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No Future?


36 Interviews
zum Punk

Interviews
Michael Fehrenschild / Gerti Keller


Fotos
Dominik Pietsch u. a.

Gerti, geb. 1963 in Düsseldorf, wuchs in Freiburg i. Brsg. auf, Studium der Geschichte in Hamburg, lebte dort acht Jahre in einer Fabriketage, 1999 Umzug nach Köln. Arbeitet als Journalistin und Buchautorin. Verheiratet, zwei Söhne (geb. 1990 und 2008). Vater: Diplom-Volkswirt, Mutter: Hausfrau.

Michael, geb. 1963 in Düsseldorf, Studium der Geschichte, war lange Zeit in einem Verlag tätig, 2007 Umzug nach Köln. Arbeitet heute als Journalist, Buchautor und Lektor. Verheiratet, zwei Söhne (geb. 1990 und 2008). Vater: Eisenwarenhändler, Mutter: Hausfrau.

Dominik, geb. 1980 in Wesel, kaufmännische Ausbildung, BWL-Studium nach vier Semestern erfolgreich abgebrochen, über Umwege Quereinstieg in die Fotografie. Lebt in Köln. Vater: Apotheker, Mutter: Hausfrau.

Danksagungen: Piroska Csösz, Meilenstein Düsseldorf, Tacheles Berlin, Anne Rosin, Shebeen St. Pauli, ZAKK Düsseldorf, Hotel Savoy Köln, Werner Fuchs, Klaus Frick, Oliver Birk

Und ein besonderer Dank an Tom Stein von Zerone Düsseldorf.

Vor über 30 Jahren traten sie in Erscheinung: wild, bunt, laut und schön: Punks. Und heute? Was ist aus der Generation geworden, die einst den Slogan „No Future“ auf der Jacke trug, gibt es sie trotzdem noch?

Wir – die Autoren Gerti Keller und Michael Fehrenschild sowie der Fotograf Dominik Pietsch – besuchten Menschen, die nur eins gemeinsam haben: Alle waren in ihrer Jugend Punks. Wir begegneten Exzentrikern, immer noch bunten Vögeln, „ganz normalen“ Bürgern, Multimillionären und Gestrandeten. Der ganzen Palette des Lebens eben.

Jedes Porträt besteht aus einem Interview und einem aktuellen Foto, das im persönlichen Umfeld entstand. Die Gespräche streifen die Hochs und Tiefs des Lebens, berichten von enttäuschten Hoffnungen und großen Glücksmomenten, geben Erinnerungen an die Vergangenheit wieder, aber auch jede Menge Zeitgeschichte, die für einige der Start in eine große Karriere war. Aber vor allem zeigen sie, was aus den Menschen geworden ist, von denen sich die meisten heute um den 50. Geburtstag herum befinden.

Das Buch erzählt somit keine Musikgeschichte des Punkrock, sondern ist eine Zeitreise aus 37 persönlichen Blickwinkeln, die man so wohl nicht mit jeder Generation machen kann. Denn welche Jahrgänge sind schon so schön schrill angetreten wie diese? Die Interviews zeigen Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten der ehemaligen Rebellen auf, deren Eltern vom Krieg geprägt waren und Ivan Rebroff und James Last hörten. Und diese Gemeinsamkeiten gibt es! Ob Straßenpunk, Urgestein, prominenter Theaterregisseur, Musiker, Schriftsteller, Personalchef oder Großmutter – sie alle passen in dieses Buch.

Monique

André

Annette

Babette

Claudi

Karsten

Bernd

Dicken

Andrew

En Esch

Frank

Deutscher W

Frank Z.

Frau Schmidt

Margita

Bogdan

Martina

Mario

Moro

Peter B.

Ralle

Susanne

Schorsch

Thomas

Isi

Jörg

Kiky

Ille

Peter H.

Trini

Xaõ

Karl Nagel

Guy / Manuel

Elch

Bernward

Pankow

Musik ist mein Lebenselixier.—

Monique

Monique

Wie kamst du zur Musik?

Ich habe eine ältere Schwester, die mich damals unbewusst musikalisch beeinflusst hat. So lernte ich zunächst die Musik der 60er und 70er Jahre kennen. Sie hat Flower Power, also die Hippiezeit, voll miterlebt und trug Maximäntel, Mary-Quant-Klamotten, Schlapphütte, bunte Ketten, Buttons mit Blumen, Augen-Make-up entweder wie Twiggy oder Julie Driscoll. Sie hörte die Beatles, Rolling Stones, The Who, The Kinks, Pink Floyd … Ich war sieben Jahre jünger, trotzdem hielten wir fest zusammen, weil unsere Eltern sich andauernd heftig stritten und es auch manchmal eskalierte.

Was hast du gelernt?

Nach der mittleren Reife machte ich eine dreijährige Ausbildung zur Zahnarzthelferin. Ich war in einem Alter, wo ich mein eigenes Geld haben wollte, um nicht die permanenten Tiraden meiner Eltern anzuhören, dass ich auf eigenen Füßen stehen sollte. Für mich war es sowieso an der Zeit, mein desolates Elternhaus zu verlassen, um mir ne eigene Bude zu besorgen.

Hast du auch als Zahnarzthelferin gearbeitet?

Ja, ich war noch mindestens sechs Jahre in der Kieferorthopädie. Dort hatte ich nur mit Kids jeden Alters zu tun, die mir öfters auf meinen blütenweißen Arbeitskittel gekotzt haben, wenn ich Abdrücke von ihren schiefen Zähnen machte. Damals fing ich allerdings schon an, meine Haare zu färben, und kleidete mich – wie soll ich sagen – auf meine eigene Art unkonventionell. Natürlich bekam ich öfters Ärger und Diskussionen mit meiner Chefin und meinen Eltern. Ich passte halt nicht in das gängige damalige Format: Dauerwelle, gediegene Klamotten und angepasst sein. Es war dann nur noch eine Frage der Zeit, bis ich mich entschied, den Zahnarztjob zu schmeißen, um was komplett anderes zu machen. Das war so Anfang der 80er Jahre. Da zog ich dann auch von Krefeld nach Düsseldorf um.

War dein Elternhaus konservativ?

Je nach dem, was man unter konservativ versteht. Ich bin als so genanntes „Schlüsselkind“ groß geworden. Wir wurden irgendwie frei erzogen, obwohl es Regeln gab. Kann man schwer erklären. Mein Vater war LKW-Fernfahrer und während der Woche zwei bis drei Tage nicht zu Hause. Meine Mutter ging in der Nachbarschaft putzen, weil das, was mein Vater verdiente, anscheinend nicht ausreichte. Viele Jahre später erfuhren meine Schwester und ich, dass er das meiste Geld in Automaten verspielte. Er war aber auch Lyra-Spieler in einem Spielmannszug, der erste Lyra-Spieler in NRW. Schon Anfang der 50er Jahre kaufte er sich eine Lyra und brachte sich das Spielen selbst bei. Meine Mutter hatte eine gute Gesangsstimme und sang auch gerne, wenn sie mit meiner Schwester und mir alleine war.

