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Impressum

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

ISBN 9783739273808

Herstellung und Verlag:

Books on Demand GmbH, Norderstedt

Dieses Buch wurde im On-Demand-Verfahren hergestellt.

Umschlag- und Gesamtgestaltung:

Christian Bauer,

www.studiofuergestaltung.net

Fotos: Christian Bauer,

Ingo Beller, Germanwatch e.V.,

© 2015 Haus Wasserburg, Vallendar

Audio CD mit CD-Rom Video „Das Lied von der Erde“ erhältlich gegen Kaufnachweis zum Preis von 5,- Euro bei:

Pallottiner Buch- und Weltladen, Haus Wasserburg, Pallottistraße 2 56179 Vallendar

Tel. 0261/64 08 201

buchladen@haus-wasserburg.de

www.haus-wasserburg.de

Livemitschnitt am 12. Oktober 2014 und Bearbeitung:

Mirasound Studios, NL

Techniker: Jelke Haisma

www.mirasound.nl

Video-Trailer: Traton Studios,

www.traton.de

Schnitt: Peter Traber

Videomitschnitt: Ingo Beller

Clip „Es trifft und alle“:

Germanwatch e.V.

Satellitenbilder: NASA, EUMETSAT

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Chaos und zwei Jubiläen – Eine Einführung in das Projekt

Melanie Gehenzig

Für die Aufführung des Lehrgedichts „Das Lied von der Erde“ am 12. Oktober 2014 in der Pallottikirche gab es gleich mehrere gute Gründe:

Zum einen wollten wir damit unsere jetzt zehnjährige Zusammenarbeit mit der Amsterdamer Stiftung „De Nieuwe Liefde“ angemessen feiern. Unsere Freunde und Kollegen aus Holland veranstalten seit 2004 regelmäßig Liedtage bei und mit uns, die eine große Zahl theologisch und musikalisch Suchender mit der Gedankenwelt Huub Oosterhuis‘ in Berührung bringen.

Zehn Jahre Zusammenarbeit mit Amsterdam; Zeit zu feiern – unser Miteinander, aber vor allem das, was uns gemeinsam umtreibt: Der Traum vom möglichen Leben, von Gerechtigkeit für alle.

Feiern wollten wir dies mit einem großen Werk, das jetzt sein silbernes Jubiläum begeht, „Das Lied von der Erde“. Es ist in die Jahre gekommen, hat aber nichts von seiner Aktualität verloren: Warum zerstört der Mensch seine Lebensgrundlage und kann es Rettung geben?

Wir wollten es daher nicht bei der Aufführung des Lehrgedichtes belassen, sondern es in ein Projekt einbinden, bei dem wir es mit den gegenwärtigen globalen Krisen und deren Herausforderungen in Beziehung setzen.

So boten wir vom 10. bis 12. Oktober 2014 das Projekt „„Das Chaos wenden – Von menschengemachten Krisen und deren menschenmöglicher Bewältigung. Und was Gott damit zu tun hat.“ an, dessen Titel dem Lehrgedicht entliehen ist: „Ich werde da sein in allen, die sich einander erbarmen, der Erde dienen, sie hüten, das Chaos wenden.“

Zusammen mit Germanwatch e.V. und der Stiftung „De Nieuwe Liefde“ luden wir ein, im Rahmen eines Liedtages die großen Chorpartien des „Lied von der Erde“ einzuüben und sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen oder in einem parallelen thematischen Seminar mit dem Titel „Das Leid (mit) der Erde“ die Herausforderungen, die im Stück aufgezeigt werden, zu diskutieren und nach privaten und politischen Handlungsmöglichkeiten im jeweiligen Alltag und Berufsfeld zu forschen.

Ergänzt wurden beide Seminarteile durch das Lehrhaus zur Schöpfung mit dem Bibelwissenschaftler Alex van Heusden unter dem Titel „Und Gott sprach: Ihr könnt auch anders!“ und die Lesung mit Texten von Huub Oosterhuis „Gott. Allmächtig?“

Diesem Projekt vorgeschaltet war das Jugendprojekt „Erde an Zukunft“ mit verschiedenen künstlerisch-kreativen Workshops zum Thema. Germanwatch hat auch dort die inhaltlichen Projektteile verantwortet und maßgeblich unterstützt.

