 in Kraft trat und eine wirtschaftliche und demografische Wachstumsphase begünstigte.

Historisch betrachtet sind solche Zusammenhänge alles andere als ein Novum. Der Blick in die Geschichte der modernen Schweiz zeigt, dass auch frühere Phasen hoher wirtschaftlicher Dynamik jeweils Epochen mit intensivem Migrationsgeschehen waren – so etwa das Zeitalter der Hochkonjunktur von den 1950er-Jahren bis Mitte der 1970er-Jahre, das sich vor allem durch eine starke Zuwanderung auszeichnete, oder die äusserst dynamische Wachstumsphase der Städte vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, die von einer starken Zuwanderung und zugleich von einer intensiven Auswanderung geprägt war.

Auch der Blick in die Zeit vor der Bundesstaatsgründung von 1848 macht ersichtlich, dass Migration schon immer historische Normalität war. Die Gesellschaften der Frühen Neuzeit und des Mittelalters waren weitaus mobiler, als wir uns dies gemeinhin vorstellen. Reisläufer und Söldner stellten bis zur Französischen Revolution ein Massenphänomen dar. Gelehrte und Hauslehrer suchten ihre Arbeit meist ausserhalb des Gebiets der heutigen Schweiz, an Höfen von Königen und Zaren, bei Adeligen oder wohlhabenden Bürgern. Für Gesellen zählte die Wanderschaft, die manche für immer in ferne Länder führte, zur Ausbildungszeit. Gewerbetreibende, Hausierer, Kaufleute, Landarbeiter, Sennen und viele andere mehr machten die Mobilität zur Grundlage einer Wirtschafts- und Lebensweise, die ihnen die Subsistenz und das Fortkommen ihrer Haushalte sicherte und sie für Jahrhunderte in einen generationenübergreifenden Zyklus von Auswanderung und Rückwanderung einband.

Nochmals Jahrhunderte früher wanderten nacheinander Kelten, Römer und Germanen in jenes Gebiet, das wir heute als Schweiz bezeichnen. Ihre Kulturen prägten auf je eigene Weise die Verhältnisse in diesem Raum. Dabei lösten sich diese Kulturen nicht einfach ab, sondern überlagerten und durchmischten sich auf vielfältige Weise. Auch die Mythen über die Anfänge der Eidgenossenschaft und die Ursprünge der Schweiz sind mit Migrationsgeschichten gespickt. Die keltischen Helvetier etwa, die im 1. Jahrhundert vor unserer Zeit im Raum zwischen Boden- und Genfersee gelebt hatten, gaben ihre Siedlungen auf, zerstörten sie, um ihren Wanderungsabsichten Nachdruck zu verleihen und sich südwestlich, das heisst in Gallien, niederzulassen. Nachdem sie bei Bibracte von Cäsars Truppen vernichtend geschlagen worden waren, kehrten sie zurück und errichteten ihre Siedlungen wieder neu. Es waren die Gründerväter der modernen Schweiz, die sich dieser Erzählung im 19. Jahrhundert bedienten, um daraus den offiziellen Staatsnamen Confoederatio Helvetica abzuleiten.

Bereits diese wenigen Beispiele zeigen: Schweizer Geschichte ist Migrationsgeschichte, und ohne Migrationsgeschichte ist eine Geschichte der Schweiz nicht denkbar. Aktuell allerdings ist Migration zu einem gesellschaftspolitischen Reizthema geworden. Wie nur wenige andere Themen beschäftigt es die Menschen. Debatten über die Aufnahme von Flüchtlingen, die Gewährung von Asyl, die Steuerung der Zuwanderung, die rechtliche und gesellschaftliche Integration von Ausländerinnen und Ausländern sowie Fragen des nationalen Selbstverständnisses in einer sich rasch verändernden Welt werden auch in der Schweiz hoch emotional geführt. Dabei stehen sich zwei mehr oder weniger unverrückbare Positionen gegenüber. Die einen sehen in den aktuellen grenzüberschreitenden Wanderungsbewegungen von Flüchtenden und Arbeitsemigranten eine grosse Gefahr für die Nation, vor der einzig der Nationalstaat mit seinen Grenzen schützen könne. Nationalstaaten werden dabei als mehr oder weniger statische Einheiten begriffen, als eigentliche Refugien von Dauer- und Sesshaftigkeit. Dem gegenüber begreifen andere die Staaten als dynamische Gebilde, die fortwährendem sozialem Wandel unterworfen sind. Aus dieser Position heraus wird Migration als Faktor und Produkt hoch mobiler Gesellschaften gesehen. Dazu gehört das Recht, sich möglichst frei zu bewegen. Als Bestandteil der persönlichen Freiheit und als Grundlage für ökonomische Prosperität gelte es, dieses Gut zu wahren. Dazu gehört auch, dass Menschen in Not ein Recht auf Migration besitzen und Unterstützung verdienen.2

Die historische Dimension von Migration bleibt in den aktuellen migrationspolitischen Debatten meistens aussen vor. Vergessen geht insbesondere, dass Menschen aus aller Welt zum Erfolg des Landes und zu dessen wirtschaftlicher und kultureller Ausgestaltung beigetragen haben.

