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Von der Autorin bei KBV erschienen:

»Dunkle Schwestern«

»Nebelkind«

Erika Kroell wurde 1958 am Niederrhein geboren und starb 2016 im Ahrtal. Sie arbeitete als Rundfunk-Journalistin und Autorin und verfasste mehrere Krimis sowie phantastische Romane. Sie war Sherlock-Holmes- und Agatha-Christie-Kennerin, eine ausgewiesene Liebhaberin des traditionellen Weihnachtsfestes und interessierte sich für Numerologie. Sie war Mitglied im Deutschen Sherlock-Holmes-Club (DSHC), bei Mensa in Deutschland (MinD), im internationalen Verband der Krimi-Autorinnen Sisters in Crime (sinc) und im Verband Deutscher Schriftsteller (VS).

Erika Kroell

Nebelkind

SCHWARZE EIFEL

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© 2019 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

Inhalt

Der Eremit

Die Herrscherin

Das Gericht

Der Magier

Die Kraft

Das Rad des Schicksals

Der Hohepriester

Der Narr

Die Hohepriesterin

Der Wagen

Der Stern

Der Tod

Der Turm

Die Liebenden

Der Eremit

Wer das Alleinsein liebt, wird niemals einsam sein.
Die wirklich Einsamen aber können Alleinsein kaum ertragen.

Sarah hätte später nicht mehr sagen können, wann der Traum zum ersten Mal aufgetaucht war. Ihr schien es schließlich, als habe sie ihr ganzes Leben mit diesem Traum gelebt, als sei er Teil aller ihrer Tage und Nächte gewesen.

Tatsächlich träumte sie den Traum zum ersten Mal in der Nacht zum 3. April dieses Jahres. Und tatsächlich begleitete er sie nur ein vergleichsweise kurzes Stück ihres Lebens.

Der Nacht, in der sie den Traum zum ersten Mal träumte, war ein ganz gewöhnlicher Tag vorausgegangen. Sarah hatte nachmittags gearbeitet, wie meist an Sonntagen, hatte gegessen, getrunken, mit ihrem Kater geschmust, Wäsche gewaschen, ferngesehen, gebadet. Einige Fotos mussten entwickelt werden, und aus bereits entwickelten hatte sie eine Auswahl für eine Reportage getroffen. Sie hatte mit Kollegen über verschiedene Termine gesprochen, die in den nächsten Tagen anstanden und über eine Reportage nachgedacht, die sie für die kommende Samstagsausgabe schreiben wollte.

Ein ganz gewöhnlicher Tag.

Sie hatte sich gut gefühlt. Nicht besonders gut, aber ganz gewöhnlich gut.

Abends hatte sie sich einen Spielfilm im Fernsehen angesehen, in dem es um eine unglückliche Liebe ging, die aber dann doch noch in einem Happy End mündete. Kurz vor Mitternacht war sie ins Bett gegangen, hatte noch ein paar Seiten in einem Krimi gelesen, bis ihre Augenlider schwer wurden, gerade noch geschafft, das Licht zu löschen und war zusammengerollt wie ein kleines Kind eingeschlafen.

Der Traum schien unmittelbar danach zu beginnen. Sie öffnete die Augen und sah durch das Dunkel des Zimmers das etwas hellere Rechteck des Fensters schimmern. Dahinter lag – nahezu unsichtbar – der Garten. Schemenhaft machte Sarah eine Bewegung in der Finsternis aus, ein leise bewegter Schatten, vielleicht nur ein Windhauch in den Büschen. Sie schlüpfte aus dem Bett und trat ans Fenster. Ihre Fußsohlen spürten fast schmerzhaft die Kälte des Dielenbodens. Die Gardine war halb beiseite geschoben. Sarah spähte durch die Scheibe in den dunklen Garten. Die Finsternis war wie eine feste Wand, die kein Blick durchdringen konnte, die Nacht mondlos, der Himmel wolkenverhangen.

Sie öffnete das Fenster, und sofort blies ein kalter Wind ins Zimmer und ließ sie frösteln. Auf ihrem Nachttisch erlosch flackernd eine Kerze. Sarah konnte sich nicht erinnern, sie angezündet zu haben.

Sie lehnte sich aus dem Fenster und versuchte, ins Dunkel starrend, der schattenhaften Bewegung zu folgen, die im hinteren Bereich des Gartens ihren Blick anzog. Irgendetwas oder irgendjemand war da. Sarah spürte keine Angst, lediglich eine emotionslose Erwartung.

Die Bewegung kam näher.

Sie richtete sich auf und wartete ohne Ungeduld. Sie wusste, schon bald würde sie sehen, wer sich dort im Dunkeln verbarg. Die Konturen des Schattens wurden deutlicher. Näher und näher schwebte er auf sie zu. Sarah konzentrierte sich auf die Gestalt, die ihr langsam aus der Nacht entgegen wuchs. Sie war klein. Schmal. Langes glattes Haar umrahmte ein kleines, rundes Gesicht. Es war ein Mädchen. Sarah hatte das vage Gefühl, es schon einmal irgendwo gesehen zu haben, konnte sich aber nicht erinnern.

Sein Körper war mit einem weiten schwarzen Kleid umhüllt, das bis zum Boden reichte. Sarah konnte seine Füße nicht sehen.

Das Schattenkind öffnete den Mund und schien etwas zu sagen, aber Sarah hörte keinen Laut. »Was sagst du?« fragte sie, und ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren fremd und hoffnungslos.

Das Mädchen bewegte wieder die Lippen in dem Versuch, sich Sarah mitzuteilen, doch obwohl die Nacht sehr still war, hörte Sarah nichts. Da lächelte das Kind, hob eine Hand und winkte leicht, drehte sich um und schwebte zurück ins Dunkel, scheinbar ohne sich zu bewegen.

Sarahs Erwachen war unangenehm schreckhaft. Sie lag nackt auf ihrem Bett; die Decke war zu Boden gerutscht, und sie fror entsetzlich. Sie knipste die Nachttischlampe an und sah auf die Uhr. Kurz vor fünf..

