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Manfred Weinland

Raumschiff Rubikon 38 Das letzte Zeitalter

Raumschiff Rubikon 38 Das letzte Zeitalter

Manfred Weinland


Am Morgen einer neuen Zeit.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.


Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …


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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfredbooks und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

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© Cover: Nach Motiven von Pixabay, Adelind, Steve Mayer

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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1.


»Ich messe ein mit Hypergeschwindigkeit heranrasendes, energetisches Phänomen an. Sein Vernichtungspotenzial kann nicht beziffert werden, aber möglicherweise wird es alles zerstören, was ihm in die Quere kommt. Es gibt nicht den Ausgangspunkt – und es zielt auch nicht auf unsere jetzige Position. Es scheint aus allen Richtungen zugleich zu kommen und dabei alles zu überrollen...«

Die Worte der Schiffs-KI hallten noch in Jarvis nach, als die Welle auch schon da war, über das Angksystem und alles, was sich darin befand, hinwegrollte wie ein schwerer Brecher auf hoher See, der eine Nussschale unter sich begrub.

Der Vergleich hinkte. Weil das, was die RUBIKON traf, schlichtweg mit nichts vergleichbar war, was dieses Universum jemals zuvor hervorgebracht hatte. Im Moment des Kontaktes mit der dunklen Kraft, die den Kosmos durchraste, setzten Jarvis’ kybernetische Systeme aus. Ein Blackout verschlang sein Bewusstsein, und als er wieder zu sich kam, um sich blickte, wusste er im ersten Moment nicht, ob Sekunden, Stunden oder Tage verstrichen waren.



Noch vor jedem anderen Empfinden war er einfach nur verblüfft, überhaupt noch zu existieren. Seine letzte Wahrnehmung und Erinnerung bezog sich auf den Einschlag der unbekannten Kraft, die die Bordsysteme hatten heranrasen sehen, aber offenbar nicht einmal in enger Kopplung mit der KI in der Lage gewesen waren, daraus noch einen Nutzen und wirksamen Schutz für das Schiff aufzubauen.

Und nun…

treibe ich im All! Entweder ist mir die RUBIKON unter dem Hintern weggebrochen und ich wurde herausgeschleudert, oder…

Dieses Oder hielt den Funken Hoffnung am Leben, den er brauchte, um überhaupt aktiv werden zu können, denn seine erste Regung nach dem Erwachen war gewesen: Warum ich? Warum musste ausgerechnet ich davon kommen, während alle anderen –

Aber wäre die RUBIKON tatsächlich zerstört worden, hätten dann nicht Trümmerteile durch die Umgebung treiben müssen? Eine Umgebung, die Jarvis so über die Maßen entsetzte, dass die Coolness, die ihn sonst auszeichnete, in den ersten Minuten nach seiner Rückkehr ins Bewusstsein chancenlos und schlichtweg nicht existent war.

Seine optischen Module fingen das Licht einer fernen Sonne auf, bei der es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht um das Zentralgestirn des Angksystems handelte. Das Lichtspektrum unterschied sich so stark davon, dass die einzig logische Schlussfolgerung daraus lauten musste: Ich bin transitiert .

Wahrscheinlich hatte sein Unterbewusstsein den Sprung ausgelöst, weil es die Kraft, von der die RUBIKON getroffen worden war, als so furchtbar eingestuft hatte, dass es keine andere Rettung mehr sah.

