Das Flüstern der Raben

 

 

 

Für meine Schwester, die – als ich endlich zugab, dass ich an einem Buch über Hexen, Halbgötter und Hellseherinnen schrieb – ohne mit der Wimper zu zucken fragte: Wie kann ich helfen?

Teil I Weissagung der Seherin

Ihr gab Heervater

Halsband und Ringe

für goldene Sprüche

und spähenden Sinn.

Denn weit und breit sah sie

über die Welten all.

Völuspá

(Die Weissagung der Seherin)

10. Jahrhundert

Prolog

Die Silvesterparty im Bootsmann war spektakulär, aber mir zog sich der Magen zusammen. Die Einzigen, die ich sah, waren die, die fehlten. Über meinen verbleibenden Freunden hingen drohende Schatten.

Gut, dass ich nur die Vergangenheit sehen konnte.

Ich schaute ein letztes Mal auf die Tanzfläche, bevor ich mich davonschlich.

Ods Büro mit den vielen Türen sah aus wie immer, nur dass jetzt ein Käfig darin stand. Mit Gitterstäben und allem.

Im Käfig saß Frank mit gefalteten Händen. Er hob den Kopf, als ich eintrat. Vor instinktiver Wiedersehensfreude lief ich ein paar Schritte auf ihn zu, ehe mein Verstand mich daran erinnerte, dass er versucht hatte, mich an meinem Geburtstag vor etwas mehr als einer Woche umzubringen.

»Kommst du, um Rache zu nehmen?« Seine Stimme war ruhig.

»Ich wusste nicht, dass du hier bist. Ich bin aus einem anderen Grund gekommen und wäre dir dankbar, wenn du niemandem verrätst, dass du mich gesehen hast.«

»Das bin ich dir schuldig.« Frank musterte mich. »Es war mein Ernst, als ich gesagt habe, ich wünschte, du wärst nicht diejenige, die ich ermorden muss.«

Ich versuchte, ein hartes Gesicht zu machen. »Ich wüsste bloß gerne, warum.«

Frank starrte wieder auf seine Hände. »Das kann ich nicht sagen«, flüsterte er.

Ich tat es, ohne nachzudenken. Es war gefährlich und dumm, aber ich griff zwischen den Gitterstäben durch und nahm Franks Hände. Dann drang ich mit meinem Spezialsinn in ihn ein und zog die Vergangenheit heraus. Das Mitleid trieb mir Tränen in die Augen. »Der Junge«, sagte ich. »Ragnara hat deinen … Ist es dein Enkel? Mein Leben für seines?«

Frank rührte sich nicht.

»Weißt du, wo er ist?«

Frank wandte den Blick ab. Nein.

Ich zog meine Hände zurück, und Frank versuchte nicht, sie festzuhalten.

»Was wird mit dir passieren?«

Sein Gesicht war wieder ausdruckslos. »Ich schätze, mich erwartet eine Hinrichtung.«

Panik schoss mit einem gewaltigen Adrenalinstoß durch meinen Körper. Ich konnte nichts anderes denken als: Nein, nicht noch mehr Tote!

»Weder Od noch Niels richten jemanden hin.« Ich brauchte meine ganze Willensstärke, damit meine Stimme nicht zitterte.

»Nein, aber sie liefern mich an Ragnara aus.«

Ich nahm all meinen Mut zusammen. »Tötest du mich, wenn ich dich freilasse?«

»Ja«, sagte Frank ohne Zögern, und ich trat schnell einen Schritt zurück.

Der Handel galt anscheinend nach wie vor. Das Leben seines Enkels für meines.

»Soweit ich sehen kann, ist diese Tür nicht mittels Magie verriegelt.« Ich zeigte auf die Käfigtür. »Und wenn ich dir, sagen wir, einen Brieföffner gebe, kannst du das Schloss öffnen. Nach einer Weile. Ich bekomme einen Vorsprung.«

Frank richtete sich ein wenig auf. »Höchstens eine Stunde.«

»Bis morgen früh«, feilschte ich.

Er überlegte nicht lange.

»Deal.«

Ich zog eine Jeans, meine Bikerstiefel, einen schwarzen Kapuzenpulli und die Jacke meiner Mutter aus meinem Rucksack. Die hohen Schuhe warf ich in die Ecke, aber das grüne Kleid packte ich nach kurzem Überlegen zu meiner übrigen Ausrüstung, bestehend aus dem letzten Rest Kornrade, Mads’ Riesenkristall, Rebeccas Notizbuch über Hrafnheim und Freyjas Tränen, die ich gegebenenfalls verkaufen konnte. Binnen weniger Sekunden hatte ich Klamotten und Stiefel angezogen.

Draußen vor der Tür begannen die Leute zu zählen.

»Sieben – sechs – fünf.«

Ich nahm einen Brieföffner von Ods Schreibtisch. »Welche Tür führt nach Hrafnheim?«

»Es ist zu gefährlich. Sie bringen dich um.«

Ich hob eine Augenbraue.

»Vier – drei – zwei.«

»Willst du den Brieföffner?«

Frank bleckte die Zähne, dann zeigte er auf eine blaue Tür.

»Eins – frohes Neueeees!«

Ich warf Frank den Brieföffner zu, riss die Tür auf und stürzte mich in die Dunkelheit.

Kapitel 1

Zwei Tage früher – Ravnssted

 

Der Sand flimmerte unter dem grellen Sonnenlicht, und obwohl er strahlend weiß war, zeigten sich hier und da nasse Flecken.

Dunkelrote Flecken.

Wo war ich?

Eine tätowierte Hand lag unmittelbar vor meinen Augen.

Ich lag mit einer Wange direkt auf dem Sand. Die Sonne brannte auf die Seite, die nach oben zeigte. Der untere Teil einer Säule befand sich mitten in meinem Blickfeld. Eine Säule? Verwirrt ließ ich den Blick ein Stück weiter wandern und sah, wie sich eine Zuschauerreihe nach der anderen hoch, hoch, hoch Richtung Himmel erstreckte. Die Menschenwand bildete einen Halbkreis vor mir. Alle Plätze auf der Tribüne waren besetzt, aber niemand gab einen Laut von sich. Sie starrten nur atemlos auf etwas, das sich rechts von mir befand.

Das Knarren mehrerer Seile, an deren Ende etwas Schweres hing, mischte sich mit dem Gestank von Blut, Schweiß und Schafen.

Ein leises Bräää war zu hören, aber es klang nicht nach einem Tier, das ich kannte.

Schritte knirschten auf dem Sand, und ein Paar Füße durchquerten mein Blickfeld. Frauenfüße. Klein und zierlich, in goldverzierten Sandalen. Das Gold war geformt wie ein Knäuel aus Schlangen, und die Fußknöchel waren nackt. Ein seltsamer Stoff aus aneinandergehefteten schwarzen Steinen schlug klirrend um die Beine wie eine genähte Steinbrünne.

Die Füße entfernten sich von mir. Jetzt atmete jemand schluchzend und voller Angst. Einen Moment lang glaubte ich, dass ich es war.

