Gerd Frey

DER ÜBERGANG

Transition & Evolution 2.0

 

 

AndroSF 91

 


Gerd Frey

DER ÜBERGANG

Transition & Evolution 2.0

 

AndroSF 91

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Juni 2018

p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Lothar Bauer

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 135 8

 


In Erinnerung an Verlust und Neubeginn.

 

 

Mein besonderer Dank gilt dem

Letterratten-Team

Florian Tietgen

und meiner Lebenspartnerin

Uta Siefert

 


Teil I: Dali

 


eins

 

 

Zuerst war es nur eine Ahnung von etwas Störendem, ein Reiz, der sich lästig und beharrlich bohrend bemerkbar machte. Das Gefühl sickerte tröpfelnd durch die Schichten seines Bewusstseins, bis er das grelle Licht bemerkte, dem er ausgesetzt war. Zorn wallte in ihm auf. Das Licht war quälend und stieß ihn nach und nach aus der traumlosen Dunkelheit. Er kniff die geschlossenen Augenlider noch fester zusammen und versuchte in die Realität zurückzufinden. Seltsamerweise lieferte ihm sein Gedächtnis nicht den geringsten Anhaltspunkt. Er drehte sich auf die Seite und stöhnte vor Schmerzen auf. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, warum seine Muskeln ihn so peinigten. Ein Muskelkater erstreckte sich über die meisten Körperpartien.

Das Licht erschien ihm jetzt weniger intensiv. Er öffnete die Augen einen Spalt weit, und sein Blick traf auf eine mit winzigen Kondenstropfen überzogene Fläche, die sich über seinem Kopf wölbte. Milchiges Glas, durch das man den dahinter liegenden Raum nur erahnen konnte.

Plötzlich war ihm die Erinnerung an einen Öffnungsmechanismus präsent – ein seltsam bezugsfreies Gedankenfragment, unwirklich und fremd. Dennoch wusste er jetzt, dass sich direkt neben seiner linken Hand ein Schalter befinden musste. Er tastete mit den Fingern vorsichtig danach und traf schließlich auf eine kleine, feste Ausbuchtung. Wie von selbst löste er die Sicherungsverriegelung und berührte den freigelegten Sensor.

Ein Ruck und die Glasfläche fuhr mit leisem Summen in einen Spalt ein. Augenblicklich drang eisige Kälte an seine Haut. Reflexartig krümmte er sich zusammen, bevor heftiges, nicht zu unterdrückendes Zittern seinen Körper erfasste und die Kälte unerträglich wurde.

Er setzte sich auf,

Ein kaum wahrnehmbares Geräusch. Ein leises Knacken und Rascheln. »Herzlich willkommen, Oliver Murray.«

Die warme weibliche Stimme umspülte ihn wie das zarte Plätschern eines Bachs. »Du befindest dich an Bord des Kolonistenschiffs Dali und bist soeben aus der Sprungschlafphase, in die du während des Wieckel-Rhien-Raumsprungs versetzt wurdest, erwacht.«

Während die Stimme weiterredete, machte ein stumpfer Schmerz in seinem Kopf auf sich aufmerksam. Das dumpfe Pochen ähnelte den Migräneanfällen, unter denen er gelegentlich litt.

Die Erwähnung der Dali reaktivierte Olivers Erinnerungen. Er hatte sofort das majestätisch im Vakuum schwebende Raumschiff vor Augen, das viele Jahre lang direkt im Weltraum aus unzähligen vormontierten Modulkörpern zusammengebaut worden war.

Er erinnerte sich auch an die verschwommenen, grobpixeligen Fernsehbilder des neu entdeckten Planeten. Auf den schlecht aufgelösten Bilddaten sah er der Erde zum Verwechseln ähnlich. Automatische Sonden hatten mehr als zehn Jahre vor dem Start der Dali die verblüffenden Informationen über das sonnennahe Doppelsternsystem zur Erde gesandt. Prokyon A und B besaßen sechs Planeten, zwei umkreisten Prokyon A, und einer von ihnen war ein unberührter erdähnlicher Himmelskörper mit viel Wasser und einer auch für menschliche Lungen geeigneten Atmosphärenzusammensetzung.

