A selle Wosserloch do unten. [Ein solches Wasserloch da unten.]

Sie meint den Teich im Altenheim.

Do isch mir olles fremd. [Da ist mir alles fremd.]

Dabei wird es nun das dritte Jahr, das sie hier ist.

A selle longer Kietl, sein de iazt wieder modern? Und de longen Hoor, sein woll a lei worm im Summer, odr? [Ein so langer Rock, ist so etwas wieder modern? Und diese langen Haare, die sind doch nur warm im Sommer, oder?]

Es ist Anfang Oktober und eher kühl.

In galing wer i holt miasn giahn. [Bald werde ich halt gehen müssen.]

Wohin, frage ich.

Wo i holt amerscht gwesn bin. [Wo ich halt vorher war.]

Wo warst du vorher?

I woas es selber nimmor. [Ich weiß es selbst nicht mehr.]

Prunzn noat hon i. [Ich müsste dringend aufs Klo.]

Des war a praktischer Boden, gschwind gwischt und olm sauber. [Das wäre ein praktischer Fußboden, schnell gewischt und immer sauber.]

I dor sitzes nimmor! [Ich kann nicht mehr sitzen!]

Im Wintergarten mit großer Fensterfront sitzen wir, mit Sicht zur Kreuzkirche, darunter die Hauptstraße durch Lana.

Wo sein mir denn do? [Wo sind wir denn hier?]

Wo sein mir denn do? [Wo sind wir denn hier?]

Wo bin i denn do? [Wo bin ich denn da?]

Wo sitzn mir do? [Wo sitzen wir hier?]

Wo bin i, kenn i des? [Wo bin ich, kenn ich das hier?]

Wo sein mir do? [Wo sind wir hier?]

Auf der Stroß fohr i wianig! [Auf dieser Straße fahre ich wenig!]

Vor dir ist die Kreuzkirche, da sind wir immer zur Messe gegangen.

Na i geah net do or kirchen, i geah lei bei die Kapuzienor! [Nein, ich gehe nicht hier zur Kirche, ich gehe nur bei den Kapuzinern!]

I geah a sunsch nirgends meahr hin, i find jo nimmor huam. [Ich gehe auch sonst nirgendwo hin, ich finde ja nicht mehr heim.]

Ja, das ist auch besser, du findest wirklich nicht mehr heim.

Huam find i olm nou. [Nach Hause finde ich immer noch.]

Isch des a Sea? A selle Loch. [Ist das ein See? Ein solches Loch.]

Einundneunzig bin i. Zem bin i ober olm no guat. [Einundneunzig bin ich. Da bin ich aber immer noch gut.]

Mach dir keine Sorgen. Du bist wirklich gut beieinander.

Na fohrn sunsch a so Auto, dass es lei a so wommelt. [Nein, so viele Autos fahren da unten, dass es nur so schwirrt.]

Sunsch isch net a so a groaßer Unterschied, lei, dass man so viel vergessn tuat. [Ansonsten ist kein so großer Unterschied, nur, dass man so viel vergisst.]

Des isch ah nix meahr, wenn man olls vergisst, i muass amol aufschtian. [Das ist auch nichts mehr, wenn man so viel vergisst, ich muss einmal aufstehen.]

In kurzen Abständen steht sie auf, trippelt herum, setzt sich, steht auf. Trippelt. Das blau-weiß-geblümte Kleid ist sauber und nett. Es hängt an ihr, wie der Altenheim-Geruch, der vom Altbau in den Neubau übernommen wurde. Gerüche lassen sich nicht von Neubauten abschrecken.

Des Wosser gfollt mir net, des mocht mi schwarmiatig, des schworze Loch do unten. [Das Wasser gefällt mir nicht, das macht mich schwermütig, dieses schwarze Loch da unten.]

Ich versuche, mit ihr, ihre Geschwister nach Alter aufzuzählen. Eine Ewigkeit dauert es. Wir haben Zeit. Sie hat sie, ich nehme sie mir.