Nein. Das Weinen kam nicht von mir, denn direkt über mir bettelte eine Mädchenstimme: »Nicht, nicht.«

Die riesige Menschenmenge holte kollektiv Luft.

»Das ist sie«, wurde geflüstert. »Das ist Thora Todesbluts Tochter.«

Jetzt versuchte ich mit aller Kraft, den Kopf zu drehen, aber es war unmöglich.

»Die Thorastochter hat sich verschworen und unterstützt den Widerstand gegen uns.« Die Stimme klang hell, beinahe kindlich.

Aus den Zuschauerreihen kamen ein paar leise Buh-Rufe.

»Es ist unser Geschenk an das Volk, euch von ihren Verschwörungen zu befreien und von ihrer«, wieder eine kleine Pause, »ihrer Lebensweise.« Letzteres wurde mit eisiger Säure hinzugefügt.

Ein scharfes Riiitsch zeigte an, dass jemand oder etwas hochgezogen wurde. Ersticktes Röcheln jagte mir eine Gänsehaut über die Arme.

Die Zuschauer johlten begeistert. »Seht, wie sie baumelt«, rief einer. »Zunge raus, Zunge raus …«

Ich drehte den Kopf, um festzustellen, wo ich war, aber die Sonne stach mir in die Augen und blendete mich.

Ehe ich wieder sehen konnte, hörte ich das Schrammen von Metall, das aus einem Holster gezogen wurde. Gefolgt von einem Geräusch, als würde ein Spaten in den Sand gerammt.

Wieder schnappten die Zuschauer nach Luft.

Blut floss auf mich herab, ich hustete und war kurz davor, von der warmen Flüssigkeit erstickt zu werden. Schließlich bekam ich mich einigermaßen wieder unter Kontrolle, genug, um zu erkennen, dass ich überhaupt nicht zu atmen brauchte.

Eine knallrote Haarsträhne schwebte herab und legte sich als kleine Locke vor mir auf den Sand.

 

Ich erwachte mit einem Keuchen und riss die Arme hoch, um meinen Mund vor dem warmen Blut zu schützen, aber letztlich hampelten sie nur ziellos herum.

Luna legte einen Arm um mich. »Stimmt was nicht?«

Wir lagen dicht nebeneinander auf der Matratze in dem kleinen, grün gestrichenen Zimmer im Haus von Ben und Rebecca. Dem Zimmer, das meine beste Freundin zu meinem erklärt hatte. Die bunten Decken und Kissen waren bestimmt nicht meine Idee, aber Luna bestand darauf, dass ihre Farbenergie mich beschützte.

»Mir geht es gut«, log ich.

»Du weißt, dass die Dinge, von denen man an Weihnachten träumt, wahr werden, oder?«

»Was?« Ich drehte entsetzt mein Gesicht zu ihr und dachte an den blutbefleckten Sand und den Gestank von Tieren.

»Ich denke, das ist nur Aberglaube.« Sie gähnte und rollte sich auf den Rücken. »Wollen wir nicht noch ein bisschen schlafen? Ich bin immer noch vollgefressen von gestern.« Sie tätschelte ihren Bauch. »Ich weiß nicht, ob ich in zwei Tagen überhaupt in mein Silvesterkleid passe.«

Ich setzte mich auf und boxte ein neongelbes Kissen weg. Durch meine Bewegung rutschte die Bettdecke herunter.

»Iih, das ist kalt!«, jammerte sie.

»Meine Decke«, sagte ich und riss sie ihr ganz herunter. »Was machst du überhaupt hier?«

Sie rieb sich die leicht verquollenen Augen. »Du hast im Schlaf geschrien. Erst hast du nach Arthur gerufen. Dann nach Monster.«

»Von denen kommt keiner, ganz egal wie sehr ich rufe.«

Mein Vater ruhte sich immer noch bei seiner Leiche aus, und Monster war zurück in Hrafnheim, von ihnen war also keine Hilfe zu erwarten. Luna schob ein paar wirre Locken beiseite, die ihr in die Augen hingen. Im Moment war ihr Haar aschgrau.

»Wir sind gekommen, als du mich gerufen hast.«

Ich senkte den Blick und zupfte an einem orangen Faden. »Danke«, murmelte ich, dann warf ich den Kopf zurück und sah wieder hoch. »Warte mal. Was meinst du mit wir

Die Kissen und Decken auf der anderen Seite von Luna bewegten sich, und Mathias’ bildschönes Gesicht tauchte zwischen zwei blauen indischen Nackenrollen auf.

»Euch ist schon klar, dass das hier eine Matratze für eine Person ist?«, fragte ich.

Mathias streckte den Arm über die Bettdecke und griff nach meiner Hand, sodass die Kraft in mich hineinströmte. Die göttliche Kraft – oder was immer es war, was er besaß – wuchs Tag für Tag.

Ich zog meine Hand in gespieltem Ärger zurück. »Welchen Teil von ›Nähe ist nicht so meins‹ habt ihr nicht verstanden?«

»Das sind nur die Beschwörungen meines Vaters, die dich beeinflusst haben.« Luna zog die Bettdecke wieder hoch. »In Wirklichkeit bist du sehr empfänglich für menschlichen Kontakt – und für Farbmagie.« Sie strich über das currygelbe Laken.

Ich machte die strenge Miene meiner Betreuerin nach und schlug auf die bunte Decke. »Respektiert wenigstens meine Intimitätsprobleme.«

Mathias schnaubte. »Du hast überhaupt keine Intimitätsprobleme. Vielleicht haben Leute Probleme, mit dir intim zu sein, aber nicht umgekehrt.«

Ich warf mich zurück. »Ihr seid unmöglich.«

Luna zog den Halsausschnitt meines T-Shirts herunter und strich über die dicke Narbe auf meiner Brust, dort, wo Ragnara mich als Baby erdolcht hatte. Auf unerklärliche Weise war ich in ihren Händen geheilt.

»Du wirkst hart«, sagte sie und hob mit der anderen Hand eine meiner feuerroten Locken an.

Mathias nickte hinter ihr. »Aber wir wissen, dass du butterweich bist.«

Ich zog das Unterhemd hoch und klopfte auf meine durchtrainierten Bauchmuskeln. »Quatsch. Ich bin überhaupt nicht butterweich.«

»Wollen wir wetten?« Luna legte sich auf mich und stach mir ihre Finger in die Seiten.

Ich quiekte lachend und panisch und versuchte, ihr zu entkommen, aber Mathias machte es Luna grinsend nach und kitzelte mich, bis ich fast keine Luft mehr bekam.

 

Unten waren Ben und Rebecca aufgestanden. Ich ging schon mal vor, damit meine verliebten Freunde zu Ende knutschen konnten.

Die Weihnachtsfestivitäten liefen immer noch, obwohl mir schon bei dem Gedanken an noch mehr Entenfett und Alkohol kotzübel wurde.