Jarvis spürte noch immer den Nachhall dessen, was auch ihn getroffen hatte – und was sich wie ein echter Tod angefühlt hatte, ähnlich wie damals, als er durch die Hand eines Foronen-Oberhaupts gestorben war und lediglich sein Bewusstsein hatte bewahrt werden können. Es war in die Cyberhülle gepflanzt worden, in der es sich bis heute aufhielt. Die Hülle, die in jüngster Zeit dank der Hilfe des Pseudo-Bractonen Rogar so hatte präpariert werden können, dass sie sich nicht nur für Außenstehende lebendig – wie aus Fleisch und Blut – anfühlte (obwohl sie ihre kybernetische Substanz nicht verloren hatte), sondern auch für Jarvis selbst. Das, was anfänglich reine Maskerade gewesen war, holografische Schminke, hatte einen so radikalen Wandel erfahren, dass Jarvis jederzeit in der Lage war, zwischen zwei Arten von Sinneswahrnehmungen zu wählen: den technisch-nüchternen seiner Sensoren oder dem, was er aus seinem früheren Leben kannte und was über Rezeptoren begreif- und spürbar gemacht wurde, die die Sinnesorgane eines lebendigen Menschen simulierten. So perfekt simulierten, dass es Jarvis wie ein Wunder erschien.

Und so hatte sein erster Reflex, nach dem Realisieren der veränderten Umgebung, auch darin bestanden, die bioneuronalen Empfindungen umgehend auszublenden, weil die Weltraumbedingungen, in denen er sich wiederfand, jeden organischen Körper, der ihnen schutzlos ausgesetzt war, zerrissen und schockgefrostet hätten.

In dieser Reihenfolge.

Vermutlich.

Jarvis seufzte in den luftleeren Raum hinein. Die Reichweite seiner Cyberortung war nicht mit der eines Raumschiffs vergleichbar, betrug maximal rund eine Milliarde Kilometer. Und auf diesen Radius weitete er seinen Umgebungsscan sofort aus, in der vagen Hoffnung, dabei auf einen Blip zu stoßen, hinter dem sich die RUBIKON verbergen konnte – auch wenn der gesunde Menschen- und Maschinenverstand die Wahrscheinlichkeit, fündig zu werden, fast schon in den minusprozentualen Bereich verbannte.

Dass sein transitionsfähiger Robotkörper einen Verzweiflungssprung ausgeführt hatte, mochte noch nachvollziehbar sein. Dass die RUBIKON synchron dazu ihre eigene Transition durchgeführt hatte, die schlussendlich beide, ohne vorherige Abstimmung, in ein Gebiet gebracht haben sollten, das Jarvis ortungstechnisch erfassen konnte, war nicht zu erwarten. Trotzdem wollte er nichts unversucht lassen, um sich seinen Gefährten auf dem Rochenschiff bemerkbar zu machen. Parallel zu seinen Scanbemühungen setzte er deshalb einen breit gefächerten SOS-Funkruf ab.

Noch bevor an den Empfang einer möglichen Antwort zu denken war, gingen erste Ergebnisse seiner Umgebungssuche ein. Ein massereiches Objekt am Rande von Jarvis’ Erfassungsbereich, mutmaßlich ein Planet von ungefährer Erdgröße. Hinzu kam ein zweiter, verwaschenerer Blip , der keine tausend Kilometer von Jarvis’ derzeitiger Position auf ein weiteres Objekt hinwies, dessen Masse wesentlich kleiner war und sich aus mehreren Einzelkomponenten zusammenzusetzen schien. Genauere Werte erhielt Jarvis auch nicht, als er sich ausschließlich auf das kleinere Gebilde konzentrierte, von dem er nur annehmen konnte, dass es sich um ein Raumschiff handelte.

Tausend Kilometer schreckten ihn selbst in seiner aktuell lädierten Verfassung nicht. Er wartete noch eine Weile, ob eine Antwort auf seine Funksignale eintraf. Als dem nicht so war, transitierte er kurz entschlossen zu seinem angepeilten Ziel.

Der Sprung gelang, fühlte sich aber anders an als alle räumlichen Versetzungen davor. Jarvis kam es so vor, als arbeite er gegen einen Widerstand, der ihm ihn dieser Form bei früheren Transitionen noch nie begegnet war. Ob dieses Gefühl bloßer Einbildung entsprang oder einen realen Hintergrund hatte, konnte der ehemalige GenTec nicht stichhaltig belegen. Auf der Positivseite war jedenfalls zu verbuchen, dass die Rematerialisation ohne Abweichung von den zuvor programmierten Zielkoordinaten erfolgt zu sein schien.