Die Ergebnisse und Zusammenführung dieser drei Teile erlebten rund 300 Zuschauende in der großen Aufführung am Nachmittag des 12. Oktober 2014. Mit diesem Projekt verbinden wir die Hoffnung, einen intensiven Dialog zwischen Musik, Theologie und Politik angestoßen zu haben zugunsten eines Themas, das die Menschheit in großer Dringlichkeit betrifft und neue Koalitionen erfordert.

Um dies auch über die Projektdauer hinaus weiterzuführen, ist die Idee entstanden, eine Dokumentation des Projektes zu veröffentlichen. Interessierte allgemein, aber auch MultiplikatorInnen in der Bildungsarbeit im Besonderen finden hier neben Reflexionen und Positionen zum Thema aus theologischer, politischer und musikalischer Sicht, Anregungen für die Bildungsarbeit sowie einige Projektdokumentationen und viel Hintergrundmaterial.

Kurz nach Redaktionsschluss erschien die Umweltenzyklika „Laudato Si“ von Papst Franziskus, die uns so begeistert hat, dass wir unbedingt noch einen Kommentar dazu einfügen wollten.

Vielleicht erhält ja die eine oder der andere Anregungen oder Motivation, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und es für seinen Lebens- und Arbeitsbereich – gemeinsam mit anderen – fruchtbar zu machen und dabei mitzuwirken, das Chaos zu wenden.

/ Die Vielschichtigkeit des Stückes erfordert die sorgfältige Vorbereitung der einzelnen Ensembles, um den Fluss des Ganzen zu gewährleisten. Durch den Werkstattcharakter des Projektes kam es immer wieder aber auch zu spontanen Aktionen, wie hier der Bildung des „Kleinen Chores“ am Abend vor der Aufführung. /

„Erde an Zukunft“ – Mit Kultur zur Natur – Ein begleitendes Jugendprojekt

Melanie Gehenzig

/ Kultur, Natur … und Action!

Zum Projekt „Das Chaos wenden“ bot Haus Wasserburg mit Germanwatch e.V. im September und Oktober verschiedene künstlerisch-kreative Jugendworkshops zum Thema an, bei denen Jugendliche wahlweise Theater spielen, Musik machen und künstlerisch und medial kreativ sein konnten, eine Auseinandersetzung mit dem Projektthema inklusive. Die Ergebnisse aller Workshops flossen rund um die Aufführung des „Lied von der Erde“ ein: Der Kunstworkshop „Green Creation“ wollte mit verschiedensten Materialien und Methoden dem Thema Nachhaltigkeit und Umweltschutz Gestalt geben. Die Jugendlichen machten sich Gedanken darüber, welches Verhaltensweisen und Strukturen Menschen, Tier und Umwelt schaden, und welche für ein gutes Leben im Einklang mit der Natur notwendig sind.

Die Ergebnisse dienten als thematische Inspiration im Eingangshallenbereich der Pal-lottikirche bei der Aufführung des Oratoriums. Dadurch wurde das Publikum schon beim Eintreten auf die Thematik eingestimmt.

Dieser Workshop war ein Kooperationsprojekt mit der Jugendkunstwerkstatt Koblenz e.V. und stand unter der künstlerischen Leitung von Dipl. Designerin Sabine Gabor.

Im Theaterworkshop „Act now!“ unter der Leitung von Schauspieler, Regisseur und Theaterpädagoge Jörg Isermeyer wurden theatrale Aktionen zum Thema entwickelt, mit denen die Jugendlichen am Tag der Aufführung die Menschen rund um die Pallottikirche zum Nachdenken anregen wollten. Dabei sorgte besonders der Verkauf „ökologischer Ablassbriefe“ für Aufsehen und bescherte den jungen Akteuren ein nachträgliches Engagement bei einer Demonstration u.a. des BUND in Koblenz.

Inhaltliche Inputs, Auseinandersetzungen und Diskussionen waren ein wichtiger Teil dieses Workshops. So nahmen die Jugendlichen denn auch an der Podiumsdiskussion des inhaltlichen Seminars des Chaos-Projektes teil.