Da ihn die Bord-KI geweckt hatte, schien das Schiff seinen Zielpunkt erreicht zu haben. Er befand sich demzufolge jetzt ganze zwölf Lichtjahre von der heimischen Sonne entfernt, genau im Orbit jenes erdähnlichen Planeten um Prokyon A. Leichter Schwindel erfasste ihn. Er schloss einen Moment die Augen und atmete in langsamem, gleichmäßigem Rhythmus. Konnte das wirklich sein?

Er erinnerte sich an ausführliche Lagebesprechungen und riesige Mengen von Informationsmaterial. Das meiste davon betraf den Planungsablauf während der ersten Wochen der Aufbauphase. Schon Monate, bevor die Schiffsbesatzung aus dem Kälteschlaf geholt wurde, sollten automatische Einheiten damit beginnen, ein großes Basismodul auf dem fremden Planeten zu errichten. In den integrierten Wohneinheiten konnten die Pioniere die ersten Wochen verbringen und die Besiedlung ihrer neuen Heimat vorbereiten.

Unter Schmerzen erhob sich Oliver und blickte sich um. Seltsam, sämtliche Cryokammern waren ausgefahren, die Liegen leer. Eigentlich hätte die gesamte Besatzung zur selben Zeit geweckt werden müssen. Er ging zur nebenstehenden Liege und berührte den Bezug. Das Material war kalt und wies keine Eindruckstellen auf. Er fuhr leicht mit der Handfläche darüber und zuckte zurück, als schwache Entladungen seine Fingerspitzen trafen.

Kira. Die Erinnerung an sie wischte augenblicklich alle anderen Empfindungen und Gedanken beiseite, und ein Gefühl der Wärme durchströmte ihn. Ihr Gesicht erschien vor seinem innerem Auge: ihr wacher, oft herausfordernder Blick, die eine Spur zu groß geratene Nase und der meist zu einem frechen Lächeln verzogene Mund. Aber in ihren Zügen standen auch Traurigkeit und Melancholie.

Sie hatten sich damals beide für den Flug ins Unbekannte entschieden, um dem sterbenden Lebensraum Erde zu entfliehen. Schon früh während des Studiums hatten sie sich kennengelernt, und es dauerte einige Zeit, bis er mit ihrer bisweilen unsensiblen Direktheit umgehen konnte. Nach dem Studium hatte Kira einen Job in der Forschung bekommen und konnte sich mit ihrem Lieblingsthema – autarken biologischen Systemen – beschäftigen. Das alles schien eine Ewigkeit her zu sein.

Oliver suchte sein Kleiderfach. Ein kleines Display über einem der grauen Schließfächer zeigte unruhig flackernd seinen Namen. Eine Berührung mit dem Finger entriegelte das codierte Schloss. Hose, Shirt, Unterwäsche und Strümpfe lagen sauber übereinandergestapelt. Das quälende Ziehen seiner Muskeln ignorierend, zog er sich an. Erst Minuten später und nachdem er monoton hin und her gelaufen war, ließ das Gefühl der Kälte langsam nach. Es dauerte noch fast eine halbe Stunde, bis sein Körper nicht mehr unkontrolliert zitterte.

Mit flauem Magen stellte er sich vor die Tür zum Hauptgang, und nahezu geräuschlos fuhr die Türplatte in den Spalt der Seitenwand ein. Er trat auf den Flur hinaus, hielt jedoch gleich darauf in seiner Bewegung inne. Der Gang war nur dürftig beleuchtet. Der größte Teil der Lichtquellen war ausgefallen und der Boden mit unzähligen Splittern übersät. Einen Moment lang kehrte das Zittern in seinen Körper zurück, und seine Füße drohten wegzurutschen. Mit leisem Rasseln schloss sich die Tür hinter ihm. Jetzt war der Korridor noch dunkler als zuvor.

Oliver verharrte einige Sekunden. Es war still, nirgendwo gab es eine Bewegung. Er zwang sich zu langsamen und tiefen Atemzügen und wartete, bis er der Kraft in seinen Beinen wieder vertraute. Dann ging er widerstrebend weiter, die Anspannung wie ein fester Knoten in der Brust.

