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Bisher vom Autor bei KBV erschienen:

»Somniferus«

»Hexennacht«

»Das Schattenbuch«

»Hinter der Maske«

»Janus«

Michael Siefener, geb. 1961 in Köln, studierte Rechtswissenschaft und promovierte 1991 über rechtliche Fragen der Hexenprozesse. Seit 1992 ist er freier Autor und Übersetzer. Er lebt und arbeitet heute in Manderscheid/Eifel und Hamburg. Zahlreiche Veröffentlichungen, vor allem im Bereich der phantastischen Literatur. Seit einigen Jahren Mitarbeit an einer geplanten Geschichte der Zauberbücher unter Federführung von Prof. Dr. Marco Frenschkowski, Universität Leipzig.

Michael Siefener

Hinter der Maske

SCHWARZE EIFEL

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© 2019 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

Für Robert N. Bloch, mentor mirabilis

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Epilog

Prolog

Mit hämmerndem Herzen betrat er das Spukhaus. Leise schloss er die eichene Tür hinter sich und tastete nach dem Lichtschalter an der Wand, fand ihn nach längerer Suche und drückte darauf. Die Finsternis blieb. Das hatte er erwartet.

»Wenn es wieder einmal soweit ist«, hatte Gertrud gesagt, »dann fällt oft im ganzen Haus der Strom aus.« Und es werde kalt, hatte sie beteuert. Sein Atem trieb in einer kleinen Wolke vor ihm her. Er sah die weißen Schlieren im gelblichen Licht der Straßenlaterne, das durch ein kleines Sprossenfenster an der linken Wand des schmalen, nicht sehr langen Korridors fiel.

Kurz nachdem ihn Gertruds telefonischer Hilferuf erreicht hatte, war er aufgebrochen. Er hatte nicht sofort losfahren können, doch als er endlich in seinem Opel Rekord gesessen hatte, war er wie ein Besessener über die nächtliche Landstraße gerast. Noch nie war er so schnell von Sankt Thomas nach Fangenburg gelangt. Jetzt war es etwa halb eins in der Nacht.

Gertrud hatte ihm in den letzten drei Wochen viel über den Spuk berichtet, und er hatte sie immer wieder bedrängt, das Haus zu verlassen.

»Wohin sollen wir denn gehen?«, hatte sie stets gesagt und ihn mit ihren tränenerfüllten, blassblauen Augen verzweifelt angesehen. »Ich kann nicht so einfach nach Köln zurückziehen. Außerdem will ich es nicht.«

»Wer redet denn von Köln?«, hatte er gesagt. »Du findest doch problemlos ein anderes Haus oder eine Wohnung hier in der Eifel, vielleicht sogar in Fangenburg.« Er hatte ihr angeboten, das Haus zu untersuchen, denn er glaubte nicht daran, dass es dort wirklich spukte. Allerdings kannte er den Ruf des Anwesens sehr wohl.

Er stieß die Tür gegenüber dem kleinen Sprossenfenster auf, nachdem sich seine Augen an das fahle Licht der Straßenlaterne neben dem Haus ein wenig gewöhnt hatten. Gelber Schein von draußen durchwebte den Raum. Ein Bett war zu sehen, ein kleiner Kleiderschrank, ein Stuhl, ein Sessel, ein Kinderschreibtisch. Alles normal. Durch das Zimmer trieb ein leicht säuerlicher Geruch wie nach alter, verschwitzter Kleidung. Auch hier ließ sich die Deckenlampe nicht einschalten. Die große, im Zwielicht beinahe von selbst glimmernde Glaskugel dicht unter der Decke war wie ein Mond in der Nacht dieses Raumes, durch den die Atemwolken gleich zarten Nebeln zogen.

Etwas klapperte, fiel zu Boden.

Erschrocken zuckte er zusammen; sein Herz setzte einen Schlag aus. Mit zitternden Fingern suchte er in der Außentasche seines Parkas nach der kleinen Lampe, die er vorsichtshalber eingesteckt hatte. Als sie endlich brannte, richtete er das Licht auf den Gegenstand, der eben heruntergefallen war.

Nur ein Spielzeugauto. Er atmete auf. Bestimmt war es durch eine Erschütterung ins Rollen geraten; weitere Autos standen in einer Reihe noch auf dem Schreibtisch. Er ließ den Strahl der Taschenlampe durch das Zimmer gleiten. Ein Poster der Beatles an der Wand, ein Kriegsschiff oben auf dem Kleiderschrank, mit dicken, staubverklebten Spinnweben daran, die sanft im Luftzug schaukelten.

Im Luftzug? In diesem Zimmer herrschte zwar Eiseskälte, aber die Luft war eigentlich vollkommen still.

Hinter ihm regte sich etwas. Er wirbelte herum. Ein metallisches Klappern auf dem Boden. Das zweite Spielzeugauto lag nun dort. Er beleuchtete den Schreibtisch. Ein Auto nach dem anderen setzte sich in Bewegung. Kippte über die Kante. Das letzte hingegen stieg in die Luft. Und schoss auf seinen Kopf zu.

Mit einem Aufschrei warf er die Arme hoch und spürte den schwachen Luftzug des fliegenden Spielzeugautos, unter dem die Härchen auf seinen Handrücken vibrierten. Er wartete mit angehaltenem Atem auf das Geräusch des Aufpralls, doch es kam nicht. Ganz langsam drehte er sich um.

Das Auto schwebte kaum einen halben Meter von ihm entfernt in der Luft; die winzigen Räder drehten sich wild. Dann endlich sackte es nach unten, als hätte es jemand plötzlich fallen gelassen.

Benommen schüttelte er den Kopf und atmete aus. Vorsichtig verließ er das kleine Zimmer wieder.

Das Spukhaus. So hieß es in der ganzen Gegend schon seit Urzeiten. Es wurde behauptet, dass sich im achtzehnten Jahrhundert hier ein Mann das Leben genommen hat, nachdem er seine Seele an den Teufel verkauft und Dämonenbeschwörungen vorgenommen hatte. Seitdem war das Haus nur noch selten bewohnt gewesen, und häufig war von merkwürdigen Erscheinungen und Vorkommnissen berichtet worden. Bevor Gertrud ahnungslos in das Haus gezogen war, hatte es mehr als vierzig Jahre leer gestanden.

Er kam zu einer Wendeltreppe, auf dem ein gebogener, im Licht der Straßenlaterne sanft honigfarben schimmernder Handlauf ruhte. Mit schweren Schritten stieg er nach oben in den ersten Stock. Hier befanden sich das Wohnzimmer, das Esszimmer, die Küche. Schwacher Brandgeruch lag in der Luft. Die Möbel waren nichts als Schemen, gedrungene Umrisse, die im ungewissen Licht zu zittern und zu pulsieren schienen. Mit seiner Taschenlampe zerrte er Schattenteile in die Wirklichkeit, stieß sie dann wieder zurück in ihr geheimes Leben. Er sah sich eingehend um, versuchte das vorhin Geschehene aus seinen Gedanken zu verbannen, wollte das Undenkbare nicht denken.