Und dass seine optischen Systeme bereits genügten, um ihm einen ersten Eindruck von dem Technokonstrukt zu verschaffen, das scheinbar zum Greifen nah vor ihm im Samtschwarz des Alls trieb.

Jarvis erste Assoziation beim Anblick skelettartigen Quaders war: Der Aquakubus! Nur ohne Wasser…

Doch handelte es sich tatsächlich um die »ausgeschlachtete« Hinterlassenschaft der Foronen, die zu ihrer Glanzzeit Maßstäbe gesetzt hatte?

Während Jarvis sich immer noch erfolglos um eine Kontaktaufnahme mit der RUBIKON bemühte, bewegte er sich mit dosierten A-Grav-Schüben auf das bizarre Hightech-Gebilde zu.



Zur gleichen Zeit

Der Donnerschlag, der nicht nur die RUBIKON, sondern das Universum an sich bis in die Grundfesten erschüttert zu haben schien, hallte noch in John Cloud nach, als sich sein Bewusstsein mühsam den Weg zurück ans Licht bahnte. Die Dunkelheit, die ihn eben noch einzementiert hatte, als wollte sie ihn nie wieder freigeben, bröckelte ab, als würde sich ein Riese innerhalb einer tönernen, Laute und Helligkeit abschirmenden Hülle zu regen beginnen, in die er gesperrt worden war.

Es dauerte eine Weile, bis Cloud begriff, dass er sich innerhalb des geschlossenen Sarkophagsitzes befand; die Erinnerung daran, wie es zum Schließen des Gehäuses gekommen war (ob er selbst den Befehl dazu erteilt hatte oder Sesha tätig geworden war), fehlte auf ganzer Linie. Das Letzte, woran er sich entsann, war, dass die KI Hochalarm ausgelöst hatte, weil etwas von allen Seiten zugleich auf das Raumschiff zugerast war und eingedroschen hatte.

Nicht nur auf das Schiff, korrigierte er sich, auf das ganze hiesige Sonnensystem… mindestens!

Was dieses Etwas gewesen war, hatte sich in der kurzen Spanne zwischen Ortung der Bedrohung und der Konfrontation mit derselben nicht mehr ermitteln lassen.

Und jetzt?

Noch bevor Cloud den Kommandositz der RUBIKON öffnete, nahm er Kontakt zur KI auf.

»Sesha?«

Versuchte er, Kontakt zur KI aufzunehmen. Aber Sesha ignorierte sein Bemühen so hartnäckig, dass in Cloud die Befürchtung aufkam, der Einschlag von was auch immer könnte die KI nachhaltig beschädigt haben.

Er zögerte nicht länger, sondern öffnete den Deckel des Sarkophags. Er bildete sich so rasend schnell zurück, dass das menschliche Auge kaum zu folgen vermochte. Das gedimmte Licht der Bordzentrale drang zu Cloud vor. Die Sitzlehne schnellte aus der fast waagrechten Position steil nach oben, sodass der Commander bequem saß und gleichzeitig einen unverstellten Blick auf die Holosäule hatte, die sich im Zentrum zwischen den sieben kreisförmig angeordneten Kommandositzen vom Podestboden bis hinauf zur Decke schraubte.

Das Hologramm zeigte die Umgebung der RUBIKON, und auf den ersten flüchtigen Blick wirkte alles weitgehend normal.

»Sesha!«, versuchte Cloud es erneut, nun schon merklich ungeduldiger.

Obwohl die bordinternen Systeme, die unter anderem für Luft, Licht, Wärme und künstliche Schwerkraft zuständig waren, zu arbeiten schienen, blieb die KI stumm und, soweit feststellbar, inaktiv.

»Das gefällt mir nicht«, murmelte Cloud in seinen Bart, während sein Blick zu den anderen Sitzen schwenkte, von denen nur noch einer offen war wie derjenige, aus dem sich Cloud gerade stemmte. Nur noch Jarvis’ Sitz war ohne jene Abdeckung, die dafür sorgte, dass der Insasse geistig mit dem Schiff verschmelzen und quasi in ihm »aufgehen« konnte. Wobei auch dieses »Aufgehen« Abstufungen hatte: John Cloud war der Einzige, der in seiner Funktion als Commander Zugang und Zugriff in sämtliche Bereiche hatte, die das künstliche Nervensystem der RUBIKON durchzog.