Beide Fensterflügel waren weit geöffnet; die Gardine bewegte sich leicht im frischen Morgenwind, der das Zimmer bereits vollständig ausgekühlt hatte.

Schlaftrunken krabbelte sie aus dem Bett, schloss das Fenster und schlüpfte rasch wieder unter die Decke. Drei Stunden Schlaf standen ihr noch bevor, von denen sie keine einzige Minute versäumen wollte.

Die Herrscherin

… und immer ist da eine Frau, die weiß, was geschieht …

Erst viel später an diesem Tag, als sie an ihrem Schreibtisch in der Redaktion saß und Stichpunkte für ihre Reportage auf ein Blatt Papier kritzelte, fiel Sarah die nächtliche Szene wieder ein. Wieso war das Fenster eigentlich offen gewesen? Sie hatte es vor dem Einschlafen geschlossen, dessen war sie ganz sicher. Also musste sie es wohl auch selbst wieder geöffnet haben. Ein vages Bild blitzte in ihrer Erinnerung auf. Ein kleines Mädchen. Mit einem schwarzen Kleid. Ein Traum. Und sie war offensichtlich schlafwandlerisch zum Fenster gegangen und hatte es geöffnet.

Seltsam. Bisher war sie nie geschlafwandelt. Zumindest wusste sie nichts davon. Sie würde ihre Eltern fragen, ob sie vielleicht als Kind schon mal im Schlaf durchs Haus gegeistert war.

»Ich gehe jetzt«, sagte Gregor. Tief in Gedanken versunken, reagierte Sarah nicht.

»Hallo, Süße!« Gregor klopfte ihr auf die Schulter. Sie schrak hoch und wandte sich um.

»Ich bin jetzt weg. Kreissparkasse. Pressekonferenz.«

Sarah nickte und hob kurz eine Hand zum Gruß.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie sich auch langsam fertigmachen musste. Heute Nachmittag war sie mit der Äbtissin eines Klarissenklosters in der Eifel verabredet. Die Nonnen und das Kloster waren die Hauptdarsteller ihrer Samstagsreportage. Sie musste allerdings noch abwarten, bis Annette Walser, die Redaktionsleiterin, endlich auftauchte. Da Gregor schon unterwegs war, wollte Sarah die Redaktion nicht völlig unbeaufsichtigt lassen.

Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne schien, und obwohl es kalt war, schien das Wetter ausgesprochen freundlich zu bleiben, so dass sie schöne Fotos erwarten konnte.

In ihrer Vorstellung war das Kloster alt, düster und verwittert und sehr romantisch in einem bewaldeten Tal gelegen. Sie freute sich schon jetzt darauf, diese Stimmung, die hoffentlich nicht nur in ihrer Phantasie existierte, mit der Kamera einzufangen.

Um die Zeit bis zu Annettes Eintreffen nicht unnütz abzusitzen, füllte sie die Gießkanne mit Wasser und wanderte an Fensterbänken und Schreibtischen entlang, um die meist kümmerlichen Pflanzen zu gießen. Auf Annettes Schreibtisch prangte eine große Yucca-Palme, die permanent nach Wasser lechzte. Würde Sarah sich nicht hin und wieder erbarmen, wäre das Pflänzchen längst verdorrt. Gregor hatte auf Blumenschmuck gleich ganz verzichtet. Die Fensterbänke aber standen voll mit blühenden und satt grünen Topfpflanzen, die Sarah im Laufe der Zeit mitgebracht hatte. Die Fenster waren groß und ließen reichlich Licht herein – ideale Bedingungen für Zimmerpflanzen. Damit, fand Sarah, waren wenigstens die Fenster der ansonsten recht spartanisch eingerichteten Redaktion hübsch anzusehen.

Die Tür wurde aufgestoßen, und Annette Walser stürmte in den Raum. »Hallo«, keuchte sie. »Gregor nicht da?«

Sarah goss die Fächerpalme auf ihrem Schreibtisch. Das Wasser versickerte gluckernd zwischen den dunkelbraunen Erdkrumen. »Zur PK Kreissparkasse.«

Annette warf ihre Tasche auf den Schreibtisch und ließ sich in ihren Stuhl fallen. »Ist Kaffee fertig?«

»Klar«, antwortete Sarah und begann rasch, ihre Tasche zu packen. Wenn sie jetzt nicht schleunigst hier herauskam, würde Annette sie gleich bitten, ihr einen Kaffee zu bringen. Und Chefin hin oder her – zu solcherlei Frondiensten war Sarah nicht bereit.

Sie hängte sich die schwere Kameratasche über die Schulter und ging zur Tür. »Ich bin jetzt weg. Bis später.« Annette sah ihr ein wenig entgeistert nach, stand auf und holte sich eine Tasse Kaffee in der kleinen Redaktionsküche.

Im Auto kramte Sarah die Straßenkarte aus dem Handschuhfach und suchte den Weg zum Kloster heraus. Sie hatte die Wahl zwischen zwei Strecken: Sie könnte zuerst über die Autobahn fahren und erst auf den letzten Kilometern zur Landstraße wechseln, oder sie nutzte das schöne Frühlingswetter aus und unternahm eine Landpartie über Kempenich. Das Kloster lag irgendwo zwischen Mayen und Adenau im Wald versteckt, und es würde ohnehin seine Zeit brauchen, es zu finden. Sie entschied sich für die Landstraße.

