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Josef Cap

Kein Blatt
vor dem Mund

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www.kremayr-scheriau.at

eISBN 978-3-218-01137-2

Copyright © 2018 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlaggestaltung: Christine Fischer

Fotos auf dem Schutzumschlag: Nora Schuster (oben), Clemens Fabry (unten)

Typografische Gestaltung und Satz: Michael Karner, Gloggnitz

Inhalt

Mein Weg in die Politik. 1968–1982

Abgeordneter in Zeiten von Rot-Blau. 1983–1986

Im Zentrum der Partei. 1986–1995

Die letzte Große Koalition vor der schwarz-blauen Wende. 1995–2000

An der Spitze der Parlamentsopposition. 2000–2006

In der Endphase der »Großen« Koalition. 2007–2017

Publikationen

Gewidmet allen,
die mich unterstützt und auf meinem Weg begleitet haben,
die mir in Freundschaft nahestehen,
und allen, die mir ihre Vorzugsstimme gegeben haben
.

Mein Weg in die Politik

1968–1982

Wie ich Politiker wurde? Gute Frage. Ihre Beantwortung ist auch heute, nach vielen Jahren »in der Politik«, nicht einfach. Denn der Beruf des Politikers ist im Gegensatz zu anderen Berufen – zumindest nach meiner persönlichen Erfahrung – keiner, den zu ergreifen man einmal beschließt und auf den man dann hinarbeitet. Er ist weder die Verwirklichung eines Kindheitstraums (à la Lokomotivführer oder Astronaut) noch vergleichbar mit Berufsentscheidungen, bei denen ein frühes Interesse – etwa für Computer oder Medizin – quasi logisch zu einem einschlägigen Studium samt anschließendem Job führt.

Im Sinne eines Brotberufes Politiker zu werden, habe ich niemals »beschlossen«, sondern es hat sich »ergeben« – schrittweise. Im Nachhinein betrachtet, haben diese Schritte über 50 Jahre kontinuierlich zum Status eines Berufspolitikers geführt. Auslöser dafür war und ist mein politisches Interesse. Der Weg zu diesem Engagement allerdings war von Gegensätzen und Widersprüchen geprägt.

Eine katholische Erziehung

Ich wuchs in einer katholischen, fast selbstverständlich die ÖVP wählenden Familie auf, besuchte die Volksschule der Piaristen im 8. Bezirk und das humanistische Gymnasium am selben Platz. Dazu passend war ich in der Piaristenkirche einige Jahre Ministrant. Ebenso passend: Ich bekam in der berühmten Tanzschule Elmayer die angeblich »richtigen« Benimmregeln verpasst. So weit, so »normal« damals. Zugleich aber veränderte sich die Welt total – und ich mich mit ihr.

In meiner Familie – mein Bruder ist drei Jahre jünger als ich, meine Schwester fünf – hat es immer wieder politische Diskussionen gegeben, vor allem auch über weltanschauliche Fragen. Mein Vater war engagiert bei Cursillo, einer aus Spanien kommenden, reformorientierten Bewegung innerhalb der katholischen Kirche, eine Art Gegenbewegung zum konservativen »Opus dei«. Cursillo versuchte Reformen im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) und des von uns immer sehr geschätzten »Papa Giovanni«, Papst Johannes XXIII., durchzusetzen: mehr Volksnähe, u. a. durch die Einführung eines Volksaltars, die Abschaffung der allgemein verbindlichen lateinischen Messsprache, die Öffnung gegenüber anderen christlichen Kirchen, mehr Mitwirkung der Laien, vor allem auch der Frauen. Warum soll der Mann Gott näher sein als die Frau? Das war mir immer ein Rätsel. Ich habe auch für viele Rituale bei den Messen nie großes Verständnis gehabt. Ich habe sie zwar als Ministrant angewendet, vom Schwingen des Weihrauchkessels über die Darbietung von Wasser und Wein bis zum Läuten der Glöckchen – aber irgendwie waren das für mich tote Gewohnheiten. Noch vor meiner Ministrantenzeit habe ich einmal in der Piaristenkirche Gebetsbücher gefunden, in denen stand, mit wie viel Gebeten man wie viele Jahre Ablass für begangene Sünden bekommt. Ich bin von der – nicht ganz falschen – These ausgegangen, ich würde einmal ein relativ sündiges Leben führen, und habe daher in weiser Voraussicht möglichst rasch und viel gebetet, um mir einen Vorrat an Ablass anzulegen.