Dass Jarvis’ Sitz leer und verlassen war, obwohl Cloud geschworen hätte, ihn im Moment des Einschlags noch neben sich gesehen zu haben, deutete darauf hin, dass der Freund entweder gar keinen Blackout erlitten hatte oder einen, aus dem er wesentlich früher als seine Mitstreiter erwacht war.

Fragt sich nur, warum er dann nicht alles daran gesetzt hat, unser Erwachen zu beschleunigen.

Cloud trat neben den Sitz zu seiner Linken und betätigte den Mechanismus zum manuellen Öffnen. Der Deckel bildete sich ebenso schnell und umfassend zurück wie zuvor bei Clouds Sarkophag. Zum Vorschein kam Scobee, die offenbar immer noch ohne Bewusstsein war. Ihre Züge wirkten verkrampft, und es arbeitete darin, als träumte sie schlecht.

Cloud zögerte kurz, dann beugte er sich zu Scobee hinunter und rüttelte sie sanft an den Schultern. Die Zeiten, da Scobees Brauenhaare weggelasert und durch adäquate Tätowierungen ersetzt gewesen waren, gehörten zu Clouds Freude der Vergangenheit an. Die Tattoos hatten Scobee immer ein bisschen wie eine Mangafigur des 21. Jahrhunderts wirken lassen, dem sie beide – und Jarvis – ja tatsächlich entstammten, auch wenn ein seltsames Schicksal sie weit in die Zukunft geschwemmt hatte. Zukunft war zu Gegenwart geworden, und manchmal, nicht oft, trauerte Cloud immer noch den verlorenen Zeiten nach. Bevor er Astronaut geworden und zum Mars aufgebrochen war, damals, 2041, hatte seine Welt noch einen entscheidenden Vorteil gegenüber der von heute gehabt: Sie war wesentlich überschaubarer, vielleicht auch provinzieller, gewesen. Aber auf eine angenehme, wohltuende Weise.

Die Überschaubarkeit war spätestens seit dem Kontakt mit den Ganf und der Erkenntnis, dass dieses Universum ohne ihre Äonen zurückliegenden Aktivitäten niemals entstanden wäre, flöten gegangen.

Wir sind kosmisch geworden , dachte Cloud selbstironisch. Darauf hätte ich verzichten können .

Von Kindheitstagen an hatte es ihn ins All gezogen. Sein Dad, Nathan Cloud, hatte es ihm vorgelebt. Aber um seine hochgesteckten Träume zu erfüllen, hätte es nicht die Gigantomanie gebraucht, in die er nach seiner Ankunft auf dem Roten Planeten verstrickt worden war. Nicht nur eine, mehrere Nummern kleiner hätten es, wäre es nach ihm gegangen, auch getan. Aber dann hatten sich die Ereignisse überstürzt, die Erde hatte sich einer Invasion ausgesetzt gesehen, wie sie bis dahin nur als Handlung in einem SF-Film oder -Roman denkbar gewesen wäre. Doch die Master hatten keinen Zweifel an ihrer Realität gelassen – und daran, dass sie ganz eigene Vorstellungen davon hatten, wie sich die Erde samt ihren Ureinwohnern künftig präsentieren sollte.

Verdammt! Wie er es hasste, wenn sich seine Gedanken in Extremsituationen wie dieser verselbstständigten, obwohl er sich besser auf das Hier und Jetzt fokussiert hätte. Die Vergangenheit konnte ihm aktuell nicht helfen. Also , dachte er, abhaken! Sofort!

Scobees Lider flatterten. Dann sprangen sie auf. In ihren Augen löste zögerndes Erkennen die zunächst dominierende Verwirrung ab. »John…«

»Willkommen im Klub.«

»Klub?« Sie richtete sich auf.