Im Workshop „Germanwatch Klimaexpedition“ haben Jugendliche eine Präsentation von Satellitenbildern zusammengestellt, die das im Lied beschriebene „Verderben der Erde“ optisch und aktuell darstellen, z.B. mit Satellitenaufnahmen von Wetterextremen wie Überflutung, Hurrikan, von Gletscherschmelze, Rohstoffausbeutung durch Kupferminen, Waldrodung für Sojaanbau, unser Energieverbrauch im Norden und einiges mehr. Diese Präsentation untermalte einige musikalische Partien während der Aufführung, um das im „Lied von der Erde“ angedeutete „Verderben der Erde“ optisch zu verdeutlichen. Ausführliche Informationen zu diesen Satellitenbildern und der Germanwatch Klimaexpedition an anderer Stelle in diesem Buch.

Im Chorworkshop übten Jugendliche die großen Chorpartien ein, um dann am großen Liedtag und der Aufführung teilnehmen zu können.

Im Upcycling-Workshop „Plan B“ konnten Jugendliche unter Anleitung von Stoffkünstlerin Brigitte Pappe aus kaputten CDs Christbaumschmuck, aus alten Aktenordnern Lineale und CD-Hüllen, aus verfilzten Pullovern Stulpen, aus abgelegten Jeans und Kittelschürzen individuelle Kleidungsstücke anfertigen, um deutlich zu machen: Jedes Ding verdient eine zweite Chance, man muss nicht immer alles neu kaufen – auch eine Protestaktion gegen die Wegwerfkultur und den wachsenden Rohstoffverbrauch.

Im Medienworkshop haben Jugendliche das Projekt mit der Kamera begleitet und es anschließend unter professioneller Anleitung medial aufbereitet.

Unterstützt wurde das Projekt vom Verein zur Förderung der Jugendarbeit von Haus Wasserburg und der Fachstelle für Kinder- und Jugendpastoral Koblenz und finanziert vom Förderprogramm „Kultur macht stark“ des BMBF.

/ Auch hinter den scheinbar kleinsten Bausteinen, hier ein Ausschnitt der Installation in der Eingangshalle vor der Aufführung, erkennt man die Auseinandersetzung mit dem Grundanliegen des Projektes. /

Positionen und Reflexionen

Das „Lied von der Erde“ im Kontext aktueller globaler Herausforderungen

Stefan Rostock

Im „Lied von der Erde“ heißt es: „Wir töten einander, verderben die Erde“ und „Die Erde siecht und verkümmert“. Wie stellen sich diese Bilder heute konkret dar?

Artensterben, Klimawandel, Rohstoffausbeutung – an vielen Stellen werden die ökologischen Grenzen des Planeten spürbar. Die negativen sozialen Folgen der westlichen Wirtschafts- und Konsummuster treffen dabei Menschen in allen Regionen der Welt. Der Beginn des neuen Jahrtausends, der zeitlich mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Schwellenländer, allen voran China, Indien, Brasilien und dem damit enorm angestiegenen Hunger nach Energie und Rohstoffen einherging, zeigt uns klar: Ein „Weiter so“ kann es nicht geben.

/ Doch welche Reaktionen darauf sind erkennbar?

Zum einen ist eine kurzsichtige und angstbehaftete Absicherung unserer Privilegien und unseres Wohlstandmodells zu beobachten, die sich in Form von bilateralen Rohstoffabkommen und der Ausgrenzung von „Fremden“ zeigt, u. a. durch mehr Geld für Frontex und die EU-Außengrenzsicherung.

Zum anderen sehen wir die vielen Versuche, nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsformen zu leben und politisch voranzubringen. Nötig sind hier politische Leitplanken, welche die Einhaltung ökologischer Grenzen und sozialer Standards gewährleisten. Ein ambitioniertes Klimaabkommen, gestützt von einer Vorreiterpolitik in Deutschland und der EU, sowie die Umsetzung bestehender Menschenrechtsabkommen, vor allem das Recht auf Nahrung, sind hier wichtige Schritte.

