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Johannes Schopp

Eltern Stärken
Die Dialogische Haltung
in Seminar und Beratung

Ein Leitfaden für die Praxis

6., vollständig überarbeitete Auflage

Verlag Barbara Budrich, Opladen, Berlin & Toronto 2019

Alle Rechte vorbehalten.

Print: 978-3-8474-2346-1
eBook: 978-3-8474-1503-9 (PDF)
eBook: 978-3-8474-1509-1 (EPUB)

Satz & Gestaltung: disegno visuelle kommunikation, Wuppertal, www.disegno-kommunikation.de

Von unseren Kindern lernen wir mindestens soviel wie sie von uns. Deswegen widme ich dieses Buch meinen Kindern sowie meinen Nichten und Neffen.

 

für:

Vincenc
Janina
Caroline
Sebastian
Maximilian
Elias
Tim
Hannah
Mathilda
Emil

 

 

„Jede lebendige Situation hat wie ein Neugeborenes, trotz ihrer Ähnlichkeit ein neues Gesicht, nie dagewesen, nie wiederkehrend. Sie verlangt eine Äußerung von dir, die nicht schon bereit liegen kann. Sie verlangt Gegenwart, Verantwortung, Dich.“

Martin Buber

Inhalt

Danksagung

Vorwort zur 6. Auflage von Johannes Schopp

Vorwort zur 4. Auflage von Gerald Hüther

Vorwort zur 4. Auflage von Sigrid Tschöpe-Scheffler

Einführung

Die eigenen Potenziale entdecken

Fragen als Schlüssel zu den Stärken

Von der Defizit- zur Ressourcenorientierung

Salutogene Kommunikation

„Krisenklau“

Von der passiven Haltung zur aktiven Lebensbewältigung

Das Wesen des Dialogs

Dialog ist mehr als eine Kommunikationsform

Das ANDERE im Anderen wird bestätigt und respektiert

Das Sein ist wichtiger als der Schein

Wie die Dialogische Haltung erlernt werden kann

Dialogische Kernfähigkeiten

Die Haltung eines Lerners verkörpern

Radikalen Respekt zeigen

Sich öffnen für andere Ansichten und Überzeugungen

Von Herzen sprechen

Zuhören und verstehen wollen

Den Dialog verlangsamen

Annahmen und Bewertungen in der Schwebe halten

Den Denkprozess offen legen – produktiv plädieren

Eine erkundende Haltung üben

Sich selbst (als Dialogbegleiter) aufmerksam beobachten

Grenzen des Dialogs

Zusammenfassung

Fünf Ebenen im Dialog

Information/Das Wissensspektrum erweitern

Methode der reinen Wissensvermittlung

Sachwissen und Persönlichkeitsstärkung

Beziehung/Reflexion des Denkens, Fühlens, Handelns und Wollens

Der Beziehungsaspekt

Gemeinsame Suche nach Antworten

Den Raum öffnen für einen Dialog

Beziehung und Persönlichkeitsentfaltung

Selbstbild/Sich dem Thema persönlich stellen

Was habe ICH mit dem Thema zu tun?

Sich spiegeln als Weg zur Selbst-Erkenntnis

Selbsterkenntnis gehört zum persönlichen Wachstum

Selbst gestellte „Hausaufgaben“

Fazit

Biografie/Den roten Faden des Lebens suchen

Woher komme ich?

Erkennen des individuell Bedeutsamen

Die Lebensgeschichte als „Lerngeschichte“

Lebenssinn/Suche nach Sinn und Spiritualität

Mit Eltern dem „Unerklärbaren“ auf der Spur

Wir können von den Kindern lernen

Grenzen gegenseitigen Verstehens

Spiritualität und Sinnorientierung

Sinnsuche im Dialog

Zusammenfassung

Der Dialogkreis und die Aufgabe der Dialogbegleitung

Einen offenen Raum schaffen

Loslassen und Sich-verändern ermöglichen

Ängste zulassen und Sicherheit und Wertschätzung vermitteln

Die Kraft der Groß-Gruppe nutzen

Durch Dialogische Arbeit auch „bildungsferne“

Eltern erreichen Eltern begleiten statt „abholen“

Dialogbegleitung versus Moderation

Die „Kunst“, den Dialog zu ermöglichen

Zusammenfassung

Der Seminarablauf

Ein Vorschlag und keine Gebrauchsanweisung

Der Rahmen des Seminars

Die Eltern als Gäste begrüßen

Die Ziele

Checkliste für die Planung

Atmosphäre schaffen

Bevor das Seminar beginnt

Authentizität statt Inszenierung

„Lernfortschritte“ werden selbst bewertet

Was machen, wenn es „kritisch“ wird

Ablauf Elternseminar I

Einstieg

Dialog-Karussell

Reflexion des Dialog-Karussells

Auseinandersetzung mit Stärken und Schwächen

Dialog im Kreis über das gerade Erlebte

Vorlesen einer Geschichte zum Abschluss

„Hausaufgaben“

Persönliches Schlusswort

Ein „Knoten im Taschentuch“

Ablauf Elternseminar II

Begrüßung

Gefühlsbilder

Rückmeldung zu den Bildern und Check in

Reflexion der „Hausaufgaben“

Dialog über den Blick durch die „Goldene Brille“

Der Topf, aus dem ich Kraft schöpfe

Eine Gedicht zum Abschluss

Persönliches Schlusswort

Einstiegshilfen und Übungen für Dialogisches Arbeiten

Anregungen zur Durchführung von Dialogkreisen

Einladung zum Dialog

„Energizer“

Beobachtung oder Bewertung

Drei Übungen zur Ressourcenorientierung und zum Dialog

Ein wichtiger Mensch in meinem Leben

Ausflug in die eigene Kindheit

Fundgrube

Was sind Kraftquellen in meinem Leben?

Dialogischer Spaziergang

Thema Veränderung

Die Drei Kostbarkeiten

Den „goldenen Kern“ meines Kindes wieder sehen lernen

Das „Schatzkästchen“ – Menschen konsequent wertschätzend betrachten

Das Fahrrad als Sinnbild

Feiern unserer selbst

Geschichten erzählen im Dialogkreis

18 Kurzgeschichten und Texte zum Vorlesen als Impuls für einen Dialog

Anlagen zum Seminarablauf I und II

Elternbrief

Schablone „Kinderfigur“

Gefühlsbilder

Beispiel für „angemessen ungewöhnliche“ Fragen

Literatur

[11] Danksagung

Dieses Buch entstand im Dialog. Insbesondere durch die Rückmeldungen der vielen Eltern und Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Workshops und der Weiterbildung zur Dialogbegleitung und durch ihr Vertrauen in meine Kompetenz als Dialogbegleiter ist dieses Konzept so geworden, wie es vor Ihnen liegt.