Migration bedeutet, bestehende Grenzen zu überschreiten. Sie ist heute häufig transnational ausgerichtet. Entsprechend lässt sich fragen, ob eine Migrationsgeschichte mit dem Fokus auf die Nation Schweiz nicht per se einen Widerspruch darstellt. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass die historische Forschung Nationen als verhältnismässig junge Gebilde staatlicher Organisation heute nicht mehr isoliert, sondern verstärkt in ihren gegenseitigen Abhängigkeiten, Verbindungen und Verknüpfungen untersucht. So hat André Holenstein darauf hingewiesen, dass die «Existenz einer souveränen Nation Schweiz […] nur mit Rücksicht auf deren Verflechtungen» verständlich gemacht werden kann, die die politische, kulturelle und soziale Dimension von Mobilität und Migration umfassen.3 Das Überschreiten von Grenzen, das Entstehen persönlicher, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Beziehungen zwischen Menschen, Regionen und Institutionen ist das, was Migration kennzeichnet. Mit genau dieser Rekonstruktion von Verflechtungen, mit den individuellen und kollektiven Erzählungen im Kontext von Weggehen und Ankommen beschäftigt sich die historische Migrationsforschung seit Langem. In den historischen Meistererzählungen der Schweizer Geschichte hingegen haben migrationshistorische Aspekte trotz ihrer grossen Bedeutung bisher erst wenig Platz gefunden. Erst neuere Überblicksdarstellungen wie Thomas Maissens «Geschichte der Schweiz», André Holensteins Verflechtungsgeschichte «Mitten in Europa» oder Jakob Tanners «Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert» haben migrationshistorischen Fragen mehr Platz eingeräumt.4

Der vorliegende Band setzt hier an. Er will seiner Leserschaft einen vertieften Einblick in die Geschichte der Schweiz und deren Bevölkerung mit ihrem reichen und vielfältigen Wanderungsgeschehen gewähren. Das Buch spannt einen Bogen von den Anfängen bis in die Gegenwart und erzählt in 17 chronologisch gegliederten Kapiteln von migrationshistorischen Gründungsmythen, der Suche der Eidgenossen nach Arbeit und Auskommen fern von der Heimat, vom Aufstieg zu einem wichtigen Zentrum des europäischen Arbeitsmarkts gegen Ende des 19. Jahrhunderts und vom Umgang mit Flüchtlingen und Arbeitsmigrantinnen und -migranten im 20. und 21. Jahrhundert.

Das Buch orientiert sich am aktuellen Forschungsstand und versteht den Begriff der Migration als eine längerfristig angelegte, räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunktes von Menschen.5 Im Mittelpunkt stehen Individuen, Familien, Gemeindeangehörige oder auch grössere, heterogene Bevölkerungsgruppen, die aus privaten, familiären, wirtschaftlichen, politischen, religiösen oder ethnischen Gründen ihre angestammte Heimat verlassen haben, um an einem neuen Ort vorübergehend oder auf Dauer eine neue Existenz aufzubauen. Auch wenn ihre Motive zum Weggehen ganz unterschiedlich waren und sind und der Aufbruch teilweise aus freien Stücken, teilweise unter Zwang erfolgte – wobei es zahllose Mischformen gibt –, ist ihnen eines gemein: die Hoffnung, am neuen Ort bessere Perspektiven für die Zukunft vorzufinden. Bemerkenswert dabei ist, dass in der Vergangenheit wie in der Gegenwart Menschen nicht einfach aufs Geratewohl aufgebrochen sind. In aller Regel haben sie Zielorte ins Auge gefasst, wo bereits Familienangehörige, Freunde oder Bekannte von Bekannten lebten, die ihnen notwendige Informationen über den Zielort und die Reise zukommen liessen.

Die Orte der Ankunft wie auch diejenigen der Herkunft bildeten keine leeren, rechtsfreien Räume. Vielmehr war das Leben hier wie dort durch ein System von Gesetzen und Regeln sowie von unausgesprochenen Normen geprägt und zeichnete sich durch eine Vielzahl von Gewohnheiten und Gepflogenheiten aus. Diese Tatsache führt neben dem Begriff der Migration zum zweiten zentralen Begriff der Forschung, von dem sich die Autorin und die Autoren des vorliegenden Buchs leiten liessen: Migrationsregime. Damit ist ein Ensemble von «formellen und informellen gesellschaftlichen Regeln, Normen und Wertesystemen» gemeint, die den Umgang einer Gesellschaft mit geografischer Mobilität prägen.6 Der Band nimmt somit auch das Spannungsfeld in den Blick, das zwischen den rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen, die Migration regeln, und den Erfahrungen, die Menschen damit machen, besteht. Im Anschluss an die individuellen und kollektiven Motive der Migrantinnen und Migranten stellen sich so zwei umfassende Fragenkomplexe: Wie sind Akteure der Vergangenheit und Gegenwart mit den rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen der Auswanderung, Zuwanderung, Binnenmobilität und Einbürgerung umgegangen? Mit welchen Massnahmen haben Obrigkeit, Regierungen und Behördenvertreter sowie Experten und die Bevölkerung auf Veränderungen im Wanderungsgeschehen reagiert?

Die Migrationsregime der einzelnen Staaten und diejenigen von Staatengemeinschaften sind Reaktionen auf länderübergreifende Migrationsentwicklungen und das internationale Migrationsgeschehen. Um die Aufmerksamkeit zu bündeln, greift das Buch auf einen weiteren in der Forschung diskutierten Begriff zurück: Wanderungssysteme. Ein Wanderungssystem zeichnet sich aus «durch empirisch verifizierbare Abwanderungen vieler Individuen aus einer nach geografischen und wirtschaftlichen Kriterien definierten Region, die über einen längeren Zeitraum hinweg in einen durch steten Informationsfluss bekannten Zielraum führen».7 Die Schweiz vor und nach der Gründung des Bundesstaats war primär in interregionale und europäische Wanderungssysteme eingebettet, seit 1848 darüber hinaus verstärkt auch in transkontinentale Wanderungssysteme der Armuts-, Arbeits- sowie Fluchtmigration.