Sie fand ohne groß nachzudenken immer die zweite Stimme von den diversen Volksliedern, die wir sangen. Leider wurde sie von meinem Vater mental fertig gemacht. Sie versuchte nie, dieser schrecklichen Ehe zu entkommen. Heute denke ich, dass sie wegen uns blieb und sich in ihr Schicksal mit einem despotischen Mann ergab.

Wann hast du das erste Mal Punk gehört?

Im Sommer 1977 verbrachten meine Schwester und ich einige Wochen in England. Wir wollten mal raus aus unserer kaputten „Familie“. In London hörte ich zum ersten Mal den Begriff „Punkrock“ und sah, was dort vor Ort abging. Die Hotspots waren zur damaligen Zeit der „Great Gear Market“ und „Boy“, der Klamottenladen von Vivienne Westwood auf der Kings Road. Eigentlich war die komplette Straße ein Showlaufen von Punks und Teds. Auch am Sloane Square und Earls Court trafen sich Punks aller Couleur. Es war eine bunte und aufregende Szene. So was hatte ich bisher noch nicht gesehen. Diese Leute faszinierten mich, ein Abenteuer! Auch so eine Musik hatte ich noch nicht gehört, solche Bands noch nie gesehen. Ich fühlte mich zu all dem hingezogen. Nach dem Urlaub dachte ich: „Wo gibt es das hier bei uns?“ Meine erste Single war „God save the Queen“ von den Sex Pistols. Ich kannte den Song nicht, musste ihn aber unbedingt haben und fand die Platte ausgerechnet im Kaufhof! Kopfhörer auf, den Song gehört, mir war heiß und kalt vor Überraschung, Kopfhörer abgesetzt und gleich wieder aufgesetzt – und gekauft. Ich besitze die Single heute noch. Ich war fasziniert von dieser ganzen Bewegung – und wollte damals einfach nur dabei sein.

Und dann?

Ich suchte nach Gleichgesinnten, die die gleiche Attitude hatten wie die in London. Irgendwann fand ich heraus, dass es in Düsseldorf eine Szenekneipe gibt, wo Punkrockmusik lief. Der Laden hieß „Ratinger Hof“. Die Leute kamen von überall her, aus umliegenden Städten und Dörfern, nur um dort ihresgleichen zu treffen. Auch ich fuhr jedes Wochenende mit der Straßenbahn nach Düsseldorf. Damals war auf der Ratinger Straße, wie heute noch, an den Wochenenden immer der Bär los. Anfangs hatte ich noch Schwierigkeiten, so ganz alleine in den Laden zu gehen. Aber das legte sich recht schnell, weil man über die Musik bald Leute kennenlernte und mehr oder weniger die gleichen Interessen hatte. Man unterhielt sich über Bands und tanzte zu Ramones, Stooges, The Clash, Buzzcocks, Sex Pistols, Stranglers, The Cure, Wire, Bauhaus, Siouxsie and the Banshees, Blondie ... aber es lief auch ab und an David Bowie, T. Rex und Ähnliches.

Im Punk waren viel mehr Jungen dabei, wie kamst du damit klar?

Es gab reichlich coole Mädels, die sich mit Punkrock identifizierten. Man fühlte sich mit den Jungs auf einer Ebene. Es gab keine Unterschiede. Im Gegenteil. Meine erste Band hieß Aspirin, die entstand auch im Ratinger Hof und zwar so: Da fragte mich einer: „Kannst du singen?“. „Klar“, antwortete ich. Man hat sich einfach gefunden. Hauptsache, du warst kreativ, egal in welcher Form, ob Musik, bildende Kunst oder Poetry, whatever. Aspirin setzte sich aus drei Jungs zusammen, meine damalige Freundin Tante Büschit und ich agierten als Sängerinnen. Zuerst probten wir im Kinderzimmer von unserem Schlagzeuger, später dann in diversen Garagen, und irgendwann hatten wir unseren eigenen Proberaum. Wir sangen deutsche Texte mit Songtiteln wie „Leistungsdruck“, „Altstadt Song“, „Apokalyptische Reiter“. Wir spielten Gigs zusammen mit Östro430, ZK, Panhandle Alks und anderen. Wir traten auch im Ratinger Hof auf und in Neuss im ersten „Okie Dokie“.

Hast du gerne Pogo getanzt?

Nein. Das war mir zu rabiat. Sich wild anspringen und an den Klamotten reißen, war nichts für mich. So stellte ich mir die Aussage der Punkbewegung nicht vor. Aber klar, es gab genug Leute, die so ihre Aggressionen ausließen. Wem es gefiel – okay – leben und leben lassen.

Hat man sich damals leicht kennengelernt?

Es gab Leute, die traute ich mich nicht anzusprechen. Die hatten eine solche Aura, da blieb ich meistens in einiger Entfernung stehen, um zu beobachteten, wie cool die an der Tanzfläche standen. Später erfuhr ich, dass es auch einige gab, die mich beobachteten und dachten, ich wäre arrogant, weil ich auch so cool tat. Der Alkohol spielte natürlich auch eine Rolle. Wenn man trinkt, wird man lockerer, und wenn man dann tanzt, lernt man wieder jemand ganz einfach kennen, so nach dem Motto: „Ach, du findest den Song, die Band auch gut?“ So bekam man dann doch irgendwann Kontakte zu Leuten. Und aus anfänglichen losen Begegnungen wurden einige bis heute anhaltende, langjährige Freundschaften zum Beispiel zu Jürgen Krause, dem Mentor der damaligen Düsseldorfer Punkszene, der den Plattenladen „Pure Freude“ in Derendorf von Carmen Knoebel, der ersten Besitzerin vom Ratinger Hof, übernahm, oder Peter „Janie“ Hein, Sänger von Fehlfarben, Family 5, und nicht zu vergessen Die Toten Hosen. In der Woche traf man sich tagsüber öfters im Plattenladen und hing da einfach nur ab, hörte Musik, trank Bier und unterhielt sich. Tja, und was das Outfit betraf, so trugen die meisten schwarze Bikerlederjacken mit diversen Badges der Lieblingsbands, Bondage-Hosen, gefärbte Haare mit Crazy Color, schräge Frisuren, Nietengürtel, stachelige Hals- und Armbänder oder man lief in abgefahrenen Anzügen rum, Creepers-Schuhen, Doc Martens Boots oder Chucks. Im Alltag konnte es aber auch ganz schön anstrengend sein, wenn man sich andauernd wegen des Outfits gegenüber den Stinos behaupten musste. Als ich damals an den Wochenenden noch mit der Stadtbahn nach Düsseldorf fuhr, war das oft ein Spießrutenlauf. Jedes Mal saß ich verkrampft in der Bahn und musste mir blöde Sprüche anhören wie „Schämst du dich nicht? Karneval ist vorbei! Asoziales Pack!“ Ich hab dann meistens verkrampft aus dem Fenster gesehen, damit mich bloß keiner anspricht, am besten noch den Kragen hoch und gebetet: „ Hoffentlich bist du bald in Düsseldorf.“ Sobald ich aber dann eintauchte in die Ratinger-Straßen-Szenerie war ich wie ausgewechselt und fühlte mich frei. Ich dachte: „Jetzt bin ich dort, wo ich sein kann, wie ich will.“

Es gab dort aber auch viele Prügeleien?