Mein besonderer Dank gilt Wilfried Reifarth vom Deutschen Verein für Öffentliche und Private Fürsorge, der für mich Lehrer war und Freund wurde und durch dessen Vorleben ich die entscheidenden Impulse für meine eigene Seminarpraxis erhielt. Ich lernte die Arbeit mir Großgruppen als Wissenspool zu schätzen. Durch ihn wurde ich maßgeblich angeregt mich mit den Texten von Martin Buber auseinander zu setzen.

Ingo Gerstenberg, Gründer und langjähriger Leiter des Dan-Casriel-Instituts in Hadamar, habe ich zu verdanken, dass ich mit meinen eigenen Eltern Frieden schließen konnte, eine Voraussetzung dafür, dass ich heute offen und mit viel Mitgefühl auf Menschen zugehen kann. Durch seine gelebte Haltung konnte ich die wertvolle Erfahrung machen, was mit „Heilung durch Begegnung“ gemeint sein kann.

Bei der Entstehung und den Überarbeitungen dieses Buches wurde und werde ich immer wieder liebevoll und mit profunder Sachkenntnis von meiner Frau Jana Marek unterstützt und ermutigt aber auch hart konfrontiert. Durch ihren kritischen Blick und ihre vielen guten Ideen, wurde ich inspiriert und immer wieder herausgefordert, noch genauer hinzuschauen.

Das aus dem Buch abgeleitete Weiterbildungskonzept „Ermutigung zum Dialog“ trägt entscheidend ihre Handschrift.

Das Buch erhielt seinen besonderen Ausdruck durch die unermüdliche freundschaftliche Begleitung von Rainer Noltenius, ehemaliger Leiter des Fritz-Hüser-Instituts in Dortmund, der mich dazu veranlasste, gegen meinen anfänglichen Widerstand, mit zahlreichen Beispielen aus meinen Elternseminaren die Kernaussagen des Dialogs für Außenstehende nachvollziehbarer und als Praxisbuch so gut lesbar zu machen.

[12] Zahlreiche andere Menschen haben mein Manuskript in verschiedenen Phasen entweder direkt mit ihren Ideen und Fragen, mit ihrer Kritik und wertvollen Anmerkungen oder aus der Ferne mit wohlwollender Unterstützung begleitet und mich dadurch ermutigt, durchzuhalten. Dazu zählen neben vielen ungenannten die Leiter meiner Dialogprozess-Begleiter-Ausbildung Freeman Dhority und Martina Hartkemeyer aus Osnabrück, Winfried Palmowski aus Erfurt und Cornelia Muth aus Bielefeld Mein langjährig bester Freund Jens Kotulla gab mir die Unterstützung, die ich für den langen Atem brauchte.

Unterstützung bei der grafischen Gestaltung erhielt ich von Thomas Kampmann, Helmuth Voßgraff und Matthias Graben, die mir die Fotos aus verschiedenen Seminaren honorarfrei zur Verfügung stellten sowie vom Verlag an der Ruhr für die Abdruckgenehmigung der zehn ausdrucksstarken Kinderzeichnungen aus: „Hallo, wie geht es dir?“.

Sigrid Tschöpe-Scheffler, über lange Zeit als Professorin am Institut für Kindheit, Jugend und Erwachsene an der Fachhochschule Köln tätig, gebührt ebenfalls großer Dank für ihre Unterstützung meiner dialogischen Arbeit bis heute. Ihr Menschenbild sowie die anthropologischen Grundlagen ihres Forschungsansatzes flossen mit der Dialogphilosophie zusammen.

Im Laufe der vergangenen vierzehn Jahre seit der Erstveröffentlichung meines Buches erhielt ich zahllose positive Rückmeldungen sowie Änderungs- bzw. Ergänzungsvorschläge von Leserinnen und Lesern. Diesen allen und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Ausbildungsgruppen zur Dialogbegleitung (Ermutigung zum Dialog) bin ich dankbar für die vielen Anregungen, die in diese aktualisierte Ausgabe eingeflossen sind.

Für ihre engagierte persönliche Unterstützung gebührt vor allem Maria Rocholl besonderer Dank. Durch sie werden in Zertifikatskursen unter dem Dach des Paritätischen Bildungswerkes Bundesverband e. V. seit 2007 Dialogbegleiterinnen und Dialogbegleiter bundesweit ausgebildet.

[13] Ihrem Engagement und der Unterstützung von Sigrid Tschöpe-Scheffler ist es ebenfalls zu verdanken, dass der Dialog als Haltung im Curriculum des Trägerkonsortiums bestehend aus AWO, katholischer, evangelischer und paritätischer Familien- und Erwachsenenbildung einen bedeutenden Platz in der Qualifizierung „Elternbegleiterin/Elternbegleiter“ des Bundesprogramms „Elternchance“ bekommen hat.

Im Sommer 1996 entstehen erste Skizzen dieses Buches. Seitdem sind bis heute sind viele Jahre des Nachdenkens und der Auseinandersetzung mit dem Dialog ins Land gegangen, in denen ich meine Erfahrungen und mein Wissen aus Begegnungen mit Menschen in Seminaren und aus Büchern zusammengetragen habe.

[14] Vorwort zur 6. Auflage

Liebe Leserin und lieber Leser

Es hat sich viel entwickelt. Vierzehn Jahre ist es her, dass ich die erste Auflage dieses Buches veröffentlicht habe. „Elternbildung“ wurde oft missverstanden als Programme, die Eltern „fortbilden“ sollen. Uns aber geht es darum, Dialog-Räume zu schaffen. Räume, in denen Eltern Kraft und Hoffnung für sich schöpfen und mit ihrer Intuition, ihrem tiefen Wissen in Kontakt kommen. Ich freue mich inzwischen sehr darüber, die Wörter Haltung und Gleichwürdigkeit in der einschlägigen Literatur als die meist genutzten diesbezüglichen Vokabeln zu finden.

Anforderungen haben sich geändert, Herausforderungen sind dazu gekommen, Worte haben an Aktualität verloren. Erfahrungen und Inspirationen der letzten Jahre haben auch meinen Blickwinkel verändert. An die Zeit angepasst habe ich das vorliegende Werk aktualisiert, erweitert oder Teile ersetzt durch Erfahrungswissen, neue Erkenntnisse und Ideen für die Arbeit in Dialogkreisen, neue Impulse aus der und für die Dialogpraxis. Und neue Geschichten hinzugefügt.

Sicherlich werden auch Sie merken, dass vormals männlich dominierte Sprache nun eine geschlechterbewusste ist. Mir erschien es mehr als überfällig, das zu ändern.

Der Einstieg ins Kapitel 3 „Der Dialogkreis und die Aufgabe der Dialogbegleitung“ wurde von Jana Marek mitgeschrieben und unterstreicht die Intention dieses Buches, dass dialogisch zu leben und zu arbeiten nicht auf Eltern beschränkt ist.