Das Konzept der Wanderungssysteme ermöglicht es, individuelle Migrationsgeschichten in grösseren Zusammenhängen zu verorten. Es sensibilisiert für die Wahrnehmung von Migration als Prozess, der geografische Räume dauerhaft verändert und miteinander verbindet und neue Informationsflüsse zwischen Ziel- und Herkunftsland produziert. Erst eine solche Einbindung in internationale Zusammenhänge ermöglicht es, die Besonderheiten des schweizerischen Migrationsgeschehens und der schweizerischen Migrationsregime hervorzuheben. Der Fokus auf Migrationsregime erlaubt es zugleich, Kontinuitäten und Wandel im Umgang mit Migration aufzuzeigen, um entsprechende Perioden benennen zu können. So zeigt sich etwa für die Schweiz, dass die traditionellen kantonalen Migrationsregime auch nach der Bundesstaatsgründung 1848 lange weiterwirkten. Bis zum Ersten Weltkrieg waren es die Kantone, die politisches Asyl gewährten sowie die Zulassung von Arbeitsmigrierenden entscheidend prägten.

Das Buch stützt sich zum einem auf eigene Forschungen der Autorin und der beiden Autoren auf dem Gebiet der historischen Migrationsforschung und der Schweizer Geschichte, die hier syntheseartig in eine Überblicksdarstellung Eingang gefunden haben. Zum anderen bildeten eine Vielzahl neuerer und älterer Einzelstudien, die unterschiedliche Aspekte der schweizerischen Migrationsgeschichte vertieft beleuchten, sowie wenige ältere Darstellungen mit Überblickscharakter die Grundlage der vorliegenden Migrationsgeschichte der Schweiz.8 Einen für eine vertiefte Beschäftigung weiterhin unerlässlichen Forschungsüberblick bietet Silvia Arlettaz mit «Immigration et présence étrangère en Suisse» aus dem Jahr 2011.9 Insgesamt hat sich der Forschungsstand als ergiebiger erwiesen, als in der Vergangenheit verschiedentlich bemängelt. Eine 2016 am Historischen Institut der Universität Bern erarbeitete Bibliografie der Forschungsliteratur zur Migrationsgeschichte seit 1848 hat, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, mehr als 600 Titel zu vielfältigen Themen und Zeiträumen zutage gefördert. Auffällig ist dabei, dass das Interesse der Migrationsgeschichte lange Zeit der Auswanderung als herausragendem Wanderungstypus der Moderne galt. Kristina Schulz hat kürzlich an anderer Stelle die Migrationsgeschichte der Schweiz in drei grobe Bereiche gegliedert.10 Bei aller Heterogenität von Zeiträumen, Akteurinnen und Akteuren und geografischen Räumen lassen sich die Forschungsbeiträge in die Themenfelder Migrationsregime, Wanderungssysteme und Überfremdungspolitik und -ängste unterteilen.11

Für das vorliegende Buch besonders hilfreich waren die in den vergangenen Jahren entstandenen Studien, die die Verstrickungen der Schweiz ins weltweite Kolonialsystem untersucht haben. Diese Forschungen haben dazu beigetragen, die Migrationsgeschichte der Schweiz in globaler Perspektive neu zu denken.12 Fruchtbar war auch die vertiefte Beschäftigung mit biografisch angelegten Studien, die die erfahrungsgeschichtliche Dimension von Migrantinnen und Migranten beleuchteten, jedoch selten die eigentliche Fallgeschichte übergreifende Überlegungen aufweisen.

Migration – eine historische Normalität: Einsichten und Ausblicke

Aus der Perspektive von Migrationen stellt sich die Lage der Schweiz zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Puzzlespiel dar, dessen einzelne Teile nicht recht zusammenpassen wollen. Das Bewusstsein, aus der historischen Konstellation des Kolonialismus und der Weltkriege begünstigt hervorgegangen zu sein, prägte das Selbstverständnis als relativ offenes Flucht- und Asylland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit der humanitären und solidarischen Haltung gegenüber Opfern – insbesondere kommunistischer – Verfolgung und Unterdrückung wuchs allerdings auch das Unbehagen gegenüber Landesfremden. Das galt vor allem dann, wenn es um die Regulierung ihrer dauerhaften Anwesenheit ging und die Frage sich stellte, mit welchen Pflichten, aber auch mit welchen Rechten ihre Anwesenheit verknüpft sein sollte.

Tendenziell verschärften sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die Zugangs- und Aufenthaltsbedingungen für Ausländerinnen und Ausländer, von der bislang seit anderthalb Dekaden anhaltenden innereuropäischen Personenfreizügigkeit abgesehen. Davon unbeeindruckt steigen die Zahl der Zuwanderer – Männer wie Frauen – und die Diversität ihrer Herkunftsländer weiterhin. Nach Zahlen aus dem Jahr 2016 hat jede dritte hier niedergelassene Person ausländische Wurzeln. Von knapp 7 Millionen Erwachsenen in der Schweiz sind knapp 4,4 Millionen ohne Migrationshintergrund.473 Diese Entwicklungen befinden sich augenblicklich im Zentrum der gesellschaftlichen Problemwahrnehmung. Lösungsvorschläge werden auf unterschiedlichen Ebenen verhandelt und reichen von der Abschottung bis zur totalen Öffnung der Grenzen.

Die mit der vorliegenden Studie eingeschlagene historische Perspektive vermag es, die akuten Probleme der Zuwanderung in eine Reihe von ähnlichen Konstellationen zu stellen, die für die Entstehung und die Entwicklung der Schweiz prägend waren. Es wird offensichtlich, dass Migration, so sehr sie immer wieder als störend für das Selbstbild homogener Gemeinschaften empfunden wird, konstitutiv für die Schweizer Geschichte war. Letzteres gilt, so zeigen die Ausführungen im ersten Teil dieses Buchs, auch für die Migrationsgeschichte der Vormoderne. Von der letzten Eiszeit bis ins Frühmittelalter haben Wanderungsbewegungen die Besiedelung und die kulturelle Prägung des schweizerischen Raums bestimmt. Die Eingliederung ins Römische Reich eröffnete diesem Raum den Zugang zur Urbanität, zur lateinischen Schriftkultur und zum Christentum. Migrationsbewegungen legten aber auch auf lange Sicht das Fundament für die Multikulturalität und Mehrsprachigkeit der Schweiz. Seit dem 19. Jahrhundert gelten diese als herausragendes Kennzeichen der Schweizer Nationalität, die Angehörige verschiedener Sprach- und Kulturgemeinschaften zu einer politischen Nation jenseits des Ethno-, Sprach- und Kulturnationalismus zu integrieren vermag.

