Wilhelm R. Vogel, Biologe an der Universität Wien und danach 30 Jahre in der Umweltverwaltung tätig. Aufgewachsen in Baden, wohnhaft in Wien, verheiratet, zwei Kinder und zwei Enkelkinder. Hobbys: Lesen, Reisen und Kochen, später auch Schreiben. 2009 wurde die erste Kurzgeschichte veröffentlicht, 2018 folgte der erste Roman.

Vom gleichen Autor:

Der Lockruf des Pirols oder ein September im Leben des Julius Wondraschek. 2018 in Wien bei myMorawa erschienen.

Weitere und aktuelle Informationen finden Sie auf meiner Homepage: www.wrvogel.eu

Nicht der Jüngling ist glücklich zu preisen,
sondern der Greis, der gut gelebt hat.

Epikur von Samos (341 - 271 v. Chr.),
griechischer Philosoph

Wilhelm R. Vogel

Unerwartetes

Unsentimentalische Kurzgeschichten aus der zweiten Lebenshälfte

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Späte Jugend

Der graue Mayer

Nette Leute in der Sauna

Linda und Maud

Briefe an Eleonore

Ein altmodischer Brief

Der alte Schutzengel von der Hochebene

Die alte Frau und die Löwen

Die alte Ratte

Venezianischer Nebel oder der Sinn des Lebens

Linda ist sieben

Das unerwünschte Paket

Die letzten Tage

Heimliche Liebschaft

Navigationshilfe

Vom Nutzen der Pilze

Der alte Fuchs

Eine geheimnisvolle Frau

Der Apfel und der Wissenschaftler

Juwelendiebe in Ayia Napa

Die Sündenbockfirma

Der heilende Berg

Die Insel

Rückfahrkarte

Das Hotelzimmer

Der Krallenring

Vorwort

Man wird älter, und das geschieht, ohne dass man etwas dazu beiträgt. Mit vierzig bekam ich von der Gemeinde Wien die Aufforderung, zu der jährlichen Vorsorgeuntersuchung zu gehen, was ich ganz in Ordnung fand. Eifrige MitarbeiterInnen hatten auch einen Prospekt von „Essen auf Rädern“ beigelegt, das schien mir dann doch etwas übertrieben.

Für die Generation 50 plus gibt es ein reichhaltiges Angebot. Geht man den so ausgepriesenen Produkten nach, so findet man Kurse und andere Veranstaltungen, die aber typischerweise tagsüber stattfinden. Allerdings haben viele Menschen mit dem Erreichen des 50. Lebensjahres noch mindestens weitere fünfzehn Jahre zu arbeiten. Termine um 10 Uhr vormittags sind da nicht drinnen.

Kurz nach meinem 50. Geburtstag fiel mir eine Broschüre in die Hände, der Titel war „Mobilität mit 50 plus“. Natürlich war ich neugierig: Was hatte man da für mich anzubieten? Ich fand ein breites Angebot von Treppenliften, Rollatoren und Rollstühlen. Aber die Realität des Älterwerdens ist eben sehr unterschiedlich. Ich habe schon sehr alte Fünfzigjährige und noch sehr junge Achtzigjährige kennengelernt. Auch altern Körper und Geist nicht immer gleich schnell.

Sechzig ist eine weitere magische Grenze; und die Pensionierung ein wesentlicher Einschnitt.

Ich bin der Meinung, man sollte jedes Alter als das nehmen, was es ist: als einen Lebensabschnitt mit seinen besonderen Eigenschaften und Qualitäten. Im Deutschen spricht man von Senioren, und verbindet damit immer mehr eine vor allem auch kaufkräftige und reiselustige Generation. Der französische Ausdruck trifft es vielleicht noch besser, troisième âge, das dritte Alter, dem auch noch das quatrième âge der „Uralten“ folgt.

Die folgenden Geschichten erzählen von Menschen in der zweiten Hälfte ihres Lebens – also von etwas älteren, alten und sehr alten Frauen und Männern. Das umfasst den Umgang mit Demenz ebenso wie Kurzkrimis, in denen ältere Menschen eine Hauptrolle spielen.

Ich bedanke mich bei meiner Familie für ihr Verständnis und für ihre Unterstützung, bei Maria Deweis für das bereits bewährte und akribischverständnisvolle Lektorat, bei meiner Schwester Ursula Vogel für die wertvollen Gespräche über den Inhalt, bei meiner Tochter Lena Grafeneder für die Gestaltung des Covers und bei Manfred Greisinger (www.stoareich.at) für seine professionelle Beratung.