 

Unter einer flackernden Lichtröhre bemerkte er einen großen dunklen Fleck auf dem Boden, und nach ein paar Schritten erkannte er eine getrocknete Blutlache. An einer Seite war das Blut der Länge nach verschmiert, als hätte man einen leblosen Körper über den Gang gezogen.

Die Tür zum Kontrollraum stand offen, und heraus drang furchtbarer Gestank. Oliver wurde augenblicklich übel, sodass er sich an der Wand abstützen musste und blassrosa Schleim erbrach.

 

 

Er bedeckte die Leiche mit einem Tuch. Bei dem Toten handelte es sich um Ian, einen der vier Piloten. Er hatte den Namen von der ID-Card abgelesen. Der Schädel zeigte deutliche Spuren von Gewalteinwirkung, und anhand des Gesichts hätte er den hageren Piloten nicht wiedererkannt: verwüstet und aufgequollen, jedes individuelle Merkmal daraus verschwunden. Sein Tod musste schon vor Tagen eingetreten sein. Er würde die Leiche hier nicht so liegen lassen können, im Moment war er jedoch nicht in der Lage, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

Ian war relativ spät zum Auswahlteam gestoßen. Jetzt erinnerte er sich an weitere Gesichter von Mannschaftsmitgliedern, und plötzlich schoss es heiß durch seinen Körper. Was, wenn sie ihn hier allein zurückgelassen hatten? Wenn die Mannschaft Hals über Kopf geflüchtet war und ihn in seiner Cryokammer vergessen hatte?

 

 

Oliver setzte sich vor eine Konsole, die ihm Zugang zum Schiffsbewusstsein ermöglichte, und aktivierte die Verbindung. Sein Blick wurde weiß überblendet, und sofort fand er sich im virtuellen Kontrollbereich wieder. Schnell hangelte er sich durch das Adergeflecht der Schiffskontrollen und stieß auf einen Teil stillgelegter Segmente. Entweder war das gesamte Antriebssystem außer Betrieb oder die Verbindung zum Schiffsbewusstsein fehlerhaft.

»Kommunikationskanal aktiv?«, fragte er.

»Positiv«, antwortete die weibliche Stimme des Schiffs. Sie wirkte warm und nicht wie die einer KI.

»Wie viele überlebende Besatzungsmitglieder sind an Bord?«

»Unbekannt. Keine Informationen.«

»Was ist mit dem Schiff passiert?«

»Frage bitte detaillierter.«

»Wodurch wurde ein Teil der Besatzungsmitglieder getötet?«

»Kollision mit Fremdkörper«, kam es nach einem kurzen Zögern. »Zu wenige Informationen …«

»Aktuelle Positionsbestimmung.«

Es folgten eine Reihe von Zahlen, aus denen er schlussfolgern konnte, dass die Dali ihr Ziel nicht erreicht hatte. Kalt und stechend drang diese Erkenntnis in sein Bewusstsein. Ein solch unerwarteter Zwischenstopp bedeutete das Ende der Expedition. Die Treibstoffreserven waren ausreichend für einen vollen Beschleunigungsvorgang, kleine Kurskorrekturen und den Bremsvorgang, mehr Spielraum gab es nicht. Möglicherweise trieb das Schiff antriebslos und Lichtjahre vom nächsten Stern entfernt durchs All. Für die Besatzung würde das eine ereignislose Existenz bis ans Ende ihrer Tage bedeuten.

»Gibt es weitere Lebenszeichen an Bord?«

»Zwei Impulse, Lebewesen Stufe eins, aus der Biozone; ein Impuls, Lebewesen Stufe drei, aus der Laborzone.«

»Bitte genauere Informationen zu Lebewesen Stufe drei.«

»Informationsbeschaffung nicht möglich. Lebensformen unbekannt.«

»Videoüberwachung in Laborzone aktivieren.«

»Videoüberwachung offline. Reparatur wegen Ausfall eines Teils der Regenerationssysteme nicht möglich.«

»Kommunikationskanal exit.«

Es folgte eine weitere Überblendung, und Oliver fand sich vor der Konsole wieder. Er lehnte sich zurück. Bei Lebewesen Stufe eins müsste es sich um Menschen handeln, aber was befand sich noch in der Laborzone? Dort waren allenfalls Organismen der Stufe sechs untergebracht. Von denen gab es jedoch keine Signatur. Kopfzerbrechen bereitete ihm besonders die Information über die Kollision mit einem Fremdkörper. Ein kleiner Meteorit konnte dem Schiff nur wenig anhaben, und ein größerer hätte es in seine Bestandteile zerlegt. Beides erklärte darüber hinaus weder die Abwesenheit der Besatzung noch den Toten.