Rebecca sang in der offenen Küche vor sich hin, und Ben war damit beschäftigt, einige Federn und einen Katzenschädel auf dem Regal neben der kleinen Figur zu drapieren, die ihm zum Verwechseln ähnlich sah. Mit einer gelben, körnigen Masse malte er konzentriert eine Rune auf die Stirn des Schädels. »Jolner, Porr, Heimdallr«, murmelte er, zuerst leise, dann mit jedem Wort lauter werdend. »Færa«, sagte er zum Schluss, und das Wort wurde ganz lang gezogen und am Ende fast gehaucht.

»Heißt færa nicht ›verhindern‹ auf Altnordisch?«, fragte ich.

Ben antwortete nicht. Die körnige Masse trocknete und rieselte vom Schädel. Er bleckte die Zähne und versuchte es noch einmal. »Jolner, Porr, Heimdallr, Færaaaaaahhh.« Diesmal fauchte er das letzte Wort lang gezogen und nachdrücklich, aber die Substanz rieselte wieder wie gelber Staub auf das Regalbrett. »Gnit!«, rief er aus, und obwohl ich nicht viele altnordische Worte kannte, war offensichtlich, dass er fluchte. »Läuseeier«, wiederholte er auf Dänisch, und dann folgten ein paar französische Ausdrücke, für die ich keine Übersetzung brauchte.

»Sie wollen das Opfer nicht annehmen«, sagte er zu Rebecca.

Neben dem geschmückten Weihnachtsbaum sahen Ben und das Arrangement bizarr aus. Seine Kleidung, bestehend aus einer Fellhose, und die hoch in die Stirn geschobene Ziegenbockmaske versuchte ich komplett zu ignorieren.

Rebecca stellte eine dampfende Schüssel auf den Tisch, aus der es süß nach Äpfeln duftete. »Liebste Anne Stella, setz dich und greif zu.«

»Lecker, noch mehr Essen.« Ich blickte aus dem Fenster nach Odinshöhe, das halb von einer Nebelbank verborgen auf der anderen Seite des Feldes lag. Ich hatte mehrere Male versucht, mich zu dem Haus hinaufzukämpfen, das ich immer noch als mein Zuhause ansah, aber der Hügel war magisch versiegelt, und niemand konnte die Beschwörungen durchdringen. Wir hatten keine Ahnung, warum.

Luna kam hereingetänzelt, mit Mathias dicht auf den Fersen. Sie drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange.

Rebecca strich ihrer Tochter geistesabwesend über den Kopf.

»Nach dem Essen stellen wir Garben auf dem Feld auf«, rief sie Luna nach, die bereits auf den Tisch zusteuerte.

»Habt ihr gestern nicht auch schon Garben aufgestellt?«, fragte Mathias.

»Odin reitet mit seinem Totengefolge in den Julnächten. Seine Wilde Jagd kann besänftigt werden, wenn wir Futter für ihre Pferde bereitstellen.«

Meine Augen wurden groß. »Odin? Meint ihr Svidur? Kommt er her?«

»Er kommt überallhin«, knurrte Ben und drückte mich auf einen Stuhl. Als seine großen Hände meinen Arm berührten, spürte ich seine vibrierende Magie.

Vor dem Essen sprach Rebecca ein Tischgebet, in dem sie für die Gaben der Natur dankte. Der Rest der Familie Sekibo stimmte mit gefalteten Händen, geschlossenen Augen und pendelnden Köpfen ein. Mathias und ich blickten beklommen auf unsere Teller, bis wir uns endlich dem Essen widmen konnten. Ich starrte ins Leere, während wir aßen und plapperten – ehrlich gesagt aßen und plapperten die anderen, während ich stumm im Essen herumstocherte.

»… wechseln uns ab. So kann sie nicht in ihre Nähe kommen. Oder, Anne?« Luna wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht.

Ich riss mich zusammen und sah sie an. »Ja, ja, natürlich.«

Vier Augenpaare richteten sich auf mich, und ich blickte hinunter auf mein Frühstück, das aus Hühnerkeulen, Apfelkompott und warmem Met bestand. Als die Stille am Tisch immer drückender wurde, gab ich es auf und blickte hoch.

»Ich habe nicht zugehört. Ich bin es nicht gewohnt, dass man über mich redet. Jedenfalls nicht, wenn ich dabei bin.«

»Wir haben darüber gesprochen, dass immer abwechselnd einer von uns bei dir sein muss. Ragnara wird es bei dir ganz sicher noch mal versuchen«, sagte Mathias.

Panik stieg in mir auf, während mein Blick von Bens glänzenden Goldzähnen mitten in seinem dunklen Gesicht zu Rebeccas beinahe phosphoreszierenden, kornblumenblauen Augen wanderte. Luna sang ein paar Strophen auf Altnordisch, was angesichts ihrer Afrolocken und ihrer nugatfarbenen Haut seltsam mystisch klang. Mathias sah sie voller Stolz an. Ich wagte nicht daran zu denken, was ihnen passieren konnte, falls sie zwischen Ragnara und mich gerieten.

Nach dem Essen brachen wir auf, um Garben auf den Feldern rund um Bens und Rebeccas Haus zu verteilen. Luna hatte sich ihre Bongotrommel mit einem Gurt schräg um die Schultern geschnallt. In das rhythmische Dunk-dunk stimmten ihre Eltern singend ein. Sie blieben stehen, als sie die zusammengesunkenen Garben vom Vortag sahen. Kein einziges Korn war gefressen worden. Selbst die Vögel flogen einen Bogen darum.

Rebecca blickte ihren Mann verzweifelt an. »Vielleicht sind sie hier nicht vorbeigekommen.«

»Die Wilde Jagd kommt immer vorbei.« Ben ging in die Hocke und hob einen geknickten Getreidehalm an. »Sie haben unser Opfer zurückgewiesen.«

Rebecca sah zum diesigen Himmel hinauf. Ihre wie immer nackten Füße trippelten nervös auf der gefrorenen Erde. Große Flocken schwebten auf uns herab. »Wir stellen diese hier dazu«, sagte sie und hob ein Bündel hoch. »Vielleicht, wenn sie den Überfluss sehen …«

Aber Ben hatte sich bereits erhoben und rannte Richtung Scheune.

 

Drinnen setzte ich mich ans Stubenfenster und blickte hinaus ins Schneegestöber.

Wieder einmal war mein Blick auf Odinshöhe gefallen, ohne dass ich es gemerkt hatte. Es war erst so kurz her, dass ich mit Monster dort oben gewohnt hatte. Mein Hals schnürte sich zu. Noch vor wenigen Wochen waren Varnar und ich dort zusammen gewesen.

»Woran denkst du?« Ich hatte Rebecca gar nicht kommen gehört. Sie legte eine kühle Hand an meine Wange. »Du warst ganz weit weg.«

Tatsächlich nur ein paar Hundert Meter.

Ich antwortete nicht.

»Er ist weggegangen, um dich zu schützen«, sagte Rebecca sanft. Sie sprach tapfer weiter, obwohl mein Gesichtsausdruck mehr als warnend gewesen sein musste. »Varnar hat gewusst, dass du wieder dein Leben für ihn riskiert hättest, wenn er geblieben wäre. Deshalb ist er zurück nach Hrafnheim gegangen.«

Meine Augen brannten, also klammerte ich mich an meinen Zorn. »Er ist abgehauen. Ist mir egal, aus welchem Grund. Er ist abgehauen. Monster ist abgehauen. Meine Eltern sind abgehauen. Ihr alle habt das getan, mein ganzes Leben lang.«

Sie betrachtete mich mit einem undefinierbaren Lächeln. »Wir sind glücklich, dass du jetzt hier bist«, sagte sie und ging zurück in die Küche.