»Nun, du bist nicht die Einzige, die ratlos ist. Offenbar fragst du dich auch, was überhaupt passiert ist.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich wünschte, ich wüsste es.«

»Frag Sesha. Von ihr kam die Warnung. Nur war die Vorlaufzeit verdammt kurz. Zeit zum Reagieren blieb nicht mehr.« Seufzend fuhr Scobee sich über den Nacken. »Was in Dreiteufelsnamen war das?« Sie sah sich immer noch leicht desorientiert um. »Na, wenigstens hat das Schiff es überstanden. Schadensbilanz?«

Cloud schnitt eine Grimasse. »Ich kann es dir nicht sagen. Dein ›frag Sesha‹ mag im Normalfall ein guter und auch naheliegender Tipp sein, aber in unserem speziellen scheitert er bereits im Ansatz.«

»Was soll das heißen?«

»Soll heißen: Versuch du dein Glück. Vielleicht ist dir Sesha mehr gewogen als mir.«

»Quatsch.«

» Versuch es.«

Scobee folgte seiner Aufforderung, obwohl ihr Blick nach einer Erklärung von ihm verlangte. »Also dann: Sesha?« Und nach einer Weile schon merklich schärfer: »Sesha!«

»Ich hatte es befürchtet.«

»Schweigt sie auch auf deine Versuche?«

»Seit ich zu mir kam.«

Scobees Blick schweifte über die Sitze des Kommandostands. Vier waren noch geschlossen, drei offen. Die drei offenen waren die Stammplätze, die vier geschlossenen wurden variabel besetzt, aktuell von Jiim, Algorian, Assur und Aylea.

»Wo ist Jarvis?«

Sie wusste den dritten offenen und verwaisten Sitz sofort zuzuordnen.

»Auch das kann ich dir nicht sagen. Er war schon offen und leer, als ich meinen öffnete.«

»Wieso sind sie überhaupt geschlossen gewesen? War Jarvis das? Oder Sesha?«

»Vielleicht waren wir es selbst«, äußerte Cloud eine weitere Möglichkeit.

»Daran erinnere ich mich nicht.«

»Dito. Trotzdem schließe ich es nicht aus.«

»Du meinst, wir haben möglicherweise noch Handlungen ausgeführt, als wir schon nicht mehr bei Sinnen waren?«

»Ich kann es dir nicht sagen, solange ich nicht weiß, was überhaupt vorgefallen ist. Und um es herauszufinden, brauchen wir Sesha. An der KI führt kein Weg vorbei.«

»Dass sie schweigt, deutet darauf hin, dass es sie auch erwischt hat – oder?«

»Wie immer ›erwischt‹ zu definieren ist.«

Scobee zeigte erneut auf Jarvis’ Platz. Und während sie es tat, überwand sie die Distanz dazu und bückte sich, als würde sie auf dem Boden der Sitzkonstruktion nach etwas suchen.

»Was tust du?«, fragte Cloud.

»Ich schaue nach, ob er nicht doch da ist.«

»Du meinst…?«

»Als amorphe Masse – als Nanopfütze… Es wäre nicht das erste Mal.«

Cloud wunderte sich, dass er selbst noch nicht darauf gekommen war. »Und?«

Kopfschüttelnd richtete sie sich wieder auf. »Nichts. Kein Krümel.«

»Dann wollte er die Zeit bis zu unserem Erwachen vielleicht nutzen, um nach dem Rest der Besatzung zu sehen. Nach den Angks…«

»Möglich.«

»Du glaubst nicht dran?«

»Wir brauchen Sesha. Unsere Spekulationen bringen uns nicht weiter. Das Einzige, was wir tun können – was du tun kannst, solange sie sich nicht meldet, denn du hast die höchste Autorisation…«

»Ja?«

»Du könntest mit dem Schiff verschmelzen und versuchen, auf diese Weise Antworten zu erhalten. Vorrangig Antwort auf die Frage nach dem Grund für Seshas Schweigen. Aber auch die nach Jarvis’ Verbleib und der Befindlichkeit der übrigen Crew.«

Cloud verlor keine Zeit, Scobees Ratschlag zu folgen. »Sieh du derweil nach den anderen…« Er nickte zu den noch geschlossenen Sitzen hin. Dann tauchte er zurück in seinen eigenen und gab den Schließbefehl.