Alle in Steinhaus im Ahrntal geboren. Jedes Jahr ein Kind. Wie viele? An was erinnerst du dich? Franz war musikalisch, das ist alles, was ihr dazu einfällt. Franz, ein Trinker, dessen Leben mit einem Sturz von der Treppe des Heustadels endete. Franz, der sich noch in den als Gaststätten getarnten Wärmestuben aufwärmte. In Rudl hon i nia gmeg, er wor stur und eigensinnig, hot olm gwellt recht hom. Isch jung in Kriag eingruckt und nimmor kemmen, ober er hot a schneidiges Auftreten kopp und hot gern Ziachorgl gspielt. [Den Rudolf mochte ich nie, er war stur und eigensinnig, wollte immer recht haben. Ist jung in den Krieg gezogen und nicht mehr zurückgekommen, aber er hatte ein schneidiges Auftreten und spielte gerne Ziehharmonika.]

Ich weiß nichts von Rudolf. Kenne nur ein Foto, das eines feschen, jungen, markanten Mannes. In Schwarz-Weiß und als Soldat. Im Krieg gefallen, wie so viele und nichts Aufregendes für die Hinterbliebenen – außer Stolz bei den Eltern, einen tapferen Sohn gehabt zu haben. Gefallen für das Heimatland, nur für welches?

Sofl miade bin i. [So müde bin ich.]

Pfarrer Haspinger ist gestorben, sage ich.

Iazt isch er erleast. [Jetzt ist er erlöst.]

Und die Luise? De werd woll loadig sein, wenn’s so gach geaht? Nor kimp si umenen Plotz a no, wenn der Pforrer nimmor isch, nor lossn sie die Heiserin a giahn, wersch sechn. [Und die Luise? Der wird ihr fehlen, überhaupt, wenn es so schnell geht? Jetzt verliert sie ihre Arbeitsstelle auch noch, wenn der Pfarrer nicht mehr ist, dann lassen sie die Pfarrershäuserin auch gehen, du wirst sehen.]

Miade bin i. Die Fiaß tian weah. Bin gonz loadig, wor a netter Herr. [Müde bin ich. Die Füße tun mir weh. Mir fehlt er, es war ein netter Herr.]

Womit sie wirklich recht hatte, da Tante Luise nach dem Tod von Pfarrer Haspinger, dem sie seit ihrem achtzehnten Lebensjahr „diente“, in ihr Heimatdorf Steinhaus in eine Sozialwohnung abgeschoben wurde. Dorthin wollte sie nie wieder zurück. Die Erinnerungen waren zu negativ und traurig. Sie war die Auserwählte, die in „Pflege“ zu einer anderen Familie kam, aus Not der eigenen. Und sie kam zu einer Bäuerin mit strenger Hand und ohne Herz. Am anderen Ende des Dorfes. Deren Schicksal ihrer Kinderlosigkeit spürte Luise beinhart oder löffeldick. Der Blechlöffel unterm Tisch, der jedem zu Tisch Sitzenden zugewiesen war, erklärte die Hierarchie. Sie bekam keinen. Sie war ein Nichts. Sie war ein Hungerkind und dem ebenfalls angenommenen Sohn nie gleichwertig. Eine traurige, lange eigene Geschichte.

Luise, ihre Schwester, war Pfarrhäuserin. Ein Leben lang dem Herrgott und dem Pfarrer dienlich, und sie war lustig. Die lustigste und lebensfroheste von allen Geschwistern. Mit ihrer Berufswahl als Frau der Zeit weit voraus. Sie hatte eine Lebensform gewählt, die damals allen Respekt abverlangte und sie vor jeglichem Spott verschonte und des Verdachtes einer ledigen alten Jungfrau enthob. Sie hat heute noch, über 90-jährig, rote Bergwangen, ihr überaus fröhliches Lachen, ein gutes Gedächtnis und körperliche Fitness.

Sie hat wirklich ihr Wohnrecht bei der christlichen Kurie verloren und wohnte, wie gesagt, in einer der Gemeinde Steinhaus gehörenden Sozialwohnung, was immer das auch sei. Inzwischen lebt sie im Altenheim in Sankt Johann. Der Dorfwechsel hat ihr augenscheinlich gutgetan. Seitdem ist sie dankbar ruhig.