«Was ist Migrationsgeschichte?», fragen Christiane Harzig und Dirk Hoerder in ihrer Einführung zum Thema.474 Titel und Buch zeigen auf, dass sich die Migrationsgeschichte inzwischen zu einem internationalen Forschungsfeld entwickelt hat. Ferner zeigt sich, dass über die Erkenntnisinteressen, Methoden und ersten Meilensteine der Erforschung von Migration bereits so viel Konsens herrscht, dass es gelingt, zentrale Punkte in kondensierter Form als State of the Art darzustellen. Trotz dieser Syntheseleistung offenbaren Autorin und Autoren jedoch, dass das Feld und die behandelten Fragen ausgesprochen vielfältig und komplex sind.

Migrationsgeschichte ist durch einen Gegenstandsbereich definiert. Es handelt sich um die Geschichte des Umgangs mit Menschen, die Grenzen überschreiten. Dieser Gegenstand fordert aber zugleich eine spezifische Untersuchungsperspektive ein, die Verknüpfungen jenseits spezifischer Räume – seien es Nationalstaaten, regionale oder auch lokale Einheiten – und über deren Grenzen hinweg in den Mittelpunkt rückt. Insofern ist auch eine Migrationsgeschichte der Schweiz immer schon eine Verflechtungsgeschichte. Eine der Grundprämissen der Verflechtungsgeschichte lautet, dass bestimmte Ereignisse und Entwicklungen in regionalen, nationalen oder imperialen Räumen sich nicht internalistisch, also von innen heraus, erklären lassen. Betrachtet man, wie hier geschehen, die Geschichte der Schweiz aus der Perspektive von Migrationen, wird deutlich, wie grundsätzlich zentrale gesellschaftliche Bereiche wie Arbeitsmarkt, Bildung, Demografie, Urbanisierung und die Herausbildung politischer Strukturen durch Bewegungen von Menschen bestimmt waren, die Räume und Grenzen transzendierten, welche sie zugleich zu wichtigen Bezugspunkten machten.

Die eingangs vorgeschlagene allgemeine Definition von Migration als längerfristig angelegte Verlagerung des Lebensmittelpunkts ist für eine ganze Reihe von möglichen Untersuchungsfeldern anschlussfähig, die von den Akteurinnen und Akteuren der Migration und Migrationsregulierung über Transferprozesse bis hin zu einer breiten Kontextualisierung reichen. Für die vorliegende Schweizer Geschichte von Migrationen haben Autorin und Autoren sich entschieden, von den Hauptprotagonisten auszugehen: Frauen und Männern, die sich auf den Weg gemacht haben, um anderswo wirtschaftliche und kulturelle Chancen wahrzunehmen, um Perspektivlosigkeit, Verfolgung und Unterdrückung hinter sich zu lassen, um ein anderes und, wie sie hofften, besseres Leben zu beginnen. Der heute so eindrücklich durch mediale Bilder verstärkten Wahrnehmung von Migrationen als «Strömen», «Wellen» oder «Fluten» stellt das Buch Geschichten von Individuen, Gruppen oder Gegenden an die Seite, von Passagen, Kontaktzonen, Wanderungsmotiven und der Erfahrung von Integration, selbst dort, wo sie verhindert werden soll.

Je weiter der Blick zurückgeht, desto rarer allerdings werden die Zeugnisse, die solche Wanderungen detailliert nachvollziehbar machen. Migrationen haben selten Eingang in die Erinnerungskulturen moderner europäischer Gesellschaften gefunden. Eine Ausnahme stellt die militärische Arbeitsmigration dar, die die Historiker seit dem 18. Jahrhundert vor allem aus einer militär- und kriegsgeschichtlichen Perspektive fasziniert und die immer neue Geschichten von männlicher Tapferkeit, militärischem Heldentum und getreuer Pflichterfüllung hervorgebracht hat. Obwohl die militärische Arbeitsmigration die Verhältnisse in der Eidgenossenschaft stark prägte und die Fremden Dienste – so gesehen – alles andere als fremde Dienste waren, blieben die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlich-unternehmerischen Aspekte des Solddienstes lange ausgeblendet. Spuren hinterliessen aber nicht nur die militärischen Migrationen, sondern auch zivile Migrationen, die dem Raum der heutigen Schweiz ihre Gestalt gegeben haben: Orte und ihre Namen, Sprache und Schrift, religiöse Überzeugungen und Praktiken, Erzählungen, Ursprungsmythen und vieles mehr. Welche Beobachtungen sind am Ende einer um Migrationen kreisenden Zeitreise, die bei der Eiszeit einsetzt und in der Gegenwart endet, festzuhalten?

Erstens hat Migration eine Geschichte, die weiter zurückreicht als bis in die Zeit der Industrialisierung. Das Bild einer «sesshaften» Vormoderne gegenüber einem mobilen industriellen Zeitalter wird hier anschaulich widerlegt. Die verzerrte Wahrnehmung von Mobilität und Migration in den Gesellschaften der Vormoderne hat wesentlich mit der einseitigen Eigenwahrnehmung der Moderne selbst zu tun, die sich Merkmale wie Dynamik, Beschleunigung und Mobilität zuschreibt. In dieser modernisierungstheoretischen Sicht gilt das 19. Jahrhundert als Epoche, in der sich die Mobilitätsmuster grundlegend verändert haben (Mobility Transition Theory). Die Entstehung der Fabrikindustrie, die Mechanisierung der Produktion und der Ausbau der Eisenbahn hätten eine spektakuläre quantitative Zunahme der geografischen Mobilität in Europa zur Folge gehabt. Weil diese Auffassung einen engen, kausalen Zusammenhang zwischen Industrialisierung, Dynamisierung der Mobilität und Modernisierung herstellte, erschienen die Gesellschaften der vorindustriellen Epoche vergleichsweise statisch, sesshaft und immobil. Diese schiefe Vorstellung wurde nicht zuletzt auch durch die so genannte Ständelehre des Mittelalters gestützt, die als ideale Selbstbeschreibung die drei Stände Klerus, Adel und dritten Stand mit jeweils spezifischen Funktionen und Rollenzuschreibungen in eine ständische Gesellschaft einfügte, die ihrem Ideal zufolge als eine von Gott gestiftete, stabile und harmonische Ordnung gedacht war. Räumliche und mehr noch soziale Mobilität waren in diesem Modell unerwünschte Fremdkörper und Störfaktoren.