»Glaubst du wirklich an so etwas?«, hatte er Gertrud vor einigen Wochen gefragt, als sie ihm zum ersten Mal von den Phänomenen erzählt hatte.

»Das ist kein Glaube«, hatte sie gesagt. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ich habe gesehen, wie die Sektgläser durch die Luft getaumelt sind. Und ich habe gesehen, wie Salz und Pfeffer aus den Streuern senkrecht nach oben herausgeschossen und wie Bienenschwärme durch die Küche geflogen sind. Und das Verrückteste ist, dass beides in die jeweiligen Streuer zurückgekehrt ist. Im Pfeffer war danach kein einziges Salzkörnchen und im Salz keine Spur von Pfeffer.«

Später waren es nicht mehr nur Salz und Pfeffer gewesen, sondern Messer aus der Küchenschublade, die sich wie von Geisterhand geöffnet hatte. Bei diesem Angriff wäre Gertrud fast aus dem Haus gerannt, doch schon nach einer Minute war alles vorbei gewesen. Heute Abend waren ihrem verzweifelten Telefonanruf zufolge brennende Kerzen durch das Wohnzimmer geschossen. Da hatte sie es nicht mehr ertragen und war geflohen.

Er richtete den Lampenstrahl auf die schweren Samtvorhänge vor den beiden Fenstern und erkannte deutlich die Brandspuren. Auch auf dem Perserteppich waren kleine schwarze Flecken zu erkennen. Nirgendwo hingegen sah er die Kerzen.

Er spürte die Bewegung mehr, als dass er sie sah. Blitzschnell zuckte er herum. Hinten, bei der Tür zur Treppe, war etwas vorbeigehuscht.

»Wer ist da?«, fragte er. Es war nur ein heiseres Krächzen, das ihm aus dem Mund fiel. Stille. Er hielt die Luft an; es war ihm, als hätte er damit auch die Zeit angehalten. Nicht das kleinste Geräusch war zu hören. Als er endlich wieder einen Schritt zu machen wagte, drang ihm das Knarren seiner Schuhe und das Rascheln seines Parkas erschreckend laut in die Ohren. Er ging zurück zur Treppe und leuchtete von dort aus nach oben und nach unten. Nichts regte sich. Doch er war sich sicher, jemanden gesehen zu haben.

»Kommen Sie heraus!«, rief er.

Über ihm ertönte wie zur Antwort ein dumpfes Stöhnen. Sofort schwenkte er den Strahl der Lampe wieder nach oben. Abermals glaubte er am Rande seines Blickfeldes eine Bewegung wahrzunehmen. Im zweiten Obergeschoss des an den Hang gebauten Hauses befanden sich ein Gästezimmer und Gertruds Schlafzimmer. Wie gern wäre er wieder mit ihr hier zusammen gewesen, doch nach jenem Vorfall hatte sie das beständig abgelehnt. Seitdem war sie immer nach Sankt Thomas gekommen, wenn seine Frau nicht da war. Dort liebten sie sich, dort redeten sie miteinander, dort waren sie glücklich. Manchmal trafen sie sich auch in einem Hotel in Kyllburg oder Bitburg.

Er stieg hinauf und warf einen kurzen Blick in das Gästezimmer, das wohl kaum je benutzt worden war, denn Gertrud lebte sehr zurückgezogen. Ein alter, für das kleine Zimmer viel zu wuchtiger Schrank, der so aussah, als stehe er seit der Errichtung des Hauses vor mehr als zweihundert Jahren hier, ein nicht viel neueres, unbezogenes Bett, ein Stuhl, ein Kruzifix an der Wand – das war alles. Er drehte sich um und war mit einem Schritt wieder bei der Tür.

Ich habe mich geirrt, dachte er. Hier ist nichts Außergewöhnliches. Die Spielzeugautos sind bestimmt aufgrund irgendeiner Erschütterung vom Tisch gerollt. Und der kleine Wagen, der durch die Luft geflogen und dann wie an unsichtbaren Fäden geschwebt war? Eine Sinnestäuschung.

Er trat in den kleinen Vorraum. Erstaunlich, wie das Haus selbst noch im Frühsommer die Kälte speicherte. Er betrachtete seinen Nebelatem, der durch den Lichtbalken der Taschenlampe trieb. Dann schaute er nach links, dorthin, wo Gertruds Schlafzimmer lag.

Sie stand in der geöffneten Tür.

Kopf und Beine befanden sich außerhalb des Lichtkegels, doch ihr Rosenkleid war unverkennbar. Sie verschwand in ihrem Schlafzimmer und ließ die Tür offen.

»Gertrud? Bist du zurückgekommen?«, fragte er verwundert mit immer noch schrecklich heiserer Stimme.

Sie gab keine Antwort. Er folgte ihr.

Sie stand am Fenster, hatte die Arme auf der tiefen Höhlung abgestützt und schien nach draußen zu sehen, auf die nächtliche, von der Laterne erhellte Straße. Deutlich zeichneten sich die geschwungenen Linien ihres Rückens unter dem Rosenkleid ab. Dann fiel es in sich zusammen.

Er riss die Augen auf. Es war, als hätte man aus einer Gummipuppe die Luft herausgelassen. Wie angenagelt stand er da. Das Kleid raschelte zu Boden, bildete einen kleinen Stoffhügel. Und gleichzeitig schlug die Tür hinter ihm in einem eisigen Luftzug zu.

»Da bist du ja«, ertönte eine dumpfe Stimme. Sie klang, als würde sie durch eine ungeheuer lange Blechröhre gepresst, und sie wirkte seltsam körperlos. Er leuchtete mit hektischen Bewegungen das ganze Zimmer ab, doch hier war niemand außer ihm.

»Du kannst mich nicht sehen?«, höhnte die Stimme. »Ich hingegen sehe dich sehr deutlich.«

»Wer bist du?«, wagte er endlich zu flüstern. Gelächter antwortete ihm. Er hatte das Gefühl, als ob sich genau in der Mitte des Zimmers etwas zusammenbraute. Blitzartig erinnerte er sich daran, dass der Teufelsanbeter aus dem achtzehnten Jahrhundert der Legende nach in diesem Zimmer seine Beschwörungen durchgeführt und später Selbstmord begangen hatte. Ein Wirbel entstand im Raum; nur undeutlich erkennbare Gegenstände kreisten plötzlich wie in einem Mahlstrom um die stille Mitte. Rasch wurde das Kleid davon erfasst. Es blähte sich auf, geriet in den Strudel, der einige der Gegenstände zu verschlucken und andere wieder auszuspucken schien. Bald war das Kleid verschwunden, dafür rotierten nun Messer, Gläser, eine altertümliche Brille, eine Geldbörse, ein Schlüsselbund und etliche andere Dinge, die er nicht sogleich erkannte. Sie alle lösten sich mit einem ohrenbetäubenden Schlag in Luft auf. Die Windhose fiel in sich zusammen, und nichts regte sich mehr in dem Zimmer.