Als sie an der Kreissparkasse vorbeifuhr, versuchte Gregor gerade, die Straße zu überqueren. Sarah hielt an und winkte ihn mit einer galanten Handbewegung hinüber. Er erkannte sie erst auf den zweiten Blick und warf ihr dann eine Kusshand zu. Sarah fing sie auf, klatschte sich den Kuss auf die Wange und winkte. Eigentlich, dachte sie, war Gregor kein übler Typ. Gut sah er aus, schlank und muskulös, und die randlose Brille gab ihm einen intellektuellen Touch. Und eigentlich war er auch ein prima Typ. Und interessierte sich für sie, oder hatte sich zumindest mal für sie interessiert, als sie angefangen hatte, für die Eifel-Rundschau zu arbeiten. Drei Jahre war das jetzt her, und Gregor hatte ihr mehrere Monate lang sozusagen den Hof gemacht. Zuerst fand Sarah diese Aufmerksamkeit angenehm und bemühte sich, darauf einzugehen. Sie gingen einmal zusammen essen, und auf dem Weg zum Parkplatz legte Gregor den Arm um ihre Taille. Sie reagierte mit gesträubten Nackenhaaren und einer Gänsehaut am ganzen Körper und beschloss daraufhin, dass die Zeit für eine Beziehung wohl noch nicht reif war. Gregor hatte noch eine Weile versucht, sie einzufangen, aber schließlich enttäuscht aufgegeben. Einerseits bedauerte Sarah, nicht wenigstens den Versuch gestartet zu haben, andererseits war sie froh, dieses Problem umschiffen zu können. Sie hatte keinerlei sexuelle Erfahrung. Sicher, manchmal fragte sie sich, ob das wohl noch normal sei in ihrem Alter. Aber andererseits: Wenn sie nicht das Bedürfnis verspürte, dann war es wohl so richtig. Hin und wieder, beim Anblick einer schönen Frau, erwog sie, ob vielleicht lesbische Ambitionen in ihr schlummerten. Aber auch das hatte sich bisher nicht bestätigt. Ich bin irgendwie asexuell, dachte Sarah. Zumindest bis jetzt.

Sie kurvte die Serpentinen nach Ramersbach hoch und folgte der Straße in Richtung Kempenich. Fast eine dreiviertel Stunde war sie unterwegs, bis sie den Wald erreichte, in dem das Kloster lag. Eine genaue Wegbeschreibung hatte sie nicht. In ihrem Telefonat hatte die Äbtissin von einem unbefestigten Weg gesprochen, den sie einschlagen musste, um das mitten im Wald gelegene Kloster zu erreichen.

Zweimal bog sie in den falschen Waldweg ein, bis sich endlich ein kleines Tal vor ihren Augen auftat und den Blick auf das Kloster freigab. Sie schätzte die Entfernung auf noch etwas mehr als zwei Kilometer. Das Kloster war klein, nicht viel mehr als ein Bauernhaus mit Scheunen, umgeben von einer teilweise abbröckelnden Bruchsteinmauer.

Sarah hielt am Waldrand und stieg aus. Aus dieser Entfernung entsprach das Kloster in etwa der Vorstellung, die sie sich davon gemacht hatte. Idyllisch, von der Sonne beschienen, friedlich.

Sie schoss ein paar Fotos, stieg wieder ein und folgte dem holperigen Waldweg bis zu ihrem Ziel. Sie parkte den Wagen dicht an der Klostermauer.

Bevor sie die Klingel an dem großen Eingangstor betätigte, trat sie ein paar Schritte zurück und ließ das Gebäude auf sich wirken. Die Mauer ließ nur einen Teil der Bauten im Inneren sehen. Sarah fotografierte aus den verschiedensten Blickwinkeln. Ein Schornstein auf dem Haupthaus stieß dicke Qualmwolken aus. Lebenszeichen waren nirgends zu entdecken. Alle Fenster des Hauses waren geschlossen.

Sarah klingelte. Wenig später hörte sie Schritte hinter der Mauer, und dann öffnete sich schwerfällig ein Flügel des großen Holztores. Eine kleine alte Frau in der schwarzweißen Tracht der Klarissen blickte sie erwartungsvoll an.

»Guten Tag.« Sarah fühlte wie ein Kind angesichts der ehrfurchtgebietenden Tracht. »Sarah Wenders von der Eifel-Rundschau. Ich bin mit Schwester Gabriele verabredet.«

Die Nonne nickte und bat sie mit einer Handbewegung herein. Mühsam schob sie die schwere Holztür wieder ins Schloss.

Sarah betrat einen gepflasterten Innenhof, der rechts vom Hauptgebäude und im hinteren Bereich von mehreren Scheunen und Nebengebäuden begrenzt wurde. Zur linken Seite erstreckte sich ein relativ großer Garten, in dem in ordentlich angelegten Beeten wahrscheinlich der Gemüsebedarf des Klosters gezogen wurde. An den Rändern der Beete wuchsen vereinzelt Krokusse und Osterglocken und unterbrachen das noch etwas triste Bild des Gartens. In einem der Beete dicht an der linken Mauerseite hockte eine Nonne und zog mit eine kleinen Hacke Furchen in die krumige Erde. Entlang der Mauer standen uralte knorrige Obstbäume. Einige setzten bereits zur Blüte an.

In ein, zwei Monaten muss der Garten herrlich aussehen, dachte Sarah. Dann werde ich nochmal wiederkommen und Fotos davon machen.

Die Nonne schlurfte langsam in Richtung des Haupthauses voraus.

»Einen Moment noch.« Sarah hielt die Kamera ans Auge und fing das Bild der Gärtnerin ein, die alten Bäume, die brüchige Mauer.

Die alte Nonne beobachtete sie geduldig, als sie den großen Innenhof halb überquerte und die Perspektiven verglich. Noch ein Foto gegen die Sonne. Wunderbar.

Jetzt die Gebäude. Das Haupthaus war ein gerader Kasten aus Bruchsteinen mit einem Schieferdach. Die Fensterläden brauchten einen frischen Anstrich. In den Scheiben spiegelte sich das Sonnenlicht. Hinter keinem Fenster konnte Sarah ein lebendiges Wesen ausmachen.

»Würden Sie sich bitte vor das Haus stellen?« bat Sarah die Nonne. Die alte Frau lächelte und nickte. Sarah drückte mehrmals den Auslöser.