Die Punkrockszene hatte für mich persönlich nichts Gewalttätiges. Man wollte vor allem kreativ sein und Musik machen. Das passte aber manchen nicht. Es organisierte sich sogar eine Bürgerwehr. Das waren Leute, die wirklich mit Baseballschlägern vor dem Ratinger Hof standen. Ich kann mich noch an eine Szene erinnern, wo uns die Schläger nicht aus dem Laden rausgelassen haben. „Der Erste, der rauskommt, kriegt eins auf die Mütze“, hieß es. Da sind wir trotzdem rausgelaufen, die hinter uns her. Dabei ist ein Kumpel von mir verletzt worden. Das hat mir schon Angst gemacht.

War das Rebellische im Punk etwas Einzigartiges?

Nein. Jede junge Generation versucht auf ihre Weise auszubrechen, um gegen Konventionen zu rebellieren. In den 50er Jahren wurden auf Bill-Haley-Konzerten Stühle zertrümmert. Man regte sich über den Hüftschwung von Elvis Presley auf. Und die Platten der Beatles wurden zerbrochen, weil John Lennon sagte: „Wir sind größer als Jesus.“ Sogar in der Nazizeit hörten manche heimlich Duke Ellington und Glenn Miller. Das war auch eine Art von Rebellion. Und die hatten es dabei viel schwerer. Wäre die Punkrockbewegung in der dunklen Nazizeit entstanden, wären wir alle in ein Arbeitslager gekommen. Mann, bin ich froh, dass ich nicht in so eine Zeit hineingeboren wurde. In der heutigen Zeit war die Techno-Szene am Anfang durch die Love Parade ja auch eine Art von Befreiung und Spaß-Generation.

Spielte Politik bei dir eine Rolle?

Klar habe ich mir auch Bands angeschaut mit starker politischer Aussage wie Crass. Aber deswegen warf ich trotzdem keine Steine in Kaufhäuser. Meine Rebellion ist, dass ich aus meinem persönlichen Background ausgebrochen bin. Das fand ich schon einen großen Wurf. Ich besitze nicht die Mentalität, um zu sagen: „Hey Leute, ergreift die Waffen, wir machen eine Revolution.“ Ich bin keine politische Aktivistin. Natürlich stehe ich auf politische Aussagen von Patty Smith, Joe Strummer und The Clash oder Bob Dylan. Deren Aussagen berühren mich. Auch einige meiner Songs sind sowohl sozialkritisch als auch politisch. Ein Beispiel dafür ist „Broken Rainbow“. Den Song hab ich für eine Filmdokumentation komponiert über die Lakota Sioux Indianer, die in South Dakota in der Pine Ridge Reservation leben und sich gegen Uranabbau und Wasserverschmutzung wehren.

Du bist seit vielen Jahren Musikerin. Kannst du davon leben?

Ich bin Sängerin von dem Akustik Duo Skuyela und bei der CountryPolka-RocknRoll-Band Beatlesons. Nebenbei gebe ich ab und zu Vocal Coaching und habe einen kleinen Minijob. Der Minijob ist cool, man lässt mich so sein, wie ich bin, und mir bleibt ausreichend Zeit, um mich meiner Musik zu widmen.

Du hast zurzeit gesundheitliche Probleme. Hat das deinen Blick aufs Leben verändert?

Ja, total. 2011 bekam ich eine Gesichtsgürtelrose durch einen Viruseffekt, welcher sich im Kopf am Trigeminus-Schmerznerv festgesetzt hat. Ich wusste bis dato überhaupt nicht, dass es so eine Krankheit wie „Gesichtsgürtelrose“ gibt! Bis heute leide ich unter Schmerzen im Kopf und muss starke Medikamente nehmen. Mein Neurologe sagt: „Tun Sie, was Ihnen gut tut; Ruhe, Entspannung, Gelassenheit, gehen Sie spazieren, machen Sie Ihre Musik.“ Ja klar, Musik machen und Singen tut mir wirklich gut. Außerdem betreibe ich intensiven Sport, was meinen Schmerznerv ablenkt. Natürlich hat diese chronische Krankheit mittlerweile mein Leben verändert. Auch mein Neurologe kann zurzeit nicht sagen, wann ich endgültig wieder gesund sein werde. Aber ich weiß, dass ich auf einem guten Wege der Genesung bin, und das ist ja schon mal was. Ich nehme die Krankheit als neue Chance an für mein weiteres Leben. Alles braucht seine Zeit. Oooohm.

Hast du Kinder?

Nein. Ich bin zu sehr freiheitsliebend und egoistisch, als dass ich irgendeine Verantwortung für ein anderes Leben übernehmen möchte. Die Verantwortung für mein eigenes Leben reicht mir komplett.

Wie wohnst du?

Allein in einer kleinen 40-qm Wohnung in Düsseldorf-Flingern, seit 1998.

Ist die Bühne dein Lebensinhalt?

Ja. Als ich durch die Krankheit mindestens ein halbes Jahr nichts machen konnte, wurde ich wirklich depressiv. Ich dachte, ich könnte nie mehr auftreten. Wenn man mir das wegnehmen würde … diese Vorstellung wäre das Schlimmste für mich. Wenn ich auf die Bühne gehe, bin ich immer noch aufgeregt. Musik ist mein Lebenselixier. Und wenn ich merke, dass das Publikum mitgeht, bin ich glücklich. Da ist es egal, ob ich mit zehn Mann, einer kleinen Band oder zu zweit auftrete. Da will ich mich entfalten und das Publikum begeistern. Das ist ein Adrenalinschub, der macht mich gesund, da vergesse ich alles. —

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Meine erste Sex-Pistols-Single fand ich ausgerechnet im Kaufhof!