Ihnen wünsche ich viel Freude beim Lesen. Wenn Sie sich für meine weiteren Arbeiten interessieren, besuchen Sie mich unter www.wrvogel.eu

Wilhelm R. Vogel

Wien, Oktober 2018

Späte Jugend

„Sebastian, weißt du was Glück ist?“ Igor hielt die Augen geschlossen. Das Mobiltelefon verschwand fast in seiner großen Hand. „Glück ist ein kilometerlanger Sandstrand – mit hohen Wellen und einer Dünung, die weit hinauf auf den Sand läuft. Glück ist, wenn die Wellen Krabben und anderes Kleingetier vor sich herspülen, und Glück ist, wenn man mit Maria unter Palmen liegt.“

Igor machte eine Pause. „Heiß ist es, und oft recht schwül. Aber hier im Schatten kann man es aushalten. Ja, Maria gefällt es. Sie ist schon wunderbar braun. Auch ist sie eine Wasserratte. Ich habe sie heute kaum herausgebracht. Jetzt liegt sie neben mir auf dem Bauch und erholt sich vom Schwimmen. Weit draußen waren wir heute. Trotz der Strömung. Nein, Angst hatten wir keine. Gestern waren wir übrigens tanzen. Sie war der Star des Abends. Alle haben nur zu ihr hingesehen. Kein Wunder, dass ich fast eifersüchtig geworden wäre. Morgen machen wir einen Rundflug von Mombasa zum Kilimanjaro und über den Nationalpark zum Lake Natron und zum Hufeisenkrater. Du weißt ja, ich habe den Pilotenschein.“

Maria sah zu Igor hinüber. Trotz seines hohen Alters klang seine Stimme immer noch tief und fest. Vor langer Zeit war er einmal Radiosprecher gewesen. Jetzt gingen ihm seine Haare büschelweise aus, sein Bauch war aufgebläht und unter dem gesteppten Morgenmantel kamen spindeldürre und fast schneeweiße Beine zum Vorschein.

Maria stützte sich auf ihren Rollator, den sie vor die Bank geschoben hatte. Das Wägelchen, das sie beim Gehen immer vor sich herschob, enthielt alle Behältnisse die, über Schläuche mit ihrem Körper verbunden, dessen Ver- und Entsorgung dienten. Wie alle anderen in dem Pflegeheim trug auch sie einen gesteppten Morgenmantel. Ihre Füße waren geschwollen und von dunklen Flecken übersät. Aber was spielte das schon für eine Rolle?

„Kannst du wirklich fliegen?“

Igor nickte.

„Mein Held!“, sagte Maria, dann schloss sie die Augen und lauschte Igor, der jetzt von einer Kanufahrt im Süden Kanadas erzählte. Schon als Kind hatte sie davon geträumt, im Indianersommer über die Großen Seen zu fahren. Sie atmete tief ein und spürte die feuchte, kühle Luft in ihren Lungen. Es war ruhig hier draußen am See. Nur Igors Stimme war zu hören. Er beschrieb Sebastian die schneebedeckten Berge, die jetzt am Horizont auftauchten.

Das Mobiltelefon hatte sie ihm vor einer Woche geschenkt. Das Gerät war irreparabel defekt und sie wollte es wegwerfen. „Schenk es mir!“, hatte Igor gesagt. Er war neu angekommen und sie hatten bis dahin nur einige Worte gewechselt. Als Maria zögerte, hatte er sie gefragt: „Was willst du dafür?“

„Noch einmal jung sein!“ Es hätte ein Scherz sein sollen, doch die Bitterkeit in ihrer Stimme hatte sie selbst erschreckt. Igor aber hatte das Mobiltelefon an sich genommen.

Von Kanada waren sie nach Nizza geflogen und jetzt saßen sie in der untergehenden Sonne am Strand. „Maria hat heute beim Tauchen ihren ersten Hai gesehen. Jetzt lehnt sie ihren Kopf an mich. Ihr Haar riecht nach dem Meer. Am Abend will sie sich einen String-Tanga kaufen, wie ihn die anderen jungen Frauen hier tragen.“

„Igor!“, Maria bemühte sich, ihre Stimme streng klingen zu lassen. „Wir müssen jetzt zum Abendessen gehen.“

„Sebastian, ich muss jetzt aufhören. Wir sind um sechs im Casino verabredet!“

„Du strahlst so, hast du heute etwas Schönes erlebt?“ Vesna, die im Speisesaal das Geschirr wegräumte, sah Maria fragend an.