Die im fünften Kapitel beschriebenen Seminarabläufe habe ich mit dem Fokus auf die Salutogenese überarbeitet. Der Titel „Kraft schöpfen für den Alltag“ atmet dementsprechend mehr Entspannung, Lebenskraft und Leichtigkeit aus. Und es wirkt hoffentlich so „ansteckend gesundend“, wie ich die Salutogenese für mich gern „übersetze“.

Je länger und bewusster ich als Dialogbegleiter agiere, desto weniger kann ich das Wort „Erziehung“ noch vertreten. Das Zusammenleben der Eltern und Kinder [15] fordert schließlich, dass Erwachsene lernen, bewusst und verantwortlich zu führen. „Erziehung“ jedoch wird noch immer mit „Gehorsam“ und „Beibringen“ konnotiert. Dem habe ich in diesem Kontext (für mich) ein Ende gesetzt. Den Geist des Begriffes Gleichwürdigkeit habe ich in diesen Texten auch in der Wortwahl an die Stelle des Begriffes „Erziehung“ gesetzt. Schließlich: „Die Beziehung zu einem Kind ist keine Einbahnstraße.“ sagte einst Jesper Juul. „Das Kind soll nicht nur das entgegennehmen, was wir ihm geben wollen. Wir müssen auch bereit sein, das entgegenzunehmen, was unsere Kinder uns geben“.

Fühlen Sie sich eingeladen, das Buch, auch, wenn Sie es schon zu kennen glauben, noch einmal neu unter diesem Aspekt zu lesen.

Sollte ich mit der Lektüre dieser Neufassung Interesse geweckt haben, das zu vertiefen, was wir die „Dialogische Haltung“ und die Dialogkreis-Begleitung nennen, gibt es eine gute Möglichkeit: Sie könn(t)en sich berufsbegleitend als Dialogbegleitung zertifizieren zu lassen. Unser Konzept für diese Weiterbildung entwickeln Jana Marek und ich stetig weiter und aktualisieren es regelmäßig.

Sowohl über die Internetseite des Vereins Im Dialog e.V. (https://im-dialog-ev.de) als auch über die Adresse http://johannes.schopp.de erfahren Sie mehr über Weiterbildungen, Angebote und Aktionen des 2013 gegründeten Vereins „Im Dialog e.V.“

Ansonsten: Mögen Sie sich angesteckt fühlen von der Experimentierfreude und der Neugier, die es braucht, um neue, berührende dialogische Erfahrungen zu machen. Es lohnt sich!

Johannes Schopp
Hagen, Juli 2019

[16]  Vorwort zur 4. Auflage

Gerald Hüther

Es freut mich sehr, dass dieses Buch von Johannes Schopp nun in einer neuen Auflage vorliegt. Nicht nur deshalb, weil es einen sehr praktischen Ansatz für die Arbeit mit Eltern vorstellt, der zu einer nachhaltigen Veränderung ihrer Beziehung zu ihren Kindern führt. Diese Neuauflage ist in meinen Augen auch Ausdruck einer anhaltenden und sich weiter verstärkenden Suche nach solchen Hilfestellungen für Eltern, die sich nicht mehr länger in der Präsentation eines Sammelsuriums von Ratschlägen und Rezepten zur Verbesserung elterlicher Erziehungskompetenz erschöpfen, sondern die es stattdessen Eltern ermöglichen, ihren Kindern auf eine andere Weise als bisher zu begegnen: Mit einer dialogischen, oder – einfacher ausgedrückt – mit einer liebevolleren, achtsameren und respektvolleren Haltung.

Dass es die inneren Einstellungen und Haltungen sind, die darüber entscheiden, wie ich mich verhalte, was ich sage, was ich tue, was ich wie bewerte, worauf ich achte, worum ich mich kümmere und wie ich anderen Menschen begegne, ist eine relativ neue Erkenntnis. Bisher ging man davon aus, dass es das Ziel pädagogisch-therapeutischer Bemühungen sein müsse, ungünstige Verhaltensweisen durch günstigere zu ersetzen. Durch Aufklärungs- und Trainingsprogramme sollten Eltern dazu gebracht werden, neue Verhaltensmuster einzuüben und dann auch zu Hause, in der Familie einzusetzen, sogar „Elternschulen“ wurden eingerichtet und die Super-Nanny führte im Fernsehen exemplarisch vor, wie sich Eltern ihren Kindern gegenüber zu verhalten haben.

Genützt hat all das wenig, und inzwischen wissen wir auch weshalb: Weil es etwas gibt, was das Verhalten steuert und was sich eben nicht durch kluge Ratschläge und Trainingsprogramme verändern lässt. Es ist die dem jeweiligen Verhalten zugrundeliegende und dieses Verhalten steuernde innere Haltung. Die müsste sich ändern, wenn man erreichen möchte, dass sich jemand künftig anders verhält.

Niemand kommt aber mit seinen ungünstigen inneren Einstellungen und Haltungen zur Welt. Die erwirbt man erst, und zwar durch ungünstige eigene Erfahrungen. Und die ungünstigste Erfahrung, die ich als Mensch machen kann und die viele [17] schon sehr früh zu machen gezwungen sind, ist die so genannte Opferhaltung, also die innere Überzeugung, ich bin inkompetent, ich kann nichts gestalten, ich bin den Verhältnissen hilflos ausgeliefert. Verbunden ist diese Haltung mit dem Gefühl eigener Schwäche und Bedürftigkeit.

Das aus dieser inneren Einstellung resultierende Verhalten ist selten günstig. Für Kinder ist das, was ihre Eltern aus einer solchen Einstellung heraus tun und sagen, was sie daraus lernen und welche Schlussfolgerungen sie daraus für sich selbst ziehen, eine Katastrophe.

Wer sich selbst nichts zutraut, traut auch anderen nichts zu. Wer sich selbst als Opfer erlebt, macht auch andere zu Opfern, wer selbst ratlos ist, macht auch andere ratlos.

Weil es immer Beziehungserfahrungen sind, die zu solch ungünstigen inneren Einstellungen und Haltungen führen, müssten Eltern und Kinder Gelegenheit bekommen, andere, günstigere Erfahrungen im Umgang miteinander zu machen. Diejenigen, die solche günstigeren Beziehungserfahrungen ermöglichen könnten, sind die Eltern, nicht die Kinder. Damit aber Eltern diese Rolle übernehmen können, brauchen sie Stärkung, brauchen sie Kraft und Zuversicht, brauchen sie genug (Selbst-)Vertrauen, dass ihnen diese Art von Beziehungsgestaltung auch gelingt. Und genau das, die Stärkung dieser elterlichen Gestaltungskompetenz und ihres Selbstwirksamkeitsgefühls ist es, was Johannes Schopp mit diesem Ansatz der dialogischen Haltung in seiner beraterischen und begleitenden Tätigkeit erreicht und in diesem Leitfaden beschreibt. Glücklicherweise nicht als graue Theorie, sondern in einer leicht verständlichen Sprache und mit vielen praktischen Beispielen und Anregungen für die konkrete Umsetzung. Deshalb handelt es sich bei diesem Buch nicht um einen weiteren Ratgeber auf dem ohnehin schon mit Tipps und Ratschlägen überfüllten Büchermarkt, sondern es beschreibt einen ganz anderen, einen zukunftsweisenden Ansatz.