Oliver stand auf, betrachtete die abgedeckte Leiche und musste unwillkürlich an Kira denken. Die Möglichkeit, sie könnte gestorben sein, nahm ihm den Atem. Er sackte zu Boden, starrte an die Wand und betrachtete die Unebenheit des Lacks, in dem sich kleine Bläschen abzeichneten, während es in seinem Kopf wütete. Die unerträgliche Vorstellung, Kira wäre für immer aus der Welt genommen, drang brutal in sein Bewusstsein. Wie mochte es ihr ergangen sein? Hatte sie Schmerz erleiden müssen? Aber diese Gedanken waren vorschnell: Er wusste rein gar nichts.

Es dauerte dennoch einige Minuten, bis er sich wieder beruhigt hatte. Er beugte sich nach vorn und blickte zu Boden. Ein heftiges Stechen malträtierte seinen Hinterkopf, begleitet von leichter Übelkeit. Er musste in die Biozone gelangen. Dort hatte das Schiffsbewusstsein Menschen ausgemacht, und er musste einen Weg zu ihnen finden.

 

 

Ohne Appetit aß er die rehydrierte Gemüsemasse, kaute und schluckte mechanisch. Als er fertig war, stellte er den Teller in den Reiniger und lief zum Hauptgang. Bisher war er auf keinen weiteren Toten gestoßen. Irgendwo musste sich jedoch die zweihundertköpfige Besatzung befinden.

Er gelangte zum äußeren Transporterring und betätigte den Rufer.

»Verbindung zu den Sektoren drei, fünf und acht unterbrochen«, meldete der Schiffscomputer mit weicher, aber emotionsloser Stimme.

»Verdammt!«, rief er und schlug mit der Faust gegen die Tür. In Sektor fünf befand sich die Biozone, und er konnte sie ohne den Aufzug nur über das Notschleusensystem erreichen. Er ging zurück, um sich aus dem Ausrüstungsraum einen leichten Raumanzug zu holen. Als er den Ausrüstungsbereich betrat, fielen ihm sofort die vielen leeren Raumanzugfächer auf. Auch fehlten jede Menge Werkzeugtaschen und andere technische Ausrüstung.

Ein erster Hinweis …

Er schlüpfte in den ultraleichten Stoff und benötigte allein fast zwanzig Minuten, um die Verschlüsse zu sichern und die Kontrollaggregate auf seinen Körper abzustimmen. Das Display über seinem rechten Auge gab abwechselnd verschiedene Körperwerte wieder, und die Anzeige leuchtete beruhigend grün.

Auf dem Weg zum Schleusennotsystem fiel die Beleuchtung aus, und Oliver befand sich plötzlich in absoluter Dunkelheit. Erst jetzt wurde er auf ein leises Brummen aufmerksam, das von allen Seiten zu kommen schien. Er lauschte und beruhigte sich wieder. Vermutlich das Umwälzsystem für den Luftaustausch. Hin und wieder drang auch ein Rascheln oder Knacken an seine Ohren. Er bekam eine Ahnung davon, wie sich ein Blinder fühlen musste: die ganze Welt eine Blackbox, ständiges Auswendiglernen der Umgebung, direkte Konfrontation mit allen Hindernissen und jede Veränderung bedeutete Gefahr.

Als nichts weiter geschah, bewegte er sich langsam und mit ausgestreckten Händen voran. Nach wenigen Metern trat er gegen einen herumliegenden Gegenstand, der knirschend zur Seite rollte. Schließlich stieß er mit den Fingern schmerzhaft gegen die Wandverkleidung. Das Schiff erschien ihm unwirklich und fremd. Vielleicht war das alles ja nur ein Traum und er würde jeden Augenblick schweißgebadet aus seiner Koje hochschrecken. Er wollte raus aus dieser Situation. Er hatte genug davon.