Der Reformprozess in der katholischen Kirche Mitte bis Ende der Sechzigerjahre war einige Zeit recht attraktiv für mich. Erst als endgültig klar wurde, dass Paul VI. den Weg seines Vorgängers eher stoppen als fortsetzen wollte (berühmt wurde er diesbezüglich ja durch seine Anti-Pillen-Enzyklika von 1968), bin ich dann aus der Kirche ausgetreten. Aber schon im Religionsunterricht im Gymnasium hatte ich begonnen, den Glauben zu hinterfragen: »Kann man Gott beweisen?« Bald stand für mich fest: Nein, das Wesen des Glaubens ist, dass man Gott nicht beweisen kann. An der katholischen Kirche habe ich aber immer ihren Beitrag zur kulturellen Entwicklung geschätzt, etwa Literatur, Kirchen und Klöster, später dann noch mehr ihre Leistungen für den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft. Und bis heute hält sich meine große Bewunderung für Franz von Assisi. Weil er mit seinem bescheidenen Lebensstil einen Gegensatz zur damaligen verlotterten Amtskirche geboten hat: Im Mittelpunkt standen Mensch, Tier und Umwelt. Ich bewundere den aktuellen Papst Franziskus sehr, nicht nur weil er Franz heißt und damit auf Franz von Assisi Bezug nimmt, sondern auch, weil er sofort erklärt hat, auch ein Papst sei nicht fehlerlos. Mir sind Unfehlbarkeits-Ansprüche immer gegen den Strich gegangen, egal ob in religiöser, moralischer oder politischer Hinsicht. Ein bisschen wirkt Papst Franziskus im päpstlichen Gästehaus des Vatikan so wie Franz von Assisi.

Die ersten politischen Prägungen

Im BG8, dem sogenannten Piaristen-Gymnasium, einer öffentlichen Schule, besuchte ich den humanistischen Zweig. Ich hatte immer schon eine Schwäche für Geschichte, daraus resultierte auch eine gewisse Schwäche – bisweilen in doppeltem Sinn – für Latein und Altgriechisch. Dazu hatte ich als lebende Fremdsprache Französisch gewählt, das besondere Interesse für den mediterranen Raum inklusive Frankreich, Italien und Spanien ist mir bis heute erhalten geblieben, auch das spezielle Interesse für politische Literaten – ich war schon immer ein großer Bewunderer von Marcus Tullius Cicero. Im Nachhinein tut es mir eigentlich leid, dass ich in der SJ (Sozialistische Jugend) eine Kampagne zur Abschaffung des Lateinunterrichtes mitinitiiert hatte, bei der ich bald mitbekam, dass, je länger SchülerInnen Latein gelernt hatten, sie umso weniger zur Unterstützung bereit waren. Meine Lieblingsfächer blieben die gesamte Schulzeit über Geschichte, Philosophie (z. B. Albert Camus), auch Geografie, alle Fächer, in denen man diskutieren konnte. Ich war aber insgesamt kein guter Schüler, hatte kein positives Verhältnis zum Benotungssystem. Mir ging es primär ums Durchkommen und das ist mir auch gelungen, nur bei der Matura hatte ich eine Nachprüfung.

Den Religionsunterricht schätzte ich nur dann – es kommt ja immer auch auf die Person der Lehrenden an –, wenn es Raum für prinzipielle Debatten gab. Vor allem grundlegende über den Katholizismus, von dem ich durch das Elternhaus stark geprägt war. Mein Vater war Geschäftsführer eines Unternehmens, meine Mutter war stets daheim, so war das damals meist üblich, nicht nur in katholischen Familien. Ich war in keiner eigenen katholischen Jugendorganisation, sondern eben bei den Ministranten. Mit einer gewissen Ambivalenz: Auf der einen Seite waren diese Rituale teilweise verstörend, auf der anderen erzeugten sie auch ein beruhigendes Gefühl. Erst mit steigendem Alter habe ich dann zunehmend einen empirischen Zugang zur Beweisbarkeit Gottes und zu den Naturwissenschaften gesucht. Hinzu kamen Prägungen aus der russischen Literatur, in der eine ganze Generation gegen Zarismus und dessen kaputte Gesellschaft rebellierte. Ich mag diese Sichtweise: Die formalen Autoritäten, die keine inhaltlichen Autoritäten sind, nicht nur infrage zu stellen, sondern sie letztendlich auch loszuwerden, falls es notwendig ist. Und sie durch inhaltliche Autoritäten zu ersetzen. Dieses Lebensprinzip hat sich damals bei mir entwickelt und gilt bis heute. Am meisten beeinflusst hat mich dabei Turgenew und sein Buch »Väter und Söhne«. Er war alles andere als ein Revoluzzer, er war ein westorientierter russischer Literat, der die Gesellschaft beobachtend beschrieb, nicht hasserfüllt wie andere große Literaten der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts.