Ein Ansatz, der nicht auf kurzzeitige Effekte und Scheinerfolge abzielt, sondern auf nachhaltige Wirkungen.

Ich bin sicher, dass diese überarbeitete Auflage nicht die letzte sein wird.

Göttingen, im Mai 2013Gerald Hüther

[18]  Vorwort zur 4. Auflage

Sigrid Tschöpe-Scheffler

Wie kann es gelingen, wahrhaft interessiert und offen für das zu werden, was Mütter, Väter und Kinder bereits an Wissen und Können, individueller Erfahrung, biografischen Erkenntnissen, Lebensleistungen, Intuition und Expertentum für ihr eigenes Leben mitbringen?

Johannes Schopp zeigt in seiner sehr anregenden Publikation, nun bereits in der 4. Auflage, dass dies nur durch echten Dialog möglich ist. Dialog ist nicht in erster Linie eine Methode, auch wenn er eingeübt werden muss, sondern eine Haltung, die eine auf Prozesshaftigkeit angelegte existentielle Begegnung mit sich selbst und dem anderen initiiert.

Mir scheint es, dass diese Haltung inzwischen nicht nur in der Zusammenarbeit mit Eltern „angekommen“ ist, sondern dass sich daraus auch ein Paradigmenwechsel insgesamt für die Familienbildung abzeichnet.

Es ist ein großer Verdienst der dialogischen Arbeit, wie sie von Johannes Schopp und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Publikationen und Aus- und Fortbildungen gelebt und präsentiert wird, dass Menschen spüren, wie bedeutungsvoll zwischenmenschliche Erfahrungen und Begegnungen für sie selbst sind, und sie diese darum in ihre (nicht nur pädagogische) Arbeit und in ihr Leben übertragen wollen.

Der Autor zeigt sehr eindringlich, dass es nicht in erster Linie die Konzepte, Trainings und Methoden sind, die Menschen in der Tiefe zusammenführen, sondern individuelles Wachstum und eigene Entwicklung erst in der tiefen Begegnung mit dem Anderen realisiert werden können.

Ich wünsche dem Autor, seinem großen Anliegen und damit auch seiner Publikation weiterhin eine große Verbreitung, noch viele Auflagen und interessierte Leserinnen und Leser, die durch dieses Buch angeregt werden, selbst dialogisch unterwegs zu sein, sich für die Standpunkte des Anderen ernsthaft zu interessieren und mit ihnen (und sich selbst) in einen echten Dialog zu treten.

[19] Einführung

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[21] Einführung

Die meisten Eltern handeln in der Überzeugung, das Beste für ihre Kinder zu tun. Dabei stoßen sie jedoch immer wieder an Grenzen, die in der Natur der Sache liegen. Kinder sind von Geburt an individuelle Wesen, die ihren eigenen Willen und eigene Vorstellungen haben, die sie mit zunehmendem Alter immer weiter entwickeln. Von daher gibt es ganz natürliche Reibungspunkte zwischen den Interessen der Eltern und denen ihrer Kinder. Darüber hinaus bedeutet Elternsein ganz pragmatisch, Tag für Tag, Woche für Woche und Jahr für Jahr eine Vielzahl von Entscheidungen zu treffen und im Dschungel der Möglichkeiten zwischen „richtig“ und „falsch“ abzuwägen.

Darum suchen heute mehr Eltern denn je Halt und Unterstützung, um im Zusammenleben mit ihren Kindern die selbst gestellten bzw. gesellschaftlich formulierten Anforderungen bewältigen zu können. Dabei stand ihnen noch nie so viel pädagogisches und psychologisches Wissen zur Verfügung: In Elternzeitschriften, Internetplattformen und anderen Ratgebern werden sie geradezu überschwemmt mit Vorschlägen für gelingende Erziehung. Doch durch die Vielzahl sich widersprechender Tipps nimmt die Verunsicherung zu. Wem soll man vertrauen? Was war zuerst da, die Ratlosigkeit oder die Ratgeber?

„Die Menschen vergessen, was Du sagst und was Du tust. Aber was sie in deiner Gegenwart gefühlt haben, Vergessen sie nie.“

Maya Angelou
Auf der anderen Seite suchen auch professionelle Experten nach Alternativen bzw. Ergänzungen für die so genannten „Eltern-Erziehungs-Konzepte“. Der vorliegende Leitfaden widmet sich genau diesem Punkt. Er will zeigen, welche Bedeutung die Dialogische Grundhaltung im Rahmen von Seminaren und Beratung haben kann, damit Eltern wieder an sich und ihre Kompetenzen glauben lernen. Eine wichtige Voraussetzung dafür, Kinder auf dem Weg zu innerlich starken, lebensfrohen und zuversichtlichen Persönlichkeiten zu begleiten.

Die Dialogische Haltung stellt die einzigartige Existenz eines jeden Menschen in den Mittelpunkt. Sie betont den Respekt vor der Unterschiedlichkeit, vor unterschiedlichen, auch von der Norm abweichenden Lebenswegen, vor dem Tempo individueller Entfaltung und vor der Unvollkommenheit menschlicher Existenz. Dieser Einstellung liegt die Annahme zugrunde, dass jede und jeder durch den Dialogkreis ermutigt werden kann, das Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit und das Gespür für den eigenen „richtigen“ Weg wieder zu finden. Das macht die [22] Menschen langfristig unabhängiger vom Urteil sogenannter Experten und deren Wissen und es stärkt sie. Im Titel des Buches ELTERN STÄRKEN verbinden sich also gleichzeitig die Grundannahme, dass Eltern die eigenen Stärken bereits in sich tragen, und das Ziel, diese mit der Begleitung im Dialog wieder zu finden.

Diejenigen, die sich auf den Dialog einlassen, erfahren Wertschätzung und Anerkennung, sie erleben, was es heißt, gehört zu werden und sich Gehör zu verschaffen. Ohne dem perfekten Ideal nachzueifern, das es im Leben nicht geben kann, werden sie ermutigt, ihr eigenes Ideal zu finden, das sich wandeln und entwickeln darf. Die Verantwortung für ihren individuellen „Lernzuwachs“ bzw. „-rückschritt“ trägt jede/jeder für sich.