Am Abendbrottisch ließ Rebecca einen kleinen Beutel herumgehen.

»Die Runen erzählen uns von dem Jahr, das kommt«, sagte sie.

Jeder zog ein Knochenstück heraus, auf das ein Zeichen eingeritzt war, und Mathias hielt seins hoch. Rebecca betrachtete es.

»Sol«, sagte sie zufrieden. Sie sprach das L lang gezogen und flach aus. »Das Zeichen des Himmels. Göttlich.« Sie reckte den Kopf, um sich Lunas anzuschauen. »Reid.« Wieder lächelte sie. »Dir steht eine Reise bevor, sowohl innerlich als auch äußerlich. Ben?«

Er öffnete seine dunkle Hand. Die Handfläche war heller als seine übrige Haut, und die eintätowierten Zeichen hoben sich deutlich unter dem Knochenstück hervor. »Tyr«, sagte er mit tiefer Stimme.

»Ahh … der Gott Tyr. Beschützer, gerecht und siegreich.« Für einen winzigen Moment sah ich eine so starke Verliebtheit, als hätten die beiden sich gerade erst kennengelernt.

Er erwiderte den Blick, und plötzlich mochte ich ihn ein bisschen mehr.

Rebecca schaute hinunter auf ihre eigene Hand. »Bjarka.« Sie atmete durch die Nase ein. »Birke. Die Mutter aller Runen. Natur, Schöpfung und Pflege.« Ihr Blick wanderte zu mir. »Anne?«

Ich drehte und wendete mein Knochenstück einige Male. »Da ist nichts drauf.«

»Was?« Rebecca nahm es mir aus der Hand. »Wie ist das da reingekommen? Das ist ein Ersatzstück, falls eines der anderen abhandenkommt. Zieh ein neues.«

Ich gehorchte.

Leer.

»Noch mal.« Rebeccas Augen leuchteten blau.

Dasselbe Ergebnis. Ich hielt ein blankes Stück Knochen in der Hand.

Sie schüttete den Beutel aus, und eine Rune nach der anderen fiel in ihre Hand. »Nimm eine von diesen«, bat sie.

»Dann gilt es doch nicht«, protestierte ich. »Und ich glaube sowieso nicht daran.«

»Sieht eher so aus, als ob die Zukunft nicht an dich glaubt«, brummte Ben.

Die Worte hingen in der Luft, und instinktiv schob ich den Stuhl zurück, stand auf und ging.

Draußen war es ungewöhnlich windstill. Der Frost, der an meinem Geburtstag wie eine silberglänzende Haut über der Landschaft gelegen hatte, war von strömendem Regen vertrieben worden, und überall war ein endloses Tropf-tropf-tropf zu hören. Dort, wo der Mond sich hinter Wolkenfetzen verbarg, war es etwas heller. Alles andere war eingehüllt in ein unwirkliches, nebliges Licht, und ich sah direkt auf eine dunkelgraue Mauer. Weiter hinten auf dem Feld standen die Garben – die alten und die neuen – immer noch unberührt. Es roch nach feuchter Erde, mein dampfender Atem stand wie eine Wolke um mich, und ich legte den Kopf in den Nacken und versuchte, meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen.

Ein Feuerstreif schoss über den Himmel, der durch das einzige kleine Guckloch am Firmament zu sehen war, und ich lächelte. Ben würde sicher sagen, das sei Thor, der in seinem von Ziegenböcken gezogenen Wagen über das Himmelsgewölbe fuhr, aber ich blieb dabei, dass es nur eine Sternschnuppe war.

Ich erlaubte mir einen Wunsch. »Ich hoffe, wir sehen uns, Serén«, sagte ich leise zu meiner Schwester irgendwo da draußen. Vielleicht konnte sie es hören. Vielleicht hatte sie es schon vor langer Zeit gehört. Ich atmete tief ein und ließ mich von der kühlen Nachtluft beruhigen.

Ich hörte ein Geräusch und erstarrte.

Ein Röcheln kam von Østergaards Feld, das direkt vor Bens und Rebeccas Haus lag. Ich konnte nicht mehr als ein paar Meter weit sehen, und schon gar nicht bis zu dem imposanten Gutshof dort hinten. Ich wich Richtung Tür zurück und wollte mich gerade ins Haus flüchten, als eine raue Stimme nach mir rief.

»Anne, bist du da?«

Mit der Hand auf der klirrend kalten Türklinke blieb ich stehen.

»Monster?«, rief ich. »Monster …«

Kapitel 2

Ich stürmte hinaus aufs Feld, und obwohl es stockdunkel war, lief ich, so schnell ich konnte, auf Monsters Stimme zu. Mehrere Male rutschte ich auf dem matschigen Untergrund aus, aber ich kam rasch wieder auf die Beine und kämpfte mich weiter vorwärts. Es regnete jetzt heftig, und große Tropfen rammten mich wie eiskalte Fingerstiche.

»Wo bist du?«, rief ich und tastete suchend umher. Meine Hände glitten über die kalte, nasse Erde.

»Anne.« Das war jetzt näher, klang aber seltsam schwach. Überhaupt nicht wie Monsters sonst so kräftige Stimme.

»Ich komme.« Auf den Knien kriechend klopfte ich den matschigen Boden ab, denn ich konnte die Hand nicht vor Augen sehen. Endlich erahnte ich einen riesigen Umriss, und meine Finger trafen auf Fell.

»Monster«, keuchte ich. »Warum liegst du auf der Erde?«

Sein Fell war verkrustet und bedeckt von warmen, nassen Flecken, die nicht vom Regen stammten.

Ich legte mich flach auf den Bauch, und die Kälte des Erdbodens fuhr wie Blitze in meinen Körper, aber das war mir egal. Ich zwängte meinen Arm unter Monster und versuchte, seinen großen Wolfsleib anzuheben.

»Anne«, stöhnte er wieder. »Stopp.«

»Was ist passiert?« Ich versuchte erneut, ihn anzuheben, und fühlte Wunden und noch mehr warme Flüssigkeit. So viel, dass …

»Hör zu, Anne«, knurrte er und klang fast wieder wie der Alte. Damit war es vorbei, als er ein sehr hundeartiges Winseln von sich gab. »Wir wurden im Eisenwald überfallen, und Ragnaras Leute haben deine Schwester geschnappt. Ich habe versucht …« Der Rest ging in einem erstickten, unheimlichen Gurgeln unter, und ich bekam nicht mit, was genau er versucht hatte, aber nach seinen Verletzungen zu urteilen, war die Sache nicht gut ausgegangen.

»Serén?«, hauchte ich. »Ist sie tot?«

Ein Zwilling spürte doch, wenn der andere starb. Oder nicht?