Schließlich lenkte sie das Kameraauge auf die Nebengebäude, drei verschieden große Holzschuppen, dicht aneinander gebaut. An den Außenwänden hingen mehrere alte Sensen mit verrosteten Blättern, teils schartig ausgefranst und sicher seit langem nicht benutzt. Eine wackelig aussehende Holzleiter führte zum Scheunenboden hoch, auf dem früher vermutlich Stroh gelagert wurde. Sarah zoomte das Bild zu einem Ausschnitt, der die Sensen, die Leiter und ein altes Holztor gleichzeitig erfasste.

Gerade, als sie auf den Auslöser drücken wollte, öffnete sich das Tor und eine Gestalt in einem dunklen Kapuzengewand trat heraus. Ihr Gesicht lag vollständig im Schatten der Kapuze, und die beiden Hände steckten kreuzweise in den Ärmeln des Gewands. Ein klassisches Klosterbild.

Sarah zögerte einen Augenblick, die Kamera fest ans Auge gedrückt. Der Anblick dieser Kapuzengestalt ließ tief in ihr eine Saite klingen, deren Ursprung sie nicht kannte. Was war das für ein Gefühl, das dieser Mensch in ihr auslöste? Sarah horchte in sich hinein. Sie fand keine Erinnerung, die mit diesem Anblick und mit diesem Gefühl in Einklang zu bringen war.

Mit einer raschen Kopfbewegung schüttelte sie die irrationale Empfindung ab.

Die Gestalt blieb in der offenen Tür stehen und hob den Blick in Sarahs Richtung. Der Schatten der Kapuze ließ Sarah das Gesicht mehr ahnen als sehen. Sie knipste mehrmals hintereinander, bis die Person – sie konnte nicht sagen, ob Mann oder Frau, vermutete aber aufgrund der Haltung und der Körpergröße eher einen Mann – um eine Ecke der Scheune verschwand.

»Entschuldigen Sie die Verzögerung«, wandte sich Sarah der Nonne zu und lächelte.

Die Alte nickte nur freundlich und führte sie durch eine etwas modernere Tür in das Haupthaus. Über eine ausgetretene Holztreppe ging es in den ersten Stock, wo die Nonne am Ende eines mit verblichenen Teppichen ausgelegten Flurs an eine Tür klopfte.

Sie öffnete die Tür, murmelte ein paar Worte in den Raum hinein und ließ Sarah eintreten.

Hinter einem großen, einfachen Schreibtisch erhob sich eine der schönsten Frauen, die Sarah je gesehen hatte. Schwester Gabriele war noch größer als Sarah, die mit fast einsachtzig nicht gerade klein geraten war, und sehr schlank. Ihr Gesicht war schmal, mit hohen Wangenknochen, einer geraden Nase und einem kräftigen Kinn. Unter einem blonden Haaransatz bog sich eine hohe Stirn, und zwei perfekte Brauen krönten offene, graugrüne Augen, die Sarah ernst und freundlich ansahen. Trotz der klaren Schönheit und des Klarissenschleiers strahlte Schwester Gabriele absolut nichts Madonnenhaftes aus, sondern wirkte wie eine moderne Frau, die das Leben und ihr Kloster fest im Griff hatte.

Sie streckte Sarah eine schmale, lange Hand entgegen und bot ihr einen Stuhl an.

Sarah erläuterte noch einmal kurz ihr Anliegen, das sie bereits letzte Woche am Telefon ausführlich mit Schwester Gabriele besprochen hatte: Eine Reportage über das heutige Leben der Klarissen, ein wenig aus der Geschichte des Ordens, Zeremonien, Lebensunterhalt etc. Was man halt so erzählen konnte.

Schwester Gabriele hörte aufmerksam zu und wandte den Blick nicht eine Sekunde von Sarahs Gesicht.

»Ich habe leider Ihren Namen vergessen«, sagte sie, als Sarah verstummte. Ihre Stimme war warm und dunkel.

»Sarah Wenders.«

»Wie alt sind Sie, Sarah?«

»Dreiundzwanzig.« Sarah zögerte einen Moment. »Warum möchten Sie das wissen?«

Schwester Gabriele lächelte. »Es interessiert mich. Obwohl Neugier zu den Untugenden zählt, deren sich eine Klarisse nicht schuldig machen sollte, kann ich meiner Natur nicht immer widerstehen.« Aus ihrem leicht amüsierten Gesichtsausdruck schloss Sarah, dass sie sich selbst ihre Untugenden nicht allzu übelnahm.

Die Nonne setzte sich in dem geraden Holzstuhl zurück. »Aber jetzt werde ich Sie nicht weiter aufhalten. Bitte, fangen Sie an.«

Sarah hatte den Faden verloren. Die stolze, schöne Nonne irritierte und verunsicherte sie. Sie strömte eine Atmosphäre von Autorität und Überlegenheit aus, in der sich Sarah klein und dumm fühlte. Was wollte sie noch alles fragen? Sie wusste nichts mehr.

»Darf ich zuerst ein paar Fotos von Ihnen machen?« fragte sie, um den Blackout in ihrem Kopf zu überwinden.

»Gern.« Schwester Gabriele nickte und wandte sich völlig unbefangen der Kamera zu, die Sarah wie einen Schutzschild vor ihr Gesicht hielt. Während ihr Auge die Perspektiven abschätzte und der Zeigefinger unablässig den Auslöseknopf drückte, gewann Sarah ihre innere Ruhe wieder zurück. Sie nahm den Platz vor dem Schreibtisch ein, griff zu Kugelschreiber und Notizblock, stellte Fragen und notierte die Antworten.