Ein tiefes Rumoren drang durch die Schiffswände, während schwache Erschütterungen den Boden vibrieren ließen. Die Vibration erfasste seinen Körper und drang tief in seine Eingeweide, ein Gefühl, das zusammen mit der Dunkelheit die Energie aus seinem Körper zu pressen schien und alles rationale und klare Denken beiseite wischte.

»Scheiße«, schimpfte er mit kehliger Stimme, als er an den Scheinwerfer seines Anzugs dachte. Er hatte ihn einfach vergessen. Tiefschlafkoller … Er tippte zweimal kurz auf einen Sensor vor der Brust, und ein schmaler Lichtstrahl fegte die Dunkelheit vor ihm beiseite. Sein Körper entspannte sich wieder.

Trotz des Lichts wirkte der Gang düster und kalt. Oliver wagte zögernd einen Schritt nach vorn, aber da erzitterte der Boden erneut unter seinen Füßen, stärker als zuvor. Das Schiff schien massive Beschädigungen davongetragen zu haben. Was war hier passiert? Was hatte die Dali in einen solch verheerenden Zustand versetzt? Im selben Augenblick setzte sich eine beunruhigende Vorstellung in ihm fest. Was, wenn die Lebenserhaltungssysteme ausfielen? Er würde einige Tage, vielleicht sogar Wochen überleben, später aber jämmerlich krepieren, wenn der Sauerstoffgehalt in der Atemluft immer weiter abnahm. Vielleicht würde er vorher auch erfrieren. Das hing allein von der funktionierenden Energieversorgung ab. Vielleicht konnte er auch keine Speisen mehr zubereiten. Die Möglichkeiten zu sterben waren vielfältig. Kurz flackerten die Lichtelemente auf, dann wurde es wieder hell.

 

 

Die Durchgänge des Schleusensystems waren so niedrig, dass er sich ducken musste. Hinter ihm schloss sich laut zischend und polternd die Tür. Erst jetzt war es möglich, den Durchgang zur nächsten Zelle zu öffnen. Die dritte Kabine war rot erleuchtet. Oliver aktivierte einen Schalter. »Einen Augenblick Geduld, Druckausgleich wird hergestellt«, vernahm er eine automatisch abgespielte Aufzeichnung. Das Fauchen entweichender Luft klang ihm in den Ohren, und einige Augenblicke später öffnete sich die Tür zur nächsten Zelle. Er zuckte zurück, als etwas Dunkles von der Decke fiel. Ein dumpfer Aufschlag, dann Stille.

Er verharrte einen Augenblick, schließlich betrat er vorsichtig den Raum. Über die linke Seite zog sich ein anderthalb Meter langer Riss, an dessen Rändern Brandspuren zu erkennen waren. Die Wände waren großflächig mit Ruß überzogen. Er näherte sich dem schwarzen Klumpen und stieß mit dem Fuß dagegen. Der Körper verrutschte ein wenig und hinterließ eine schmierige Spur. Es schien sich um den Kadaver eines Lebewesens zu handeln. Der verbrannte Körper war etwa so groß wie der einer ausgewachsenen Katze, aber die starken Verbrennungen machten eine genaue Identifikation unmöglich. Es war ihm ein Rätsel, wie das Tier an diesen Ort hatte geraten können, denn sämtliche Versuchstiere befanden sich in der Laborzone und hatten normalerweise nichts außerhalb dieses Bereichs verloren.

Er schaute sich den Riss genauer an. Nach den Ruß- und Schmelzspuren zu urteilen, war die Öffnung mit einem großen Laser erzeugt wurden. Sein Blick wanderte über verbrannte Kabelstränge und die glasige Schicht von verflüssigtem und wieder erstarrtem Oberflächenmaterial. Aus einer Schlaufe des Ausrüstungsgürtels zog er einen kleinen Hammer und klopfte gegen die schwarz glänzenden Ränder. Das Material war hart und spröde.

Oliver stützte sich an der Wand ab, als der Boden unter seinen Füßen ein weiteres Mal bebte. Diesmal waren die Erschütterungen so stark, als würden die Triebwerke der Dali gezündet. Der losbrechende Alarm sprengte fast seine Trommelfelle.