Der inhaltliche Part unseres Projektes „Das Chaos wenden“ widmete sich der Frage, wie politische Rahmenbedingungen so verändert werden können, dass sich vielfältige, freiheitsförmige, zukunftsfähige Lebens- und Wirtschaftsformen entwickeln können und versuchte Antworten auf die große Herausforderung, wie sich der Einzelne besser einbringen kann.

Gegen Ende des Oratoriums lässt Huub Oosterhuis Gott sagen: „Mein Rat ist, dass ich glaube an die Freiheit der Menschen, meine Hoffnung setze auf Menschen: dass sie wählen, was gut ist.“ Die Ideen, Projekte, Politiken und Geschäftsmodelle zur Überwindung der Krisen werden immer besser. Jetzt gilt es, sich für eben diese einzusetzen, sie zu leben und zu kommunizieren und zu tun, was getan werden muss, damit langfristig die politischen Weichen gestellt werden und das eigene Handeln zum Erlebnisraum für nachhaltige Lebensstile wird.

Das Chaos wenden – Reflexionen über einige Aspekte unserer Situation und deren Veränderung1

Jürgen Kroth

Wir möchten, dass es so ist.

Wir hoffen, dass es so wird.

Wir denken, dass es nicht geht.

Wir singen, dass es so sei.

Und, wenn es Liebe gibt,

dann wird sein, was nicht geht.

Dann geht es, weil es muss,

und weil es so nicht bleiben kann.

Huub Oosterhuis, Das Lied von der Erde

Die Situation, in der wir uns weltweit befinden, ist vertraut und neu zugleich. Immer wieder standen Menschen sehenden Auges von der Katastrophe; allerdings zu früheren Zeiten selten vor Katastrophen globalen Ausmaßes. Wahrscheinlich mussten schon archaisch lebende Menschen sich unterschiedlichen Bedrohungssituationen stellen; in der Antike nahmen die kriegerischen Konflikte und damit die Zerstörung ganzer Landstriche oder Bevölkerungsteile zu; im Mittelalter wüteten Epidemien, in der Moderne schließlich zeigte der technische Fortschritt seine furchtbare Dialektik. Neu also ist es nicht, dass Menschen sich bedrohlichen Szenarien gegenüber sehen. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno beginnen ihre Dialektik der Aufklärung nicht umsonst mit der Frage, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“2. Die neue Art von Barbarei ist dann unter globalisierten Verhältnissen zu einer unvorstellbaren Ausbeutung der Peripherien durch die ökonomischen Zentren geworden, abgesichert durch exorbitante Aufrüstung und der als Abschreckung umgedeuteten Drohung der Vernichtung der gesamten Erde. Gegenwärtig erfährt diese wieder eine unheilvolle Aktualität, weil der vermeintlich überwundene Kalte Krieg wieder politikfähig wird.3 Über all dem aber schwebt heute eine in ihren möglichen Folgen noch überhaupt nicht wirklich wahrgenommene Gefahr einer globalen ökologischen Veränderung unvorstellbaren Ausmaßes.

All dies, so lautete die Ausgangseinschätzung des Seminars im Anschluss an das ‚Lied von der Erde‘, entspringt menschlichem Handeln und damit auch menschlicher Verantwortung. Gewiss sind dabei auch Strukturen im Spiel. Aber auch Strukturen des Unrechts, der Gewalt und der Vernichtung sind von Menschen gemacht. Sie sind daher auch immer umkehrbar. Wie also kann hier Einhalt geboten, wie kann Veränderung initiiert, wie kann das Chaos gewendet und die Zukunft gewonnen werden?

/ Annäherungen1

 

Alles menschliche Handeln ist gesellschaftliches Handeln. Es ist eingebettet in gesellschaftliche Verhältnisse, getragen von gesellschaftlichen Konventionen selbst dort noch, wo diese negiert werden. Damit aber ist auch jedes Handeln politisch. Wenn dies stimmt, dann ist aber auch richtig, dass es kein quasi unschuldiges menschliches Handeln gibt. Wir sind verstrickt in Verhältnisse, die noch unsere privatesten Räume imprägnieren. Und all unser Verhalten hat gesellschaftliche Auswirkungen.