Monique, geb. 1958 in Krefeld, mittlere Reife, Lehre als Zahnarzthelferin. Sängerin in diversen Bands: Aspirin, Asmodi Bizarr, B-Bang Cider, Rote Rosen, Orange, Rock ’n’ Roll Gypsies. Aktuell bei den Beatlesons und Skuyela. Vater: LKW Fernfahrer, Mutter: Haus- und Putzfrau.

Manchmal stand sogar eine Bürgerwehr mit Baseballschlägern vor dem Ratinger Hof.

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Ich habe in jungen Jahren mit Leuten kein Wort gewechselt, die nicht dieselbe Musik wie ich gehört haben.

André, geb. 1968 in Bochum, Abitur und Ausbildung zum Verlagskaufmann. Anschließend zehn Jahre internationale Filmproduktion. Seit 2005 ist er Verleger und Hörbuchproduzent. Er lebt heute in Köln und hat eine Tochter. Mutter: Finanzbuchhalterin. Vater: Reprofotograf.

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André

Bist du ein glücklicher und zufriedener Mensch?

Nach oben ist immer Spielraum. Ich habe mir aber eine Grundzufriedenheit erarbeitet.

Hast du früher Musik gemacht?

Ich habe mit zwölf zum ersten Mal Gitarre gespielt, hatte aber zu kleine Finger oder die Gitarre war zu groß. Ich fing erst wieder an, als ich merkte, dass ich damit Frauen beeindrucken konnte. So mit 16/17 Jahren. Damals habe ich die letzten Zuckungen des Punkrock noch mitgenommen. Ich spielte dann auch in einer Punkband Bass, die nannte sich Schwarz-Weiß. Wir haben viel Social Distortion gecovert, waren zwei Jahre in einem Proberaum, haben uns ordentlich die Birne zugezogen – und nie einen Gig gehabt. Wir hatten aber sehr viel Spaß. Ich bin dann ausgestiegen, weil mich die Muse verlassen hatte. Ich hängte den Bass an die Wand und verkaufte ihn ein paar Jahre später. Damals dachte ich: Ich bin vielleicht eher der Hörer als der Macher. Bis ich die Ukulele entdeckte …

Ukulele?

Ich bin vor zwei Jahren über dieses tolle Instrument gestolpert, jetzt übe ich jeden Tag zwei Stunden. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas mit so viel Leidenschaft gemacht wie das Ukulelespielen. Es ist einfach einzigartig: Der Klang macht sofort gute Laune und es ist leicht zu lernen, weil die Ukulele nur vier Saiten hat. Bei der Gitarre hatte ich immer einen Finger zu wenig, jetzt habe ich einen zu viel, mit dem ich Unfug machen kann. Und: Ich habe seit der Schule zum ersten Mal gelernt, dass nur Übung einen weiter bringt. Klar habe ich Momente, wo ich denke, den Song schmeiße ich an die Wand … aber am nächsten Morgen geht das wie Butter. Echte Erfolgserlebnisse!

Für Ukulele muss man eher ein fröhlicher Mensch sein. Ein Joy-Division-Song würde damit wohl nicht klappen?

Sicher? Alles geht auf der Ukulele. Das ist das Großartige daran! Ich spiel euch jetzt mal „Love will tear us apart“ vor und zwar auf Deutsch und das heißt „Und dann ist Liebe ein Teufelskreis“.

Hast du Pläne damit?

Ich habe im Internetforum eines Ukulelenclubs Leute gefunden, die einmal in der Woche musizieren wollen. Das hat sich innerhalb kürzester Zeit vom totalen Amateurhaufen zum semiprofessionellen Orchester entwickelt. Wir sind in Winterswijk in Holland auf einem Treffen mit knapp 100 Musikern in der Fußgängerzone als Ukulelenorchester aufgetreten. An einem Samstag und die Straße war sofort voll.

Punk. Rap. Ukulele. Du zeigst eine große Offenheit!

Nachdem von den Punkbands, die ich mochte, nichts mehr zu hören war, entstand ein Loch. Da bin ich dann auf Public Enemy abgefahren, weil das für mich eine Fortsetzung mit anderen Mitteln war. Ich kann mich auch erinnern, dass ich schon 1984 bei Grandmaster Flash war, mit einem Haufen Punkkumpels. Elektronische Musik hörte ich ebenfalls eine Zeit lang. Das war wie eine Explosion, hing aber ganz klar mit Drogen zusammen, weil das zu dieser Musik einfach gut passte. Das kam schnell und war genauso schnell wieder vorbei. Elektronische Musik geht mir heute nach wenigen Takten auf den Sack. Horror! Sie bereitet mir geradezu körperliche Schmerzen. Musik ist immer unheimlich wichtig für mich gewesen, teilweise pervers wichtig. Ich habe in jungen Jahren mit Leuten kein Wort gewechselt, die nicht dieselbe Musik wie ich gehört haben. Da war ich teilweise fast faschistoid. In den letzten Jahren liebte ich neben Rock ’n’ Roll auch viel Swing und Jazzsachen, die großen alten Orchester Goodman, Dorsey und vor allem den legendären Big-Band-Schlagzeuger Gene Krupa. Die Ukulele erschließt natürlich auch neue Musikgebiete.

Warst du aufsässig?

Rebellion ist das Thema, das sich stark durch mein Leben zieht. Ich hatte schon in der Schule Autoritätsprobleme. Ich bin sogar von der Waldorfschule geflogen, dass muss man erst einmal schaffen. Die war aber nicht so lustig, wie man es sich vorstellt. Unter den Lehrern waren selbst noch alte Hitlerjungen dabei! Es gab so einen Morgenspruch von Rudolf Steiner, den mussten alle jeden Tag vor dem Unterricht aufsagen – bis ein Kumpel nach dem Urlaub auf einmal mit bunten Haaren, Ledermantel und Springerstiefeln zurückkam, was uns sowieso sehr beeindruckt hat. Und der hat dann angefangen, diesen Morgenspruch zu verweigern. Am nächsten Tag waren es dann schon drei Neinsager, einer davon war ich. Kurz danach war die ganze Klasse dabei und dann fing sogar die Parallelklasse an! Wir wurden als Unruhestifter ausgemacht und zum Direktor geschickt, der uns sagte: „Anpassen oder gehen!“

Bist du gegangen?

Na ja, ich war 15. Also holte ich mir Rückendeckung bei meiner Mutter. Ich rief sie an und sagte „Es geht nicht mehr“, und sie antwortete, „Okay, dann komm.“ Zwei Tage später packte ich meine Sachen und das Thema Internat war für mich gegessen.

Und dann?