Ich wurde bereits im Alter von vier Jahren familiär »politisiert«, durch das Zittern meiner aus Ungarn stammenden Großmutter während des Ungarn-Aufstandes 1956. Und ich spüre heute noch die Erschütterung meiner Familie im November 1963, bei der Ermordung von John F. Kennedy, fast ebenso fünf Jahre später beim Mordanschlag auf Martin Luther King. In der so stark vom fortschrittlichen Katholizismus geprägten Familie hatten diktatorische Systeme wie Faschismus oder Stalinismus, Rassismus und Antisemitismus keinen Platz. Echt politisiert wurde ich dann aber wie viele andere Zeit- und Altersgenossen von der linken Schüler- und Studentenbewegung der späten Sechzigerjahre. Traditionelle, früher tabuisierte Autoritäten wurden plötzlich rasch und radikal systematisch infrage gestellt, egal ob Vater, Professor, Bischof, kirchliche oder staatliche Machtträger – und eben auch Politiker.

Aufbruch 1968

Irgendwie spürte ein Teil der jungen Generation und somit ich als ihr Teil, dass mit der Welt, in die sie hineinwuchs, etwas nicht stimmte. Die Verantwortung dafür gab auch ich den politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen, dem »Establishment«. Der Widerstand gegen Ungerechtigkeiten wurde im Westen wie im Osten, in einzelnen Ländern der Dritten Welt und im kommunistischen Machtbereich mit Gewalt – auch von außen – unterdrückt. Das Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968, im Monat darauf die sich fast zu einer wirklichen Revolution ausdehnenden Unruhen in Paris, im August dann die Niederschlagung des Prager Frühlings, all diese jeweils globales Aufsehen erregenden »Hammerschläge der Geschichte« dokumentierten eine polarisierte, aber doch in manchen Aspekten parallele Welt. Sie führten direkt zur Politisierung vieler junger Menschen, auch zu meiner.

Politik war für uns im Zuge der »68er-Kulturrevolution« mehr als traditionelle Politik. Es ging um (Gegen-)Kultur, um neue Musik, um neue Lebensformen, auch privat, und längst auch international, jenseits des heimischen Tellerrandes. Das berühmte Woodstock-Festival im August 1969 bewegte mich ebenso wie die – für mich eher theoretische – Suche nach neuen Lebensformen in Kommunen und Wohngemeinschaften oder Hausbesetzungsaktionen gegen Spekulanten – sie waren Ausdrucksformen gesellschaftlicher Umbrüche und globaler Veränderungen, sie waren aber auch die Vorboten der Überwindung des Ost-West-Konfliktes.

It’s time for a change

Man konnte sich der Politik nicht entziehen, man wollte etwas verändern. Im herkömmlichen Sinn Politiker zu werden, bot keine reizvolle Perspektive. Denn die Politiker waren in unserer Sichtweise als Repräsentanten der herrschenden Ordnung mit-, wenn nicht hauptverantwortlich für vieles, wogegen damals auch ich argumentierte und demonstrierte. Wer wollte sich schon zur Machtabsicherung der ohnehin Mächtigen instrumentalisieren lassen!

In Österreich hatte ich nach meinem damaligen Verständnis ein besonders passendes Beispiel für mein negatives Politikerbild: Die ÖVP-Alleinregierung unter Bundeskanzler Josef Klaus wirkte verzopft, konservativ, langweilig, unsozial und perspektivenlos. Der Kampfruf der Studierenden an den Universitäten gegen altertümlich scheinende Professoren (»unter den Talaren der Muff von tausend Jahren«) ließ sich auch wunderbar auf diese Regierung anwenden, ersetzte man nur die »Talare« durch »Trachtenanzüge«. Mir wurde klar: It’s time for a change, es musste sich etwas ändern. Aber welche Persönlichkeit, welche politische Bewegung konnte dafür den passenden politischen Rahmen bieten?

Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre veränderte sich mein Leben endgültig und nachhaltig. Auch in unserem »braven« Gymnasium begannen wir uns – eine Gruppe von etwa zehn SchülerInnen der 7. und 8. Klassen – mit dieser Zeitenwende auseinanderzusetzen, waren in jeder Hinsicht konfliktbereit. Wir sammelten 1968 Unterschriften für das großspurige Manifest eines AKO (Aktionskomitees):

»›tradition ist die gabe, immer wieder die gleichen dummheiten zu machen‹ (john osborne). sie ist es, die eine gesellschaft von meinungslosen ja-sagern schafft. sie tötet den individualismus und wird von autoritären, innerlich vermoderten besserwissern gepredigt … es ist daher eine vornehmliche aufgabe der jugend, zuerst alles zu prüfen, um das wahre vom unwahren trennen zu können. es besteht kein anlaß, überlieferte ansichten und anschauungen (auch wenn sie tausend jahre alt sind) kritiklos zu billigen … es ist tatsache, daß in unserer plutokratischen gesellschaft, die uns die tradition vermittelt, der mensch nicht nach intelligenz und leistung, sondern nach titeln, herkunft, geld und verbindungen beurteilt wird und daß darauf seine stellung in der gesellschaft basiert. Es herrschen parteienproporz, korruption und scheinmoral. und diese gesellschaft will nun auf grund ihrer erfahrung der kritischen jugend nicht nur die wahrheit offenbaren, sondern auch achtung vor einem gott und den gesetzen beibringen. sie ist unglaubwürdig … es ist daher die pflicht der jugend, jede nutzlose autorität abzulehnen und sich nur von der vernunft leiten zu lassen. solange man uns provoziert, werden wir mit gegenprovokationen antworten … ›ein jeder mensch ist verpflichtet, sich selbst zu erziehen‹ (i. s. turgenjew). (Text inklusive Recht- und Kleinschreibung original)

Fast schon revolutionär (für damalige Begriffe) war dann auch der Titel der von uns herausgegebenen Schülerzeitung: »Contra«, ein Name als Programm. Sie hat sich immer als unabhängig verstanden, hat aber – wie mehrere Schülerzeitungen damals – organisatorisch Kontakt mit dem VSM gehabt, dem Verband Sozialistischer Mittelschüler. In dessen Lokal im 7. Bezirk wurden mehrere Ausgaben auf heute prähistorisch wirkenden Maschinen »abgezogen«, händisch zusammengetragen und geheftet. Ich hatte immer eine gewisse innere Distanz zum VSM, weil er damals noch bei der SPÖ war. Das hat damals nicht meine Sympathie gefunden. Ich bin erst 1971/72 der SPÖ beigetreten, kurz bevor die damalige Führung des VSM der SPÖ die Gefolgschaft aufkündigte. Mit »Contra« wollten wir uns systematisch und bald auch schulübergreifend mit den Strukturen, mit den Methoden, vor allem mit den Inhalten an den Schulen auseinandersetzen: Warum diese und nicht andere Inhalte? Warum kann man nichts kritisch reflektieren? Wieso wird das so benotet? Und wenn man das Althergebrachte nicht macht, dann kommt man nicht durch oder muss die Klasse wiederholen? Diese Fragen stellten sich nicht für Mathematik oder Physik, aber umso mehr in Geschichte, Philosophie, Religion. Dort suchten wir die Auseinandersetzung im Gefolge internationaler Vorbilder, etwa Rudi Dutschke oder Daniel Cohn-Bendit. In Österreich war dieser Geist weniger präsent, es war viel wirksamer, was sich in Deutschland oder Frankreich abspielte.