»Wie viele Nonnen leben in Ihrem Kloster?«

»Wir sind jetzt noch zu acht. Vor wenigen Monaten ist unsere älteste Schwester mit 97 Jahren gestorben. Jetzt ist Schwester Hillaria, die sie hereingeführt hat, die älteste. Sie ist 84. Die Jüngste ist Schwester Monika mit 27.«

Mit Bedauern in der Stimme setzte sie hinzu: »Sie ist auch die letzte, die in unser Kloster eingetreten ist. Und das ist nun auch schon fast sechs Jahre her.«

Sarah notierte, dass die Klarissen offenbar Nachwuchsprobleme haben und fragte nach dem Lebensunterhalt. Das Kloster unterhielt sich vollständig selbst. Es war ein autarker Orden und keinem größeren Verband angeschlossen. Die Schwestern lebten von einer kleinen Hostienbäckerei, mit der sie den Bedarf der umliegenden Kirchen deckten. Davon kauften sie die Lebensmittel, die sie nicht selbst herstellen konnten und die Kleider, wenn denn einmal Ersatz beschafft werden musste.

Schwester Gabriele leitete das Kloster seit 17 Jahren. Ihre Vorgängerin war gestorben, und die Schwestern wählten eine Nachfolgerin aus ihren Reihen. Ganz klar, dass sie Gabriele gewählt haben, dachte Sarah.

»Meine Mitschwestern nennen mich übrigens Mutter, und Sie dürfen das ebenfalls, wenn Sie möchten.« Bei diesen Worten blickte sie Sarah fest in die Augen. Sarah brachte kein Wort über die Lippen und nickte nur.

»Möchten Sie sich ein wenig im Kloster umsehen?«

»Gern.« Sarah hängte die Kameratasche über die eine, den Fotoapparat über die andere Schulter und folgte der Nonne.

»Zuerst zeige ich Ihnen unsere Bäckerei.«

Mutter Gabriele führte sie über den Flur hinunter in das Erdgeschoss. Neben der Treppe führte eine Tür in die große Küche, hinter der die Hostienbäckerei lag. An einem breiten, hölzernen Arbeitstisch waren drei Schwestern beschäftigt, Teig zu kneten, auszurollen, Hostien zu stechen und die gebackenen Hostien zu verpacken. Sie hoben bei Mutter Gabrieles Eintreten nur kurz den Kopf. Keine sagte ein Wort.

Sarah durfte einen Blick in den Raum werfen und auch einige Fotos machen. Als sie aber an eine der Schwestern das Wort richten wollte, legte Mutter Gabriele ihr eine Hand auf den Arm, bedeutete ihr, zu schweigen und führte sie hinaus.

»Wir Klarissen unterliegen dem Schweigegebot«, erläuterte sie, als sie die Tür der Bäckerei wieder hinter sich geschlossen hatte. »Wir sprechen nur, wenn es unumgänglich notwendig ist. Niemals, um zu plaudern oder neugierige Fragen zu stellen.« Sie lächelte leicht schuldbewusst. »Jedenfalls geben wir uns Mühe. Natürlich – wenn eine Schwester mal Rat braucht oder ein liebes Wort – das ist notwendig.«

Sie traten auf den Innenhof hinaus. Die Nonne im Garten war mittlerweile einige Beete weitergekommen. Sie hob kurz den Kopf und blickte Sarah und die Schwester an. Sie war aber zu weit entfernt, als dass Sarah ihre Gesichtszüge hätte erkennen können.

»Bis vor gar nicht allzu langer Zeit«, fuhr Mutter Gabriele fort, »durften wir Klarissen praktisch keinen Kontakt zur Außenwelt haben. Selbst für unsere Verwandten gab es nur einen Tag im Jahr, an dem sie uns besuchen durften.« Sie lächelte über Sarahs verwunderten Blick. »Und bei den Besuchen war immer eine hölzerne Gitterwand zwischen uns und unseren Familien. Ein Gespräch wie dieses jetzt wäre noch vor 20 Jahren undenkbar gewesen.«

Ihr Blick wanderte zu der Gärtnerin. »Manche Schwestern sind der Öffnung unseres Ordens nach außen nicht gewachsen und ziehen es vor, auch weiterhin den alten Regeln zu folgen.« Sarah fiel jetzt erst auf, dass die alte Nonne, die sie hereingeführt hatte, auch völlig stumm gewesen war. »Einige unter uns haben keinerlei Kontakt zu ihren Familien und erhalten niemals Besuch.« Sie gingen ein paar Schritte weiter in den Hof hinein.

»Als ich die Leitung des Ordens übernahm, änderte ich einige Regeln, die mir allzu verstaubt erschienen«, berichtete Mutter Gabriele, »aber ich musste bald einsehen, dass ich meine Mitschwestern überforderte.« Sie blickte Sarah an. »Beispielsweise schaffte ich ein Fernsehgerät an und gestattete den Schwestern, die abendlichen Nachrichten zu sehen. Ich hielt es damals für gut, wenn wir wüssten, was in der Welt vor sich geht. Aber da hatte ich mich getäuscht. Die meisten Schwestern – vor allem die älteren – konnten nach all den schrecklichen Berichten, den Unfällen, Kriegen und Hungersnöten, nachts nicht mehr schlafen.« Sie lächelte in sich hinein. »Jetzt schalten wir das Gerät nur noch an, wenn der Papst seinen Ostersegen spricht.«

Wie schwer muss es für eine solch aufgeschlossene, gewandte Frau sein, mit diesen Einschränkungen zu leben, dachte Sarah.

Sie gingen ein paar Schritte weiter. Die Äbtissin erläuterte die Bedeutung der Nebengebäude: Obstscheune, Hühnerstall, Holz- und Kohlenschuppen.

»Hinter den Scheunen liegt unser Friedhof. Möchten Sie ihn sehen?«

»Gern.«

Sie gingen auf einem schmalen, ausgetretenen Pfad um die Scheunen herum. Sarah erinnerte sich wieder an die Kapuzengestalt.

»Leben ausschließlich Frauen in Ihrem Kloster?«

Mutter Gabriele bedachte sie mit einem leicht amüsierten Blick. »Selbstverständlich. Der einzige männliche Kontakt, den wir haben, ist der Priester, der einmal pro Woche kommt, um eine Messe zu lesen. Das dürfen wir nach katholischem Kirchenrecht ja leider nicht.« Sarah hörte deutlich ihre Missbilligung heraus.