Je näher Jarvis kam, desto mehr schwand jede Ähnlichkeit des anvisierten Objektes mit dem Aquakubus, die er spontan in seine Entdeckung hineininterpretiert hatte. Als einzige Übereinstimmung entpuppte sich in der Tat die Quaderform, die aber, anders als bei Tovah’Zara, nicht nur mittels acht »Eckstationen« erreicht wurde, die energetische Dämme zum Zweck des Wasserrückhalts projizierten, sondern von Dutzenden zusätzlichen »Streben« und »Knotenpunkten« ergänzt wurden, deren Zusammenhalt wahrscheinlich über künstliche Anziehungskraft erreicht wurde. Anhand des verwendeten Metalls, der Farbgebung oder anderer Details ließ sich nicht auf die Herkunft des Gebildes rückschließen, zumal Jarvis immer noch im Unklaren über seine galaktische Position war. Nachdem er das Angksystem ausgeschlossen hatte, konnte es sich höchstens noch um ein benachbartes Sternensystem handeln, auch wenn ihm lichtjahrweite Transitionen bislang nur in den seltensten Fällen geglückt waren.

Das Konstrukt setzte sich aus Kugeln, Quadern und Rechtecken zusammen, wobei das Beeindruckendste daran seine zwar nicht mit Tovah’Zara vergleichbare, aber immer noch beachtliche Abmessung war. Jarvis’ Sensoren ermittelten Werte, die in der Lage gewesen wären, einen Planeten von Merkurgröße zu umschließen.

Ob die einzelnen Komponenten bewohnt waren, war von außen nicht erkennbar. Möglich schien es, dass sie Lebensformen beherbergten, wen auch immer.

Jarvis überlegte, ob er einen Sprung ins Innere eines der großen Eckpfeiler riskieren sollte, aber im Innern mochten Bedingungen herrschen, denen selbst seine Widerstandsfähigkeit nicht die Stirn bieten konnte. Seine Intuition tippte eher auf Energieerzeuger als auf Behältnisse, die Lebewesen vor den widrigen Bedingungen des Weltraums schützten. Aber wofür genau diese Konverter Energie erzeugten, blieb ebenso rätselhaft wie alles andere.

Wie das größte Rätsel überhaupt: Wo bin ich – und wo ist verdammt noch mal die RUBIKON abgeblieben?!?

Während er in Sichtweite des Gebildes schwebte, von dem sich letztlich herausgestellt hatte, dass es wesentlich kleinere Dimensionen hatte als der Aquakubus und nicht einmal ansatzweise Wassermassen umschloss, setzte er pausenlos seine Funksignale ab. Bislang ohne jede Resonanz.

Doch das sollte sich ändern.



Im Idealfall spürte Cloud die Bord-KI sofort, nachdem die neuronale Verknüpfung seines Gehirns mit dem Schiff hergestellt worden war. Sesha hatte der RUBIKON ihren Stempel selbst den verborgensten Dingen und komplexesten Systemen aufgedrückt. Und auch bei seinem Erwachen aus der Ohnmacht war er sicher gewesen, die Präsenz der KI zu fühlen – sie hatte nur nicht auf sein Verlangen reagiert, in direkten Kontakt mit ihm zu treten.

Aber rückblickend war Cloud sich dann doch nicht mehr so sicher, ob er die empfangenen Schwingungen tatsächlich richtig gedeutet hatte. Umso erleichterter war er, als sich nach Schließen des Sarkophagdeckels augenblicklich das vertraute Gefühl einstellte, der KI nahe zu sein.

Obwohl…

Etwas schien anders geworden zu sein, sich verändert zu haben. Was genau ihn störte, vermochte Cloud nicht zu sagen – noch nicht jedenfalls.