1984 kam ich nach Düsseldorf zurück, da tobte noch der Punk in den Straßen. Mit 15 hast du zu viel Adrenalin und musst Action haben. Und Punk war die vielversprechendste Art, Spaß zu haben. Es gab eine Zeit, da habe ich Punk einfach als die Zeitgeistrebellion meiner Generation gesehen. So bis 1992 war ich in der Szene.

Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas mit so viel Leidenschaft gemacht wie Ukulelespielen.

Hast du dich als elitär empfunden?

Absolut! Ich wollte definitiv anders sein und fühlte mich komischerweise als Herdentier, das der Mensch nun mal ist, im gemeinsamen anders sein am wohlsten. Wenn ich mich erinnere, wie es Mitte der 80er Jahre auf der Ratinger Straße aussah: Das war „Abenteuer pur“. Das hat sich aber bei mir relativiert, da ich eine verrückte Mutter hatte. Wenn man nachts um drei Uhr im Ratinger Hof seine Mutter trifft, die noch mehr in der Krone hat als man selbst, ist es schwer, eine Rebellion gegen das eigene Elternhaus zu entwickeln.

Gab es einen Grund, die Szene zu verlassen?

Irgendwann war es einfach vorbei. Die Wut war weg. Viele Kumpels drifteten entweder völlig ab und versackten ständig im Suff oder Speedrausch. Andere stiegen aus und gründeten Familien. Für viele hatten sich die Prioritäten verändert. Und für manche so deutlich, dass klar wurde: So wichtig war der Punk für sie gar nicht. Die inszenierte Selbstzerstörung wie im Punk gehört zu den menschlichen Urtrieben. Aber letztendlich macht das Leben doch Spaß.

Woher kam deine Renitenz?

Mein Vater ist sehr früh gestorben. Meine Eltern hatten sich vorher schon scheiden lassen. Meine Mutter ist gelernte Finanzbuchhalterin. Sie hat sich hochgearbeitet und den Aufstieg von der Arbeiterfamilie ins bürgerliche Milieu durch fleißige Arbeit gemeistert.

Meine Verwandten waren deutlich rot. Schon meine Großeltern, die in den 50er/60er Jahren ein Hotel aufgebaut hatten, waren stramm SPD. In meiner Familie gab es aber auch Juden, die im Dritten Reich umgekommen sind, was natürlich die Generation meiner Großmutter traumatisiert hat. Das wurde an die Kinder und Enkel weitergegeben. So gesehen gehöre ich zur letzten Kriegsgeneration! Ich habe weder zu Deutschland oder irgendeinem Staat eine Beziehung. Ich hege eine Ablehnung gegen jede autoritäre Struktur.

Bist du heute politisch tätig?

Ich habe mich nie Vollzeit für irgendein politisches Ziel engagiert. Denn ich mag keine Institutionen. Ich bin eine Zeit lang meiner Mutter in den SPD-Ortsverein Pempelfort gefolgt, das war ein dröger Haufen. Das ganze innerparteiliche Prozedere ging mir auf den Sack. Aber vieles auf der Welt liegt doch im Argen. Man kann sich sagen: Ist halt so, lässt sich nicht ändern. Aber das ist falsch. Es lässt sich ändern! Ich wäre am liebsten Diktator.

Du warst vieles, nur nie Mainstream?

Ich habe mich im Mainstream nie wohl gefühlt. Er gaukelt eine trügerische Sicherheit vor. Wenn du dich von Anfang an ein Stück außerhalb der Gesellschaft positionierst, stellen sich viele Fragen nicht. Als ich anfing, mir die Unterarme tätowieren zu lassen, hat sich viel Zeitverschwendung erledigt, denn mit normaler Karriere war nichts mehr. Heute lässt sich jeder Proll seine Swingerclubtattoos machen. Aber zu der damaligen Zeit war es doch noch ein ganz anderes Statement.

Also keine Banklehre mehr?

Das kam natürlich grundsätzlich nie in Betracht. Zeitweise war ich auf einem ganz guten Wege für eine Karriere in der Filmproduktion. Aber mir wurde die ganze Blase darum zu blöd. Ich merkte, dass ich mich ein Stück weit verkaufen konnte, aber das nicht mein Leben lang machen wollte. Außerdem kriegst du in manchen Sparten ab 40 keinen Job mehr. Das war uninteressant.

Wovon lebst du heute?

Ich habe einen Hörbuchverlag. Daher kommt ein Teil der Einnahmen. Zudem mache ich zwischendurch immer noch Messebaujobs und unterstütze meine Frau. Sie arbeitet bei Film und Fernsehen als selbstständige Pyrotechnikerin und macht auch andere Spezialeffekte. Hier und da braucht sie eine helfende Hand.

Wie kamst du zu Hörbüchern?

Ich war Rezensent für die Zeitschrift Westzeit. Da bekam ich einmal das Hörbuch zu „Ratten im Gemäuer“ von H. P. Lovecraft auf den Tisch. Das war zufällig meine Lieblingshorrorgeschichte. Das Ding war gut gemacht und da ich damals nach Veränderung strebte, fiel mir ein, dass ein Kumpel von mir in Köln ein Tonstudio hat. Dazu passte, dass ich eine Ausbildung als Verlagskaufmann bei einem Verlag gemacht habe, der Deutschlands beliebtestes Fantasy-Rollenspiel und eine Romanserie dazu publiziert hat. Und zu dieser Romanserie legte ich dann mit Hörbüchern los. So begann der Horchposten Verlag. Wir machen seit letztem Jahr auch etwas Computerspielvertonung, weil wir von der saisonalen Vermarktung weg wollen. Hörbücher laufen immer gut im Sommer und im Winter, dazwischen aber nicht.

Und wie ging es kulturell weiter?

Ich bin dann nach langen Jahren, in denen ich nicht mal ein Konzert besucht habe, von einer ehemaligen Freundin, mit zu einem Meteors-Gig geschleppt worden. Ich fühlte mich so wohl wie seit meiner Jugend nicht mehr. Weil ich von Leuten umgeben war, die mir das Gefühl gaben, so viel sei gar nicht passiert. Ich bin dann in der Rockabilly-Szene gelandet. Aber seitdem meine kleine Tochter da ist, ist das auch wieder weniger geworden.

Spielt Punk heute noch eine Rolle für dich?

Punk hat natürlich nicht mehr die Bedeutung wie früher. Allerdings war es eine ganz entscheidende Phase meines Lebens. Ich höre immer noch gerne die alte Punkmusik, etwa The Clash. Die waren so gut, weil sie schwarze und weiße Musik authentisch verbunden haben.

Was wäre für dich der größere Schrecken: Wenn deine Tochter Versicherungskauffrau oder Punk wird?