Er wollte die Tür öffnen, doch entweder klemmte sie, oder sie war abgeschlossen. Hastig suchte er nach etwas, womit er die Tür aufbrechen konnte, doch er fand nichts Geeignetes. Immer wieder rüttelte er an der Klinke, ohne auch nur das Geringste zu bewirken.

Er lief zum Fenster, wollte es aufreißen und um Hilfe rufen. Doch auch das Fenster widersetzte sich all seinen Bemühungen. Nun hört er hinter sich ein zischendes Geräusch. Rasch drehte er sich um und beleuchtete das, was sich da im Kegel seiner Taschenlampe bildete.

Es war eindeutig eine menschliche Gestalt, doch sie wirkte weich und zerfließend, löste sich zum Teil wieder auf, setzte sich erneut zusammen, als kämpfte sie darum, in die Wirklichkeit einzutreten. Sie war der Ursprung der dumpfen Stimme.

»Das ist mein Haus«, sagte sie. Während sie diese Worte sprach, hoben sich Bett, Schrank, Schminktisch und Stuhl in die Höhe und veranstalteten einen schrecklichen Tanz.

Er versuchte den Möbeln auszuweichen, doch der Schrank traf ihn schmerzhaft an der Schulter. Er wurde zu Boden geworfen, rollte sich vor dem heranstürmenden Bett zur Seite und versuchte wieder aufzustehen. Der Stuhl rammte sich ihm in den Rücken und presste die Atemluft aus ihm heraus. Rote und blaue Blitze zuckten hinter seinen Augäpfeln.

Das Fenster flog mit einem Knall auf und schlug so fest gegen die Wand, dass die Scheiben zersprangen. Ein Schauer aus Splittern ging auf ihn nieder. Schützend legte er die Hände vor das Gesicht.

Als er wieder aufschaute, hatte sich die weiße Gestalt in der Mitte des Zimmers verfestigt. Arme und Beine schillerten und verschwammen noch, doch der Leib und vor allem der Kopf waren nun deutlich zu sehen.

Ungläubig starrte er auf diese Gestalt, in deren Brust sich plötzlich ein Riss auftat. Ein eiskalter Wind blies aus dem Raum durch das zersprungene Fenster hinaus ins Freie. Der Riss in der Brust der blendend weiß gewordenen Gestalt wurde breiter, und wie bei einer Geburt zwängte sich dort etwas hindurch.

Es war ein kleiner Kopf, der wie ein ungeheuerliches Geschwür auf dem rasch wieder zuwachsenden Brustkorb saß. Diesen Kopf, dieses Gesicht kannte er! Die zarten Lippen bewegten sich, zogen sich in einem hämischen Grinsen auseinander. Der Mund öffnete sich zuerst nur einen Spaltbreit, dann weiter, noch weiter. Eine Stimme, die nicht von einem menschlichen Kehlkopf gebildet wurde, sagte: »Willkommen in meiner Hölle, du Teufel.«

Er kämpfte sich auf die Beine, schüttelte die Glassplitter ab und starrte in den Schlund, der inzwischen fast den gesamten Kopf eingenommen hatte. Etwas schoss daraus hervor und auf ihn zu.

Mit erhobenen Händen taumelte er nach hinten. Er spürte die Fensterbrüstung im Rücken. Der Sturm aus der Mitte des Zimmers war so stark geworden, dass er kaum mehr dagegen ankämpfen konnte.

Das Ding aus dem Schlund des kleinen Kopfes hatte ihn erreicht. Es berührte ihn an den Lippen. Er schrie auf vor Entsetzen über die Flut unbeschreiblicher Bilder, die sich ihm ins Hirn brannten. In dem verzweifelten Versuch, sich von dem schrecklichen Tentakel fortzuwinden, lehnte er sich noch weiter nach hinten.

Und verlor das Gleichgewicht.

Und stürzte in die Tiefe.

Im Fallen sah er einen schimmernden kleinen Kopf, der wie losgelöst über ihm schwebte. Dann schlug er auf das Pflaster. Das Knacken seines brechenden Genicks war der letzte Laut, den er in seinem Leben hörte.

1. Kapitel

Mit gemischten Gefühlen schaute Arthur Dreyer an der Fassade seines neuen Hauses hoch. Der Umzugswagen war gerade erst abgefahren; drinnen warteten viele Kisten und Kartons darauf, ausgepackt zu werden. Doch für diese Arbeit blieb ihm noch viel Zeit. Ein ganzes Leben, wenn er wollte.

Arthur konnte kaum glauben, dass dieses wunderschöne Haus aus dem achtzehnten Jahrhundert nun ihm gehörte. Er bestaunte die alte Eichentür mit ihrem barocken Schnitzwerk, den Türsturz, der bereits strenge, klassizistische Merkmale aufwies, die leider leere Mariennische darüber, die breiten Sandsteineinrahmungen der Fenster, das zu beiden Seiten tief heruntergezogene Dach, das er neu hatte decken lassen, und die seltsame Figur, die hoch oben in den Giebel eingesetzt war und die er immer noch nicht deutlich erkennen konnte. Er freute sich über sein neues Heim.

Und gleichzeitig war er traurig darüber.

Als er ganz verloren in Gedanken an die Ereignisse, die ihn hierher geführt hatten, vor dem Haus stand, hörte er, wie irgendwo links von ihm eine Tür geöffnet und rasch wieder geschlossen wurde. Arthur riss sich von seinen Grübeleien los und drehte sich um.

Aus dem linken Nachbarhaus, das kaum zwei Meter von seinem eigenen entfernt stand und zur gleichen Zeit erbaut zu sein schien, war ein Mann mittleren Alters getreten und wie erstarrt stehen geblieben, als er Arthur bemerkt hatte. Der Mann war stämmig und wirkte ein wenig grob, und sein von grauen Strähnen durchzogenes Haar stand in allen Richtungen vom Kopf ab, als hätte er einen Stromschlag abbekommen. Mit dunklen, unangenehm stechenden Augen sah er Arthur an. Als koste es den Mann große Überwindung, rammte er die breiten Hände in die Hosentaschen, schritt die wenigen Steinstufen vor seiner Tür herunter und kam auf Arthur zu. Dieser räusperte sich und stellte sich mit leiser Stimme vor. Dabei streckte er die Hand aus, doch der Mann tat so, als sähe er sie gar nicht.

»Sie sind der Neue?«, brummte er.

»Wie bitte?«, fragte Arthur verständnislos.