„Wir sagen nicht, wir haben eine neue Denkweise, sondern wir sagen es gibt viele Denkweisen, die uns nützlich sein können.“

L. Freeman Dhority
Dialog ist eine Form, die eigene Achtsamkeit (wieder) zu entdecken und zu verfeinern. Achtsamkeit „schult“ auch die Wahrnehmung für die Augenblicke des Staunens über das Wunderbare, aber auch das Komische und das Andere bzw. Fremde im Zusammenleben zwischen Erwachsenen und Kindern. Für das Leben gibt es kein Rezept. Das Zusammenleben mit Kindern hat etwas mit Experimentieren zu tun. Es ist ein gemeinsamer Lebens- und Entwicklungsweg.

Im Dialog geht es konkret nicht darum, was ich anderen Menschen vermittle oder beibringe, sondern wie ich mit ihnen in Beziehung trete. Im Dialog soll niemand um-erzogen oder durch Training dazu gebracht werden, bestimmte Verhaltensweisen abzulegen und sich andere anzueignen. Unter sensibler Dialogbegleitung geschieht gegenseitige Unterstützung ohne Belehrung. Die Philosophie, die dahinter steckt ist, dass niemand – auch nicht die Dialogbegleitung – weiß, welcher Schritt gerade in diesem oder jenem Augenblick in der jeweiligen Familie der richtige ist.

Im Dialog nehmen sich die Teilnehmenden – die Dialogbegleiter eingeschlossen – anders, persönlicher wahr, ohne sozialromantisch zu verschmelzen. Der Dialog meint den ganzen Menschen, und die Betonung liegt auf dem Wort Mensch. Funktionen und Titel spielen im Dialog keine Rolle. „Im Dialog [ist] kein Platz für das Autoritätsprinzip, Überordnungen und Unterordnungen…“ (Bohm 2000, S. 92). Wer sich auf den Dialog einlässt, versteht, warum niemand ein Anrecht auf die objektive „Wahrheit“ hat. Jeder nimmt seine Sicht als seine Wahrheit wahr.

[23] Radikaler Respekt für Verschiedenheit bedeutet, dass wir unsere Ansichten über generell „Richtiges“ und generell „Falsches“ aufgeben müssen. Unter dieser Prämisse ist die Frage neu zu beantworten, wer „Experte“ ist und für welchen Bereich.

Eckpunkte einer Dialogbegleitung in diesem Sinne sind:

• Es gibt keine allgemeingültigen „Rezepte“.

• Eltern werden beim Suchen eigener Antworten auf ihre Fragen begleitet.

• Eltern werden sich bewusst, dass Fehler zum Leben dazugehören.

• Im gegenseitigen Verständnis füreinander spüren Eltern Entlastung und lernen, wieder über sich und ihre Situation zu schmunzeln oder zu lachen.

• Eltern sind Fachleute und Verantwortliche in eigener Sache.

• Eltern sind gleichwertige und gleichwürdige Dialogpartner.

• Wir können niemanden verändern. Ziel ist es, die Überzeugung der Eltern zu bestärken, selbst wirksame und eigenverantwortliche Lebensgestalter zu sein.

Das folgende Beispiel soll diese Prinzipien veranschaulichen.

„Beziehung ist Gegenseitigkeit. Mein Du wirkt an mir, wie ich an ihm wirke.“

Martin Buber
Ermutigt durch die vertrauensvolle Atmosphäre in der Dialogrunde einer Gesamtschule berichtet eine Mutter über ihren eigenwilligen Umgang mit dem Fernsehkonsum ihrer acht- und elfjährigen Töchter. Immer dann, wenn sie zu Besorgungen die Wohnung verlässt, schließt sie das Zimmer ab, in dem sich der Fernseher befindet. Die beiden Töchter sollen nicht unkontrolliert fernsehen.

Als Dialogbegleiter kommt es jetzt darauf an, den „Raum“ für ein offenes und ehrliches Gespräch über den Umgang anderer Eltern mit dem Fernsehkonsum ihrer Kinder und deren Erfahrungen zu schaffen. Wenn jede und jeder bei sich bleibt, wird vermieden, dass die Protagonistin in der Rolle der „schlechten“ Mutter ihr Verhalten rechtfertigen muss. Gleichzeitig ermöglicht ein solches Vorgehen, dass andere Mütter und Väter angstfrei und ohne Schönfärberei von ihren gelingenden oder scheiternden Auseinandersetzungen erzählen.

In diesem Fall brauchte die Mutter den Erfahrungen der anderen Eltern nur zuzuhören. In ihrem persönlichen Abschlusswort bedankte sie sich später bei der Gruppe, dass sie sich von niemandem bloß gestellt gefühlt habe. Sie wolle zuhause einmal über alles nachdenken und das eine oder andere, was sie an diesem Tag von anderen gehört habe, ausprobieren.

[24] Das Beispiel macht auch deutlich, dass sich Dialogbegleitung, so wie ich sie hier beschreibe, erheblich von Veranstaltungen im Vortragsstil oder von verhaltenstherapeutischen Trainingskursen unterscheidet. Der Schwerpunkt im Dialog liegt auf Gegenseitigkeit und Gleichwürdigkeit (Juul 2004) zwischen den Dialogpartnern, während sich die Kommunikation beim Vortrag in der Regel auf einer belehrenden „Einbahnstraße“ bewegt und wenn überhaupt, dann oft nur Diskussionen „um des Kaisers Bart“ entstehen. Das macht nicht nur müde, passiv und unmündig. Noch schwerer wiegt, dass Eltern sich noch unfähiger fühlen, wenn sie merken, dass es ihnen nicht gelingt, das Gehörte und scheinbar so Einfache und Vernünftige im Zusammenleben mit ihren Kindern erfolgreich umzusetzen.

Frustrierende Erfahrungen dieser Art, die ich sowohl in der Rolle als Vater von zwei Kindern als auch als Fachreferent in der Prävention und der Elternbildung machte, waren für mich der Anlass, mich mit dem Dialog zu beschäftigen.

Mein persönlicher Weg zum Dialog

Der Entwicklungsprozess zum hier vorliegenden Konzept ELTERN STÄRKEN vollzog sich über mehrere Jahre. Geformt und gefestigt wurde mein Dialogisches Verstehen in zahlreichen selbsterfahrungsbezogenen Lernprozessen auf Fortbildungen und in therapeutischen Intensivphasen, in die auch philosophische Auseinandersetzungen einflossen. Die theoretische Reflexion der Praxis mit Hilfe der wissenschaftlichen Literatur, vor allem die Lektüre der Schriften von Martin Buber, halfen mir zu verstehen, wie meine neue Seminarpraxis auszusehen hatte. An einem Beispiel wird es vielleicht nachvollziehbarer.