Luise wurde selten erwähnt, früher. Ein gewisser Neid auf ihre Unabhängigkeit und die verschiedenen Lebenswege hatten die Schwestern einander entfremdet. Die ganz große Schwesternliebe war es wohl nie zwischen den beiden. Oder auch allen. Sie wurden früh voneinander getrennt und das Familienband zerriss, bevor es geknüpft werden konnte.

Wie eine Auster, auf die man Zitrone träufelt, zieht sich das Leben zusammen. Zitrone träufeln, um zu sehen, ob man noch lebt.

Interesselos, jegliche Teilnahme am Nachmittagsprogramm des Hauses verweigernd, treffe ich sie im Gang, ihrem Gelände zum Wandern. Drei Jahre geht das nun schon so. Hunderte von Kilometern, immer diesen Gängen entlang, früher im alten Heim und jetzt im neuen. Im neuen Heim ist er lang und breit, mit Handlauf, Neonlichtern und Beobachtungskameras; im alten war er kurz und dunkel – übersichtlich auch ohne Kamera. Von früh bis spät gehen, gehen, gehen. Am Handlauf entlang, vor und zurück. Nur nicht stillstehen, nur nicht einhalten, nur nicht ausruhen. Nein, gehen, gehen, gehen, ohne Freude, ohne Gefühl.

Die Freude ist tot. Es interessiert sie nichts mehr, kein Radio, kein Fernseher, kein Foto, kein Gespräch und keine Fragen, nichts. Alles ist tot, nur die äußere Hülle lebt und wandert diesen Endlosgang auf und ab, sich am Holzhandlauf orientierend. Wenn der aufhört, hört auch dieser Gang auf, und dann heißt es umkehren. Sie kehrt ihr Leben um. Ein schmerzhaftes Hier auf Krücken gestützt, vornüber gebeugt. Der Wille ist gebrochen und mit ihm die Säule ihres Lebens, die Wirbelsäule des Aufrechtganges, eingeknickt auf dem allerletzten Lebensweg.

Noch nie habe ich so viel Zärtlichkeit für meine Mutter verspürt, wie jetzt, wie heute. Ein mir unbekanntes Gefühl gegenüber meiner Mutter, die mir immer fremd und unmütterlich vorkam. Jedenfalls nicht Mutter und nicht Liebe. Alle ungeweinten Tränen haben sich in ihren Rücken verkrochen, so gebeugt ist er.

Heini ist tot. Mein Zigaretten-Kopfweh-Jammer-Glücklos-Heini ist nicht mehr.

Zwei Jahre wartete er täglich auf mich. Wusste genau, an welchen Tagen ich komme und an welchen nicht, da wir ja in der Familie vereinbart hatten, dass jeder von meinen Brüdern eine Besucherwoche zu übernehmen hatte. Er wartete immer vor der Eingangstür, in den Stuhl gedrückt mit überschlagenen Dünnbeinen, die Zigarette im Mundwinkel und trostlosem Bettler-blick. Wartete auf die Zigaretten oder die kleine Spende, die ihm das Überleben erleichterte. Die gegerbten Hände und sein aschgraues Ledergesicht hatten bei mir leichtes Spiel. Immer war etwas fällig. Geld oder Zigaretten. Er wusste das genau. Etwas leuchtete in ihm.

Er kam mit auf die Bank im Park und erzählte von früher, und Mutter rammt mir ihren Ellbogen in die Seite. Ich sollte nicht mit anderen reden, das passte ihr nicht. Sie schimpfte: Loss den iazt, geah amol! [Lass den jetzt, geh weiter!]