»Nein«, sagte Monster matt. »Das ist sie nicht. Noch nicht.«

»Noch?«

»Serén sagt …«, er winselte wieder, »… sie hat gesehen, dass Ragnara hinter dir her ist. Ragnara will euch beide haben. Sie will dich nicht mehr nur töten, sie will dich fangen.« Seine raue Stimme endete in einem matten Bellen, während er die letzten Worte hervorpresste.

»Monster«, weinte ich. »Was ist dort mit dir passiert?«

»Wir wurden gefangen genommen«, sagte er. »Serén hat mir erzählt, was sie gesehen hat. Sie half mir zu fliehen, aber ich hatte nicht genug Kraft, sie mitzunehmen.« Er schwieg ermattet. »Ich musste dich warnen.«

»Was haben sie mit dir gemacht?«

Er antwortete nicht auf meine Frage. »Du musst weg, Anne. Ragnara kommt, aber du kannst das Schicksal ändern. Du musst Serén finden, bevor …« Er unterbrach sich, um kurz Luft zu holen. »Du musst Serén finden.«

»Was haben sie mit dir gemacht?«, fragte ich wieder.

»Ich bin unwichtig.«

Meine Hände schwebten über seinem Körper im Dunkel. »Unwichtig!« Ich atmete zitternd ein. »Du bist alles andere als unwichtig.«

»Serén und du, ihr seid die Einzigen, die etwas bedeuten.« Seine Stimme war papierdünn.

Ich konnte den Gedanken fast nicht ertragen, dass er in diesem Zustand durch Hrafnheim gelaufen war. Ich zwang mich mit aller Macht, mich zu konzentrieren.

»Wo ist Serén jetzt?«

»Sie ist …« Seine Stimme schwand.

»Monster«, bat ich weinend. »Wo ist sie?«

Keine Antwort.

»Monster?« Jetzt zog ich an seinem schlaffen Körper und schaffte es, ihn ein gutes Stück über den nassen Acker zu schleifen, auf das Haus von Ben und Rebecca zu, während ich über die Schulter schrie: »Helft mir! Luna und Mathias! Hilfe!«

In dem Augenblick kam der Mond hinter den Wolken hervor, und was ich sah, war so grauenvoll, dass ich laut aufschrie.

»Monster«, schluchzte ich. »Geh nicht. Nein! Nein!«

Er war mein bester Freund. Er war mein erster Freund. Er konnte nicht …

»Monster!« Jetzt rief ich so laut, dass es über die Felder schallte. So laut, als versuchte ich, die Götter selbst zu wecken. Aber es war keine Hilfe in Sicht. »Nein.« Ich rüttelte ihn. »Komm zurück.«

Ein grüner Schimmer verriet mir, dass Mathias an meiner Seite war und dass er sich im Demi-Modus befand. Luna murmelte Beschwörungen, und ohne sich um Monsters enormes Gewicht zu kümmern, nahm Mathias ihn in seine giftgrünen Riesenarme und hob ihn hoch. Ben und Rebecca waren jetzt auch da und umringten uns murmelnd, aber ich nahm nichts anderes wahr als Monsters glasige Augen, die Zunge, die ihm aus dem Maul hing, und die dunkle, nasse Spur, die wir auf dem hellen Kies des Hofplatzes, auf den Treppenstufen und dem Fußboden hinterließen. Sie roch salzig, süß und metallisch. Wir kamen in die Stube, und das Licht dort drinnen enthüllte noch mehr.

Ich hätte das Gesicht abwenden sollen, aber ich starrte ihn wie versteinert an. Ich sah jede einzelne seiner Wunden.

»Rettet ihn!«, kommandierte ich. »Tut etwas!«

Die Hexen tauschten Blicke, ohne etwas zu sagen.

Mathias presste Göttlichkeit in Monster hinein, schrie aber frustriert auf.

»Er ist ein Riese«, sagte Rebecca leise zu Mathias. »Deine Kräfte wirken bei ihm nicht.«

»Tut etwas.« Ich strich mit den Händen über Monsters Schnauze und Ohren. »Tut etwas«, wiederholte ich lauter.

Bens kribbelnder Zauber fuhr in mich, und es dauerte eine Weile, bis mir bewusst wurde, dass er meinen Arm gepackt hatte.

»Anne, wir können nichts tun. Hexen und Götter haben keine Wirkung auf Riesenwölfe.«

Ich stieß seine Hand weg. »Eure schwachsinnigen Regeln sind mir egal.« Ich blickte mich mit verheulten Augen um. »Elias. Ich rufe Elias an.«

»Seine Medikamente wirken bei Riesenwölfen auch nicht«, sagte Rebecca.

Obwohl ich Luft holte, war mir, als könnte ich nicht atmen. »Was zum Teufel nützen mir all eure Kräfte, wenn ihr das Wichtigste doch nicht retten könnt?«

Mathias hatte Monster abgelegt und kniete mit hängenden Armen neben ihm. Seine Hände lagen auf Bens und Rebeccas Steinfußboden. Er hatte wieder Menschengröße angenommen, und der neongrüne Schimmer war verschwunden. Er sagte nichts, aber sein Gesichtsausdruck sprach Bände.

Auf dem Fußboden lag Monster ganz still. Die scharfen Zähne waren blutig, und die riesige Pfote, die ich in meiner Hand hielt, wie ich bemerkte, wurde langsam kalt.

Ich strich ihm über die Stirn, das hatte ihn immer dazu gebracht, mir den Kopf entgegenzustrecken. Dann schüttelte ich seine Pfote, aber das Bein war schlaff.

»Er ist weg, Anne.« Jemand berührte meine Schulter.

Ich ließ Monsters Pfote los, bereit zum Angriff, aber als ich merkte, dass es Luna war, senkte ich den Arm, und sie fiel mir um den Hals und zog mich an sich.

Zuerst konnte ich nichts anderes tun, als stoßweise zu atmen. Ich sank auf Monsters leblosen Körper nieder. Obwohl ich die Aura von Riesenwölfen nicht sehen kann, zweifelte ich nicht daran, dass er nicht mehr hier war. Ich legte die Arme um ihn und drückte ihn fest an mich.

Niemand versuchte, mich von ihm wegzuziehen.

Mathias und Luna saßen an meiner Seite und strichen mir über den Rücken, während ich weinte und schrie, ohne dass es etwas nützte. Ich merkte es kaum, als jemand, sicher Mathias, mich hinauf ins Bett brachte. Plötzlich schwebte die Umgebung einfach an mir vorbei, und ich landete auf der Matratze. Dort lag ich zwischen meinen beiden Freunden und klammerte mich an Luna, während Mathias mich umarmte, und die wenigen Male, die ich halbwegs bei Bewusstsein war, wimmerte ich hilflos.

Ich erlaubte mir diese eine Nacht der Verzweiflung. Diese eine Nacht musste ich trauern.

Aber in einem Winkel meines Bewusstseins war mir klar: Wenn der Morgen kam, musste ich etwas tun.

 

Als ich auf zittrigen Beinen nach unten kam, war Monsters Körper verschwunden. Ein dunkler Fleck auf dem Steinboden verriet, wo er gelegen hatte.