Im Anschluss an die jüngere historische Migrationsforschung streicht die vorliegende Darstellung dagegen heraus, dass schon die frühen Besiedlungen des Raums der heutigen Schweiz das Ergebnis von Wanderungen waren. Das mit Stadtgründungen und Landesausbau im Hoch- und Spätmittelalter einhergehende Wanderungsverhalten sowie die sich allmählich entfaltenden Migrationsmuster im Kontext ziviler oder militärischer Karrieren rücken in den Blick, sobald man eine flexible Definition von Migration zugrunde legt, die auch das – mitunter zeitlich befristete – Überschreiten kleinerer geografischer Räume einzubeziehen vermag: Land-Stadt-Migrationen etwa, saisonale Migrationen, Heirats- und Erbfolgemigrationen, das Söldnerwesen, Wanderungen infolge von Missernten und solche, mit denen Frauen und Männer auf die Anziehungskraft der protoindustriellen Manufakturen reagierten. Weder die Vorstellung zivilisatorischen Fortschritts durch Sesshaftigkeit noch die einer Mobilitätsrevolution durch das moderne Transport- und Kommunikationswesen des 19. oder gar des späten 20. Jahrhunderts lassen sich halten. Migrationen stellen keinen punktuellen Unterbruch der «normalen» Ordnung dar, sondern sie sind eine historische Normalität und Konstante der älteren und neueren Schweizer Geschichte.

Zweitens war die Schweiz zu allen Zeiten beteiligt an bedeutsamen europäischen und globalen Wanderungssystemen. Über Migrationen war die Schweiz beziehungsweise der Raum, in dem sie entstanden ist, mit dem Rest der Welt aufs Engste verflochten. Sie war in der vor- und frühgeschichtlichen Zeit einbezogen in die von Ostafrika ausgehende Migration des Homo sapiens in alle Weltregionen. Sie war Ziel und Ausgangspunkt von Siedlungsmigrationen in der Ära der ersten Agrarrevolution, in der die gegenseitige Bedingtheit von Sesshaftigkeit und Migration zutage trat. Migrationen begleiteten die Entstehung komplexer Vielvölkerreiche wie des Römischen Reichs, in das der schweizerische Raum einbezogen war. Die Durchsetzung der christlichen Vorherrschaft in Europa brachte, häufig in Gestalt religiöser Verfolgungen, Migrationen hervor, die auch den Raum der heutigen Schweiz betrafen. Aus diesem Raum stammten seit dem 16. Jahrhundert Kaufleute und Händler als Träger der europäischen Expansion nach Übersee, während Orte wie Zürich, Bern, Genf oder Basel im gleichen Zeitraum zum Anziehungspunkt binneneuropäischer Arbeitswanderungen und alpine Täler zum Siedlungsraum etwa der Walser wurden.

Seit etwa 1815 expandierte dann auf europäischer Ebene das transatlantische Wanderungssystem, mit dem verarmte Angehörige der Unterschichten nach Übersee gelangten, um dort die Chancen und Risiken des Neuanfangs herauszufordern. Mit dem Bau der Eisenbahn und der Entwicklung der Dampfschifffahrt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Voraussetzungen für eine massenhafte Auswanderung über weite Distanzen geschaffen. Die Dienstleistungen professioneller Auswanderungsagenturen und technische Errungenschaften im Bereich der Kommunikation erleichterten den Schritt zur Auswanderung zusätzlich. Auch innereuropäisch war der Binnenstaat im 19. Jahrhundert aus migrationsgeschichtlicher Perspektive zentral. Die grossen Infrastrukturbauten des Verkehrs- und Transportwesens zogen im 19. Jahrhundert Arbeitskräfte aus ganz Europa an. Zusätzlich sorgte die industrielle Massenproduktion für eine transnationale Mobilisierung von Arbeitskräften. Schliesslich war das Land seit Mitte der 1950er-Jahre einbezogen in ein Süd-Nord-System von Arbeitsmigrationen aus dem Mittelmeerraum. Über solche Wanderungssysteme – konstant «bewanderte» und durch steten Informationsfluss geprägte Verbindungen zwischen Regionen – war das Gebiet der heutigen Schweiz mit entfernten geografischen Räumen dauerhaft und strukturiert verbunden.