»Ich dachte eben, ich hätte einen Mann gesehen. Aber da muss ich mich wohl getäuscht haben. Er – oder wahrscheinlich sie – trug einen Kapuzenmantel, ich konnte das Gesicht nicht sehen.«

»Einen Kapuzenmantel? Ich kann mir nicht vorstellen, welche der Schwestern das gewesen sein sollte«, grübelte Mutter Gabriele. »Wir tragen alle das gleiche schwarze Kleid.«

»Wie hätten Sie denn reagiert«, fragte Sarah, »wenn ein männlicher Journalist angerufen hätte, um diese Reportage zu machen?«

Mutter Gabriele musste sich deutlich ein Lachen verkneifen. »Ich denke, ich wäre damit fertig geworden.«

»Das denke ich auch«, bestätigte Sarah und lächelte.

Der Friedhof zog sich an der gesamten Rückfront der Scheunengebäude entlang und war mit einem dunklen, verwitterten Holzzaun umsäumt. Einfache Holzkreuze bezeichneten die Gräber. Es waren, wie Sarah schätzte, etwa 30.

Sie hob die Kamera und fotografierte den Friedhof vom Weg aus. Als sie jedoch darauf zuschritt, um ihn zu betreten, schüttelte Mutter Gabriele den Kopf.

»Tut mir leid, aber das geht nicht. Nur Klarissen dürfen den Friedhof betreten.«

»Warum sind Sie ins Kloster gegangen?« fragte Sarah, als sie langsam wieder zum Hauptgebäude zurückschlenderten.

Mutter Gabriele ließ sich Zeit, über ihre Antwort nachzudenken. Schließlich sagte sie: »Ich habe nach einem Sinn gesucht. Eigentlich führte ich ein ganz normales Leben, wie andere junge Mädchen auch. Ich machte Abitur, begann zuerst ein Studium, brach es dann aber ab, um eine Ausbildung als Krankenschwester anzufangen. Am Wochenende besuchte ich mit Freunden Tanzveranstaltungen, oder wir gingen ins Kino. Wir hatten viel Spaß, haben getanzt und gelacht. Aber immer hatte ich das Gefühl: Das kann doch nicht alles sein. Mir schien das alles so fade, so leer, verstehen Sie?«

Sie blickte Sarah an. »In meiner Arbeit als Krankenschwester fand ich dann zumindest ein klein wenig von dem, was ich erwartete. Ein wenig das Gefühl, helfen zu können, für andere Menschen dazusein. Nicht als isolierte Insel zu leben. Aber selbst da half ich ja nur einigen wenigen Menschen. Ich dachte darüber nach, in ein Entwicklungsland zu gehen, um das Elend der Kinder dort ein wenig zu mildern. Aber auch da wären es nur einige wenige Kinder gewesen, denen ich hätte helfen können.«

Sie dachte eine Weile schweigend nach. »Irgendwann erzählte mir eine Freundin von diesem Kloster, und ich entschloss mich, es zu besuchen. Die Atmosphäre gefiel mir sofort. Die Freundlichkeit, die Liebe, die überall spürbar war, und das Gefühl, hier für alle Menschen da zu sein. Ich lebte drei Wochen zur Probe hier und trat dann dem Orden bei. Damals war ich 23 Jahre alt.«

Sarah versuchte, in den Worten der Nonne einen Sinn zu finden. Sie verstand es nicht. Mit Bedacht wählte sie ihre Worte, um die Schwester nicht zu beleidigen.

»Aber hier im Kloster, hier haben Sie doch nur acht Menschen, um die Sie sich kümmern können. Das sind doch noch wesentlich weniger als im Krankenhaus.«

Gabriele sah sie aufmerksam an. »Hier im Kloster beten wir für alle Menschen, für alle Kinder; wir geben unsere ganze Kraft im Gebet, um das Leid der Welt zu verringern. Was sind dagegen ein paar Menschen im Krankenhaus?«

Sarah nickte, aber sie verstand es immer noch nicht.

Als Mutter Gabriele ihr schließlich vor dem großen Hoftor die Hand zum Abschied reichte, nahm Sarah nicht nur vielversprechendes Fotomaterial und einen Block voller Notizen mit, sondern auch einen Kopf voll widerstreitender Eindrücke.

Die gesamte Fahrt über dachte sie an Mutter Gabriele, die schöne stolze Nonne, alles andere als demütig und keinesfalls von gestern, aber dennoch in ihrem Glauben verwurzelt, der so tief war, dass Sarah ihn nicht einmal erahnen konnte. Mutter Gabriele schloss das Holztor und schlenderte langsam in den Hof zurück. Tief in Gedanken versunken, bemerkte sie Schwester Hillaria erst, als sie direkt vor ihr stand. Gabriele überragte Hillaria um fast einen halben Meter. Die alte Nonne hob den Kopf und sah Gabriele besorgt an. Die erwiderte den Blick lange und nickte dann leicht. Sanft streichelte sie der Alten über den Kopf. »Ja, meine Schwester, ich habe es bemerkt. Genau wie du.«

Gleichzeitig wandten sie den Kopf und betrachteten Schwester Advenia, die schon seit den frühen Morgenstunden im Garten hockte und unermüdlich in den Beeten ihre Gemüsesamen unterbrachte. Als spürte sie die plötzliche Aufmerksamkeit, erhob sich Advenia aus ihrer gebückten Haltung, straffte den Rücken und wandte sich den beiden Frauen auf dem Hof zu. Keine sprach ein Wort.

Dann faltete Gabriele die Hände und begann ein stummes Gebet. Hillaria tat es ihr nach, und nach kurzem Zögern legte auch Advenia die Handflächen aneinander.