Auch Günther Nenning hat uns gefördert, er war ein Bekannter meines Vaters aus den Cursillo-Zirkeln. Später war er für mich ein bisweilen bewunderter politischer Konjunktur-Ritter, ein grundsätzlich eigenständiger Journalist, Politiker, Literat und Aktionist. Auch er hat uns für unsere Treffen in seinem »Neuen Forum« in der Museumsstraße Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt. Er stand der katholischen Kirche sehr kritisch gegenüber, ebenso der SPÖ. Ein Berührungspunkt ergab sich Anfang der Siebzigerjahre auch durch sein Volksbegehren gegen das Bundesheer, das aber nie über die Eintragungsphase hinauskam. Ein damaliger Leitspruch: »Bundesheer ist ungeheuer, erstens scheiße, zweitens teuer.« Da kristallisierte sich eine erste autonome außerparlamentarische Opposition heraus, wobei ich nie an eine Abschaffung des Bundesheers geglaubt habe, ich war auch kein Pazifist. Aber es war eine Bewegung, die mit dieser zugespitzten Kritik erreichen wollte, dass das Bundesheer anders, nämlich demokratischer funktionieren sollte. Und sich der Kritik an seinem historischen Versagen stellen sollte, als es 1934 einseitig in den Bürgerkrieg eingriff und sich 1938 nicht gegen den deutschen Einmarsch wehrte. Es sollte sich nicht wieder zum Tummelfeld von Reaktionären und Rechtsextremen entwickeln. Es gab damals im Bundesheer noch Leute, die mit glänzenden Augen an die Zeit vor 1945 dachten. Das Ziel der Bewegung war, so wie hinsichtlich vieler anderer Strukturen des Staates und der Republik: durchlüften, alles infrage stellen, manches sogar radikal – und auf diese Art fortschrittliche Reformen in Gang setzen.

Beim Bundesheer

Nach meiner Matura im Frühjahr 1971 lernte ich das Bundesheer von innen kennen: Ich absolvierte sechs Wochen Grundausbildung, weitere sechs Wochen Spezialausbildung und beschloss, Ausbildner zu werden, weil ich nicht im Büro sitzen wollte wie viele andere Maturanten, sondern draußen im Gelände in Bewegung sein wollte. Körperliche Ertüchtigung war mein Ziel. Höhepunkt: der 80 Kilometer lange Marsch Wien–Krems–Mautern, damals John-F.-Kennedy-Gedenkmarsch genannt. Ich bin die ganze Nacht durchmarschiert und kann mich heute noch an ein fast surreales Ereignis erinnern: Da stand eine Tafel, »20 km Grafenwörth«, und nach einer weiteren Stunde Marschzeit die nächste Tafel mit der Aufschrift »25 km Grafenwörth«. Wahrscheinlich hatte sie jemand aufgestellt, um unsere psychische Belastbarkeit zu testen. In Mautern erhielt ich dann zwei freie Wochenenden und eine Medaille – so hat sich meine Schwäche für Ausdauersport entwickelt. Ausbildner war ich in einer Reformphase: Kreisky hatte die Wahl 1971 unter anderem mit dem Versprechen gewonnen, die Wehrdienstzeit auf sechs Monate zu verkürzen und Schikanen abzustellen. Ich legte viel Wert auf körperliche Ertüchtigung, ich bildete in einer Pionier-Infanterie aus. Ich habe das Bundesheer in einem Durchgang absolviert, bin im Frühling 1971 eingerückt und war im Herbst fertig – nach siebeneinhalb Monaten habe ich mich auszahlen lassen.

Den späteren Verteidigungsminister Otto Rösch hatte ich schon als Gymnasiast kennengelernt, es war meine erste direkte Begegnung mit einem Spitzenpolitiker. Er saß 1970 als frischgebackener Innenminister allein zum Abendessen in einem Gasthaus an der Ringstraße, ich setzte mich zu ihm und schilderte ihm meine Zufriedenheit, dass die Zeit der konservativen ÖVP-Alleinregierung vorbei sei und jetzt ein neues Zeitalter anbreche. Wir haben uns bis Mitternacht unterhalten und blieben auch später in freundschaftlichem Kontakt – einer der Gründe, warum ich mich doch der SPÖ näherte. Rösch selbst war freilich alles andere als ein Linker. Kreisky hat das anscheinend nicht gestört, er hat ja 1970 das bevorzugte Sammelbecken vieler ehemaliger Nationalsozialisten, die FPÖ, gebraucht, um die Nationalratswahl zu gewinnen: Deren Chef Friedrich Peter unterstützte ihn 1970 um den Preis einer Wahlrechtsreform, die kleine Parteien begünstigte, und wurde so zum Geburtshelfer der dreizehnjährigen Ära Kreisky.