Ein Knecht geblieben, immer von anderen abhängig. Brav und still sein und hier das Leben zu Ende bringen. Heini ist tot; der Wilma, einer anderen Heiminsassin ohne Anhang, nachgegangen, die genauso ein einsames, frustriertes, unglückseliges Leben hatte wie er und die er mit Seelenliebe betreute, bevaterte und bemutterte, bis sie mit ihrer Schwere vom Rollstuhl fiel und davonging. Heini und Wilma vereint im Irgendwo, wo der Sinn von alldem nicht mehr hinterfragt werden kann. Es ist gut so. Himmel ist überall.

Sie jammert nicht mehr. Sie ist ruhig und geht. Auf und ab. Gesenkten Kopfes.

Ah du?!

Meinen Griff unter ihrem Arm, um sie zu stützen, verweigert sie.

Frau M. ist tot. Ihre letzten Worte an die Pflegerin: „Wenn ich nicht heute sterbe, dann morgen.“ So ist sie eben heute gestorben. Eine gepflegte, alte, elegante Frau, die ihre Hilfsbereitschaft den Leidensgenossen und -genossinnen, selbst in ihrer Demenz, jeden Tag zeigte. Sie schob und tröstete, kämmte Haare und fütterte fleißig am Esstisch alle hungrigen Münder.

Wie Fliegen sterben sie hier weg und werden von anderen Fliegen ersetzt, beinahe übergangslos. Man merkt den Wechsel nicht mehr. Neuankömmlinge passen sich klaglos an.

Manchmal kommt mir vor, ich wohne hier. So nehme ich dieses Haus mit den vielen Türen zum Tod mit.

A, du bisch es, dass du amol kimsch? Wenn i sell gwisst hat, hat i umgstellt. [Ach, du bist es, dass du auch einmal kommst? Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich umgestellt.]

Was umgestellt?

Jo do, wo i iazt bin. Muass i do bleiben? [Ja da, wo ich jetzt bin. Muss ich da bleiben?]

Geht um ihren Stuhl herum. Ganz langsam, immer im Kreis, um ihren Stuhl.

Konn i do ummergiahn? [Kann ich da herumgehen?]

Ja.

Jo, wenn i lei wisset, wos tian. [Ja, wenn ich nur wüsste, was tun.]

Wie meinst du das?

Jo, wos man miasset tian, dass es a bissl leichter war. [Ja, was man halt tun müsste, damit es ein wenig leichter würde.] Sigsch du do zu schreiben? Do tat i nix sechn, kuane Zeile. Soffelt bin i holt miade und letz. [Siehst du da zu schreiben? Da würde ich nichts sehen, keine Zeile. So müde bin ich und schlecht ist mir.] I dorsitz es net, i dorsteah es net, i dorliegs net. I kenn mi nicht aus. Wos soll i tian? [Ich kann nicht sitzen, ich kann nicht stehen, ich kann nicht liegen. Ich kenn mich nicht mehr aus. Was soll ich tun?] Aufstiahn oder giahn oder bleibm? [Aufstehen, gehen oder bleiben?]

Wenn die Zeit um ist, ist es Gnade, gehen zu können.

Die Hosn hon i gonz noss iazt, es geaht mir olm a bissl durch. [Die Hose habe ich ganz nass jetzt, es geht mir immer etwas durch.] Wos werten do iazt? [Was wird das jetzt?]

Zwei Alte sitzen vor uns. Murmeln vor sich hin, schauen durchs Fenster wie auf eine Leinwand mit Film oder Fotos oder was weiß ich. Die eine zeigt stumm auf den Kondensstreifen am Himmel, die andere nickt bejahend. Wie zwei Kinder, die Neues entdecken, freuen sie sich gemeinsam über etwas Fremdes am Himmel, um gleichzeitig ihre Blicke wieder auf die Leinwand zu richten. Wie bei einem Tennisspiel drehen sich ihre Köpfe, um die jeweilige Richtung der Autos zu verfolgen. Bei Radfahrern und Fußgängern verlangsamt sich ihre Synchronbewegung. Nebeneinander wortlos Zeit absitzen. Wenn erneut ein Kondensstreifen auftaucht, zeigt dieselbe wieder nach oben. Kurzer Blickkontakt, ein Lächeln, um sich erneut dem Geschehen auf der Straße hinzugeben.