Rebecca sah mich von ihrem Platz in der Küche zwischen getrockneten Kräutern und Tinkturen besorgt an, und Ben machte einen halben Schritt auf mich zu, hielt aber in der Bewegung inne, als seine schwarzen Augen meinen Blick auffingen.

»Er war seinem Volk ein ausgezeichneter Anführer, uns ein wertvoller Verbündeter und der loyalste Freund, den man sich wünschen kann«, sagte Ben formell. »Er war imstande, über Streitigkeiten zwischen Menschen und Riesenwölfen hinwegzusehen.« Er schwieg, während er einige Zeichen in die Luft malte. Einige schwache Spritzer um seine tätowierten Hände verrieten, dass er einen Zauber geworfen hatte, aber es war mir egal.

»Wo ist er?«, fragte ich heiser. Ich hatte so viel geweint, dass meine Stimme nicht richtig funktionierte.

»In der Scheune«, sagte Rebecca.

»Er liegt in der Scheune?« Es klang wie ein Quaken.

»Er muss heim zu seinem Volk, damit sie ihn begraben können, aber im Moment gibt es keine Passage nach Hrafnheim.«

Ich versuchte, klar zu denken. »Wie kommt man denn nach Hrafnheim?«

Ihre Stimme war dünn. »Man kann im Moment nicht dorthin.«

»Gar nicht?«

Ben grummelte. »Es gibt ein Portal im Bootsmann, aber durch das darf nur Elias reisen. Nicht mal Od darf nach Hrafnheim. Es gibt auch eine Passage bei Østergaard, allerdings lässt Poul nicht viele durch. Ich weiß nicht, wie Etunaz durchgekommen ist, aber wir können nicht rüber, wenn es nicht dringend ist.«

»Nicht dringend?« Ich schrie es beinahe heraus. »Es ist doch wahnsinnig dringend. Er kann nicht einfach in der Scheune liegen und …« Ich konnte den Satz nicht beenden.

»Wir haben ihn mit einem Bewahrungszauber belegt, damit er nicht verdirbt«, sagte Rebecca schnell. Dann zögerte sie. »Willst du ihn sehen?«

Ich schlug mir die Hand vor den Mund.

»Er ist wie ein König aufgebahrt, mit Grabbeigaben und Opfern für die Todesgöttin. Da Hel ihn nicht sofort bekommt, muss sie milde gestimmt werden.«

»Hel?«, fragte ich verwirrt.

»Sie ist die Schwester von Etunaz’ Vorfahren, dem Fenriswolf, deshalb hat sie Anspruch auf ihn.«

In mir drehte sich alles. »Ich will ihn nicht sehen.« Tief und langsam füllte ich meine Lunge mit Luft. »Wo ist seine«, ich suchte nach dem Wort, »Seele?« Vielleicht konnte ich mit ihm reden, so wie ich es mit meinem toten Vater tat.

Jetzt trat Ben auf mich zu. »Riesen haben keine Seele.«

Ich wollte protestieren, aber Rebecca kam mir zuvor. »Nicht wie Menschen jedenfalls.« Sie warf ihrem Mann einen langen Blick zu, und ausnahmsweise gehorchte Benedict und hielt den Mund, was selten genug vorkam.

Ich versuchte, ruhig zu bleiben. »Monster konnte mir noch etwas sagen, bevor er …«

Ben ließ die Hand kreisen, als Zeichen, dass ich weitersprechen sollte.

»Ragnara hat meine Schwester«, flüsterte ich.

Ben brüllte etwas heraus, das ich zum Glück nicht verstand, und Rebecca schnappte nach Luft.

»Ragnara ist unterwegs hierher, um mich zu holen, weil sie uns beide haben will.«

Rebecca umklammerte die Tischkante. »Wir lassen Thora und Varnar eine Nachricht zukommen. Die gesamte Widerstandsbewegung ist in Haraldsborg in Hrafnheim versammelt. Vielleicht können sie herkommen und dich beschützen.«

Ich schob den Unterkiefer vor. »Das reicht nicht. Monster hat gesagt, dass ich Serén finden muss. Ich muss selbst nach Hrafnheim.«

»Du wirst Ragnara direkt in die Arme laufen. Das ist bestimmt eine Falle«, grollte Ben.

Obwohl ich heiser davon war, dass ich die ganze Nacht durchgeweint hatte, rief ich jetzt: »Monster soll sein Leben für eine Falle gegeben haben? Ich vertraue ihm mehr als irgendwem sonst.«

Ben richtete sich noch mehr auf, und seine Schultern wurden breiter. Er hörte überhaupt nicht zu. »Du bleibst hier, wo du in Sicherheit bist.«

Ich breitete die Arme aus. »Ich bin hier alles andere als in Sicherheit.«

Ben sprach weiterhin zu sich selbst. »Ich muss sie mit mehr Beschwörungen belegen.«

»Sie? Meinst du mich?« Ich wich zurück, als er seine Handflächen auf mich richtete. Sie begannen zu knistern und zu leuchten, während die tätowierten Zeichen deutlich hervortraten.

»Vater!« Sofort war Luna zwischen uns. Ich hatte sie überhaupt nicht ins Zimmer kommen hören. Sie ging auf Ben zu, und er bleckte seine weißen Zähnen, hielt den Zauber jedoch zurück. Luna trat noch einen Schritt vor, bis ihre Nase die elektrischen Hände beinahe berührte.

»Du sollst nicht noch mehr Zauber auf Anne legen.«

Jetzt war auch Mathias da und stellte sich vor mich, sodass meine beiden Freunde einen Schutzschild bildeten.

»Danke«, murmelte ich ihnen zu. »Vielen Dank.«

Ben warf finstere Blicke, senkte die Hände jedoch.

Ich drehte mich schnell um und lief hinauf in mein kleines, grün gestrichenes Zimmer, wo ich die Tür abschloss und sicherheitshalber einen Stuhl unter die Klinke klemmte – wobei das auch nicht helfen würde, falls Ben es sich anders überlegte. Erschöpft ließ ich mich aufs Bett fallen. Ich schloss die Augen und glitt rasch hinab in ein graues Gewirr aus Schneeflocken und Zweigen.

Ich blickte mich um und brauchte ein paar Sekunden, um mir auszurechnen, wo ich war.

Kraghede Skov?

Ich drehte mich trippelnd im Kreis und stellte fest, dass ich mich im Wald befand und er einer der vielen Visionen ähnelte, die ich seit dem Sommer gehabt hatte. Die Visionen, die immer damit endeten, dass Frank mich erwürgte und über das Feld nach Odinshöhe abhaute.

»Anne«, rief eine Stimme. »Anne, bist du da?«

Ich drehte mich wieder um und stieß einen kleinen Schrei aus, als ich in das Gesicht meiner Schwester blickte. »Serén?« Ich atmete langsam aus. »Warum sind wir hier?« Ich zeigte auf die traumartige Umgebung des tiefgefrorenen Kraghede Skov.

Auch sie blickte sich um. »Diese Stelle ist zentral.«

Der Wald war still, nur ab und zu raschelten Blätter.