Sesha? Sesha – antworte! Ich bin dein Commander. Du musst gehorchen!

Sein mentaler Appell fruchtete ebenso wenig wie die vorausgegangenen Versuche, woraufhin Cloud seinen Geist durch das Geflecht künstlicher Adern jagte, das die RUBIKON durchzog. In einem Tempo, das ihm in persona – also physisch – nicht einmal annähernd möglich gewesen wäre, suchte er zunächst die exponierten Orte auf, von denen er sich Nervenberuhigung erhoffte: das Angkdorf, den hydroponischen Garten, Pseudokalser, den Cy-Memorial-Park – allesamt Bereiche des Schiffes, wo sich im Regelfall die meisten Besatzungsmitglieder aufhielten. Und darum ging es vorrangig: sich schnell einen Überblick über den Gesundheitszustand und die Einsatzfähigkeit der Crew zu verschaffen. Solange er sich nicht vom Gegenteil überzeugt hatte, rechnete Cloud lieber mit dem Schlimmsten.

Doch zu seiner grenzenlosen Erleichterung präsentierte sich die Situation bei den Angks ähnlich wie in der Bordzentrale: die Straßen vor den Quartieren waren gefüllt mit Menschen, die entweder gerade aus ihrer Ohnmacht erwachten und sich aufrappelten – oder schon eine Weile wieder bei sich zu sein schienen und sich um jene kümmerten, die es ärger getroffen hatte. Bis auf ein paar Schrammen und Platzwunden bemerkte Cloud bei seiner Kundschaftung, die von den Angks unbemerkt blieb, weil er mit den Sensoren auf sie blickte, derer sich sonst nur Sesha bediente, nichts.

Jarvis hielt sich nicht bei den Angks auf. Damit wollte Cloud sich aber nicht zufriedengeben und wandte sich deshalb aus dem Off an die Bewohner des Dorfes, befragte sie nach dem Vermissten.

Keiner konnte ihm die Frage nach Jarvis’ Verbleib beantworten. Dafür bedrängten sie Cloud, ihnen zu sagen, was vorgefallen war. Er vertröstete sie auf später, versprach aber, sie nicht länger als nötig im Ungewissen zu lassen.

Erst muss ich mir selbst einen Überblick verschaffen. Ohne Seshas Assistenz merke ich erst, wie viel sie uns sonst abnimmt.

Cloud wechselte zunächst zum hydroponischen Garten, wo er Jelto ins Gespräch mit Alcazar vertieft antraf. Mensch und Arachnide zeigten einen Grad der Erregung, der nahelegte, dass wohl auch sie vorübergehend außer Gefecht gesetzt gewesen waren.

Von Jarvis keine Spur.

Cloud begab sich mental nach Pseudokalser und nutzte die dortigen Systeme, die sowohl die Holotechnik und die Arbeit der Dimensatoren als auch die Umweltbedingungen kontrollierten. Reale Personen konnte er nicht entdecken, nicht im Baumdorf am Schrund, nur die »Hologespenster«, wie Cloud die Nachahmungen von Jiims längst verstorbenen Freunden nannte.

Der Vollständigkeit halber suchte er auch noch das Cy Memorial auf, obwohl er sich davon am allerwenigsten versprach. Er kam gerade an, als ihn eine Nachricht erreichte, die eine Weiterführung der Suche unnötig machte.

Über die Antennen der RUBIKON erreichte ihn ein Funkspruch mit der unverwechselbaren Signatur von Jarvis.

Cloud eruierte sofort die exakten Koordinaten, von denen das Signal abgestrahlt wurde – und war völlig konsterniert, als er erkennen musste, dass sie aus einer Entfernung von mehreren Milliarden Kilometern eintrafen.

Das erklärte, warum er Jarvis vergeblich an Bord gesucht hatte – aber nicht, wie und warum er dorthin gelangt war.

Ohne Jarvis’ Rufe zu beantworten, übernahm Cloud die Steuerung der RUBIKON und brachte sie auf Rendezvous-Kurs mit der Quelle der empfangenen Signale.