Widerstand gegen den Imperialismus

Als Pazifist wäre ich schon wegen meiner Sympathie für antiimperialistische Befreiungsbewegungen unglaubwürdig gewesen, vor allem für jene in Vietnam: Ich bin für keine Sache so oft auf die Straße gegangen und an so vielen Demonstrationen beteiligt gewesen wie gegen den Vietnamkrieg. Ich hielt ihn für das Ungerechteste, was es gibt. Ich war sowieso sehr USA-kritisch, vor allem nach der Ermordung Kennedys: Wobei – das wurde mir erst später richtig bewusst – auch Kennedy im Vietnamkrieg eine unrühmliche Rolle gespielt hat. Bei einer dieser Anti-Vietnamkrieg-Demonstrationen hielt ich 1973 meine erste öffentliche Rede, von einem LKW aus am Ballhausplatz. Ich war auch als Vertreter des VSStÖ bei einer der größten Demonstrationen gegen den bald danach beendeten Krieg in Salzburg dabei, 1975, anlässlich des Besuches des amerikanischen Vizepräsidenten Gerald Ford bei Bruno Kreisky. Ich stand am Rand des Flugfeldes und hatte wie fast alle anderen eine Fahne in der Hand. Damals wurde diskutiert, ob man die Polizeikette zum Flugfeld durchbrechen sollte. Es hat linksradikale Strömungen gegeben, die friedfertige DemonstrantInnen in eine Konfrontation mit der Exekutive des Staates treiben wollten. Ein Polizist stand dort, wir kamen ins Gespräch, er deklarierte sich als SPÖ-Mitglied. Ich sagte zu ihm: »Ich bin ein Sozialist, du bist ein Sozialist, warum sollen wir uns da gegenseitig attackieren?« Dann bin ich weggegangen. Ich bin bis heute stolz auf diese Entscheidung, weil ich diese Art von aktionistischer Aggression nicht gut finde.

Der Vietnamkrieg ging dann langsam zu Ende, nicht aber der Protest gegen das imperialistische Verhalten der USA. 1973 löste der von den USA unterstützte Putsch gegen die Regierung von Salvador Allende besonders große Empörung aus, wir arbeiteten danach mit vielen chilenischen Flüchtlingen zusammen, die dann nach Österreich kamen. Ebenfalls intensiv waren die Kämpfe gegen das Schah-Regime im Iran: Ich gehörte zu den DemonstrantInnen, die drei Tage lang einen Hörsaal in Wien besetzten – darauf werde ich heute noch von Taxifahrern angesprochen, die damals mit mir den Hörsaal besetzt hatten.

Die Ära Kreisky

Im Jahr meiner ersten Maturaprüfung 1970 (ein halbes Jahr später gab es einen dann erfolgreich absolvierten »Nachschlag«) gab es auf politischer Ebene einen echten Einschnitt: Bruno Kreisky wurde österreichischer Bundeskanzler. Die Ära Bruno Kreisky war quantitativ wie qualitativ einmalig in der Geschichte der Zweiten Republik. Dreizehn Jahre lang stand ein Kanzler an der Spitze einer Alleinregierung, viermal gewählt von jeweils wachsenden Mehrheiten. Aus der relativen Mehrheit von 1970 wurden 1971, 1975 und 1979 absolute Mehrheiten, ein im internationalen Maßstab einmaliger Vorgang. Dafür verantwortlich waren liberale Reformen im »Überbau« der Gesellschaft, die »austrokeynesianische« Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Österreich lange von internationalen Wirtschaftskrisen abzukoppeln schien, sowie eine aktive Außenpolitik, die das Selbstbewusstsein unseres Landes entscheidend hob.

Dafür verantwortlich war aber auch die einzigartige Persönlichkeit Bruno Kreiskys, eines genialen Strategen und Taktikers, des letzten Kanzlers, dessen Wirken bis zuletzt auch von den Erfahrungen der zerbrechenden Monarchie, der zugrunde gerichteten Ersten Republik, des austrofaschistischen Ständestaates und seiner Emigration während der Nazi-Herrschaft geprägt war. Seine Biografie bewegt sich an den Schnittstellen von jüdischem Großbürgertum und sozialdemokratischer Arbeiterbewegung, altösterreichischem Kulturraum und internationaler Moderne, sie umspannt politisch fast das gesamte österreichische 20. Jahrhundert.