Das Gericht

Jeder Tag ist der jüngste Tag

Mutter, nun setz dich doch endlich zu uns«. Annas Art, selbst dann noch in der Küche hin und her zu laufen, hier einen Topf wegzuräumen und dort einen Fleck abzuwischen, wenn das Essen bereits auf den Tellern dampfte, reizte Sarah immer wieder. Obwohl Anna Wenders im Grunde ein ruhiger Mensch war, hetzte sie unaufhörlich von einer Arbeit zur anderen, gönnte sich kaum eine Pause, aß auch nicht in Ruhe, sondern hatte schon während des Essens das Spülwasser im Sinn, das auf dem Herd heiß wurde. Sarah hatte sich schon oft gefragt, welcher verdrängte Komplex dahinter stecken mochte. Was war die Ursache für Annas zwanghaftes Bemühen, Leistung zu zeigen, unentbehrlich zu sein oder einfach nur zu gefallen? Meist endeten Sarahs Gedankengänge in der Vermutung, dass Anna einfach nur geliebt werden wollte. Sie liebte ihre Mutter natürlich, und sie war sicher, dass auch ihr Vater seine Frau liebte. Aber Anna war nicht der Typ, der offene Gefühlsäußerungen zuließ oder gar herausforderte. Man konnte sie lieben, zweifellos, aber es war fast unmöglich, es ihr zu zeigen.

Anna Wenders setzte sich zu Mann und Tochter an den Tisch und nahm Messer und Gabel.

»Guten Appetit.«

Sarah begann zu essen, ließ aber nach wenigen Bissen die Gabel sinken.

»Haben wir eigentlich niemals vor dem Essen gebetet?« fragte sie.

Ihre Eltern blickten überrascht auf. »Nein, noch nie. Wie kommst du darauf?« fragte Jakob.

»Ich dachte nur so darüber nach. Ich war heute in einem Kloster, weißt du.«

Sarah nahm die Gabel wieder in die Hand und aß weiter. Anna warf Jakob über den Tisch einen halb besorgten, halb ängstlichen Blick zu.

»In welchem Kloster denn?« fragte sie.

»Bei Mayen. Ich wusste bis jetzt gar nicht, dass es dort ein Kloster gibt. Es war hochinteressant.«

Sarah berichtete von ihrem Besuch bei Mutter Gabriele und schilderte den tiefen Eindruck, den diese Frau auf sie gemacht hatte.

»Ich fragte sie, ob sie denn nichts vermisse in ihrem Leben, Mann und Kinder und so. Aber sie sagt: Alle Kinder dieser Welt sind auch ihre Kinder, und Christus ist ihr Mann. Ist doch faszinierend, oder?«

Anna und Jakob antworteten nicht. Das Thema schien sie nicht sonderlich zu interessieren. Sie blickten beide auf ihre Teller und aßen weiter.

Sarah seufzte. Die Vorstellungswelt ihrer Eltern war geprägt von Fernsehserien und Talkshows. Da waren alle Leben irgendwie aufregend, und selbst Nonnen schlitterten von einem Abenteuer ins andere. Berichte aus dem realen Alltag, der Sarah meist wesentlich interessanter vorkam als die Flitterwelt des Films, entlockten ihnen meist nur ein gelangweiltes Gähnen.

Nur selten konnte sie die Aufmerksamkeit ihrer Eltern mit einem Bericht aus ihrem Leben wecken. Die wenigen Male, die sie sich ernsthaft und ausgiebig mit ihrem Vater unterhalten hatte, verwahrte Sarah wie einen wertvollen Schatz in ihren Erinnerungen. Meist schien Jakob Sarahs Existenz nur am Rande wahrzunehmen. Er schien immer tief in Gedanken zu sein, mit sich selbst oder seinen Erinnerungen beschäftigt.

Anna dagegen war niemals bereit oder fähig gewesen, mit Sarah ein ernsthaftes Gespräch zu führen. Sie verschanzte sich hinter ihrer Hausarbeit, wertete Putzen und Kochen zum Inhalt ihres Lebens auf und ließ keine guten oder schlechten Gefühle diesen Schutzschild durchbrechen. Dabei war Sarah immer schon davon überzeugt gewesen. dass ihre Mutter in dieser Rolle nicht wirklich glücklich war.

Versuche, mit ihr darüber zu sprechen, scheiterten stets an der allerersten Hürde, die da lautete: »Aber Kind, ich tue das doch alles gern.«

Sarah fühlte, dass ihre Eltern sie nicht ernst nahmen, ihre Erfahrungen gering schätzten und sich im Grunde nicht für sie interessierten. Schon als kleines Mädchen hatte sie sich oft in dem Gefühl in ihr Zimmer zurückgezogen, ihre Gegenwart sei den Eltern unerwünscht. Wenn diese Erkenntnis sie vielleicht anfangs geschmerzt hatte – allerdings erinnerte sie sich nicht daran -, hatte sie doch schnell zu einem neuen Selbstverständnis gefunden, und bald schon war sie sich selbst genug. Gespräche mit den Eltern ersetzte sie durch Selbstgespräche, und an Stelle ihrer Mutter umarmte sie ihre Puppen und Teddybären.

Auch das Leben von Mutter Gabriele schien einzig und allein sie selbst zu interessieren. So verzichtete sie darauf, ihre Erlebnisse weiter zu schildern und beendete ihre Mahlzeit.

Anna stand bereits an der Spüle und bereitete Kaffee zu. Ihr Teller war noch halbvoll, aber Sarah wusste, dass sie den Rest zwischen Hin und Her von Kaffeekochen und -trinken, Spülen und Aufräumen essen würde. Während sie Anna beobachtete, fiel ihr der seltsame Traum wieder ein.

»Habe ich eigentlich früher mal geschlafwandelt?«

Anna unterbrach kurz das Aufgießen des kochenden Wassers auf das Kaffeepulver, um Sarah einen fragenden Blick zuzuwerfen. »Nein, ich erinnere mich nicht. Du, Jakob?«

Sie wandte ihnen wieder den Rücken zu.