Zwei Köpfe nach links, zwei Köpfe nach rechts, links, rechts. Der verbliebene Lebensrhythmus zweier auf den Bildschirm guckender Lebetotwesen.

Ihr Mund bewegt sich im Kaurhythmus so, als müssten alle Essensreste hinter den Zähnen hervorgeholt und wiedergekäut werden, um der eingenommenen Nahrung Wichtigkeit zu geben. Wiederkäuende Mahlzeitverwerterin als Widerstand zur Wegwerfgesellschaft und Beweis aller Nachhaltigkeit.

Wir sitzen in der ersten wärmenden Frühlingssonne.

Die Muater hot olm a Tiachl aufn Kopf kopp. Sie hot olm Ongscht kopp, dass sie dor Schlog trifft, von dor Sunn. [Die Mutter hatte immer ein Tuch auf dem Kopf. Sie hatte immer Angst, dass sie der Schlag trifft von zu viel Sonne.]

Drei Schritte hin und vor und her und zurück, vor der Bank, auf der wir sitzen. Schlägt die Beine zusammen, wie immer. Ruhelos. Mir tuat dor linke Orm weah. [Mir schmerzt der linke Arm.]

Du bist aus dem Bett gefallen. Es ist normal, dass dies schmerzhaft ist, aber es muss von alleine heilen. Man kann da nicht viel machen, weißt du.

Sell wor jo dor rechte! [Das war ja der rechte Arm!] Übergangslos:

Hosch du schiane Schuach un. [Hast du schöne Schuhe an.]

Die Stiefeletten sind etwa dreißig Jahre alt und von Hilde. Aus feinstem rotbraun eingefärbtem Kalbsleder, mit eigenwilligem Verschluss, von mir über Jahre geliebt und getragen. Ich mag es, wenn Dinge Geschichte haben, auch Schuhe.

De schaugn fein aus, hintn guat zua, vorn tiaf und a ordentlicher Steckl. [Die schauen bequem aus, hinten geschlossen und vorne tief und ein ordentlicher Absatz.]

Wir gehen ins Haus zurück.

Mo, do (Fenster im Wintergarten) geahts weit oi do, wenn jemand oihupfn tat, nor isch er hin. [Da geht es aber weit hinunter. Wenn jemand hinunterhüpfen würde, dann ist er tot.]

In der ersten Zeit ihres Aufenthaltes im Altersheim war ihr Kampf enorm. Sie hat wirklich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten gekämpft, um nicht im Heim bleiben zu müssen. Es ging um Leben und Tod. Ihr Leben und ihren Tod. Sie wollte auf keinen Fall sich diesem Schicksal fügen. Böse, aggressiv, schlagbereit und schlagkräftig hat sie sich jeden Tag gewehrt. Kein Heimleiter, Pfleger oder Angehöriger konnte sie überzeugen, dass dies die beste Lösung war.

War sie auch nicht. Aber niemand aus unserer Familie wollte diese Aufgabe übernehmen, sie zu sich zu nehmen und fortan 24-Stunden-Betreuungsarbeit zu leisten. Aus den verschiedensten Gründen. Sie allein in ihrer Wohnung oder sie von einer Hauspflegerin betreuen zu lassen, war nicht möglich, da sie jegliches Miteinander fremder Personen ablehnte und immer schon rebellisch auf Eindringlinge in ihre Privatsphäre reagierte.

Es gab nur diese Möglichkeit. Nur diese…? Nur diese!

Es war eine schwere Zeit, eine belastende und traurige Zeit. Ihr ständiges Abhauen, das Suchen nach ihr zu allen Tages- und Nachtzeiten, die Angst vor immer neuen telefonischen Alarmanrufen. Und gleichzeitig ihre Schwester Kattl, die täglich telefonisch Uhrzeit, Datum und Verbleib ihres Sohnes Franz und ihrer Schwester abfragte, weil sie im freien Fall des gleichen Loches war: Demenz. Die Aggressivität meiner Mutter nahm überhand und isolierte sie gleichzeitig von ihrer neuen Umgebung. Sie sprach mit niemandem, beteiligte sich nicht an Spielen und Vorführungen, war böse zu allen und allem. Es war ihr einziges Mittel, ihrer Enttäuschung Ausdruck zu verleihen. Sie wollte und konnte sich nicht fügen. Sie kämpfte.