Nach seinem ersten Wahltriumph am 1. März 1970 schlug die Stunde des genialen Taktikers. Während die Koalitionsgespräche mit der schwer geschlagenen ÖVP bald in einer Sackgasse endeten, brachte er die FPÖ und deren Obmann Friedrich Peter dazu, gegenüber der SPÖ-Minderheitsregierung parlamentarische Toleranz zu üben: um den Preis einer Wahlrechtsreform (was sich für die FPÖ vorerst nicht rentierte) und zum Zwecke baldiger Neuwahlen. Bis zu diesem Datum, dem 10. Oktober 1971, wurde eine Reihe populärer Reformen verwirklicht: die Schülerfreifahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln, die Herabsetzung der Volljährigkeit auf 19 Jahre, die Abschaffung der AHS-Aufnahmeprüfungen, schließlich die Kürzung der Präsenzdienstzeit auf sechs Monate Grundwehrdienst und 60 Tage Waffenübungen. Dazu noch die Abschaffung der Hochschultaxen und die Einführung eines »Startgeldes« für Ehepaare.

Kreiskys Rechnung ging auf: Nach der Bundespräsidentschaftswahl im April 1971 (Franz Jonas siegte mit klarem Vorsprung gegen Kurt Waldheim) gewann die SPÖ im Oktober auch die Nationalratswahlen. Und diesmal brachten die mehr als 2,2 Millionen Stimmen (gegenüber dem Jahr davor ein Plus von 60.000, während die ÖVP 80.000 verlor) eine absolute Mehrheit an Mandaten: 93 der insgesamt von 165 auf 183 erhöhten Gesamtzahl.

Die Reformarbeit wurde nun zügig fortgesetzt: Bei einem Parteitag im April 1972 setzten die sozialistischen Frauen die Reform des lange bekämpften Paragraph 144 auf eine Fristenlösung bei Schwangerschaftsabbrüchen statt der ursprünglich von Justizminister Christian Broda vorgesehenen Indikationenlösung durch. Ab dem Schuljahr 1972/73 gab es das Gratis-Schulbuch, ab 1973 die Mehrwertsteuer, 1974 die Strafrechts- und ORF-Reform, das Schulunterrichts- und Arbeitsverfassungsgesetz, die Einführung des Zivildienstes. Alles Reformen, die eine Demokratisierung der Gesellschaft brachten, eine Öffnung des Bildungssektors und eine Liberalisierung des gesellschaftlichen Klimas. Was die SPÖ die nächsten Nationalratswahlen am 4. Oktober 1975 noch deutlicher gewinnen ließ (die SPÖ erhielt 50,4 Prozent, die Mandatsverteilung blieb gleich), war ihre liberale »Aufholpolitik«, vor allem im Justiz- und Bildungsbereich, die Verwirklichung wesentlicher Reformen, die in Ländern mit erfolgreichen bürgerlichen Revolutionen längst durchgeführt waren.

Kreisky hatte es erfolgreich verstanden, die SPÖ als sozialliberale Partei für all jene zu präsentieren, die mit dem Stammwählerkreis »ein Stück des Weges gemeinsam gehen« wollten. Auch die gestiegene Bedeutung Österreichs in der Weltpolitik wirkte sich positiv aus, insbesondere durch die aktive Nahostpolitik Kreiskys.

Mein Weg in die SPÖ

Der Faszination Bruno Kreiskys konnte ich mich nicht lange entziehen, freilich gepaart mit eigenen politischen Vorstellungen. Das sozialdemokratische Spektrum sollte das Feld meiner Aktivitäten sein, Ziel war es, die Sozialdemokratie und ihre Entscheidungsträger sanft nach links zu bewegen. Wobei wir für »harte« Unterwanderungsstrategien wie jene mancher Jusos in der SPD schlicht zu uneinheitlich und zu wenige waren. Überdies war die SPÖ mit ihren zahlreichen Integrationsangeboten politisch zu flexibel, um eine ernstzunehmende Polarisierung entstehen zu lassen. Eine der zentralen Fragen, die mich damals sehr beschäftigten: Wie kann man in einer ab 1971 mit absoluter Mehrheit absolut regierenden Partei politisch tätig sein, ohne als herkömmlicher Politiker zu enden? Anders formuliert: Ist es unvermeidbar, von den politischen Rahmenbedingungen bis zur Unkenntlichkeit deformiert zu werden, oder könnte es gelingen, einer Partei seinen eigenen Stempel aufzudrücken? Wird man zu einem Objekt oder bleibt man Subjekt der, wie es so großsprecherisch heißt, »Geschichte«?