„Vesna, warst du schon einmal in Afrika?“

Vesna schüttelte den Kopf.

„Ich schon“, Maria lächelte „… und in Kanada … und in Nizza!“

Erstmals veröffentlicht als: Späte Jugend. 2011 in „Ein Hauch von Herbst“ S. 71–73. Wendepunkt Verlag, Weiden. http://www.wendepunkt-verlag.de/ ISBN 978-3-942688-22-2

Der graue Mayer

Der Mayer war schon etwas älter und er fiel niemandem auf. Hätte man ihm eine Farbe zugeordnet, so wäre es ein mittleres Grau gewesen. Er war einfach da, trug immer den gleichen, unglaublich schlecht sitzenden grauen Anzug, ein graues Hemd und eine verwaschen-pastellfarbene Krawatte. Er sortierte Akten, machte Kopien, erledigte Botengänge und brachte notfalls auch den Kaffee.

Attraktiv war er nicht, da waren sich seine Kolleginnen einig. Seine langen Haare, der ungezähmte Bart und der verwachsen wirkende Körper ließen ihn als ein Relikt aus der Vergangenheit erscheinen. Auch schien er nicht besonders hell zu sein. Mira Mirelli hatte ihn einmal Stundenlisten kopieren lassen und mit verschwörerischer Miene behauptet, die Zahlen wären der neue Geheimcode für das Atomwaffenprogramm. Mit wichtiger Miene und erkennbar nervös war der Mayer danach herumgegangen, hatte jedem den Grund für seine Nervosität verschwiegen und erst dem Boss, den Mira Mirelli schließlich eingeweiht hatte, den Grund für sein Verhalten gestanden. Mira hatte daraufhin einen Rüffel für unkollegiales Verhalten einstecken müssen, auch wenn der Boss dabei ein Schmunzeln nicht ganz unterdrücken hatte können.

Beim Betriebsausflug meinte Dorothea Kurz zur vorgerückten Stunde, sie würde den Mayer so wenig wahrnehmen, dass sie sich neben ihm ausziehen würde, ohne ihn zu bemerken. „Wie wenn kein Mann da wäre“, hatte sie geulkt, und die anderen Frauen hatten prustend zugestimmt. „Aber er ist ideal für den Job, den er zu machen hat“, griff Mira Mirelli wieder einmal ihr Lieblingsthema auf. „Du lässt ihn einen Plan für ein neues Satellitennavigationssystem kopieren und sagst, es wäre für einen Staubsauger. Alles, was er ausplaudern könnte, wäre die Sache mit dem Staubsauger. Das nenne ich top secret!“ Wieder prustendes Lachen. Sogar der Boss lächelte zustimmend. Es war ein unterhaltsamer Abend.

Obwohl es im Betrieb Gleitzeit gab, betrat der Mayer in den drei Monaten, die er bereits hier arbeitete, morgens immer zur selben Zeit die Firma. Irgendjemand hatte die Vermutung geäußert, dass es jeden Tag exakt um sieben Uhr dreißig wäre, worauf der Boss die Zeitaufzeichnungen überprüfen ließ: sieben Uhr dreißig, keine Ausnahme, keine Minute früher oder später. Offensichtlich kam er stets etwas vor der Zeit und wartete. Zwanghaft, aber völlig harmlos. Der Betriebsarzt kannte das Phänomen. Es passte zum Bild, welches alle von dem Mayer hatten.

Täglich zur gleichen Zeit verließ er die Firma, kaufte jeden Tag im gleichen Geschäft ein und ging nach der Arbeit auf dem gleichen Weg nach Hause. Zu allen war er freundlich. Er wohnte alleine und war auch in der Firma mit niemandem befreundet.

Eifrig war der Mayer, das musste man ihm lassen. Bestellte man drei Kaffee, kam er oft mit vier. „Falls doch einer mehr käme“, rechtfertigte er sich dann – zum Gaudium der übrigen Mitarbeiter. Auch bei den Kopien machte er manchmal eine zu viel. Diese musste zuerst protokolliert und dann vernichtet werden, was allerdings etwas Verwaltungsaufwand mit sich brachte. Schließlich war man ein Rüstungskonzern und das Zeug war alles streng geheim.