Ich betrachtete Serén prüfend. »Geht es dir gut?«

Ihr feuerrotes Haar war zerzaust. »Im Moment schon.«

»Wo bist du?«

»Ich weiß nicht. Hier sind Steinwände und Teppiche, aber keine Fenster. Und etwas blockiert meine Fähigkeit. Sie wirkt nur ab und zu.«

»Monster konnte nicht mehr sagen, wo du bist.« Die Worte fühlten sich an wie scharfe Messer.

Ihr Gesicht leuchtete auf. »Er hat Midgard erreicht. Er hat es geschafft. Die Zukunft war so unsicher, und …« Sie verstummte, als sie meinen Gesichtsausdruck sah. Dann legte sie die Hand aufs Herz. »Er hat es nicht geschafft.«

Plötzlich verschwamm alles vor meinen Augen, aber ich blinzelte die Tränen weg.

Serén senkte den Blick. »Ich habe ihn zu dir geschickt, weil ich hoffte – glaubte –, es sei seine einzige Chance.«

Ich holte zitternd Luft und bekam meine Stimme unter Kontrolle. »Er konnte noch sagen, dass ich dich finden muss, bevor Ragnara mich kriegt.«

Sie sah auf und nickte. »Das wird sie. Das steht fest. Ich habe sie in Ravnssted gesehen. Sie wird dich im neuen Jahr holen.«

Eine eiskalte Schlange kroch mir den Rücken hinunter. »Was ist mit den Hexen? Wenn ich abhaue, müssen sie es dann nicht ausbaden?«

»Ich bin mir ziemlich sicher«, sagte Serén vorsichtig, »dass sie damit umgehen können, wenn du verschwindest.« Sie kniff die Augen zusammen und legte den Kopf schräg, um auf etwas zu lauschen, das ich nicht hören konnte. »Wenn du dich vor dem Jahreswechsel aus dem Staub machst, sind alle auf der sicheren Seite, glaube ich.«

»Du glaubst?«, wiederholte ich, erkannte aber schnell, dass Seréns Vermutung wohl alles war, was ich an Gewissheit bekommen konnte. »Hast du mir gestern Nacht eine Vision von einer Art Arena geschickt?«

Sie rümpfte die Nase. »Eine Arena? Nein. Was ist in der Vision passiert?«

Serén hatte genug Sorgen, und ich war nicht einmal sicher, dass es eine Vorahnung gewesen war. Vielleicht hatte mein überaktives Unterbewusstsein nur die Hand im Spiel. »Ach, nichts«, erwiderte ich und wechselte das Thema. »Wie komme ich nach Hrafnheim?«

Sie biss sich auf die Lippe. »Ich weiß es nicht. Du brauchst Hilfe.«

Ich schnaubte. »Entweder können die Leute mir nicht helfen, oder sie wollen es nicht.« Ich schickte den Hexen und Od einen ärgerlichen Gedanken.

»Ich habe dich in Hrafnheim gesehen, also muss es eine Möglichkeit geben.« Ihr Blick wurde abwesend. »Und die Prophezeiung sagt ja, dass Thoras Blut zum Tod von Ragnara führen kann. Du musst die Fähigkeit besitzen, sie zu töten. Es liegt irgendwo in der Zukunft, und das weiß sie.«

»Du kannst es doch auch sein, die sie tötet. Du bist genauso Thoras Blut wie ich.«

Serén lachte, und ich sah, wie schön sie war. Unglaublich, dass wir identisch waren. »Ich glaube nicht, dass ich es bin. Du bist die Vergangenheit. Du bist die destruktive.«

Ich wollte protestieren, zuckte am Ende aber nur die Schultern. Sie hatte ja recht.

»Aber wie komme ich weg? Von den Leuten, denen ich traue, wird mir keiner helfen.«

Sie nahm meine Hand, und das fühlte sich so real an, dass ich beinahe vergessen hätte, dass wir uns in einem Traum befanden. »Dann lass dir von jemandem helfen, dem du nicht vertraust. Ich weiß, dass du es schaffen kannst. Du musst nur die richtigen Entscheidungen treffen.«

»Und ich bin ja bekannt dafür, mich immer richtig zu entscheiden.«

»Such dir einfach Hilfe.« Seréns Stimme war angestrengt. »Von wem auch immer.«

Die Worte hallten immer noch in mir nach, als ich in meinem bunten Bett aufwachte. Ich starrte hinauf an die Zimmerdecke, an die Luna einen Regenbogen gemalt hatte, der zwei Welten miteinander verband. Kleine Gestalten spazierten darauf.

»Hilfe bei jemandem suchen, dem ich nicht vertraue«, wiederholte ich.

Ich wusste sofort, wer das war.

Kapitel 3

»Geh ran. Jetzt geh ran«, betete ich leise, während ich das Telefon an mein Ohr drückte. Elias brauchte normalerweise nie so lange, bis er abnahm.

»Ich freue mich schon darauf, deine Stimme zu hören.« Elias klang erschöpft, trotz der munteren Worte. »Du bist die Einzige …«

»Klappe«, fuhr ich ihn an. »Ich habe nicht viel Zeit.«

Es war nur noch ein Tag bis Silvester, ich stand mehr als unter Druck.

»Ist was passiert?« Seine Stimme war seltsam spröde.

»Ja.« Ich ersparte mir weitere Details.

Elias klang frustriert. »Bist du schon wieder in Lebensgefahr?«

»Ich muss dich sehen«, sagte ich statt einer Antwort.

Ein tiefer Seufzer war alles, was ich hörte.

»Elias!«

»Entschuldige. Ich habe kurz die Augen zugemacht und genossen, was du gesagt hast.« Es war sein übliches Geflirte, doch er klang außer Atem.

»Monster ist tot.« Es war das erste Mal, dass ich es offen aussprach.

»Etunaz … ja aber … wie?«

Ich biss die Zähne so fest zusammen, dass es wehtat. »Wo können wir uns treffen?«

Lunas Schritte waren auf der Treppe zu hören.

»Ich studiere zurzeit im Kloster von Jagd.«

»Du bist einfach so ins Kloster gegangen?«

Er erstickte einen Laut mit einem Huster, und ich konnte nicht hören, ob es ein Lachen oder ein beleidigtes Schnaufen war. »Triff mich in ihrer Kirche.«

Ich antwortete nicht, sondern legte auf und warf das Handy auf die Bettdecke, als die Türklinke heruntergedrückt wurde.

 

Wir saßen ganz hinten im Bus. Ich in der Mitte, Une und Aella links und rechts neben mir. Wir wurden jedes Mal durchgeschaukelt, wenn das große Fahrzeug einen Abstecher in die kleinen Dörfer machte, wo niemand an den Haltestellen wartete. Wenn die Tür mit metallischem Stöhnen und einem Zischen zur Seite glitt, traf uns ein kalter Wind. Unes grau werdendes Haar war im Nacken zusammengebunden, und er schien sich unbehaglich zu fühlen in der blauen Nylonjacke, die Ben ihm geliehen hatte. Unter der Jacke war er bis an die Zähne bewaffnet.