Frag mich in zehn Jahren noch mal, das weiß ich jetzt nicht. Die wird, was sie werden will. Es wäre für mich aber keine Horrorvorstellung, wenn es Versicherungskauffrau wäre. Ich würde halt sagen „Okay, dann bist du halt Räuber geworden.“ Man muss sich schon mal was nehmen, wenn man sonst nichts kriegt. Wird sie Punk, würde ich wahrscheinlich sagen: Hör auf deinen alten Papa, der hat den ganzen Krempel auch gemacht, aber vergiss uns nicht.

Was hast du dir damals erhofft?

Das keiner den roten Knopf drückt!

Was hast du bekommen?

Mehr als ich erhofft hatte!

Was ist geblieben?

Die Gewissheit, dass Revolution

Evolution ist und die Gesellschaft beeinflusst, auch wenn sie ihr eigentliches Ziel nicht erreicht. —

Irgendwann war die Wut einfach weg.—

André

Ich Wollte beim Pogo–Tanzen an Herzinfarkt sterben.—

Annette

Annette

Wo hast du deine Kindheit verbracht?

In Hannover-Mittelfeld. Das ist eine nicht so schöne Gegend mit vielen Neue-Heimat-Nachkriegsbauten. Meine Eltern besaßen dort einen 30 Quadratmeter großen Lebensmittelladen. Es war ein richtiger Tante-Emma-Laden. Für sie war es immer ganz wichtig, dass ich alle Kunden freundlich grüßte und sehr nett war. Es würde sonst auf sie zurückfallen, war ihre Sorge. Mittags haben wir immer zusammen gegessen. Da wurden Geschichten erzählt, wer gerade wieder seine Frau verhauen hatte oder sogar seine Mutter, weil sie ihm kein Geld für den Puff geben wollte. Was im Viertel halt so los war.

Warum bist du schon mit fünf auf die Schule gekommen?

Weil ich so klug war (lacht) … Später bin ich als einziges Mädchen aus Mittelfeld aufs Gymnasium gegangen. Was aber schwierig war. Ich fuhr allein morgens früh mit der Straßenbahn, denn die Schule lag im Stadtzentrum. Weil ich aus dem Vorort kam, musste ich immer nach Unterrichtsende nach Hause fahren. Deswegen war ich dort etwas isoliert von den anderen Kindern, die nachmittags zusammen spielen konnten. Dieses „anders“ sein war etwas Grundsätzliches, das sich durch meine ganze Schulzeit gezogen hat.

Du warst als Kind also ein Außenseiter?

Ja. Später habe ich mich ganz jung in der Anti-Atom-Bewegung engagiert. Und musste wie viele andere die Gewalterfahrung machen, dass diese Bewegung, obwohl man doch Recht hatte, verprügelt und kriminalisiert wurde. Das fand ich ganz furchtbar. Ich war auf Großdemos in Brokdorf, Gorleben und verbrachte meine Ferien in einem Anti-Atomdorf in Grohnde. Auch in Hannover fanden ganz viele Demos statt. Zeitgleich war ja auch der Deutsche Herbst. Als Schleyer entführt wurde, befanden wir uns gerade auf Klassenreise in Bonn. Da konnte es einem an jeder Kreuzung passieren, dass bei Rot bewaffnete, maskierte Polizisten aus Autos sprangen und ihre Maschinengewehre auf uns Kinder richteten. In Bonn haben wir dann Veranstaltungen mit Politikern besucht, aber als ich dort versucht habe, was anderes als Mainstream zu reden, sagten sie ganz aufgebracht: „Auf die müsst ihr aufpassen“, oder: „Ey, das ist ja schlimm, noch so eine …“ Das war auch eine Form von Isolation und Anderssein.

Als du Abi gemacht hast, warst du schon politisiert und renitent?

Ja, ich benahm mich schon ziemlich krawallig, aber nicht nur. Mein Lehrer Dr. Helmut Lippelt war ein Mitbegründer der Grünen und bot mir nach dem Abi einen Job an. So wurde ich die erste Festangestellte der sich damals gerade gründenden Grüne Liste Umweltschutz. Ich machte das Sekretariat, dass bei Herrn Lippelt im Wohnzimmer stattfand. Dort habe ich Karteikarten gepflegt, Briefe getippt und verschickt.

Hast du da noch bei deinen Eltern gewohnt?

Nein. Ich war schon früh in Wohngemeinschaften unterwegs. Meine Eltern bekamen deshalb wahnsinnige Angst und riefen das Jugendamt an, dass sie für mich nicht mehr verantwortlich sein wollten. Da rückte dann die freiwillige Erziehungshilfe an. Wir einigten uns, dass ich in der Woche in die Schule gehe und zu Hause bin und am Wochenende machen kann, was ich will. An meinem 18. Geburtstag zog ich endgültig von zu Hause aus und in eine Wohngemeinschaft ein, die aber bald auseinanderfiel.

Was war passiert?

Die Anti-Atom-Bewegung zerbrach damals und man suchte alternative Lebensformen. Es gab die Sannyasins, die Aktionsanalytische Organisation bewusster Lebenspraxis (AAO) von Otto Mühl, Urschrei-Therapien und die Reformbewegung in der Schweiz, alle gingen weg. Ich lernte eine Frau kennen, die gerade ihre Drogentherapie hinter sich hatte. Sie zog dann bei mir ein. Immer, wenn ein Zimmer bei uns frei wurde, kamen weitere Freunde von ihr nach, die auch ihre Therapie beendet hatten, bei uns ein. Irgendwann wohnte ich mit lauter Ex-Junkies zusammen, die alle auf einen Schlag rückfällig wurden. Das war schlimm. Ich musste ganz schnell ausziehen aus diesem Wahnsinn. Zunächst tingelte ich durch verschiedene WGs und lebte eine Zeit lang bei der Lesbenrockband Unterrock. Als die hörten, dass die Leute von Hans-A-Plast ein Zimmer in ihrer WG frei hatten, haben sie mich dahin vermittelt.

Kanntest du die Punk-Szene denn schon?

Ja, ich besuchte alle Konzerte, die ich erreichen konnte. Bis nach Kiel oder Hamburg. Außerdem hatte ich Martin – viel später wurde er mein Mann – bereits gesehen und wollte ihn unbedingt haben. Er war Bassist bei Der Moderne Man. Ich traf ihn auf einer Party in Bremen und versuchte, in sein Umfeld zu gelangen, und so groß war die Szene ja nun nicht. Hans-A-Plast haben wirklich mein ganzes Leben auf die Füße gestellt. Vorher war ich einsam und verwirrt. Im Januar 1980 bin ich bei ihnen eingezogen, im Februar hatte ich einen Job, einen Freund, eine Band und alles wurde gut.

Meine Eltern riefen das Jugendamt an, dass sie für mich nicht mehr verantwortlich sein wollten.