Aus Gründen der Sicherheit gab es eine strenge Überprüfung des Personals. Mira Mirelli beispielsweise durfte die Räume höherer Sicherheitsstufen nicht betreten. „Nicht in hundert Jahren“, hatte der Sicherheitschef gemeint, und da nützte es auch nichts, dass sie außergewöhnlich klug war und verdammt attraktiv aussah.

„Das verstehe ich nicht!“, murmelte der Mayer an diesem Morgen vor sich hin. Kopfschüttelnd und mit hängenden Schultern stand er vor der Tür und führte immer wieder seine Karte ein. Aber die Tür wurde nicht freigegeben. Die Chefin des Hochsicherheitslabors, die aus ihrem nebenan gelegenen Büro seine Bemühungen beobachtet hatte, ließ ihn schließlich ein. Auch sie versuchte seine Karte, aber irgendetwas, vermutlich ein starkes Magnetfeld, hatte den Code gestört. Genervt drückte sie ihm ihre Karte in die Hand, damit er einen fehlenden Akt aus dem Archiv holen konnte. Natürlich hatte sie keine Zeit mitzugehen, wie es Vorschrift gewesen wäre. Sie hatte Wichtiges zu tun – und es war ja nur der Mayer. Dennoch registrierte sie zehn Minuten später – oder waren es zwanzig Minuten gewesen? – mit Erleichterung, dass er ihr die Karte auf den Schreibtisch legte. Mit ihrer Karte konnte man schließlich die Räume der höchsten Sicherheitsstufe betreten. Zum Glück hatte er sie nirgends liegen lassen.

Als der Mayer an diesem Tag die Firma verließ, stolzierte Mira Mirelli vor ihm in Richtung Ausgang. Sie trug eine große Tasche und schwang herausfordernd ihre Hüften, was den Mayer so verwirrte, dass ihm sein Aktenkoffer zu Boden fiel. „Das ist ein ganz Gefährlicher – tun Sie Ihre Pflicht!“, forderte sie mit herablassendem Blick den jungen Mann von der Security auf, und versuchte, sich an diesem vorbei zum Ausgang zu drängen. „Ich habe es eilig, mein Verlobter erwartet mich“, fügte sie knurrend hinzu, als ihr der Wachposten den Weg nicht sofort freigeben wollte. Aber anstatt sie durchzulassen, winkte dieser den Mayer durch und begann langsam und penibel Miras große Tasche zu untersuchen.

Drei Stunden später gönnte sich der Mayer, in seinem Reisepass stand allerdings ein anderer Name, den ersten Whisky seit drei Monaten. Der kunstvoll schief geschnittene graue Anzug lag zuunterst in seinem Koffer. Jetzt trug er einen perfekt sitzenden schwarzen Maßanzug, war glatt rasiert und hatte den Kopf kahl geschoren. Mit seiner gebräunten Haut, da hatte er allerdings mit etwas Farbe nachgeholfen, sah er aus wie der Prototyp eines erfolgreichen Geschäftsmannes. Nicht einmal seine engsten Kollegen in der Firma wären in der Lage gewesen, ihn auf einer der Überwachungsaufnahmen des Flughafens zu erkennen. Mit einer Ausnahme allerdings, an die er unentwegt dachte.

Aus dem Flugzeugfenster warf er noch einmal einen Blick auf das Firmengelände, das er nie mehr betreten würde und in dem ihm als Tor, den niemand ernst nahm, jedes Tor offen gestanden hatte. Er schmunzelte über diesen Kalauer und trank auf seinen letzten Arbeitstag sowie auf die nicht unbeträchtliche Menge Geld, die sie verdient hatten. Mit den Plänen, die er an diesem Vormittag kopiert hatte, würden nochmals ein paar hunderttausend Dollar dazukommen.

In der kommenden Woche galt es, das neue Haus herzurichten, dann würde seine Frau nachkommen. Ein gleichzeitiges Verschwinden wäre zu auffällig gewesen. Nicht schlecht ihr Hüftschwung von vorhin, erinnerte er sich sehnsuchtsvoll, während er eindöste.