Und ich gebe zu, ich verstand es nicht einmal, dass dies ihr letzter, aber ein wichtiger Kampf war. Ich war einfach überfordert. In jeder Hinsicht. Sie war doch meine Mutter. Meine Mutter!

Eine schwere Zeit, vom täglichen schlechtesten Gewissen geplagt. Unter uns Geschwistern wurde ein 3-Wochen-Besuchsplan erstellt, um Atem zu holen für neue Kämpfe.

Ich war mit einer Mutterrealität konfrontiert, die mir schlaflose Nächte bereitete. Diese Pausen erlaubten mir anfänglich noch, Abstand zu gewinnen, über diese nicht mehr zu vermeidende Erfahrung einer Gehenden.

Meine Brüder kamen mit oder ohne auferlegten Besucherrhythmus selten. Er ist ihnen abhandengekommen, aus Zeitmangel durch die Finger geflossen, und nie mehr besteht die Möglichkeit, dies nachzuholen.

Alles bringt sie durcheinander. Außer die Boshaftigkeit!

Es dauert Stunden, Tage, bis ich wieder ruhig werde.

Sie ist einfach nur böse, böse!

Immer und immer wieder ist sie abgehauen, hat alle Notausgänge ausfindig gemacht und war für Stunden abgängig. Das war früher das Wort für Selbstmörder. „Er ist abgängig“, sagten die Alten, nicht ohne Schadensfreude, da es sich meistens um nicht „Normale“ handelte.

Abgegangen.

Weg war er, gefunden als Leiche im Bach, im Wald, im Feld, im Keller oder unter Dach.

Eine habe ich auch gesehen. Eine Wasserleiche. Als Kind in der „Roat“, einem kleinen Kanal, wo die Mutter Wäsche wusch. Er steckte im Gitter mit aufgeschwemmtem Schweinekopf, ein Bild, das mich viele Jahre verfolgte. Ein Toter im Kanal, wo die Mutter Wäsche wusch.

Abgegangen.

Abgängig.

Abgang.

Der Zugang zum Abgang war verstopft, und so haben sie ihn entdeckt.

Zu allen Tages- und Nachtzeiten, winters und sommers war sie abgängig, nicht auffindbar. Fremde Leute haben sie an den verschiedensten Orten aufgelesen und zurückgebracht.

Wie ein rebellischer Teenager hat sie sich verteidigt und gewehrt, wollte sich diesen neuen Lebensumständen einfach nicht fügen. Die Kraft war da, der Wille auch, nur die Umwelt war böse. Wir waren böse. Wir sind böse. Als Gesellschaft, als Familie, als überfordertes Umfeld und Allgemeinstaat. Wir sind dieser Herausforderung nicht gewachsen. Ich vor allem!

Wechseljahre sind wie Teenagerjahre, nur im Rückwärtsgang.

In der Demenzabteilung beim Malen

Ein Leidensweg für alle daran Beteiligten, sofern sie sich beteiligten.

Die Bezeichnung Demenz fiel in diesen ersten Jahren ihres Heimaufenthaltes nie. Nie. Es war einfach noch nicht salonfähig: dieses Wort, diese Krankheit. Höchstens Alzheimer. Demenz gab es noch nicht im Sprachgebrauch und Bewusstseinshirn. Zumindest in meinem Umkreis.

Wir haben noch so gelacht, als bei der Beerdigung von „Tata-Luis“ die anwesenden Tanten sich beim Essen fragten, wer denn eigentlich gestorben sei. Ihre Schwester oder der Mann der Schwester? So luftikusmäßig hörte sich das an, die Frage allein war uns nicht Grund genug, Warnsignale zu erkennen.