Im Herbst 1971 begann ich mein Studium. Die konkrete Wahl haben mir meine Eltern eingeredet: »Wenn du später einmal einen Job haben willst, mach Jus!« Ich habe mich von ihnen breitschlagen lassen, habe die erste Staatsprüfung absolviert und war am Weg zur zweiten Staatsprüfung, doch dann sattelte ich komplett auf Politikwissenschaft um, die ich von Anfang an auch inskribiert hatte. Das interessierte mich viel mehr als das damalige Jus-Studium, das im Gegensatz zum heutigen, reformierten, aus einem permanenten Auswendiglernen bestand. Das politikwissenschaftliche Studium an der philosophischen Fakultät war ganz anders: Da gab es Lesekreise, Diskussionen, Forschungsarbeiten, gemeinsame Lektüre, dann die Dissertation. All das habe ich leidenschaftlich gerne gemacht. Ich war am Anfang nicht sehr stark an einem raschen Studienerfolg interessiert, ich wollte mitmachen an der Veränderung an der Universität, an den Lernmethoden, den Inhalten.

Der VSStÖ

Vor allem auch Auseinandersetzungen mit den anderen politischen Gruppen machten mir Spaß, es herrschte ein hochpolitisches Klima an der Universität. Ich ging bald zum VSStÖ (Verband Sozialistischer Studenten Österreichs). Links vom VSStÖ bildeten sich vor allem nach deutschem Vorbild diverse linksradikale Gruppen, die KPÖ-nahen Studierenden blieben dagegen meist unbedeutend. Im Wiener VSStÖ sammelten sich anfangs relativ wenige Studierende, die aber später wichtige Positionen einnehmen sollten: unter anderem Brigitte Ederer, Renate Brauner, Michael Häupl, Peter Pelinka, Manfred Matzka, Robert Wiesner, Peter Pilz, Siegfried Mattl. Es gab eine Mehrheitsströmung, die die SPÖ ein Stück weiter nach links rücken wollte, um in Österreich eine noch sozialere, egalitärere Gesellschaft zu etablieren. Und dann gab es noch eine Minderheitsströmung, denen die SPÖ insgesamt zuwider war. Einige aus dieser Gruppe haben sich später an der Vierten Internationalen (»Trotzkisten«) orientiert. Sie wurden später aus dem VSStÖ ausgeschlossen, ihr Kopf war Peter Pilz. Hinter diesen ideologisch begründeten Fraktionskämpfen, hinter hektisch verfassten und diskutierten Positionspapieren, hinter nächtlichen Sitzungen voller Emotionen standen vielfach aber auch einfach persönliche Interessen, Sympathien und Antipathien.

Der VSStÖ war Anfang der Siebzigerjahre höchstens die drittstärkste Kraft hinter den StudentInnen der ÖVP (Wahlblock, später Aktionsgemeinschaft, später ÖSU) und der FPÖ (RFS/Ring Freiheitliche Studenten, vor allem schlagende Burschenschafter) gewesen, langsam formten wir ihn zur österreichweit zweitstärksten Kraft: Bei den Wahlen zur Hochschülerschaft steigerte sich sein Stimmenanteil von 10 Prozent (1972) über 13 (1974) auf 17 Prozent (1974). Hochschulpolitisch propagierten wir eine »gewerkschaftliche Orientierung«, bei der die materiellen Interessen der Studierenden, etwa Stipendien, Heimplätze oder gute Studienbedingungen, im Vordergrund standen. Hier war vor allem Michael Häupl federführend, angehender Doktor der Biologie, gewählter Sprecher der Heimbewohner. In der Mensa des Neuen Institutsgebäudes (NIG) gelang es mir bei mehreren Gläsern Bier und einer intensiven politischen Diskussion, ihn für den VSStÖ zu gewinnen.