Drittens waren die Migrationsregime, die den Umgang mit Wanderungen massgeblich bestimmt haben, durch Kontinuitäten und Wandel geprägt. Konstanz lässt sich bei den Motiven, Normen und Prinzipien der Regulation von Migration feststellen. Über lange Phasen der Geschichte der alten und neuen Eidgenossenschaft überwogen Migrationsregime, die von Nützlichkeitserwägungen gesteuert waren. Die Kommunen in der alten Schweiz praktizierten kein freiheitlich-liberales Migrationsregime. Dies unterscheidet sie von den Niederlanden und Venedig, den beiden anderen grossen Republiken der Vormoderne. Als dynamische, urbanisierte Wirtschaftsstandorte legten diese der Zuwanderung nur geringe Hindernisse in den Weg und nahmen nicht nur Angehörige anderer christlicher Konfessionen, sondern auch Juden und bisweilen Muslime auf. Demgegenüber machten Orte und Gemeinden der alten Schweiz ihre Bereitschaft zur Integration von Zuzüglerinnen und Zuzüglern stets von zu erwartenden Gewinnen (durch Steuereinnahmen, Gewerbe oder Fachwissen) oder Verlusten (durch Unterstützungspflicht gegenüber Verarmten, Konkurrenz auf dem lokalen Arbeitsmarkt und bei der Nutzung der kommunalen Ressourcen) abhängig. «Kollektivegoistisches»475 Nützlichkeitsdenken integrierte nicht nur den nützlichen Fremden und hielt die «bouches inutiles» von der Gemeinde fern, sondern schloss auch Untertanen aus, die aufgrund ihrer Armut, vagierenden Lebensweise oder ihres religiösen Nonkonformismus als schädlich betrachtet wurden.476 Solche Abwägungen liegen auch in der modernen Schweiz und bis in die Gegenwart Vorstellungen von «guter» und «schlechter» Zuwanderung zugrunde.

Weniger Beständigkeit weisen die für die rechtliche Normierung von Migration zuständigen Instanzen im Verlauf der hier betrachteten Jahrhunderte auf. Bevor die Eidgenossenschaft zu einem Nationalstaat mit einer klaren Grenze zwischen Inland und Ausland wurde, waren Migrationsfragen lokal engmaschig reguliert. Im Hochmittelalter wurden die Städte zu wichtigen Anziehungspunkten für Migrantinnen und Migranten. Diese sicherten das demografische Überleben der Städte und deckten den Bedarf an Fachkräften, sodass die Städte in der Regel Interesse hatten, den Zuzug im Rahmen lokaler Bedürfnisse generös zu handhaben. Migrations- und die damit verbundenen Einbürgerungsfragen waren im 19. Jahrhundert zentral für die Herausbildung bundesstaatlicher Autorität und Kompetenz und nach 1848 Gegenstand eines steten Tauziehens zwischen Bund und Kantonen.

Vor diesem Hintergrund lassen sich für die moderne Schweiz Perioden verschiedener Migrationsregime unterscheiden. Nach der Gründung des Bundesstaats blieben die Kantone zunächst souverän bei der Regulierung von Ab- und Zuwanderung. Auf Bundesebene war man bis in die 1870er-Jahre in erster Linie mit der rechtlichen Gleichstellung der Schweizer beschäftigt und konzentrierte sich auf die Binnenmigration. Erst die Bundesverfassung von 1874 und das entsprechende Bundesgesetz von 1876 schafften eine gesetzliche Grundlage, die Schweizerinnen und Schweizern die Niederlassungsfreiheit innerhalb der Landesgrenzen grundsätzlich einräumte. Auch kam dem Bund erst 1874 das Recht zu, Auswärtigen die Staatsbürgerschaft zuzuerkennen. Insofern lässt sich für die Zeit von der Bundesstaatsgründung bis in die 1870er-Jahre von einer Phase kantonaler Migrationsregime sprechen. In den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts setzte sich eine liberale Laissez-faire-Haltung in Bezug auf Reise- und Niederlassungsfreiheit durch, die auch die europäischen Grossreiche kennzeichnete. Sie war stets von kritischen Stimmen begleitet, die auf die Kosten und Gefahren der Entwicklung hinwiesen und einschränkende Massnahmen forderten.

Der Erste Weltkrieg war eine offensichtliche Zäsur für die Migrationsgeschichte. Er leitete eine restriktive Ausländerpolitik ein, die erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs enden sollte. Mit der Einrichtung der Eidgenössischen Fremdenpolizei 1917 verschoben sich die Kompetenzen in Migrationsfragen weiter in Richtung Bundesbehörden. Auf die Ära der Weltkriege folgte eine Periode der Neuorientierung, in der übernationalen Akteuren, besonders in Gestalt der UNO und ihren Unterorganisationen, eine wachsende Bedeutung zukam. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 setzte neue, international anerkannte Massstäbe im Umgang mit Flüchtlingen. Die Schweiz konnte sich, obwohl sie auf dem neutralen Standpunkt beharrte, diesen Entwicklungen nicht verwehren. Zunehmend war sie bei der Regulierung von Migration mit einer europäischen und einer internationalen Ebene verflochten. Die Neuorientierung mündete in eine Phase der selektiven Liberalisierung der Zuwanderungspolitik, die die Jahre der Hochkonjunktur und des Kalten Krieges prägen sollte. Mit dem Asylgesetz von 1981 wurde die humanitäre Tradition der Schweiz verrechtlicht, aber anschliessend gleich wieder herausgefordert. Auf die Globalisierung von Arbeitsmärkten und Fluchtmigrationen an der Jahrtausendwende reagierte die Schweiz mit einem Mix aus repressiven und offenen Massnahmen. Das aktuelle Regime unterscheidet sich in zentralen Aspekten vom repressiven Regime in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zu nennen sind hier insbesondere die nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten völkerrechtlichen Verpflichtungen und die seit 2002 geltende binneneuropäische Personenfreizügigkeit. Die Schweiz blieb in der Gestaltung ihres Migrationsregimes zwar eigenständig, unabhängig von den europäischen und globalen Entwicklungen war sie aber nicht.

Viertens kann man nicht deutlich genug akzentuieren, dass die Schweiz nicht immer das prosperierende und durch Wohlstand und soziale Sicherungssysteme geprägte attraktive Zuwanderungsland war, als das sie heute gilt. Armen- und erbrechtliche Regelungen, klimatische und ökonomische Gegebenheiten drängten Menschen immer wieder dazu, den Raum der heutigen Schweiz zu verlassen, um in der Fremde ein Auskommen und eine Perspektive zu finden. Man braucht nur an die Kaminfegerbuben aus den verarmten Tessiner Tälern zu denken, denen die deutsche Exilantin Lisa Tetzner und ihr Lebenspartner Kurt Kläber mit dem Jugendroman «Die schwarzen Brüder» 1940 ein Denkmal setzten. Schweizerinnen und Schweizer sind auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus verschiedensten Gründen unterwegs, sei es aufgrund von Arbeits-, Bildungs- und Karrieremigrationen, sei es – häufig im fortgeschrittenen Alter –, weil Pflegeleistungen im Ausland bezahlbarer sind als in der Schweiz.