Nette Leute in der Sauna

„Also erzählen Sie, nehmen Sie sich ruhig Zeit dafür.“ Der dicke Kommissar lehnte sich in seinem Sessel zurück und betrachtete das Paar, das vor ihm saß. Interessant, wie ähnlich sich so alte Eheleute werden. Auch wenn sie klein und dick, er hingegen sehr lang und hager war, so hatte ihnen das gemeinsame Leben die gleichen Lachfalten ins Gesicht geschrieben. Aber ihre Augen verrieten, dass sich ihnen das Leben nicht immer von der schönen Seite gezeigt hatte.

Die Gedanken der alten Frau kreisten um den Abend des vergangenen Tages. Sie hatten die kleine Privatsauna, die sie mit ihrem Mann betrieb, schon abschließen wollen, als die beiden jungen Leute Einlass begehrten. Er war etwa dreißig, kräftig gebaut mit einem Anflug von Fettleibigkeit und mit einem schwarzen Anzug bekleidet; sie hingegen war schlank, rothaarig und trug einen kurzen Rock und hochhackige Schuhe. Die Kleidung und der Schmuck der beiden schien um Vieles teurer, als sie es sonst von den Saunabesuchern gewohnt waren – und beide hatten getrunken. Viel getrunken.

Ihren Mann, der die beiden nicht mehr einlassen wollte, schob der Kerl einfach zur Seite. Gar nicht böse oder aggressiv, sondern in der Art eines Menschen, der sich nicht vorstellen kann, dass andere auch ihre eigenen Vorstellungen haben. Die junge Frau lachte dazu, als wäre es ein guter Witz gewesen. „Du bist urcool, Bär!“, schmeichelte sie ihm.

Obwohl sie mit ihrem Mann noch im Umkleideraum stand, um die beiden, da sie schon einmal da waren, nach ihren Wünschen zu fragen – einiges an Getränken lag noch im Kühlschrank und ein kleiner Imbiss wäre schnell gemacht – begann die Rothaarige sich auszuziehen. Ein wenig wankend streckte sie ihre Brüste dem alten Mann entgegen: „Na das wäre wohl etwas anderes als die vertrockneten Titten deiner Alten.“ Dabei lachte sie wieder, so wie zuvor, und diesmal stimmte auch der Kerl, den sie ‚Bär‘ genannt hatte, ein. „Wodka“, forderte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, „Wodka ist in der Sauna immer noch das Beste, vor allem nach einem erfolgreichen Spielchen.“ Nachlässig warf er seinen Aktenkoffer in den Spind. Der kleine Schlüssel, den er um den Hals trug, schien zu diesem Koffer zu gehören.

Die alte Frau war froh, dass sie noch eine Flasche Wodka im Kühlschrank wusste, die ihr Mann schweigend holen ging. Auch wenn es ihr Beruf mit sich brachte, dass sie zwischen nackten Menschen herumgingen, so war es doch diesmal etwas völlig anderes, als die beiden splitternackt im Raum standen – sie konnte selbst nicht sagen, worin dieser Unterschied bestand.

Der ‚Bär‘ trank die beiden Wodkagläser mit einem Schluck aus und warf sie dann in hohem Bogen in eine Ecke des Raumes, wo sie klirrend zerbrachen. „Was soll ich mit dem Zeug? Gib die ganze Flasche her!“ und er nahm auch daraus noch einen großen Zug. „Dein Glück, dass der kalt ist, aber wenn die Flasche leer ist, will ich noch eine.“

„Das ist die Letzte!“ Der alte Mann stand aufrecht vor ihm und sah ihm ungerührt in die Augen. Seine Frau spürte, wie sich ein Gefühl in ihr breitmachte, wie sie es aus der ersten Zeit ihres Zusammenseins so gut kannte.

„Dann dreh ich dir den Hals um und den deiner fetten Alten gleich mit!“

Die junge Frau lachte wieder auf, diesmal noch schriller als vorher, und sie griff sich ebenfalls die Flasche. Während sie sich zurücklehnte, drehte sie dem alten Mann ihr Geschlecht zu und fuhr mit dem Mittelfinger der linken Hand darüber, während sie mit den Hüften wackelte. Das erheiterte sie so, dass sie sich beim Trinken verschluckte.

Der ‚Bär‘ riss ihr die Flasche aus der Hand und gab ihr einen Schlag auf den Hintern, dessen eine Hälfte augenblicklich eine tiefrote Farbe annahm.