Sie tobte, schrie, schlug um sich, drohte. Aber weinte nie. Nie hat sie geweint. Nie. In dieser Zeit. In dieser harten Zeit. Das machte es für mich leichter, weil ich sie nicht weinend kannte. Eher so: eben schreiend und tobend und kämpfend.

Geweint hat sie erst später und leiser.

Sie drohte ständig, aus dem Fenster zu springen, vom Balkon oder was weiß ich, von wo, unters Auto zu rennen. Und ihre allgegenwärtige Frage war: Hab ich das verdient?

Verdient – verdient – verdient?

Ein profanes Mittel, um mich mürbezumachen. Irr und wirr. In Kopf und Bauch. Manchmal war ich sogar der Überzeugung, sie hätte es verdient. Ich hab es mir einfach eingeredet. So schrecklich. So unendlich traurig, überhaupt nur der Gedanke daran, ob sich Mütter so etwas je verdienen.

Ich hatte keine Antworten darauf, würde ja auch nicht hierbleiben wollen. Ich möchte das auch nicht. Ich verstand sie. Und es war schlimm! Einfach schlimm. Schlimm.

Ihr Leben war hart. Wie so viele Leben dieser Generation. Klara, die 77-jährige Cousine, erzählt nach langem Nachhaken – widerwillig – von allem ein wenig. Sie möchte mit der Vergangenheit nichts zu tun haben. Es ist vorbei. Am Sterbebett ihrer Mutter hätte diese alles verteilt, das kleine Hab und Gut, Schmuck und so, an andere, und sie hätte danebengestanden, als blutjunges Mädchen, und war geschockt über die Kälte und Unliebe ihrer Mutter. Diese sagte: „Um die Gitsche hon i kuane Ongscht, de dorwehrt sie schun.“ [„Um das Mädchen habe ich keine Angst, die kann sich gut selber wehren und kämpft sich schon durch.“] Am Sterbebett. Und es ist jetzt nicht leichter, dadurch. Sondern einfach ungerecht.

Cousine Klara war ein lediges Kind. Sie hat ledig gelitten. Lediges Kind, ledig geblieben. Kindliches Leid bleibt altes Leid, wird alt mit dem Kind, das in einem wohnt.

Der Malermeister will Bürgermeister werden, und der „Kuglerbua“, der Anwalt, würde ihr helfen beim Erben, und der Herr K. wollte sie als Frau, und der Dr. Kianer, ihr Haus- und Seelenarzt, sagte: „Klara, auf keinen Fall! Du brauchst keinen von denen, du warst in Rom, als ausgeflogene Schwalbe, und ich verstehe dich. Bleib Klara und allein, dann wirst du glücklich.“ Es ist die glücklichste, zufriedenste Person, die ich persönlich kenne – in ihrer Einraumwohnung und bis heute. Und vor allem.

Wir haben uns gegenseitig nie entsprochen. Der Generationswechsel hat es uns auch nicht leichter gemacht. Ich versuche immer und schon immer und noch immer, das bei meinen Kindern anders zu machen. Einfach anders. Ob es gelingt, sei dahingestellt. Wenigstens träume ich zwischendurch von einer Umarmung, muttermäßig.

Es klafften Klüfte. Hosen tragen, als Mädchen, war schon Sünde genug… Streitereien führten ständig zu einem familiären Eklat. Mein Nacken wird steif, ein Beweis für Verklemmtheit in jeder Hinsicht. Andere Menschen weinen zu sehen, ist ziemlich schwer – selber weinen auch. Dicke Augenlider, geschwollen, verquollen, die Sehkraft getrübt, Gedankenlöcher, Kreisgedanken. Die Seele weint und mit ihr der ganze Körper.

Wenn i dobleibm muass, nor hupf i vom Balkon! [Wenn ich dableiben muss, springe ich vom Balkon!]

Drohungen, jeden Tag ausgesprochen, verlieren ihre Wirkung. Sie werden einfach wirkungslos, und man erschrickt vor der eigenen Kälte. Diese Drohungen kenne ich noch von früher. Selbstmorddrohungen waren immer ihr profanes Mittel, wenn sie nicht mehr weiterwusste.