Im Frühjahr 2000 kehrte ich mit einer Seminargruppe in Heppenheim für ein paar Stunden in dem Haus ein, in dem Martin Buber bis zu seiner Emigration nach Israel im Jahr 1938 mit seiner Familie gelebt und 1923 sein bekanntestes Werk „Ich und Du“ verfasst hatte. Der Besuch in der heutigen Gedenkstätte berührte mich tief. Während der einwöchigen Seminararbeit lasen wir uns in einer Runde von knapp vierzig Frauen und Männern Stück für Stück aus eben diesem „Ich und Du“ vor, etwa sechs bis achtmal jeden Absatz. Jede und jeder las in der eigenen Tonlage, der eigenen Mundart oder in der Sprache des Herkunftslandes. Zunächst hatten wir Schwierigkeiten mit der Sprache Martin Bubers, da sie uns ungewohnt fremd vorkam. Doch mit der Zeit und fast unmerklich, wurde jedem von uns, ohne [25] die Worte zu analysieren, auf seine Art klar, was sie ihm bedeuteten. Jeder für sich nahm aus ihnen mit, was für ihn wichtig war. Ich spürte, es war mein Verständnis der Worte von Buber und nicht das Verständnis unserer deutsch-israelischen Seminarleitung, es war auch nicht die Interpretation der übrigen 38 Augen- und Ohrenpaare im Raum. Wir lasen nur gemeinsam, ohne uns gegenseitig von unserer Sicht in endlosen Diskussionen überzeugen zu wollen.

Es geschah etwas Merkwürdiges in jenen inspirierenden Tagen im April 2000. Bubers Idee vom „Dialog“, von „Begegnung“, von dem, was er das „Zwischen“ nennt, und von der „Anderheit des Anderen“ bekamen für mich durch das gemeinsame Lesen einen tieferen, ungeahnten Sinn. Aus den Worten Vertrauen, wachsen lassen, achtsam sein, Liebe, den anderen nicht verändern wollen, allein sein, anders sein und Respekt füreinander haben, wurden lebendige Begriffe.

Im Laufe der Jahre flossen bei der Entstehung des vorliegenden Buches nicht nur die Philosophie des Dialogs von Martin Buber, David Bohm, William Isaaks, Peter Senge und Freeman Dhority, Johannes und Martina Hartkemeyer, sondern auch Ansätze der humanistischen Psychologie, der konstruktivistischen Erkenntnistheorie, des systemischen Denkens, der ressourcenorientierten Konzeption der Salutogenese nach Aaron Antonovsky, der Präventionsansatz der Förderung allgemeiner „Lebenskompetenzen“, der durch Botwin und andere als „Life Skills“-Ansatz bekannt wurde und das Therapiekonzept der „Lebensschule“ von Walther H. Lechler für mich sinngebend zusammen.

Jeder Mensch, dem ich begegne, ist mein Lehrer

Die Konzepte „Salutogenese“, „Life Skills“ und der „Lebensschule“ verbindet der Kerngedanke, dass das Leben selbst, mit all seinen Herausforderungen, die auch Krisen einschließen, die beste „Schule“ zum Erlernen konstruktiver Strategien der Lebensbewältigung ist. Von Walther H. Lechler habe ich gelernt zu sehen, dass letztlich alle Menschen, jeder auf seine Weise, um ihren „richtigen“ Weg durchs Leben ringen, auch und gerade die Menschen, die wir aus pädagogischer Sicht für emotional und sozial inkompetent, für „auffällig“, „süchtig“ oder „krank“ erachten. Erziehung verstanden als Beziehung unter dem Aspekt des Suchens und der Unterstützung der Eltern bei ihren Suchbewegungen zu betrachten, ebnet den Weg zum Dialog. In den Elternrunden geht es im Grunde immer wieder darum, [26] die eigenen Erfahrungen im Meistern des Lebens mit anderen zu teilen und die Erfahrungen anderer zu nutzen.

Der Begriff „Elternschule“, der gerne im Umgang mit Elternkursen genannt wird, ist aus Sicht des Dialogs allerdings unpassend. Mit dem Begriff Schule wird zu häufig Belehren, Bewerten und Sanktionieren von Defiziten assoziiert und löst daher entweder Abwehr oder Langeweile aus. Zum einen kann dies erklären, warum so viele Menschen, die zwar den Austausch mit anderen Eltern bräuchten, dennoch den Elternseminaren fernbleiben und dafür mit dem Etikett „bildungsfern“ stigmatisiert werden. Andererseits befürchte ich, dass bei denen, die den Weg in Elternkurse finden, anstelle von Unsicherheit eine neue Abhängigkeit auf Seiten der Eltern entstehen kann, wenn sie versuchen, die gelernten „Ratschläge“ zu befolgen. Reinhart Wolff spricht in diesem Zusammenhang von „professionellem Autoritarismus“. Die Fachleute lehren, und die Eltern sollen lernen, es gibt ein klares „Subjekt-Objekt-Verhältnis“.

Eltern reflektieren ihren Weg, und im Rahmen dialogischer Seminare tun sie dies gemeinsam mit der Dialogbegleitung. Es geht also weniger darum, dass Eltern und ihre Kinder „erzogen“ werden müssen sondern mehr darum, dass Eltern sich darüber klar werden, dass sie ein Teil dieser Entwicklungsgemeinschaft sind, dass ihr Verhalten auf Kinder wirkt und dass sie selbst auch mitwachsen und lernen müssen. Im Dialog reden wir nicht von Beschulung, sondern von gemeinsamem Lernen von Eltern, Kindern und Fachkräften, die ja oft auch selbst wieder Eltern sind. Insofern findet der Dialog in einer Atmosphäre statt, in der jede und jeder des anderen Lehrer ist und dabei gleichzeitig Lerner bleibt.

Raum für echte Begegnung

Der Dialog ist ein Weg zu einer anderen Form des Miteinanders. Der Prozess des Dialogführens macht deutlich, wie unser Denken durch unsere Emotionen, Wünsche, Absichten, Unterstellungen und Ängste beeinflusst wird. Im Dialog ist Raum für das Aufspüren von Annahmen und Wertvorstellungen, die unserem Handeln zugrunde liegen. Im Dialogkreis kommen wir mit anderen zu uns selbst und erleben unsere Zugehörigkeit zu unseren Mitmenschen. Es geht um das Führen und Geschehenlassen von echten Gesprächen, oder wie Martin Buber sagt um „wahre Begegnung“.

[27] In Kapitel 1 gehe ich der Frage nach, wie es gelingen kann, gemeinsam mit Eltern den Schlüssel zur eigenen Stärke und zu den Potenzialen ihrer Kinder zu finden, anstatt permanent nach Fehlern zu fahnden. Im Bewusstsein der eigenen Fähigkeiten erwachsen Stärke und Zuversicht, die im Beziehungsprozess benötigt werden.

Mit den Merkmalen einer Dialogischen Grundhaltung und dem Wesen des Dialogs sowie seiner Bedeutung für persönliches Wachstum setze ich mich in Kapitel 2 ausführlich auseinander. Unter anderem beschreibe ich Dialogische Kernfähigkeiten und wie die Dialogische Haltung erlernt werden kann.