»Der neue Eigentümer!«

»Ach so. Ja. Auf gute Nachbarschaft!«

Der Mann warf einen kurzen Blick auf Arthurs ausgestreckte Hand. »Na, dann viel Glück«, murmelte er, drehte sich um und ging die abschüssige Straße hinunter. Bald war er außer Sichtweite. Er hatte nicht einmal seinen Namen genannt.

Aus den Augenwinkeln sah Arthur, wie sich eine Gardine in einem der Häuser auf der anderen Straßenseite bewegte. Als er genauer hinschaute, wich ein Schatten in die dunkle Tiefe des Zimmers zurück.

Willkommen in Fangenburg.

Arthur beeilte sich, die wenigen Stufen zu seiner Tür hochzusteigen, warf noch einen Blick auf die steile Straße, die sich bis zur Burg hochzog, und verschwand in seinem Haus.

War es vielleicht doch keine gute Idee gewesen, hierher zu ziehen? Er betrat das Zimmer im Erdgeschoss und ließ sich schwer in den alten Ledersessel fallen, der dabei unwillig knarzte. Es war der Sessel, in dem er auch in der Kölner Wohnung am liebsten gesessen hatte. In der Kölner Wohnung …

Die Erinnerungen brachen über ihn herein, und er weinte. Er sah wieder seine Mutter, die ihn abends mit dem ewig gleichen gütigen Lächeln begrüßt hatte, wenn er von der Arbeit heimgekommen war; seine Mutter, wie sie in der Küche gestanden und für sie beide gekocht hatte; seine Mutter, wie sie neben ihm auf dem Sofa saß und gemeinsam mit ihm fernsah; seine Mutter, wie sie ihm morgens die alte, etwas verbeulte Blechdose mit den Butterbroten in die Hand drückte und ihn verabschiedete. Alles vorbei, für immer …

Arthur starrte durch den Tränenschleier die Kartons an, die sich mitten im Zimmer stapelten, dann glitt sein Blick über die schmalen, säulenartigen Vitrinen an der Wand. Sie stammten aus dem Lager des Kölner Museums für Völkerkunde und waren seit Jahren nicht mehr benutzt worden, nachdem sich die Museumsleitung entschlossen hatte, alle alten Vitrinen auszumustern und neue, modernere und besser beleuchtete anzuschaffen. Die alten hatte Arthur günstig kaufen können; sie waren gut genug für seine Sammlung.

Als er an seine Sammlung dachte, beruhigte er sich wieder ein wenig. Er wischte sich die Trauer aus den Augen, stand ächzend auf und öffnete den ersten Karton. Dieser enthielt die Acrylständer, an denen die einzelnen Stücke befestigt wurden; auch diese Ständer stammten aus dem Museum, seiner alten Arbeitsstätte. So vorsichtig, als seien sie die wahren Exponate, verteilte er sie auf die einzelnen Glasböden der Vitrinen. Dann holte er das erste Exemplar seiner Sammlung aus einem der Kartons.

Er hielt es liebevoll und bewundernd in der Hand und spürte sofort wieder die Faszination und Verlockung, die davon wie warme, einhüllende und schützende Strahlung ausging. Dann stellte er die Maske an ihren Stammplatz in einer der Vitrinen. Es war eine Nâga-Sanniya, die Maske eines ceylonesischen Krankheitsdämons. Nur die eine Hälfte des Dämonengesichts mit dem riesigen, glänzenden Auge war zu erkennen; die andere Hälfte wurde von einer aufgerichteten Kobra verdeckt, die sich aus einem Spalt zwischen den Zähnen herausschlängelte. Sie war die erste Maske gewesen, die Arthur bei einem Kölner Antiquitätenhändler gekauft hatte, und bildete die Keimzelle seiner Sammlung ceylonesischer Dämonenmasken, die er sich in den darauffolgenden Jahren zugelegt hatte.

Nach ein paar Stunden waren alle Masken ausgepackt und mit großer Sorgfalt in den schmalen Vitrinen untergebracht. Über dieser Beschäftigung hatte Arthur seine Mutter vorübergehend vergessen, doch als sie ihm nun wieder in den Sinn kam, überfiel ihn ein nagendes Schuldgefühl. Er musste unbedingt öfter an sie denken, dazu war er ihr gegenüber verpflichtet. Er war schließlich ihr dankbarer Sohn, für den sie sich aufgeopfert hatte.

Und nun war sie tot.

Erneut schluchzte er heftig und warf sich verzweifelt in seinen Ledersessel. Sein Körper zuckte unkontrollierbar. Vorbei. Alles vorbei! Nie wieder würde er in ihr gütiges, mildes Gesicht blicken, nie wieder würde sie ihn mit ihrer sanften Stimme ermahnen, endlich das Hemd zu wechseln oder sich besser zu rasieren. Jetzt war er allein, auf sich selbst gestellt, schutzlos, der ganzen Welt fremd.

Es dauerte eine Weile, bis der heiße Schmerz des Verlustes verebbte und er wieder ruhiger atmen konnte. Er seufzte, wischte sich noch eine Träne fort und stand auf. Nach einem letzten, beruhigenden Blick auf seine großartige Maskensammlung verließ er das Zimmer.

Arthur stieg die steile Wendeltreppe hoch und hielt sich dabei an dem Handlauf aus altem, glänzendem Eichenholz fest. Seine Gelenke schmerzten bei jedem Schritt. In den letzten Wochen, vor allem seit der Beerdigung, war ihm immer deutlicher bewusst geworden, dass auch er nicht mehr der Jüngste war. Natürlich, mit seinen zweiundfünfzig Jahren gehörte er noch lange nicht zum alten Eisen – seine Mutter war schließlich einundachtzig geworden –, aber er fühlte sich, als trüge er eine schwere Last auf den Schultern, die mit jedem einsam verlebten Tag drückender wurde.

Seufzend kam er im ersten Stock an, wo die Möbel aus dem Wohn- und Esszimmer der Kölner Wohnung standen. Eigentlich brauchte er kein Esszimmer, denn er war nicht einmal in der Lage, richtig zu kochen, und die Küche im rückwärtigen Teil des Hauses war so geräumig, dass er seine einfachen Mahlzeiten auch dort einnehmen konnte, aber er hatte keine Möbel weggeben wollen. Jedes Stück war mit Erinnerungen überzogen, und jedes Stück stand in diesem Haus etwa so, wie es in der alten Wohnung gestanden hatte. Nur das Maskenzimmer war neu. In Köln hatte Arthur die Vitrinen in seinem Schlafzimmer aufstellen müssen, weil seine Mutter Angst und Abscheu vor den Dämonendarstellungen empfunden hatte. Zwar war er enttäuscht darüber gewesen und hatte beständig gehofft, sie würde eines Tages wenigstens die handwerkliche Präzision und die Schönheit der Formen anerkennen, aber selbstverständlich hatte er die Meinung seiner Mutter akzeptiert.