Jakob schüttelte den Kopf. »Mm.«

»Dann bin ich wohl vorgestern Nacht zum ersten Mal geschlafwandelt«, verkündete Sarah. Tatsächlich schien sich Jakob dafür zu interessieren. Er wandte ihr sein immer irgendwie müdes Gesicht zu. »Aha. Und wie hast du das gemerkt?«

Sarah freute sich über sein Interesse. »Als ich frühmorgens aufwachte, war das Fenster sperrangelweit offen. Und ich hatte es abends auf jeden Fall zugemacht. Da bin ich ganz sicher, weil ich das immer mache.«

»Das ist auch besser«, mischte sich Anna in vorwurfsvollem Ton ein. »Schließlich wohnst du im Parterre, und wie schnell ist da mal einer eingestiegen.«

Sarahs Ton klang gereizt, als sie antwortete. »Ich sage ja, ich mache es immer zu. Aber vorgestern Nacht bin ich offensichtlich wieder aufgestanden und habe es geöffnet. Und da ich nichts davon weiß, nehme ich an, dass ich geschlafen habe.«

»Schon merkwürdig«, stellte Jakob fest und griff nach der Tageszeitung, die hinter ihm auf der Fensterbank lag.

Thema erledigt, dachte Sarah.

Eilig trank sie den heißen Kaffee, den Anna vor sie hingestellt hatte, während Jakob las und Anna das Geschirr spülte. Dann sprang sie auf, küsste ihre Eltern auf die Wangen und fuhr in die Redaktion zurück.

Nicht zum ersten Mal dachte sie daran, die täglichen Mahlzeiten bei ihren Eltern einzustellen. Das gemeinsame Mittagessen war obligatorisch, seit Sarah vor mehr als drei Jahren Zuhause ausgezogen war und eine eigene Wohnung unterhielt. Einerseits sicherte sie damit die Verbindung zu ihren Eltern und konnte sich täglich von deren Gesundheit überzeugen, andererseits waren Anna und Jakob die einzigen Menschen, zu denen Sarah intimen Kontakt hatte. Hatte sie schon in der Schulzeit keine engen Freundschaften geschlossen, so fiel ihr dies mit zunehmendem Alter immer schwerer. Und seltsamerweise vermisste sie es auch nicht.

Mehr und mehr aber empfand sie das Schweigen in ihrem Elternhaus frustrierend. Selbst in Gesellschaft ihres Katers war eine lebhaftere Unterhaltung möglich.

Dennoch fuhr sie weiter jeden Mittag das Ahrtal hoch, betrat das alte Haus, in dem sie viele Jahre gelebt hatte, setzte sich an den Tisch, plauderte manchmal ein wenig vor sich hin und fuhr nach Hause in dem unguten Gefühl, nur ihre Pflicht getan zu haben.

»Rüdiger!« Sarah ließ die Tür ins Schloss fallen, warf ihre Jacke über den einzigen Haken im Flur und ging in die Hocke, um Rüdiger aufzufangen, der wie ein weißgrauer Blitz aus der Küche geschossen kam und auf ihren Schoß sprang.

»Hallo, mein Liebling, wie ist es dir heute ergangen?« Sarah streichelte das weiche Nackenfell des Katers. Rüdiger schnurrte und rollte sich in Sarahs Schoß zusammen.

Sie nahm ihn auf den Arm und trug ihn in die Küche. Mit einer Hand füllte sie seine Futterschale und schüttete frische Milch in eine zweite. Während Rüdiger futterte, goss Sarah eine Kanne Tee auf und trug sie in die Dunkelkammer am Ende des Flurs. Die nächste Stunde würde sie dort verbringen.

Fast jeden Tag beglückwünschte sich Sarah zu der Entscheidung, in einem Zimmer ihrer kleinen Wohnung eine Dunkelkammer einzurichten. So war sie unabhängig von den Arbeitszeiten ihrer Kollegen, konnte zu jeder Tages- und Nachtzeit ihre Filme entwickeln und viel mehr Zeit Zuhause verbringen als vorher, da sie auf die Dunkelkammer in der Redaktion angewiesen war. Die Kosten waren zwar etwas höher, denn nun musste sie die Arbeitsmaterialien wie Fotopapier und Fixierbad selbst bezahlen, aber für die gewonnene Freiheit war das kein zu hoher Preis.

Sie schloss die Tür und sperrte Rüdiger aus. Er entwickelte in der Dunkelheit stets seine Jagdinstinkte und war anfangs sogar einmal mit einem kühnen Sprung in der Entwicklerwanne gelandet. Sarah musste ihn in der Badewanne abspülen, und davon waren sie beide so wenig begeistert gewesen, dass Rüdiger künftig vor der Tür bleiben musste.

Zwei Filme hatte sie zu entwickeln, einen von zwei verschiedenen Terminen am Wochenende, einen vom Kloster. Hoffentlich kam die Atmosphäre der alten Gemäuer in den Schwarz-Weiß-Fotos richtig zur Geltung. Und die Ausstrahlung von Schwester Gabriele. Mutter Gabriele, verbesserte sich Sarah.

Im Dunkeln fädelte sie die Filme in die Entwicklerdose und wartete die Zeit ab. Sie legte die Negative in das Belichtungsgerät und betrachtete sie. Die Bilder vom Altstadtfest der Werbegemeinschaft waren in Ordnung. Lachende Kinder, die Luftballons in den Händen hielten oder ein Glücksrad drehten, die Vorsitzenden der Werbegemeinschaft, in einer Reihe aufgestellt wie die Ölgötzen, spontan in die Kamera grienend. Der zweite Termin war eine Jahreshauptversammlung des Jugendhilfevereins gewesen. Nur zwei Fotos waren hiervon tatsächlich von Belang: Einmal der Vortragsredner am Pult, der recht vernünftig über die Notwendigkeit einer organisierten Freizeitgestaltung für Jugendliche gesprochen hatte, und zum anderen drei jugendliche Arbeitslose, die bei einem Projekt des Jugendhilfevereins brüchige Trockenmauern im Weinberg sanierten. Beide Bilder würde sie mit Sicherheit verkaufen können.