Damit lastet auf uns Verantwortung. Es wäre aber auch verfehlt, diese Verantwortung so groß zu dimensionieren, dass unter ihrer Last kein Handeln, also auch kein kreativ-alternatives mehr möglich wäre. Wir sind vermittelt mit Systemen, die – obgleich von Menschen geschaffen oder wenigstens zugelassen – gleichsam ein Eigenleben entwickelt haben, die also beinahe zu eigenen Aktionszentren geworden sind. Fatalerweise bedienen sich diese von Menschen geschaffenen Systeme wiederum Menschen, um Dinge zu verwirklichen, die oftmals den ursprünglichen Interessen der Menschen entgegenlaufen. Diese Dialektik des Handelns prägt schon lange gesellschaftliche Verhältnisse4, wird aber gerade unter heutigen Bedingungen zu einem großen Problem: Es scheint nämlich, dass diese Systeme eine Übermacht bekommen haben, deren Kehrseite sich bei Menschen in Resignation und politischer Abstinenz bemerkbar machen. Wie sonst ist zu erklären, dass es einen boomenden Markt etwa bei Zeitschriften gibt, die zwar in sich durchaus sinnvolle Beschäftigungen fördern wie etwa Gartenarbeit, Handwerk, Nähen uvm. allerdings ohne jeden gesellschaftlichen Hintergrund? Was steckt hinter dem Trend der Verlangsamung, wenn er z.B. dazu führt, dass Zeitschriften sich damit rühmen, nicht die aktuellen Meldungen zu publizieren, sondern jeweils mit einer dreimonatigen Verzögerung?5 Welche Vorstellung von politischer Einflussnahme verbirgt sich dahinter? Sind dies besonders kultur- und gesellschaftskritische Varianten oder doch eine gar nicht mehr schleichende sondern offensiv propagierte politische Abstinenz? Wie lässt sich angesichts dessen wieder Handlungsfähigkeit gewinnen?

Möglicherweise durch eine Erkenntnis der Hirnforschung, die inzwischen in vielen Wissenssektoren stark rezipiert wird. Interessanterweise bestätigt eine ganze Reihe von neurobiologischen Forschungsergebnissen die grundlegende Bedeutung der sozialen Interaktion und Kooperation von Menschen.6 Ohne hier einen naturalistischen Fehlschluss vornehmen zu wollen, zeichnet sich der Mensch doch gerade dadurch aus, dass er von Natur aus kooperieren muss und sein Gehirn zutiefst diese Notwendigkeit auch selbst abbildet. Joachim Bauer7 hat hierauf nachdrücklich hingewiesen. Unser Gehirn hat dafür eigene Leistungsapparate entwickelt, die bei Tieren in dieser Form nicht nachweisbar sind: die Spiegelneuronen, die uns in die Lage versetzen, mit dem anderen zu fühlen8.

„Warum können Menschen sich spontan verstehen, fühlen was Andere fühlen und sich intuitiv eine Vorstellung davon machen, was Andere in etwa denken? Die Erklärung dieser Phänomene liegt in den Spiegel-Nervenzellen, einer vor kurzem entdeckten neurobiologischen Sensation. Spiegelzellen unseres Gehirns versorgen uns mit intuitivem Wissen über die Absichten von Personen, deren Handlungen wir beobachten. Sie melden uns, was Menschen in unserer Nähe fühlen, und lassen uns deren Freude oder Schmerz mitempfinden. Spiegel-Nervenzellen sind die Grundlage emotionaler Intelligenz. Sie sind die neurobiologische Basis von Empathie, Sympathie und sie verleihen uns die Fähigkeit zu lieben. Warum das so ist, lässt sich in-Joachim Bauers Buch nachlesen.

Spiegelungsphänomene sind von zentraler Bedeutung für die Aufnahme und Weitergabe von Wissen, denn sie bilden die neurobiologische Basis für das „Lernen am Modell“. Da die Spiegelsysteme unseres Gehirns vorzugsweise erfahrungsbasiertes Wissen speichern, ergeben sich daraus wichtige Hinweise für den Unterricht und das Lernen in der Schule. Spiegelneurone sind das neuronale Format, über das Wissensbestände nicht nur zwischen Personen, sondern auch über die Generationen hinweg weitergegeben werden. Insofern ist das System der Spiegelneurone, wie Bauers Buch darlegt, eine Art Gedächtnis der Menschheit.