Und dann plötzlich beim Gehen durch den Altenheimgang dem Handlauf entlang: Moch de Tir do obm zua, es ziacht. Muansch, i will mir in Toat holn? [Mach diese Tür da oben zu, es zieht. Meinst du, ich will mir den Tod holen?]

Telefongespräch mit ihrer Schwester Zille, „Zillemama“: Und wia geahts? [Und wie geht es?]

Sigsch woll, nor isch des do kemmen, und nor isch ols vergongen. [Siehst ja, dann ist es so gekommen, und dann ist alles vergangen.]

Jo, jo, sell geah i schun spaziern, holt lei alluan, die Zille hot net dorweil. [Ja, ja, ich gehe schon spazieren, halt nur allein, die Zille hat nicht Zeit.]

In galing geahts holt a so, wenn man älter werd. [Irgendwann geht es einfach so, wenn man älter wird.]

Oh, es geaht sunsch schun. [Oh, es geht sonst schon.]

Zufriedn muass man sein, sunsch isch es no letzer. [Zufrieden muss man sein, sonst ist es noch schlimmer.]

Jo sell geah i a a bissl. Sell geah i lei alluan. I hon niamanden, der mit mir geaht. [Ja das gehe ich auch ein wenig. Das gehe ich nur allein. Ich habe niemanden, der mit mir geht.]

Oh, es geaht schun. Es isch gonz fein. [Oh, es geht schon. Es ist ganz fein.]

Kolt isch es a net, und es isch a net zu worm. [Kalt ist es nicht, und es ist auch nicht zu warm.]

Wia?… Ach, des Gschnatter mog i a net olm gern. [Wie?… Ach, dieses Getratsche mag ich auch nicht immer gern.]

Wia? [Wie?]

A net gor a so kolt. Nommitog isch die Sunn gonz fein, zem geah i olm in die Sunn sitzn. [Auch nicht recht kalt. Am Nachmittag ist die Sonne ganz fein, dann setze ich mich immer in die Sonne.]

Und sigsch woll, wias olm, wias olm geaht, wenn man will giahn, nor kimp eppes dorzwischen. [Und du siehst wohl, wie es immer so geht: Wenn man gehen will, dann kommt immer etwas dazwischen.] Froha sein, dass man net liegn muass und kronk isch. [Man muss froh sein, dass man nicht liegen muss und krank ist.]

Ich glaub es nicht! In ihrer Demenz – diese Sprüche! Gewaltig, sie spricht, als wäre nichts mit ihr. Zumindest nichts Ernsthaftes, und das Gespräch unterscheidet sich in der Wortwahl wenig von früheren Telefonaten mit ihrer Schwester Zille.

Olm alluan um die Strossn geah i net. Muass olm tian, wie ondere welln, konnsch nimmor tian, wia selber willsch. [Immer allein durch die Straßen gehe ich nicht. Muss immer tun, was andere wollen, kannst einfach nicht mehr tun, was du selber willst.]

Ha? [Was?]

Alluan geaht man net olm. Geah a zu zweit net gern, wenn i net jemand gonz guat kenn. [Allein geht man nicht immer. Gehe auch zu zweit nicht gerne, wenn ich nicht jemanden ganz gut kenne.]

Jo bei dor Waltraud, do bin i, a sell spatzier i gonz longsom or. [Ja bei der Waltraud bin ich, da spaziere ich ganz langsam hinunter.]

Jo sell bin i, sell bin i gonz guat amol. [Ja das bin ich, ich bin ganz gut momentan.]

Wie geahts denn enk sunsch? [Wie geht es denn euch so?]

Olm schian konnsch’s holt net hobm. [Immer schön kannst du es einfach nicht haben.]

Steinhaus ist nicht schön, sagt sie. Sie hat ihr Dorf als Erste jung verlassen. Die erste Anstellung im Burggrafenamt als Köchin machte ihr Freude. Nach ihr die Moidl und dann Kattl und alle nach Lana.