Überall warteten die Kisten und Kartons darauf, ausgepackt zu werden. Aber das eilte nicht. Nichts eilte mehr. Arthur hatte das Gefühl, als wäre sein Leben trotz dieses Umzugs – oder vielleicht gerade wegen ihm – zum Stillstand gekommen. Ohne seine Mutter fühlte er sich so unvollständig, so verlassen.

Wahllos öffnete er einige Kartons und räumte ihren Inhalt in die Schränke, dann ließ er die halb ausgepackten Sachen stehen. Von innerer Unruhe getrieben, stieg er nach oben.

»Du kannst doch nicht einfach alles stehen und liegen lassen«, hörte er seine Mutter sagen, als er langsam und bedächtig die Treppe hochschritt. »Du musst erst eine Sache zu Ende bringen, bevor du eine neue anfängst.«

Er lächelte wehmütig und sagte leise: »Ja, Mutter.«

Vom Fenster seines Schlafzimmers aus hatte er einen wunderschönen Blick auf das unter ihm liegende Dorf, aus dessen Mitte der Turm der neugotischen Kirche wie ein Finger in den Himmel ragte. »Du musst an Gott glauben«, hatte seine Mutter immer gesagt. »Sonst kommst du nicht ins Paradies.« Ob sie jetzt im Paradies war?

Jenseits des Dorfes stieg das Gelände fast genauso steil an wie hier am Burgberg. Fangenburg lag in einem gewaltigen Krater, an dessen verwittertem und abgeschliffenem Ende sich eine Erhebung befand, auf der die Burg wie eine alte, matte Krone thronte, irgendwo über Arthurs Haus, einem Wächter gleich. Die Dächer unter ihm lagen in nachmittäglichem Sonnenschein, doch die Schatten wurden bereits länger.

Arthur wandte sich vom Fenster ab, holte aus einem der Umzugskartons Laken und Bezüge für Kissen und Plumeau und machte sich mit ungelenken Bewegungen daran, sein Bett zu beziehen. Erst als er damit fertig war, bemerkte er den Hunger, der in seinem Magen wühlte. Er erinnerte sich daran, bei seinem ersten Besuch in Fangenburg einen kleinen Lebensmittelladen unweit der Kirche gesehen zu haben. Etwas Brot, Aufschnitt, Käse und Butter würden genügen.

Arthur ging durch die stille Burgstraße hinunter ins Dorf. Dabei bemerkte er, dass sich in einem der Häuser auf der anderen Seite wieder einmal die Gardinen bewegten. So musste sich ein Tier fühlen, das in freier Wildbahn beobachtet wird. Er hatte keine Lust, sich der ganzen Straße vorzustellen, doch er beschloss, nach dem Einkauf seinem unmittelbaren Nachbarn zur Rechten einen Höflichkeitsbesuch abzustatten.

Arthur ging an der Kirche vorbei über den von großen Linden in Schatten getauchten Vorplatz, an dessen gegenüberliegender Seite das Gasthaus Zum roten Ochsen lag. Dahinter, in der kleinen, schmalen Badstraße, entdeckte er den Laden, den er gesucht hatte: Lebensmittel Bauer.

Ein mageres Glöckchen kündete sein Eintreten an. Eine dickliche Frau, etwas älter als er selbst, war gerade dabei, Süßigkeiten in ein Regal neben der Kasse zu füllen. Sie schaute auf, grüßte ihn knapp und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Rasch hatte Arthur das kleine Kühlregal in dem überfüllten Laden gefunden. Er nahm etwas Wurst, Käse und Butter, wobei er verstohlen auf das Haltbarkeitsdatum schielte – alles war frisch –, und nachdem er sich einen verpackten Brotlaib in die Armbeuge gelegt hatte, ging er zur Kasse. Die Frau wartete bereits auf ihn und sah ihn neugierig zwischen ein paar Blumensträußen an, die offenbar schon seit einiger Zeit vergeblich auf Käufer warteten.

Er legte die Waren auf das kleine Band. Die Frau tippte seinen Einkauf in eine alte Registrierkasse ein. Bevor er ihr das Geld geben konnte, fragte sie hastig, als befürchtete sie, er könnte ihr auskunftslos entweichen:

»Sind Sie hier in Urlaub?«

Arthur schüttelte den Kopf und reichte ihr einen Zehn-Euro-Schein entgegen. »Ich bin heute hierher gezogen.«

»Nach Fangenburg?«, fragte sie mit tiefem Zweifel in der Stimme, als hätte sie ihn nicht richtig verstanden. »Die meisten Leute ziehen von hier weg«, fügte sie hinzu, während sie den Geldschein annahm.

»Warum?«, fragte Arthur. »Es ist doch wunderschön hier.«

»Ja, aber es gibt zu wenige Arbeitsplätze in der Region. Hierher kann man nur ziehen, wenn man entweder schon in Rente oder aus anderen Gründen finanziell unabhängig ist.« Ihr Blick war ein einziges Fragezeichen.

Arthur musste sich anstrengen, damit er nicht schmunzelte. Aber er sagte nichts.

Schließlich schien die Frau es vor Neugier nicht mehr auszuhalten und platzte heraus: »Sie sind doch bestimmt noch kein Rentner, oder?« Sogleich schien ihr die Frage peinlich zu sein, und sie fügte schnell hinzu: »So jung, wie Sie wirken … na ja, es ist schön, dass Sie nach Fangenburg gezogen sind. Herzlich willkommen. Ich bin Annemarie Bauer. Mir gehört der Laden hier.«

Arthur stellte sich ebenfalls vor.

»In welches Haus sind Sie denn gezogen? In das Kemper’sche?«

»Ich weiß nicht, wie man mein Haus hier nennt«, sagte er und steckte dabei das Wechselgeld ein. »Es liegt in der Burgstraße und hat die Nummer zweiunddreißig.«

Frau Bauer sah ihn entsetzt an. »Also das Haus! Aber das ist doch …«

»Das ist was?«

»Ach, nichts. Ja, das stand lange leer. Ich habe mich schon gewundert, als ich Handwerker drin gesehen habe. War bestimmt viel zu renovieren, nicht war? Häuser mögen es nicht, wenn sie so lange leer stehen.«

»Ja, es war eine Menge Arbeit, aber da ich es günstig bekommen habe, hat es sich durchaus gelohnt.«

»Bis bald«, sagte sie unvermittelt und stand auf. Sie schien nun keine Zeit mehr für ihn zu haben. Während sie im hinteren Teil ihres Ladens verschwand, rief sie ihm zu: »Viel Glück.«

Arthur trug seinen Einkauf nach Hause und aß in der Küche inmitten des Wirrwarrs aus halb ausgepackten Kartons, aufgetürmten Tellern, selten benutzten Kochgerätschaften, Stapeln von geblümten Geschirrtüchern und leeren Vorratsdosen. Obwohl er vorhin so hungrig gewesen war, bekam er nicht viel herunter. Er stellte die Reste in den Kühlschrank und machte sich auf den Weg zu seinem anderen Nachbarn.