Durch die Gegenwart anderer Menschen ausgelöste Resonanzreaktionen haben nicht nur psychologische, sondern auch biologische Effekte. Was wir erleben, was uns von Anderen widerfährt, beeinflusst und verändert uns. Wir verändern uns im Antlitz des Anderen. Daraus ergeben sich Fragen nach dem freien Willen und der Bewahrung unserer Identität. Joachim Bauers Buch zeigt, dass wir vielfachen Einflüssen unterliegen, dessen ungeachtet aber – auch aus neurobiologischer Sicht – sehr wohl einen freien Willen haben. Insoweit stimmen die Aussagen des Buches mit Gedanken überein, wie sie Jürgen Habermas kürzlich in seiner berühmten Kyoto-Rede geäußert hat.

Spiegelphänome durchziehen die gesamte Biologie, beginnend bei der Erbsubstanz DNA mit ihrer spiegelnd angelegten Doppelstruktur bis hin zu komplexen biologischen Systemen wie dem Menschen. Biologisch angelegte Spiegelung, dies ist die Schlußfolgerung dieses Buches, scheint das „Gravitationsgesetz lebender Systeme“ und ein „Leitgedanke der Evolution“ zu sein. Nicht „survival of the fittest“, sondern „survival of resonance“ ist der tiefe Sinn der Evolution.“9

Wenngleich jedoch die neurobiologische Konstitution des Menschen auf Kooperation und letztlich auch Solidarität zielt, scheint unsere Wirklichkeit doch anders gelagert zu sein, denn gerade dies vermissen wir doch recht deutlich. An dieser Stelle sollten wir nicht zu schnell kapitulieren. Im Gegenteil dazu zielt nämlich Bildung darauf den Willen zu stärken, „sich gegenseitig Leben zu ermöglichen in einer gemeinsamen geteilten, endlichen Welt“10.

Ganz im Gegensatz zu der lange gehegten Vermutung von Thomas Hobbes ist der Mensch eben nicht des Menschen Wolf sondern sein Kooperationspartner. Auf einer sehr unspektakulären Weise praktizieren wir das tagtäglich. Denn in einer hochgradig vernetzten Welt ist die Anzahl der Kooperationen im Vergleich zu einer präinternetbasierten Welt beinahe bis ins Unermessliche gestiegen. Allerdings wird selbst diese Kooperation kaum wahrgenommen, geschweige denn reflektiert. Ähnlich verhält es sich mit dem Güter- und Dienstleistungsverkehr. An allen Ecken und Enden stehen wir miteinander in Beziehung. Kooperation aber setzt ein reflektiertes Verständnis von Interaktion voraus. Gerade an dieser Stelle liegen aber die Probleme. Unser Alltagsbewusstsein scheint den Begriff Kooperation kaum mehr zu kennen. Viel mehr hat sich die postmodernistische Konstellation in das Bewusstsein eingegraben, wonach es Sozialität nur noch im Plural gebe. Es gibt nicht mehr die eine Gesellschaft, sondern viele kleine Gemeinschaften mit je eigenem Wahrheitsanspruch und mit nur beschränkter Vermittlung und Haftung untereinander. Das macht die Paradoxie unseres Alltags aus: Wir stehen mit allen und jedem in Verbindung, sind aber unfähig, miteinander in Beziehung zu treten, unsere Interessen wechselseitig anzuerkennen und politische Perspektiven daraus zu entwickeln. Schon vor knapp 30 Jahren diagnostizierte Ulrich Beck das Entstehen einer Risikogesellschaft11, in der die Risiken die bisher bekannten Schranken obsolet werden lassen. Ein atomarer GAU macht weder vor Klassen-, Religions-, oder Geschlechterschranken halt.

Unter den Bedingungen dramatischer klimatischer Veränderungen erweist sich dies als besonders problematisch: Zwar gibt es auch in den bestehenden Szenarien zu den Auswirkungen des Klimawandels besonders stark gefährdete Gruppen, Regionen und Länder, wobei immer die Armen in dramatischer Weise betroffen sein werden; aber tendenziell trifft der Klimawandel alle. Dennoch verhalten sich die gesellschaftlich relevanten Akteure, als gelte das Prinzip des Wegduckens. Auch wird die eigene Handlungsverantwortung an die Bedingung geknüpft, der andere müsse zuerst etwas tun. Wenn dies alle sagen, passiert gerade nichts.