»Alarmstufe drei. Akute Explosionsgefahr«, meldete die Stimme des Schiffsbewusstseins in stoischer Unaufgeregtheit. »Notfallprogramm eingeleitet. Absprengung von Sektion sieben in sechzig Sekunden ab jetzt.«

Oliver legte sich auf den Boden und wartete.

»… achtundzwanzig … siebenundzwanzig … sechsundzwanzig …«

Ohrenbetäubendes Kreischen von Metall. Die Bodenplatten unter seinem Körper schwangen heftig auf und ab, sodass er mit dem Kopf mehrfach dagegen schlug. Ohne Halt wurde er einige Zentimeter in die Höhe geworfen, um dann umso heftiger auf den Boden zurückzustürzen. Sein Gesicht und seine Knie brannten und ließen seltsamerweise Erinnerungen an seine Kindheit wach werden.

Es war sein siebter Geburtstag. Er hatte ein wunderschönes blaues Fahrrad geschenkt bekommen und konnte es kaum erwarten, das neue Spielzeug auszuprobieren. Übermütig radelte er los und rutschte eine halbe Stunde später mit voller Geschwindigkeit in einem trockenen Sandloch aus, überschlug sich und brach sich dabei Schienbein und Nase.

»… acht … sieben …«

Kurzes Innehalten.

Lautlosigkeit.

»… zwei … eins … null …«

Ein kräftiger Stoß, während metallisches Ächzen durch die dünne Luft der Kabine atmete, dann kehrte die Ruhe zurück.

Oliver lag am Boden, in seinem Kopf ein dumpfes Rauschen. Aus nebelverhangener Tiefe pochte es blutrot gegen seine Stirn. Langsam und sich an der Wand abstützend erhob er sich. Seine Beine zitterten, und das linke Knie war taub. Er versuchte, es ganz durchzudrücken, und spürte sogleich ein Stechen, das stärker wurde, je gerader er das Bein streckte. Einige Minuten blieb er stehen und lauschte auf die Geräusche des Schiffs. Es knarzte und knirschte nur noch vereinzelt.

Einige Minuten später hatte er wieder genügend Kraft, um problemlos weiterzumachen. Langsam ging er ans andere Ende der Kabine, betätigte einen auffällig rot markierten Hebel und entriegelte die Tür zum Kabelschacht. Winzige Lampen, in einem Abstand von etwas mehr als einem Meter angebracht, erhellten die Dunkelheit. Über die grauen Kunststoffsprossen konnte man, ohne einen Aufzug benutzen zu müssen, auf die anderen Stationsebenen gelangen.

Oliver verband die kurze Sicherheitsleine mit seinem Anzug und stieg nach oben. Je weiter er kam, umso geringer wurde die durch Rotation erzeugte künstliche Schwerkraft, bis sie schließlich ganz nachließ. In der Beinaheschwerelosigkeit drehte er sich so, dass seine Füße jetzt dort standen, wo sich vorher sein Kopf befunden hatte. Einen Augenblick lang erlag er der Illusion, wieder hinabzusteigen.

An einigen Stellen war die Schachtummantelung verformt, und Rinnsale einer schmierigen schwarzen Flüssigkeit liefen über das mattblaue Metall. Ein Kurzschluss oder extreme Hitzeeinwirkung hatte einige Lampen platzen lassen.

Kurz vor dem Ende rutschte Oliver mit dem Fuß von der letzten Stufe und kam hart auf dem Boden auf. Glassplitter knirschten, und sein Knie sandte einen kurzen Schmerzimpuls ans Gehirn.

Die Schleusentür vor ihm war so stark eingedellt, als hätte jemand von der anderen Seite mit einem Rammbock dagegen geschlagen. Großflächig ausgetretenes Maschinenöl glänzte im Licht des Helmscheinwerfers. Er öffnete eine kleine Abdeckung an der Seite, hinter der sich die manuelle Entriegelungsvorrichtung befand, und versuchte den Hebel umzulegen. Verklemmt. Das Teil bewegte sich keinen Millimeter. Die Tür hatte sich so sehr verzogen, dass es unmöglich war, sie mit reiner Körperkraft zu öffnen.