Dialog unter den oben genannten Vorzeichen ist mehr als Wissensvermittlung. Er ist Austausch über die Sachaspekte eines Themas, Erfahrungen und Verhaltensweisen, eigenes Empfinden und Ängste, die Konfrontation mit der eigenen Lebensgeschichte und nicht zuletzt geht es um sinnvolle Lebensperspektiven. Insofern spielt sich das Lernen in der Gruppe auf ganz unterschiedlichen Ebenen ab, die ich anhand des Konzeptes der „Fünf Ebenen im Dialog“ in Kapitel 3 beschreibe. Dialog ist kein Verhaltenstraining, sondern bedeutet Auseinandersetzung mit Beziehung und Begegnung mit sich selbst und eigenen Lebensidealen. Selbst-Erfahrenes und Selbst-Gelerntes stärkt Eltern und ihre Familien langfristig und nachhaltiger, als dies mit referiertem und antrainiertem Wissen der Fall ist.

Seminare über das Zusammenleben mit Kindern drehen sich immer um mehr oder weniger gelingende „Alltags- und Lebensbewältigung“. Naturgemäß macht das Ringen darum, das Leben zu meistern, vor den Dialogbegleitern nicht halt. Auch ihnen bieten die Seminare Raum zum Lernen. Welche Konsequenzen dies für ihre Arbeit im Dialogkreis hat, beschreibe ich in Kapitel 4.

So, wie wir den Dialog in jeder Elterngruppe oder in der Eins-zu-Eins-Beratung neu versuchen, ist jeder Dialog einmalig. Wir konstruieren jeden Augenblick neu in einer wirklichen Begegnung. Indem wir einen sicheren Raum für Verschiedenheit schaffen, können wir die individuell unterschiedlich erlebte „Wirklichkeit“ unserer sozialen Umgebung zulassen und uns vielleicht auch an ihr erfreuen. Zu „benutzen“ ist deshalb das Konzept Dialogischer Elternarbeit wie die „Skizze einer Landkarte“. Wir wissen vorher nicht, wenn wir von A nach B wollen, welche Umleitungen, Hindernisse aber auch abschüssigen Strecken unseren Weg behindern [28] bzw. beschleunigen. Den Weg müssen wir immer wieder neu gehen. Dialogkreise sind immer als Prozess zu verstehen. Beispielhaft beschreibe ich in Kapitel 5 zwei Seminarabende, die jederzeit erweitert und variiert werden können.

All diejenigen, die eine Methodensammlung erhoffen, mit der das Dialogische Arbeiten auf jeden Fall gelingt, werden enttäuscht sein. Ihnen liegt kein „Patentrezept-Buch“ vor. Insbesondere liegt mir daran, Mut zu machen, andere Wege in der Arbeit mit Eltern zu gehen und einen neuen Blick auf Eltern zu werfen. Handlungsalternativen und Beispiele in diesem Buch sind als Anregung gemeint. Im Kapitel 6 finden Sie unter „Einstiegshilfen und Übungen für Dialogisches Arbeiten“ u. a. Geschichten, Zeichnungen und anderes Material, das Sie selbstverständlich als Kopiervorlage benutzen können.

Genauso wenig, wie wir im Dialog den Teilnehmenden ein bestimmtes Verhalten vorschreiben, beschreibt das Buch den richtigen Weg, wie Dialog gelingt. Von Krishnamurti stammt der Satz: „Es gibt keine Methode, es gibt nur Achtsamkeit.“ Es ist dem Dialogprozess angemessen, das Konzept nicht starr zu übernehmen, sondern schöpferisch anzuwenden und kreativ zu verändern, zu ergänzen und weiter zu entwickeln.

An wen richtet sich das Buch?

„Wanderer, deine Fußstapfen sind der Weg, und nichts sonst. Wanderer, einen Weg gibt es nicht, den Weg machst du beim Gehen. Beim Gehen machst du den Weg, und blickst du zurück, so siehst du den Pfad, den du nie wieder betreten musst. Wanderer, einen Weg gibt es nicht, nur Wirbel im Wasser des Meeres.“

Antonio Machado
Das Buch beruht überwiegend auf Erfahrungen und ist als Hilfestellung für alle diejenigen gedacht, die in unterschiedlichen Zusammenhängen mit Eltern und Kindern zusammenarbeiten bzw. zusammenleben oder Elternarbeit in Form von Seminaren oder individueller Elternberatung durchführen, ganz gleich, nach welchem Konzept sie arbeiten. Letztlich richtet es sich an alle Menschen, die mit Eltern, Kindern und sich selbst im Kontakt sind. Ich denke hier an MitarbeiterInnen von Einrichtungen der Familienbildung und -beratung, LehrerInnen, SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen, MitarbeiterInnen der Polizei, ErzieherInnen, BeraterInnen, ÄrztInnen, PsychologInnen, FortbildnerInnen, Eltern, die als MultiplikatorInnen tätig sind und alle am Dialog Interessierten.

[29] Der Dialog bereichert darüber hinaus mit seiner Perpektiven-Vielfalt jede Form von Elternbildung, unabhängig vom theoretischen Hintergrund und der pädagogischen Ausrichtung des Konzeptes.

Die Schwierigkeit, einen offenen Prozess zu beschreiben

Mein Versuch, den Dialogprozess darzustellen, hat mich manche verzweifelte Stunde gekostet. Nie fand ich die endgültig letzte und befriedigende Beschreibung – denn wie sollte und konnte ich das „festhalten“, was von meiner Intention her ein offener Prozess ist, der stets neu gedacht und erkundet werden soll?

Ich fragte mich immer wieder, ob ich den Kolleginnen und Kollegen nicht etwas verkünde, was sie ohnehin schon praktizieren? Und wenn es etwas Neues ist, sind meine Vorstellungen und mein Verständnis vom Dialog überhaupt zeitgemäß, angesichts des gegenwärtigen Hypes um die Digitalisierung sowie der von Effizienzdenken und Qualitätsmanagement bestimmten Diskussion?

Andere werden mir den Vorwurf machen, zu illusorisch und zu utopisch an der Realität vorbeizudenken. Der erste Kommentar einer Lehrerin, als sie von meinem Vorhaben hörte, ein Buch über Dialogische Elternarbeit zu schreiben, war: „Die Eltern kommen doch gar nicht erst zu uns in die Schule“, um dann fortzufahren, „und dann müssten die erst mal verstehen lernen, was ich meine. Und richtig reden lernen, müssten sie auch.“ In ihren Augen sind viele Eltern von heute einfach zu blöd. Sie glaubt nicht, dass ein Dialog mit „solchen“ Menschen klappt.