Natürlich ist Kooperation noch kein Wert an sich. Es braucht inhaltliche Qualifikanten zur Bestimmung einer sinnvollen und zukunftsfähigen Kooperation. Dazu gilt es weiter unten noch Näheres auszuführen. Dennoch soll hier schon einmal in Erinnerung gerufen werden, dass das bisherige Überleben der Menschheit wesentlich kooperationsgeleitet sein dürfte. Nicht Selektion, sondern Kooperation erweist sich als der fundamentale Evolutionsvorteil.

/ Annäherungen2

 

Obschon unsere Wirklichkeit nicht unbedingt Anlass zum Optimismus bietet ist sie auch nicht hoffnungslos. Wahrscheinlich ist die pessimistische Sichtweise auf unsere Lage realistischer. Realismus kann aber nicht die Haltung sein, um die es geht. Realismus ist die Einwilligung ins Bestehende. Die Aufforderung Che Guevaras scheint da schon triftiger: „Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche!“ Und im Blick auf das scheinbar Unmögliche zeigen sich dann ungeahnte Perspektiven. Gilt nicht etwa auf die Frage nach dem Klimawandel bezogen China als besonders problematisch? Zugleich aber zeigt gerade China eine ungeheuere Veränderungsdynamik. Unter dem enormen ökologischen Druck des Landes erweist sich China als besonders empfänglich für klimasensible Technologien. So wurden im vergangenen Jahr mehr Solaranlagen installiert als in den vergangenen Jahren in der gesamten Europäischen Union.12 Gewiss reicht das noch nicht. Zugleich aber ist es Indikator für lange Zeit verschlossene Perspektiven. Dabei ist besonders wichtig, dass auch die Schwellenländer sich vor allem an den Entwicklungen der Industrieländer orientieren – im Positiven wie Negativen. Wenn also diese sich entschlössen, ihre Strategie der gatet communities zu verabschieden und stärker im Sinne einer zukunftsorientierten Politik zu kooperieren, hätte dies auch Effekte in den Schwellenländern.

Wenn Kooperation tatsächlich zur anthropologischen Grundausstattung gehört, wenn weiterhin gesellschaftliche Systeme immer noch von Menschen gestaltet werden, dann sollte auch im politischen Sektor diese Fähigkeit zur Geltung gebracht werden. Hier allerdings stellen sich Probleme: denn politische Systeme entfalten ein konfliktives Eigenleben, das der Kooperation tendenziell entgegen steht. Die Systemverantwortlichen scheinen sich stärker an den Systeminteressen zu orientieren, als an den wahrhaft menschlichen. Warum ist das so?

/ Annäherungen3

 

Eine epochale Weichenstellung datiert in der Etablierung der Vormachtstellung naturwissenschaftlichen Denkens an der Schwelle zur Moderne. Max Horkheimer kennzeichnete die damit verbundene Vorstellung von Vernunft in seinen Vorlesungen über die Verdunkelung der Vernunft13 als instrumentell. Wesentliche Denker der Moderne haben diese instrumentelle Vernunft vorbereitet oder etabliert. So ist zwar Descartes der vielleicht wichtigste Vertreter rationalistischer Philosophie. Aber mit seiner Verabsolutierung des Subjekts als unhintergehbares Prinzip des Denkens verliert er zugleich dessen Vermittlung zu der ihn umgebenden Natur. Verstärkt wird dies noch durch die Einführung einer strengen Methode, die aufgrund ihrer starken Formalisierung immer erfahrungsunabhängiger wird.14 Damit sind schon bei Descartes die zentralen Charakteristika der instrumentellen Vernunft eingeführt: Instrumentalisierung vermittels der Überordnung des erkennenden Subjekts über die zu erkennende Natur, Formalisierung durch eine mathematisierte erfahrungsreduktive Methode und Subjektivierung.

Francis Bacon beginnt sein Novum Organon15Novum Organonars inveniendi,16individuellenexperimentelle171819