Was gefiel dir an der Punk-Musik?

Ich mochte diese Energie wahnsinnig gerne und dachte, dass ich in diesem Land und diesem System eh nicht alt werde, und wollte es auch nicht. Ich wollte beim Pogo-Tanzen an Herzinfarkt sterben.

Ich wollte etwas machen, wodurch ich auf keinen Fall zum Steuerzahler würde.

Und wie entstand deine Band?

Hans-A-Plast kannte die Jungs, die sogar einen Übungsraum hatten. Das waren fast noch Kinder von 16/17. Die haben uns verkuppelt. Ich dachte, ich treffe superharte Punks, und dann waren es wahnsinnig süße, ganz spießbackige Jungen. Das hat man eh immer falsch im Kopf. Man sah natürlich Punks, die sich Mühe gaben, gestylt zu sein. Aber viele Sachen wie Haargel bekam man noch gar nicht. Dinge wie Crazy Colours musste man mühsam aus London besorgen, es war eine Kostbarkeit. Wir haben rumexperimentiert: Wenn man mit Polycolour blond und darauf blauschwarz färbte, wurde daraus Türkis. Und wir führten endlose Diskussionen, wie man die Haare zum Stehen bringt: mit Bier, Seife, Niveacreme oder gar Abtönfarbe. Die Klamotten holten wir in der Kleiderkammer.

Wie kamt ihr auf Bärchen und die Milchbubis? Bärchen warst du. War das vorher schon dein Spitzname?

Bärchen war ich nur in der Band. Als wir mal in der WG über den Bandnamen nachdachten, hat Renate von Hans-A-Plast den in den Raum geschmissen. Und ich dachte: „Nein, ich will auch einen bösen Namen“, aber er war beschlossene Sache und passte auch zu uns. Die anderen gingen ja noch zur Schule.

Wolltet ihr Karriere machen? Immerhin habt ihr es bis in die Bravo geschafft.

Nein. Wir waren manchmal unerträglich albern und wollten Spaß haben. Die Band war für uns auch ein Heilungsprozess. Wir haben wahnsinnig aneinander gehangen. Jeder hatte eine Geschichte voll großer Einsamkeit, wir haben uns geliebt und alles füreinander gemacht. Am Anfang war es eine Explosion: alles nur rauslassen und schreien. Dafür hatten wir eine Gesangsanlage mit Lampen gebaut. Je mehr ich reingebrüllt habe, umso stärker wurde das Licht. Ein tolles Symbol. Es wird heller, wenn man schreit. Es war ein Erwachsenwerdenprozess. Aber Karriere? Wir wollten gerne die Vorgruppe sein, die Quatsch macht und rumkrakeelt. Danach sollten sich andere ernsthaft als Musiker profilieren, wir wollten nicht verantwortlich für die Abendgestaltung der Leute sein. Einmal waren wir sogar im Fernsehen bei „Bananas“. Aber da passten wir nicht hin, das war nicht unsere Welt.

Und dann?

Irgendwann war alles raus und weg und man konnte anderen Quatsch machen. Die anderen aus der Band sind ja sehr intelligent. Rudolf und Andreas haben schon mit den ersten Rechnern Programme geschrieben und ihre Computer gegeneinander Go spielen lassen. Rudolf ist jetzt Quantenphysiker und kriegt bestimmt mal den Nobelpreis. Er wollte zwar noch Gitarre spielen, aber als Quantenphysiker nur noch einen Ton, denn da wäre alles drin enthalten. Wir konnten ihn noch auf einen weiteren Ton per Lied hochhandeln, aber es war vorbei. Punk und Wave waren durch.

Wie ging es mit dir weiter?

Ich wollte etwas machen, wodurch ich auf keinen Fall zum Steuerzahler würde. Ich hatte immer die Vorstellung, ein Künstlerleben zu führen, wäre Freiheit. Also studierte ich Kunst, was ich mit Grafik-Jobs finanzierte. Dann ging ich nach Hamburg. Diedrich Diederichsen kannte ich, weil er in Sounds so nett über unsere Band geschrieben hatte. Durch ihn lernte ich viele Leute kennen. Hamburg war im Gegensatz zu Hannover sehr hierarchisch. Ich stieg gleich ganz oben im Kunsthimmel ein, arbeitete für Albert Oehlen als Assistentin, dann für Werner Büttner und Martin Kippenberger. Die schrieben am Katalog für ihre erste große Ausstellung und suchten jemanden, der das zusammenklebt. Das durfte ich dann machen. Außerdem putzen, einkaufen, zusammen abhängen. Manchmal schlief Albert noch, wenn ich morgens kam, und ich weckte ihn mit einem fröhlichen „Alles ist gut, die Welt ist schön, du kannst aufstehen, ich koche schon mal einen Kaffee.“ Das war 1983. Ich war gerade 23. Darin bin ich völlig aufgegangen und dachte, dies seien die schönsten Menschen und aufregendsten Geschichten. Aber ich merkte auch, wie viel Anstrengung dahintersteckte und dass die Künstler ihre Persönlichkeit noch mehr als die Musiker verkaufen mussten. Und das waren alles Männer, als Frau wäre ich da nur eine Lachnummer. So habe ich die Kunstszene kennengelernt und merkte, das war der Oberhorror, diese Welt würde mich zerstören.

Ist Martin auch an die Elbe gegangen?

Nein, wir hatten uns getrennt. Er ging nach Berlin. Ich fand Hamburg klasse. Ich ging ins Subito und dachte, „der, der, der: Alle mitkommen, ganz schnell zu mir nach Hause.“ Das ist ja auch ein ganz wichtiges Thema gewesen: Sex. Schon beim Punk. Viel Alkohol, viel rummachen. Wenn man getrunken hatte und jemand war spannend, dann hat man das durchgezogen. Anders als heute. Wenn ich mir angucke, was die für einen Stress haben mit dem Aussehen, mit Enthaaren und so was … Darüber hat man sich damals nicht die Bohne Gedanken gemacht. Natürlich gab es attraktivere und unattraktivere Menschen, aber jeder konnte interessant werden. Schließlich waren wir alle jung und allein dadurch attraktiv. Sex war wild, unkompliziert. Wobei das vermutlich auch eher auf den kleinen Kreis zutraf, in dem ich unterwegs war. Und Liebeskummer kam natürlich auch vor.

Wie bist du mit deinem Modernen Man wieder zusammengekommen?

Ich dachte, irgendwie geht es so mit dem freien Leben nicht weiter und habe dann mit 25 richtig ordentlich bei der Werbeagentur Springer & Jacoby angefangen. In Berlin fand ein Treffen des Art Directors Club statt, und wo ich schon in der Stadt war, habe ich mich mal wieder bei Martin gemeldet. Ich gefiel ihm wohl in meinem neuen Kostümchen. So ging es wieder los, und dann wurde ich schwanger.