Diese Bemerkung brachte mich u.a. dazu, besonderen Wert auf die ausführliche Beschreibung zu legen, wie es gelingen kann, eine positive Grundhaltung gerade zu den Menschen zu entwickeln oder zurückzugewinnen, denen gemeinhin wenig bis gar keine erzieherische Kompetenz mehr zugetraut wird und die eher misstrauisch mit stigmatisierenden Begriffen wie „bildungsfern“ oder gar „sozial schwach“ tituliert werden.

[30] Ein letzter Gedanke

Es ist nicht einfach, ein Dialogisches Seminar mit einem hohen Anteil an Selbsterfahrung zu begleiten, das erfordert eigene Erfahrung und Reflexion meiner eigenen Rolle als Dialogbegleiterin oder Dialogbegleiter und stetige „freundliche Arbeit“ an mir selbst. Ich kann nur dazu einladen und ermutigen, sich auf eine neue und vielleicht ungewohnte Position als gleichwürdig Begleitende einzulassen.

[31] 1 Die eigenen Potenziale entdecken

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[33] Wer nach Potenzialen im Menschen sucht, unterstellt, dass diese über ein grundsätzliches Entwicklungsvermögen verfügen. In Anlehnung an das Konzept der „Salutogenese“ von Aaron Antonovsky gehe ich der Fragestellung nach, was uns stärkt und was uns gesund hält. Ich gehe davon aus, „dass sich in jedem von uns ein Kraftzentrum befindet, welches das Leben erhält und mit einer universellen Kraft verbunden ist“ (Satir 1994, S. 53) – wie ausgebrannt auch immer der Mensch sein mag. Ziel Dialogischer Elternseminare ist es, sich dieser Kraftquellen zu besinnen, sie neu zu beleben und sie für die Bewältigung des Lebensalltags der Eltern selbst und ihrer Kinder nutzbar zu machen.

Die Suche nach Potenzialen verstehe ich als Aufspüren von Stärken, Fähigkeiten und verschüttetem Wissen. Sie bedeutet grundsätzliche Lebensbejahung. Wer Zugang zu seinen Fähigkeiten hat, kann Kraft entwickeln, die ihm bei den Anforderungen im Umgang mit seinen kleinen oder heranwachsenden Kindern hilfreich ist. Viele Eltern kommen mit einem Defizitgefühl in die Seminare. Sie kommen sich eher schwach denn stark vor. Sie brauchen zu allererst einen Ort, an dem sie auf offene Ohren und Verständnis stoßen. Wenn dieses Verständnis gleichbedeutend mit „Verstehen wollen“ ist, ist der erste Schritt in die richtige Richtung getan. Erkundende Fragen sind ein Schlüssel dazu.

Alle Eltern haben grundsätzlich den Wunsch und die Fähigkeit, alles möglichst „richtig“ zu machen. Sie alle wollen ihre Kinder „gut“ erziehen, unabhängig davon, ob sie aus vermeintlich pädagogischer Sicht „gute“ Eltern sind oder nicht. Sie alle werden in den Seminaren in ihrem Sein ernst- und angenommen.

Wer sich mit Beziehung, Lernen und Lehren beschäftigt, weiß, dass ständiges „Herumreiten“ auf Fehlern und Unzulänglichkeiten bzw. die Orientierung an so genanntem „idealen“ Modellverhalten nur in den seltensten Fällen die Motivation und Bereitschaft fördern, sich auf etwas Neues einzulassen oder sich gar „zu ändern“. Im Gegenteil: Der Dauerblick auf Schwächen behindert einen Lernzuwachs eher, als dass er nützt.

Auf unsere Kinder bezogen heißt das: Begleiten wir ihren manchmal unbeholfen wirkenden Wachstumsprozess auch mit seinen Misserfolgen respektvoll und wertschätzend oder abwertend und sanktionierend? Betrachten wir unsere [34] Kinder als bloßen Kostenfaktor, als „Störung“ unserer Entfaltungsmöglichkeiten, oder nehmen wir sie als Geschenk, als Bereicherung unseres Lebens und als Zukunftspotenzial auch der Gesellschaft wahr?

Fragen als Schlüssel zu den Stärken

Offene Fragen sind Ausdruck einer Suchhaltung. Die meisten Eltern kommen in der Regel mit einem Sack voller Fragen, die sie am liebsten möglichst einfach und klar – am besten aus berufenem Referenten-Munde – beantwortet haben möchten.

Wie erkenne ich, ob mein Kind sich richtig entwickelt?

Was soll ich machen? Unsere Jessica macht in letzter Zeit, was sie will.

Mein Sohn reagiert überhaupt nicht mehr. Mein Mann und ich können ihn nicht mehr erreichen. Was können wir tun?

Ich kriege meine beiden Kinder nicht vor dem Fernseher weg. Was meinen Sie, wie ich am besten vorgehen soll?

Unser Sohn Till ist in der Schule das letzte Halbjahr total abgesackt und fast nur noch mit einer Clique zusammen, die alle kiffen. Wie sollen wir ihn davon weg kriegen?

Ist man schon süchtig, wenn man jeden Abend drei Flaschen Bier trinkt? etc.

Ein sachkundiger Leiter hätte sicherlich spontan einige Antworten parat, die sich jedoch nicht selten als flüchtige Illusionen erweisen. Auch gut gemeinte und vermeintlich fundierte „schlaue“ Beiträge von Eltern und Seminarleitung verfehlen oft ihren Zweck. Vor allem aber werden die Fragenden durch einen solchen Informationsaustausch zunehmend passiver.

Als Dialogischer Begleiter weiß ich, dass der Such-Prozess für die Gruppe bzw. für Fragesteller beim Finden des eigenen „Schatzes“, der eigenen Stärken wichtiger ist als eine schnelle Lösung von außen. Auch wenn beispielsweise eine Mutter oder ein Vater bereits mögliche Antworten nennen, die diesen hilfreich sind, kann es sinnvoll sein, weitere Optionen mit Einzelnen oder der Gruppe herauszuarbeiten. Warum das? Die gefundene Lösung mag im Einzelfall für den Fragenden oder für andere in der Gruppe neue Perspektiven beispielhaft aufzeigen, anderen wiederum hilft diese „Lösung“ überhaupt nicht weiter. Das, was allen [35] langfristig im Alltag hilft, sind insbesondere eigene Gedanken und Selbstreflexion, sich selbst Fragen zu stellen.

„Es kommt mir oft vor, als wäre alles, was ich lerne und lese, erfunden. Was ich aber selber finde, das ist, als wäre es in Wahrheit schon immer dagewesen.”

Elias Canetti
Der Sinn einer Frage liegt darin, dass keine Antwort parat liegt, sonst wäre die Frage eine verkappte Antwort. Eltern finden kein Gerüst und keine Vorgabe vor, woran sie sich festhalten könnten. Und wenn sie selbst ihre Antwort gefunden haben, müssen sie die Verantwortung dafür tragen. Es gibt auch nicht Lob oder Tadel, nicht ein: „Oh, das ist klasse!“ Jede Antwort ist richtig.