Auch andersherum gilt: Ohne die Investitionen – in Bildung, Kapital, Einfallsreichtum und soziale Bindungen – von Zugewanderten wären viele Entwicklungen, die das Land zu einem der wohlhabendsten Länder der Welt gemacht haben, kaum denkbar. Selbst als «urschweizerisch» angesehene Produkte und Praktiken – etwa das von Norwegern erfundene und von Engländern in den Schweizer Alpen forcierte Skifahren – entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als Resultat der Verflochtenheit der Schweiz mit der Welt. Ovomaltine, die heute wie kein anderes Lebensmittel für die typisch schweizerische Mischung aus Ausdauer, Wohlbefinden und Genuss steht, wurde von einem aus Rheinhessen stammenden Chemiker beziehungsweise seinem in Bern aufwachsenden Sohn, Albert Wander, erfunden. Es wurde zum Schweizer Nationalgetränk.

Fünftens erweist sich die in der klassischen Migrationsgeschichte lange vorherrschende – und inzwischen mehrfach revidierte – Konzeptualisierung von Migration als One-Way-Bewegung von A nach B in Gestalt von Ein- oder Auswanderung als unzureichend, um die vielfältigen Wanderungen im Schweizer Raum zu fassen. Diese an der Massenauswanderung des 19. Jahrhunderts geformte Vorstellung wird den Migrationsverhältnissen in der vorindustriellen Gesellschaft nicht gerecht. Sie verstellt den Blick auf die Vielfalt und die Verbreitung der befristeten Wanderungen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, allem voran im Bereich der zivilen und militärischen Karriere- und Arbeitsmigration. Für gewisse Gegenden und Wirtschaftssektoren waren Wanderungen geradezu ein strukturbildender Faktor. Das galt für die transatlantische Seefahrt, die qualifiziertes Personal benötigte, und für Regionen mit einer hoch spezialisierten, arbeitsintensiven Landwirtschaft, die nicht hinreichend auf Kleinbauern und Angehörige der unterbäuerlichen Schicht zurückgreifen konnten. Sie bewältigten saisonale Arbeitsspitzen, beispielsweise Ernten, nur mit Hilfe von zuwandernden Landarbeitern. Der Kleinhandel ausserhalb der fest etablierten Märkte basierte zu einem erheblichen Teil auf Hausierern. Adelige, der Klerus, Bürger und Bauern waren auf zugewanderte Mägde und Knechte angewiesen, die die zeitaufwendigen und anstrengenden Arbeiten auf dem Hof und im Haushalt erledigten. Arbeits- und Karrieremigrationen waren gerade in den alpinen Gebieten zentral und besonders stark in generationenübergreifende Muster und Traditionen überregionaler Migration eingebunden. Die Migrantinnen und Migranten waren dabei, so wird heute entgegen älteren Auffassungen argumentiert, durchaus eigenständige Akteure, die ihre unternehmerischen Interessen in weitverzweigten Migrationsräumen zur Geltung brachten.477 Schliesslich war auch die Kriegsführung der grossen Kriegsherren vor der Errichtung von nationalen Volksarmeen ohne den Zulauf von Reisläufern und Söldnern als bezahlte Krieger auf Zeit undenkbar.

Die Vorstellung von Migration als einmaliger Verlagerung des Lebensmittelpunktes lässt sich aber auch mit vielen im 19., 20. und 21. Jahrhundert vorherrschenden Migrationsmustern nur bedingt in Einklang bringen. Binnen-, Mehrfach-, Pendel- und Rückkehrmigrationen mit ihren je spezifischen Erfahrungswelten kennzeichnen die migrantische Praxis bis in die Gegenwart.478 Nicht erst im Zeitalter von Easyjet, Skype und Instagram hat Migration plurilokale Lebensformen begründet. Menschen bewahren und gestalten familiäre und nachbarschaftliche Kontakte in der alten Heimat und in den Ankunftsgesellschaften. Sie sind an mehreren Orten zu Hause, was sie ebenso wie ihre nicht wandernden Familienangehörigen mit der Herausforderung konfrontiert, die räumliche Aufspaltung ihrer Lebens- und Berufswelten kommunikativ und organisatorisch zu bewältigen.479

Sechstens bleiben geschlechtsspezifische Aspekte von Migration nach wie vor unterbeleuchtet. Das gilt umso mehr, je weiter man in der Geschichte zurückgeht. Für die Karriere- und Arbeitsmigrationen der Vormoderne gilt, dass sie vielfach eine Angelegenheit von Männern waren, die als gefragte Spezialisten ihre Expertise und ihr Innovationspotenzial in der Ferne einzusetzen wussten. Männer verfügten in der ständischen Gesellschaft über wesentlich mehr Möglichkeiten zu einer eigenständigen Arbeit und beruflichen Tätigkeit als Frauen. Allerdings werden dabei zwei Aspekte übersehen. Zum einen kam Frauen im System der temporären Arbeitsmigration eine zentrale Funktion zu, wenn sie während der Abwesenheit der Männer die Haus- und Familienökonomie führten und damit in einer geschlechterspezifischen Rollenteilung massgeblich zur Subsistenz der Familie beitrugen. Zum anderen gab es auch immer wieder Frauen, die, sei es durch Eheschliessung, sei es, um die Geschäfte ihrer verstorbenen Ehepartner selbstständig weiterzuführen, weite Distanzen zurücklegten und ihren Lebensmittelpunkt mehrfach verlagerten. Eine solch herausragende Persönlichkeit war die jüdische Händlerin Glückel von Hameln (1645–1724). Als junge Witwe führte die Hamburgerin das Familiengeschäft weiter, das sie durch ganz Mitteleuropa reisen liess. Gegen Ende ihres Lebens ehelichte sie einen Bankier aus Metz und starb schliesslich auch dort, nicht ohne ihre über mehr als zwanzig Jahre geführten Memoiren zu hinterlassen480 – ein seltener Glücksfall historischer Überlieferung.