Bist du heute beruflich erfolgreich?

Ich bin 51 und seit 13 Jahren stellvertretende Artdirectorin einer Frauenzeitschrift. Das finde ich jetzt auch nicht so den Riesenerfolg. Man kann das aber gut machen.

Ist das nicht sehr brav?

Ganz brav sogar. Manche Themen in Bilder zu übersetzen, macht mir großen Spaß, dann ist sogar ein Glücksgefühl da. Aber ich bin völlig am Durchdrehen, wenn ich Geschichten wie „Von der Piste in die Kiste und ins Büro und wie man es schafft, immer gut auszusehen“ bearbeiten muss. Da denke ich: „Ich gebe mir die Kugel“, und hoffe, dass die Leute darüber lachen und das nicht ernst nehmen, was ich aber befürchte.

Wie viel vom alten Lebensgefühl ist noch da?

Ich muss das nicht mehr ausleben. Ich bin heute ganz friedlich, trinke zum Beispiel auch fast keinen Alkohol mehr und interessiere mich eher für Kräuter. Versuche neue Sachen für mich zu entdecken. Im Moment lerne ich weben, aber ich habe auch ein paar Jahre Karate gemacht oder mich durch die russische Klavierschule geackert. Es gibt Wichtigeres als die Frage: „Wie rette ich mein Punk-ich in die Rente?“ Aber ich bin stolz darauf, das erlebt zu haben, und finde es immer noch super.

Wäre es für dich heute komisch, wenn eine Bankkauffrau deine beste Freundin wäre?

Keine Ahnung, ich kenne keine. Ich komme besser mit Leuten klar, die Brüche im Leben haben oder auf der Suche nach etwas sind. Und die vielleicht doch etwas lustig sind. Aber mein Sohn studiert Volkswirtschaft und ich finde das völlig okay, denn man sollte Wirtschaft nicht nur den Idioten überlassen.

Hast du heute noch Freunde aus der „alten Zeit“?

Ja klar, aber nicht mehr viele. Kai Milchbubi ist immer noch einer meiner engsten Freunde. Auch Hollow Skai und Renate von Hans-A-Plast oder Dieter von Rotzkotz, der nach New York ging, um ein richtiger Punk zu werden. Er lebt heute als Tai-Chi-Lehrer und Künstler auf Hawaii, kommt aber ab und an mal vorbei und hat meiner Tochter Kite-Surfen beigebracht.

Einer eurer Songtitel war: „Jung kaputt spart Altersheime.“ Wie denkst du heute darüber?

Na ja, ich bin nicht so älter geworden wie damals gedacht. Mit 20 meinte ich: „So kann man nicht lange leben, das hält man gar nicht durch. Ich kann mich hier eigentlich nur möglichst schnell ruinieren.“ Was wäre eigentlich aus mir geworden, wenn es nicht so gekommen wäre? Manchmal sieht man doch eine alte arme Frau alleine auf einer Bank hocken und mit sich selber reden oder – noch schlimmer – spätabends betrunken am Tresen hängen und „Kannst du mich nicht mit nach Hause nehmen“ ins Glas nuscheln. So wollte ich nicht enden. —

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Ich komme besser mit Leuten klar, die Brüche im Leben haben.

Was macht dein Moderner Man heute?

Martin ist selbständiger Architekt. Die letzten zehn Jahre hat er den Großteil der Kindererziehung übernommen.

Du machst einen sehr zufriedenen Eindruck. Stimmt das?

Ja. Ohne Punk wäre mein Leben böse in die Hose gegangen. Alles kam zusammen, der Hass auf den Staat, die Verzweiflung, die Einsamkeit, das traf sich in einem Pogoknäuel und da konnte es sich austoben.

Die Wut ist verraucht?

Ja, ich zahle Steuern.

Was hast du erhofft?

Herzinfarkt beim Pogo.

Was hast du bekommen?

Den Mann den ich haben wollte.

Was ist geblieben?

Liebe. —

Annette, geb. 1960 in Hannover, Abitur, Kunststudium, verheiratet, zwei Kinder, lebt in Hamburg. Die Eltern betrieben ein Lebensmittelgeschäft. Sie arbeitete 13 Jahre bei einer Frauenzeitschrift als stellvertretende Artdirectorin, heute als Grafikerin.

Höpöhöpö—

Babette

Babette, geb. 1963 in Gelsenkirchen. Vater selbstständiger Handelsvertreter und Besitzer eines Schnäppchenmarkts, in dem auch ihre Mutter mitarbeitete. Die Eltern ließen sich scheiden, als sie 16 war. Verließ die Schule mit dem Realschulabschluss, macht dann auf dem zweiten Bildungsweg Fachabitur für Sozialpädagogik. Gründete 1994 die Punkband Vageenas, war bis 2008 Frontfrau, seitdem liegt die Band aufgrund von 27 Besetzungswechseln auf Eis. 2009 Gründung von Babette und die Schmetterlings. Aktuell tritt sie mit dem Soloprogramm „Babette Vageena & her Clone“ auf. Hobbys: ihr Hund Nancy, Ikea und Konzerte.

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Babette

Magst du das Leben?

Da sage ich nur: Höpöhöpö, das habe ich auf dem Arm tätowiert. Es ist finnisch und bedeutet, dass Wünsche und Erwartungen ans Leben realisierbar sein sollten. Denn du wirst garantiert unglücklich, wenn sich das, was du dir wünschst, nie erfüllt. Wenn man aber wenigstens manche Dinge erreicht, lebt man bereits ein wesentlich zufriedeneres Leben. Ich bin schon ein glücklicher Mensch, wenn die Frau von Ikea zu mir sagt: Hallo Mandeltörtchen. Weil ich da so gern die Mandeltorte esse. Und ich freue mich, wenn meine Nancy über die Wiese rennt und mit dem Schwanz wedelt.

Nancy heißt dein Hund …

Ja, den habe ich gerettet. Ich lese bis heute Bravo und darin gab es vor elf Jahren einen Bericht über ein Erdbeben in Taiwan. Für drei kleine arme Hunde aus dem Katastrophengebiet wurden neue Mamas gesucht, und da sah ich ein Foto von diesem Tierchen. Sie hatte kein Fell, weil sie unter ganz vielen Allergien leidet, und guckte so traurig. Ich schrieb direkt hin und durfte sie prompt in Empfang nehmen. Damals war sie noch nicht blind und hatte auch noch keinen Bandscheibenvorfall, aber tausend Allergien. Trotzdem liebe ich sie und finde, es ist der schönste Hund auf der ganzen Welt.

Was machst du am liebsten?