Arthur klopfte dreimal an der Tür des weiß verputzten Hauses, das mit der Traufe zur Straße gewandt im rechten Winkel zu seinem eigenen stand. Zwischen den beiden benachbarten Gebäuden befand sich ein breiter Garten, hinter dem die massige Burg mit ihren Türmen und dem Bergfried abweisend aufragte.

Sein Nachbar schien nicht daheim zu sein; alles blieb still und reglos. Arthur zuckte die Achseln. Er würde es eben morgen noch einmal versuchen.

Den Abend verbrachte er zwischen seinen Masken. Wie sehr er diese bunten Kunstwerke aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt doch liebte! Seine Leidenschaft für die Masken hatte begonnen, als er noch Aufseher im Rautenstrauch-Jost-Museum für Völkerkunde gewesen war. Täglich war er an zwei solchen Masken vorbeigeschlendert, und immer wieder hatten sie ihn in ihren Bann gezogen. Wie er bald herausgefunden hatte, waren es Dämonenmasken, die in rituellen Schauspielen eingesetzt worden waren und Krankheiten vertreiben sollten. Irgendwann hatte das Museum eine Sonderausstellung ceylonesischer Masken gezeigt, die in Arthur den bald unbezwingbaren Wunsch erweckt hatte, selbst solche Wunderbarkeiten zu besitzen. Und er war fündig geworden. Es hatte zwar viele Jahre gedauert, bis seine Sammlung einen repräsentativen Umfang angenommen hatte, aber es hatte sich gelohnt. Ein Völkerkundler aus dem Museum, den er einmal mit nach Hause genommen hatte, war begeistert gewesen. Seine Mutter hingegen nicht.

Arthur holte die Schlangenmaske, die er heute Vormittag als erste aufgestellt hatte, aus der Vitrine und setzte sie auf. Sie hatte Gucklöcher unterhalb des einen vorstehenden Auges und auf der anderen Seite in einer der Schlangenschuppen. Über den Zähnen befand sich ein Schlitz, damit der Krankheitsdämon während der Zeremonie auch sprechen konnte.

Die Welt wurde dunkel, als er sich die Maske überstülpte. Er roch das mehr als hundert Jahre alte Holz; dieser Geruch hüllte ihn genauso stark ein wie die Finsternis und verschaffte ihm immer wieder ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.

Durch die kleinen Gucklöcher kroch die Dämmerung herein. Arthur schaltete die Deckenbeleuchtung ein und trat ans Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen.

Draußen, mitten auf der steilen Burgstraße, stand eine Frau. Sie blinzelte in das plötzlich aufgeflammte Licht hinter Arthurs Fenster. Und riss die Augen auf. Und schrie.

Als sei der Teufel hinter ihr her, rannte sie in das gegenüberliegende Haus. Zuerst begriff Arthur nicht. Doch dann betastete er seine Maske und die Schlange darauf. Er musste lachen, es klang dumpf hinter dem Holz. Unmenschlich. Er nahm die Maske ab und stellte sie zurück in die Vitrine. Was mochte die Frau nun ihren Nachbarn und den anderen Leuten im Dorf erzählen? Als er daran dachte, hörte Arthur auf zu lachen und seufzte. »Na, das war wohl gerade keine besonders gelungene Antrittsvorstellung«, sagte er zu sich selbst.

Er kleidete sich zur Nacht um. Bevor er zu Bett ging, warf er einen Blick in das Gästezimmer. Auch hier stapelten sich noch die Kartons. Morgen würde er das Bett beziehen, auch wenn er keinen Besuch erwartete. Natürlich würde er dafür Mutters Bettwäsche nehmen. Leise schloss er die Tür wieder.

Kurz bevor er einschlief, hörte er aus den Tiefen des Hauses ein klackendes Geräusch. Da! Da war es wieder. Und noch einmal. Als ob ein kleiner Gegenstand andauernd zu Boden geworfen und wieder aufgehoben würde.

Bestimmt handelte es sich nur um eine knarrende Diele. Oder es war die Wasserleitung. Schließlich lebte er jetzt in einem über zweihundert Jahre alten Haus. Er würde sich daran gewöhnen müssen.

2. Kapitel

In der Nacht sah Arthur seine Mutter wieder. Sie kam ihn in seinem Schlafzimmer besuchen, hatte nebenan gelegen, im Gästezimmer, dessen Bett jetzt bezogen war, wie Arthur mit einem raschen Blick durch die geöffnete Tür feststellte, während er seine Mutter nach unten geleitete. Er zeigte ihr das Haus; es gefiel ihr sehr gut. Nur das Zimmer ganz unten, das mit den Masken in den Vitrinen, mochte sie nicht betreten. Da nahm er ihr das Gesicht ab, das auch nur eine Maske war, und stellte es in eine der Vitrinen. Als er sich wieder umdrehte, wachte er auf, bevor er den gesichtslosen Kopf seiner Mutter hatte sehen können.

Verwirrt und schweißgebadet lag er in seinem Bett. Dann kamen die Tränen. Es war immer schlimm, wenn er von seiner Mutter träumte, weil er sie dann nach dem Erwachen noch mehr vermisste. Doch dieser Traum war so grässlich gewesen! Arthur verstand ihn nicht und war zutiefst verunsichert. Schluchzend kletterte er aus dem Bett. Die Sonne schien durch den Mittelspalt in den zugezogenen Vorhängen. Als er sah, dass der kleine Wecker neben seinem Bett bereits zehn Uhr anzeigte, hastete Arthur hinunter ins Badezimmer, wusch und rasierte sich und zog sich an. Dann verließ er das Haus, sprang in sein kleines Auto, das er dicht an der Wand geparkt hatte, und fuhr nach Kyllburg, um sich auf dem dortigen Amt als Neubürger anzumelden.

Als er das Kratertal auf der einzigen Straße verließ, die in es hinein und nach Fangenburg führte, war ihm, als ließe er die Schatten der Nacht endlich hinter sich. Die Welt außerhalb des Vulkankegels erschien ihm irgendwie heller, freundlicher. Er fuhr durch Malberg, das war nicht größer, aber weitaus lebendiger als Fangenburg, und kam schließlich nach Kyllburg. Kurz hinter dem Ortseingang bog er nach rechts auf eine neu wirkende, breite Straße ab, kam über eine Brücke zu einem Kreisel und stellte seinen Micra auf den Parkplatz kurz dahinter.

Als er das Rathaus mit der geänderten Adresse in seinem Personalausweis wieder verließ, hatte er das Gefühl, unwiderruflich aus den Schatten seiner Vergangenheit herausgetreten zu sein. Er stand im Licht.