Schlechter dokumentiert, aber nicht weniger bedeutend war die Funktion, die Frauen in den verschiedenen Phasen der Siedlungswanderung in und aus dem Raum der Schweiz zukam. Sie rückte spätestens gegen Ende des 18. Jahrhunderts aus dem Blick, als die bürgerliche Welt die Vorstellung einer strikten Trennung weiblicher (Privatheit) und männlicher (Öffentlichkeit) Verantwortungsbereiche allmählich zur gesellschaftlichen Norm machte. Die Leistungen der Frauen im so genannt privaten Bereich gingen nicht mehr in die Rentabilitätsrechnungen der Haushalte ein und gerieten darum gerade für den Zeitraum, in dem männliche Arbeits- und Karrieremigrationen breiter durch Quellen belegt sind, aus dem Blick.481 In der Migrationsgeschichte des 19. Jahrhunderts haben Migrantinnen dann doch ihren Platz gefunden, als Arbeiterinnen, Studentinnen oder auch politische Exilantinnen. Wenig später setzte die als «Welschlandjahr» bekannte weibliche Binnenmigration «auf Zeit» ein, der grosse Bedeutung für die nationale Kohäsion zugewiesen wurde, auch wenn vermutlich gerade der Welschlandaufenthalt religiöse, kulturelle und soziale Unterschiede innerhalb der Schweiz besonders sicht- und spürbar machte. Für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts beziffert die Migrationsgeschichte den Anteil von Frauen an den Arbeitsmigranten auf mitunter mehr als die Hälfte – und widerspricht so dem Bild des männlichen, alleinstehenden Gastarbeiters. Nahezu alle ausländischen Personen, die gegenwärtig Care-Arbeiten in Schweizer Haushalten erledigen, sind Frauen. Der historischen Migrationsforschung wird der Stoff, aus dem Geschichte gemacht ist, noch lange nicht ausgehen.

Siebtens zieht sich die Rede über die so genannte «Überfremdung» durch das gesamte 20. Jahrhundert und hat auch im ausländerpolitischen Diskurs des 21. Jahrhunderts an Prägekraft kaum eingebüsst, auch wenn der Begriff selbst eher gemieden wird. Der Kampf gegen «Überfremdung» hat vielfältige Gestalt angenommen: Bewegungen, Parteien, Initiativen, Kampagnen, behördliche und legislative Massnahmen und vieles mehr. In der historischen Migrationsforschung hat sich ein eigenes Subfeld herauskristallisiert, das man als «Überfremdungsforschung» bezeichnen könnte. Sie hat sich bisher im Wesentlichen mit zwei Momenten der Schweizer Migrationsgeschichte befasst, die auch im vorliegenden Buch hervorgehoben wurden: der Genese der so genannten Überfremdungsfrage an der Wende zum 20. Jahrhundert, als der Zürcher Armensekretär Carl Alfred Schmid das Thema in seiner Broschüre zur «Schicksalsfrage der Nation» erklärte, sowie den xenophoben Kampagnen selbst ernannter Überfremdungsgegner in den ausgehenden 1960er-Jahren und in den nachfolgenden Dekaden. Analysen grösserer Zeiträume vermögen zudem, Kontinuitäten von Deutungs- und Argumentationsmustern im Umgang mit Migration auch über einzelne Migrationsregime hinaus aufzuzeigen. Dazu gehören antijüdische Ressentiments, die bereits die Einbürgerungspolitik der spätmittelalterlichen Städte kennzeichneten und erneut von den 1880er-Jahren an bis Ende der 1950er-Jahre die behördlichen Reaktionen auf Flüchtlinge prägten. Wenn es, wie hier plausibel gemacht wurde, stimmt, dass «niemand schon immer da war» und dass Einwanderung wie auch Abwanderung zu den historischen Grunderfahrungen gehört, die Menschen im Schweizer Raum stets aufs Neue gemacht haben: Was kann eine Migrationsgeschichte einer Migrationsgegenwart auf den Weg geben?

Zum einen die Erkenntnis, dass sämtliche Formen von Migration die schweizerische Geschichte mitgeprägt haben und dass Gesellschaft und Politik gelernt haben, Migration zu nutzen und mit entsprechenden Herausforderungen umzugehen. Es ist angesichts der zunehmenden nicht nur ökonomischen, sondern auch politischen Verflechtung der Welt wenig wahrscheinlich, dass souveräne Einzelstaaten allein dauerhaft praktikable und zielführende Lösungen für die anstehenden globalen Probleme finden werden. Das gilt in besonderer Weise für die Flüchtlingsproblematik. Die Vergangenheit führt gelungene Versuche internationaler Absprache bei Flüchtlingskatastrophen vor Augen – zum Beispiel die Einrichtung des «Nansen-Passes» durch ein Gremium des Völkerbunds in der Zwischenkriegszeit, aber auch die Genfer Indochinakonferenzen von 1979 und 1989. Es gab aber auch misslungene Versuche, zum Beispiel die Konferenz von Evian 1938. Es ist zu erwarten, dass das Wissen um Dynamiken, Positionsbezüge, Ergebnisse und Wirkungen solcher historischer Schlüsselmomente das Potenzial und die Fallstricke einer Flüchtlingspolitik auf internationaler Ebene fundierter ans Licht bringen als eine rein am Tagesgeschehen und am Stimmungsbarometer der jeweiligen Wählerschaft orientierte Politik einzelner Nationalstaaten.