„Räumt die Scherben weg!“, fuhr er die beiden alten Leute an, „und besorgt auch noch Kaviar, sonst reiß ich die Bude zusammen. Wir gehen jetzt schwitzen. In einer halben Stunde! Versteht ihr? In einer halben Stunde!“

„Wir werden unserer Bestes tun!“, der alte Mann verbeugte sich vor den beiden. „Ich hoffe die Temperatur ist so angenehm!“ Er drehte den Temperaturregler auf volle Leistung. Und wieder verbeugte er sich. Die alte Frau erinnerte sich noch an ihre Gänsehaut, als sie die Augen ihres Mannes gesehen hatte.

„Also erzählen Sie uns jetzt bitte, was geschehen ist!“ Die Stimme des Beamten, die sie aus ihren Erinnerungen gerissen hatte, ließ keine Spur von Ungeduld erkennen.

„Es war schon ziemlich spät“, begann die alte Frau, „als die beiden geläutet haben. Zuerst wollten wir sie gar nicht herein lassen, aber dann haben sie uns so nett gebeten, dass wir doch schwach geworden sind. Bei Liebespaaren werde ich überhaupt leicht schwach. Da erinnere ich mich immer an früher.“ Sie warf ihrem Mann einen zärtlichen Blick zu.

„Lasst euch ruhig Zeit, haben wir ihnen gesagt. Die beiden waren so nett, dass wir dachten, wir können sie ruhig alleine lassen. Sie waren ja doch zu zweit. Wenn nur einer alleine in der Kabine ist, sind wir aber immer ganz in der Nähe. Könnte ja sein, dass jemandem schlecht wird. Wir haben ihnen noch gezeigt, wo sie die Temperatur einstellen können, die haben sie dann auf ganz heiß gedreht, und dann sind sie in die Sauna. Sie haben auch gebeten, ob sie die Flasche mit dem Wodka mitnehmen dürfen. Nur kurz, haben wir gesagt, nicht wenn ihr länger drinnenbleibt, so zum Aufguss und so. Dann sind wir gegangen. Wir haben ja diese Klingel im Ruheraum, mit der sie uns jederzeit rufen können. Und unsere Wohnung ist gleich daneben. Ja, und vor dem Weggehen hab ich noch hineingesehen und ihnen kurz gewinkt. Dabei muss es passiert sein. Meine Füße sind am Abend meist sehr geschwollen und ich schlurfe über den Boden, dabei muss ich den Keil, der sonst zum Offenhalten der Tür dient, so unglücklich angestoßen haben, dass er zur Tür hin gerutscht ist.“

An dieser Stelle barg die alte Frau ihr Gesicht in den Händen und verharrte eine Zeit lang in dieser Stellung. „Schrecklich!“, sagte sie schließlich und nahm die Hände vom Gesicht. Ihr Mann nickte.

„Ja, ein schrecklicher Unfall!“ Der Kommissar war aufgestanden und ging langsam im Raum auf und ab. „Der Mann war übrigens ein bekannter Spieler, der ein Vermögen ererbt hatte und es langsam durchbrachte. Sie war seit einigen Monaten seine Freundin.“

Es war der alte Mann, der diesmal das Wort ergriff: „Das ist für uns kein Problem mehr. Wir sind alt genug, haben uns etwas erspart und sperren jetzt zu. Nach diesem Schreck gehen wir in Pension.“

„Das ist eine gute Idee, nach all dem haben Sie das umso notwendiger.“

„Werden Sie uns noch brauchen?“ Sie hatten das fast gleichzeitig gefragt.

Der Kommissar schüttelte den Kopf. "Nein, der Fall ist klar!"

Mit gesenkten Köpfen verließen die beiden alten Leute das Kommissariat. Ein bedauernswertes Paar, das in seinen abgetragenen Kleidern durch die Stadt ging und so ganz anders wirkte als die beiden Leute, die zwei Monate später in einem Viersternhotel auf Gran Canaria gut gelaunt auf das Wohl ihrer ehemaligen Kunden anstießen, vor allem auf das Wohl der letzten beiden Kunden, die ihnen in einem Aktenkoffer ein Vermögen hinterlassen hatten. Den Holzkeil mit den von der Polizei unbeachteten Hammerspuren auf der Flachseite hatten sie als Glücksbringer mitgebracht.

Erstmals veröffentlicht als: Nette Leute in der Sauna. 2012. In: Doch plötzlich war es Mord. S. 52–55. Wendepunkt Verlag, Weiden. http://www.wendepunkt-verlag.de/ ISBN: 978-3-942688-36-9