Arthur feierte seine Einbürgerung mit einem großen Mittagessen und schlenderte danach durch Kyllburg, das sich einen ebenso steilen Hang hinaufzog wie Fangenburg. Doch von der Burg, die dem Ort einen Teil des Namens gab, stand hier nur noch der Bergfried. Kurz dahinter entdeckte Arthur die kleine Stiftskirche, der er neugierig einen Besuch abstattete.

Sie war ein spätgotisches Kleinod und besaß im Chor einige der schönsten Bleiglasfenster, die Arthur je gesehen hatte. Er kam sich wie ein Tourist vor und konnte kaum glauben, dass diese Gegend nun sein Zuhause war. Als er vor dem Altar stand und staunend die Fenster betrachtete, fühlte er sich zum ersten Mal seit der Beerdigung seiner Mutter wieder glücklich.

Er blieb lange in der Stiftskirche, erkundete auch den verwunschenen Kreuzgang, atmete gierig die Stille und den weltenfernen Frieden dieses Ortes ein und machte sich erst am frühen Nachmittag auf den Rückweg nach Fangenburg.

Er fuhr in das Kratertal ein, und sogleich wucherten Schatten auf den kleinen Feldern und in den Bäumen der Obstwiesen vor dem Dorf. Arthur stellte den Wagen bei seinem Haus ab, und gerade als er die schwere Eichentür aufschließen wollte, rollte ein alter, schwarzer Mercedes an ihm vorbei und parkte vor dem Nachbargebäude zur Rechten. Ein Mann in schwarzem Anzug, weißem Hemd und schwarzer Krawatte stieg aus. Er hätte ein Bestattungsunternehmer sein können, wenn da nicht seine völlig bizarre Haartracht gewesen wäre. Der Kopf war kahl geschoren; nur ein Hauch von Schwarz lag über der Glatze, auf der allerdings von einem Ohr zum anderen ein bürstenartiger Haarkranz wie ein überdimensionierter Kopfhörerbügel thronte. Zu allem Überfluss war dieser Kranz leuchtend rot eingefärbt.

»He!«, rief der Mann Arthur zu. In seinen Augen blitzte es. »He, Nachbar!«

Arthur zögerte zunächst, doch dann schritt er die seitlichen Stufen von seinem Haus hinunter und ging auf den seltsamen Mann zu. Der Schwarzgekleidete kam ihm entgegen und streckte die Hand aus.

»Ich habe einen Nachbarn! Welch unbändige Freude erfüllet mir Leib und Geist!«

Arthur ergriff die Hand und sah dem Mann verlegen in die lachenden Augen.

»Kommen Sie herein, Sie armer Wicht«, sagte der Mann fröhlich und zerrte Arthur auf die Schwelle seines Hauses. »Treten Sie ein in die Wunderwelt von Benzedron, dem metaphysischsten Künstler der Welt!« Er schloss die Tür auf, und kurze Zeit später stand Arthur in einer Diele, die sich in nichts von den anderen Dielen dieser Welt unterschied.

»Enttäuscht?«, fragte der Mann und lachte laut. »Ja, Benzedron zerrt die Abgründe der menschlichen Seele in das Scheinwerferlicht der Kunst – und damit meine ich wirkliche Abgründe. Aber zu Hause lässt er diese Abgründe lieber da, wohin sie gehören: in der Tiefe. Bitte hier entlang.«

Ein Wohnzimmer: Anbauwand, Sofa, zwei Sessel, Tisch, Topfpflanzen auf der Fensterbank. Nur das großformatige Bild an der Wand über dem Sofa passte ganz und gar nicht zum Rest der Einrichtung. Auf einer Fläche von etwa eineinhalb Metern im Quadrat zeigte es das Innere eines fensterlosen Raumes mit feucht glänzenden Wänden. Von der Decke hingen hyperrealistisch gemalte Ketten, deren einzelne Glieder Arthur beinahe klirren zu hören glaubte. Von diesen Ketten wurde etwas gehalten, das Arthur unmöglich erkennen oder begreifen konnte. Während die im gemalten Raum vorherrschenden Farben Schwarz und Grau waren, badete das Ding zwischen den Ketten in allen möglichen Abstufungen von Rot. Das Gebilde schien zu erzittern; dunkles und helles Rot flossen ineinander und verwischten die Umrisse. Arthur glaubte einen Mund mit tiefrotem Gaumen und Zähnen aus Blassrosa zu erkennen – ein Schrei aus den Tiefen der Hölle.

»Sie bewundern Avatar 33? Sehr gut. Sie haben Geschmack, nicht wie die anderen Bauerntölpel hier. Wer sind Sie? Wann sind Sie drüben eingezogen?«

Arthur stellte sich vor und erfuhr, dass sein Nachbar mit bürgerlichem Namen Franz Schröder hieß.

»Aber wir wollen nicht über mich reden«, meinte der Künstler. »Das hören Sie noch alles von den anderen, den braven Bürgern. Nein, wir sollten über Sie und Ihr neues Zuhause plaudern. Ich wundere mich, dass überhaupt jemand das Spukhaus gekauft hat. Nicht, dass ich mich nicht darüber freuen würde …«

»Das Spukhaus?«, warf Arthur verblüfft ein.

»Natürlich. Unter diesem Begriff kennt es hier jedermann. Sie haben es bestimmt äußerst günstig bekommen, nicht wahr?«

Arthur nickte.

Schröder schenkte ihm einen Whisky ein und bat ihn, in einem der Sessel Platz zu nehmen. »Damit Sie den Avatar die ganze Zeit über im Blick haben«, erklärte er. »Sehen Sie sich das Wesen genau an. Man kann es nicht genau ansehen, das ist der Trick. Es ist ein Gott. Oder zumindest ein höheres Wesen, das von dem Zwang der Wiedergeburt endlich befreit ist. Und nun leidet es auf ewig. Schön, nicht wahr?« Schröder setzte sich in den anderen Sessel und schlug die Beine übereinander. »Manche Leute glauben, dass es in meinem Haus so aussieht wie auf diesem Bild.« Er kicherte, nahm einen Schluck Whisky, und seine Wangen wurden so rot wie sein merkwürdiger Haarkranz. »Es gibt allerdings tatsächlich einen Bereich in meinem Besitztum, der meinen Bildern entspricht. Aber den bekommen Fremde für gewöhnlich nicht zu sehen.« Er beugte sich verschwörerisch zu Arthur vor und flüsterte: »Es sei denn, ich porträtiere sie.« Dabei deutete er mit dem inzwischen geleerten Whiskyglas auf sein Gemälde.

»Wieso wird mein Haus das Spukhaus genannt?«, wollte Arthur wissen.

»Das ist eine lange Geschichte. Wollen Sie sie wirklich hören? – Also gut. Ihr Haus wurde wie meines um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts errichtet, aber im Gegensatz zu meinem hat Ihres eigentlich eine noch längere Geschichte. So soll man beim Bau auf verschüttete, wesentlich ältere Fundamente gestoßen sein. Keine Ahnung, was vorher dort drüben gestanden hat. Jedenfalls geriet gleich der erste Besitzer in den Ruf, ein Magier zu sein und seine Seele dem Teufel verschrieben zu haben. Er soll im obersten Geschoss Selbstmord begangen haben. Angeblich spukt es seitdem im Haus.« Schröder stand auf und goss sich und Arthur Whisky nach. Er setzte sich nicht wieder, sondern ging im Zimmer auf und ab und sprach wie zu sich selbst. »Daraufhin stand das Haus lange leer. Erst im frühen neunzehnten Jahrhundert kam es zu einem neuen Besitzer. Er lief einige Monate später des Nachts durch Fangenburg und schrie, in seinem Haus habe sich die Hölle geöffnet. Man hat ihn zu seinen Verwandten nach Köln gebracht; keine Ahnung, was aus ihm geworden ist. Immer wieder wurde das Haus danach für einige Monate bewohnt, und immer wieder kam es zu seltsamen Vorkommnissen. Dann stand es viele Jahre lang leer. Soweit ich weiß, sind die letzten Mieter in den späten Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts ausgezogen, und seitdem hat niemand mehr darin gewohnt. Aber der alte Lentzen hat sich standhaft geweigert, es zu verkaufen.«

»Warum hat er es sich denn schließlich anders überlegt?«, fragte Arthur, dem bei Schröders Geschichte immer unwohler geworden war.

»Er hat es nicht verkauft. Er ist gestorben, und das Haus ist an seinen Neffen gefallen, an Siegbert Lentzen. Da der arme Siegbert immer Geld braucht, hat er es zum Verkauf angeboten. Das war vor fünf Jahren.«

»So lange hat es keinen Käufer gefunden?«, wunderte sich Arthur.

»Es war halt zu teuer, vor allem, wenn man seinen Ruf bedenkt«, meinte Schröder, stellte sich hinter Arthurs Sessel und legte seinem Gast die freie Hand auf die Schulter. »Aber jetzt hat ein mutiger Städter es gewagt, den Mächten der Finsternis den Kampf anzusagen. Sie kommen doch aus der Stadt, oder?«

Arthur schluckte und nickte. Er trank den Rest seines Whiskys, der ihm ein angenehm warmes Gefühl in der Magengegend verschaffte, und stellte das Glas auf den niedrigen Tisch. Dabei entwand er sich sanft dem Griff seines Gastgebers.

»Sie haben vor dem Kauf doch bestimmt Erkundigungen über das Haus eingezogen, oder?«, fragte Benzedron.

Arthur schüttelte den Kopf. Daran hatte er gar nicht gedacht. Es war so seltsam gewesen. Er erinnerte sich genau an den Tag, als er in seinem kleinen Nissan losgefahren war, um der mütterlichen Wohnung und den quälenden Erinnerungen zu entkommen. Ziellos hatte er die Eifel durchstreift, und bei einem Halt in Manderscheid und einem Blick auf das Immobilienangebot der Volksbank war ihm der Gedanke gekommen, in diese Gegend zu ziehen. Hier wäre er weit genug von Köln entfernt, um ein neues Leben zu beginnen, aber der Stadt noch nahe genug, um seine Wurzeln nicht vollständig auszureißen. Doch die in Manderscheid zum Verkauf stehenden Häuser hatten ihn nicht besonders gereizt, und so war er weitergefahren. Er war froh gewesen, endlich einen Plan zu haben.

Als er in das enge, annähernd kreisrunde Tal mit dem bewaldeten Kraterrand, dem Dorf an der Bergflanke und der über sie herrschenden Burg eingefahren war, hatte ihn ein unbeschreibliches Gefühl der Geborgenheit, ja sogar des Triumphes befallen. Und als er in der Burgstraße an einem Haus das Schild Zu verkaufen entdeckt hatte, war ihm klar gewesen, dass er vor seinem neuen Zuhause stand. Das Gebäude hatte sogleich einen anheimelnden Eindruck auf ihn gemacht. Er hatte gespürt, dass er hier sein neues Leben beginnen und vielleicht sogar glücklich werden konnte. Es war ihm gewesen, als ob das Haus ihn angelächelt und ihm zugeblinzelt hätte.

»Erkundigungen?«, fragte Arthur wie aus dem Traum seiner Vergangenheit heraus. »Nein.«

»Das hätten Sie aber tun sollen. Jedermann hier im Ort hätte Sie warnen können. Aber vielleicht glauben Sie gar nicht an Gespenster und an die Mächte der Hölle. Schließlich kommen Sie ja aus der Stadt.«

»Glauben Sie denn daran?«

Schröder setzte sich wieder in den Sessel gegenüber seinem Gast, schaute einige Zeit den Avatar 33 an und zuckte dann die Achseln. »Ich sollte es, wenn man bedenkt, womit ich mein Geld verdiene.«

»Kann man damit wirklich Geld verdienen?«, platzte Arthur heraus.

»Mehr, als Sie sich vorstellen können. Ich bin bei der Kölner Galerie Westendiek unter Vertrag. Die meisten meiner Käufer kommen aus Japan und Russland. Alles Kranke, wenn Sie mich fragen. Wie ich selbst. Und wovon leben Sie?«

»Von … ich … bin sozusagen Privatier. Ich habe geerbt.«

»Sie Glücklicher! Und da hatten Sie nichts Besseres zu tun, als in ein Spukhaus zu investieren?«

»Haben Sie denn schon einmal … gewisse … Phänomene beobachtet?«, fragte Arthur und faltete die inzwischen schweißnassen Hände.

»Lange Zeit hindurch war alles ruhig«, antwortete Schröder. »Aber dann kamen die Arbeiter. Sie haben sie hergeschickt, nicht wahr? Ich dachte mir sofort, dass das Spukhaus endlich einen neuen Besitzer bekommen hat. Und kurz darauf war das Schild des Maklers weg. Jetzt kann der arme Siegbert wieder ein paarmal nach Bad Neuenahr zur Spielbank fahren, bis er auch dieses Geld durchgebracht hat. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ja, ich habe Dinge gesehen. Ich arbeite oft nachts, und zwar nicht hier im Haus.« Schröder machte eine Pause und fuhr sich mit der Hand über die seltsame rote Haarbürste. »Lichter«, fuhr er fort. »Ich habe manchmal zur Mitternacht Lichter in Ihrem Haus gesehen. Zuerst dachte ich, die Arbeiter hätten irgendwo eine Lampe brennen lassen, aber dann haben die Lichter getanzt, als ob sie sich freuten.«