»Wie weit ist es noch?« Aellas Stimme klang monoton. Monsters Schicksal und die Gefangennahme meiner Schwester hatten sie schockiert.

»Wollen wir nicht zusammen abhauen?«, versuchte ich es.

»Mein Befehl lautet, dass ich hier in Midgard auf dich aufpassen soll. Wir bleiben!«

»Aber Serén hat gesagt, dass ich nach Hrafnheim muss«, drängte ich.

Sie drehte sich von mir weg und blickte hinaus auf die trostlose, graue jütländische Landschaft. »Mein Befehl«, wiederholte sie.

»Was ist damit, dass es auf den Befehl ankommt, ob du gehorchst?«

Aella drehte den Kopf rasch wieder in meine Richtung. »Ich verweigere Befehle, wenn ich finde, dass sie unsinnig sind, aber ich habe deiner Schwester versprochen, auf dich aufzupassen. Ich habe geschworen …« Ihre Stimme versagte, und sie musste sich räuspern, um weitersprechen zu können. »Ich habe Serén versprochen«, sagte sie langsam, »dass ich hierbleiben werde, ganz egal, in welcher Notlage sie steckt. Glaubst du, es fällt mir leicht, nicht auf der Stelle umzukehren und ihr zu helfen?« Aella strich sich mit einer Hand über das kurz geschnittene Haar. »Aber ein Versprechen ist ein Versprechen, und es steckt immer ein tieferer Sinn hinter dem, worum Serén bittet.«

Ich kniff die Augen zusammen. »Was genau hast du geschworen? Dass du hierbleibst oder dass du hier bei mir bleibst?«

»Das ist doch dasselbe.«

Plötzlich hatte ich es eilig, den Blick auf den abgenutzten Linoleumboden des Busses zu senken. »Ich bin derselben Meinung wie Serén«, sagte ich. »Du musst hier in Midgard bleiben.«

Meine Bikerstiefel knirschten auf dem Schotter des Parkplatzes, während meine Beschützer sich im Kreis drehten. Der Wind zerrte an uns, er schmeckte salzig und schmirgelte meine Wangen mit Sand. Während ich den Blick nach oben richtete, ging mir auf, dass dies noch eines der wenigen erhöhten Bauwerke in der Gegend war. Dieser Hügel war jedoch wesentlich höher als Odinshöhe. Ich betrachtete das schmucklose Kloster, das frei von allem Schnickschnack war. Nur hohe, glatte, kreideweiße Mauern mit schön geformten Fenstern. Obwohl ich mit meinem Spezialsinn deutlich die Betriebsamkeit wahrnehmen konnte, die hier geherrscht hatte, flößte mir der Ort eine tiefe Ruhe ein.

»Ich muss in die Kirche«, sagte ich und ging mit festen Schritten über den Hof. Lateinische Gesänge erreichten uns von dort drinnen, und ich fragte mich, ob es die Vergangenheit war, die ich hörte.

Ein junger Mönch in heller Kutte stellte sich mir in den Weg. »Seid willkommen«, sagte er mit unergründlichem Lächeln. »Ihr dürft nur in die Kirche, wenn ihr bezahlt.«

Ich machte große Augen. Ein Gespenst?

»Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt.« Er faltete die Hände und schüttelte sie in Richtung des schneeschweren Himmels.

Ich machte die Augen schmal. »Suchst du mich gerade heim?«

»Äh«, sagte er.

Ich trat näher. Poltergeist? »Was machst du, wenn ich reingehe, ohne zu bezahlen?«

»Dann rufe ich die vom Kiosk.« Er zeigte zum Museumsshop. »Das Konzert ist Teil des Weihnachtsmarkts.« Er rückte seine Brille zurecht.

Brille, Anne. Er trägt eine Brille!

»Nur ich.« Zähneknirschend bezahlte ich und wollte durch die niedrige Holztür eintreten.

Une packte meinen Arm, sodass ich mit einem Ruck stehen blieb. »Du wirst nirgendwo alleine hingehen.«

Ich legte meine flache Hand auf seine Brust. »Doch, das werde ich.«

Une gab nicht nach, also drückte ich fester gegen seinen Oberkörper, während ich ihm direkt in die Augen blickte. »Schau mal. Ich kann hier nicht weg, und falls es Probleme geben sollte, rufe ich.« Als Une immer noch nicht lockerließ, fügte ich hinzu: »Man darf in einer Kirche nichts Gewaltsames tun. Das ist ein Gesetz hier in Midgard.«

Obwohl ich genau wusste, dass dieses Gesetz oft gebrochen worden war, lenkte Une widerwillig ein und trat einen Schritt zurück. Er ging zu dem kostümierten Mönch.

»Gibt es einen Hinterausgang?«

Der junge Mann fummelte wieder konfus an seiner Brille. »An der anderen Seite ist eine kleine blaue Tür.«

Une verschwand mit ernstem Gesicht, während der Mönch ihm nachblickte. Aella stellte sich breitbeinig und mit wachsamem Blick vor dem Eingang auf, und ich ging hinein.

Ich schlich auf Zehenspitzen durch die Kirche, konnte Elias aber nirgends entdecken. Am Altar stand ein festlich gekleideter Chor, und die harmonischen Stimmen klangen durch das alte Kirchenschiff, in dem es nach Holz und Kerzenwachs duftete. Niemand im grauhaarigen Publikum bemerkte mich.

Ich blickte hinunter auf die Grabsteine im Fußboden und folgte den Jahreszahlen rückwärts in der Zeit, bis ich zum Anfang des 17. Jahrhunderts kam. Ich befand mich jetzt in der hintersten Ecke der Kirche im kleinen Taufraum, und ein Heer halb nackter Knabenstatuen starrte mich von allen Seiten an. Eine warme Hand strich über meinen Nacken, und ich zuckte zusammen. Elias nahm seine Hand weg und schien etwas sagen zu wollen, aber die Worte kamen ihm nicht über die weichen Lippen.

»Es tut mir leid«, flüsterte er. Trotz der glatten Haut sah er plötzlich uralt aus.

Ich hätte geweint, wenn ich etwas gesagt hätte, also hielt ich den Mund. Für eine Sekunde sahen wir uns direkt in die Augen, und Elias ballte die Fäuste, als müsste er sich zwingen, die Hände bei sich zu behalten.

Endlich fand ich meine Stimme wieder. »Ich muss …«

»Schhh.« Elias ließ den Blick über die vielen kleinen Statuen wandern. »Nicht hier.«

»Sie sind aus Holz.« Ich runzelte die Stirn.

Elias antwortete nicht, sondern drückte gegen das Taufbecken, das zur Seite glitt und eine Treppe freigab. Er stieg die Stufen hinunter, und ich folgte ihm widerstrebend, wohl wissend, dass Une und Aella ausrasten würden, wenn sie wüssten, dass ich mich freiwillig zusammen mit einem vierhundertjährigen wahnsinnigen Wissenschaftler einsperren ließ. Über mir hörte ich das Taufbecken zurück an seinen Platz gleiten, ehe wir einen kleinen Raum betraten, der wie ein Studierzimmer eingerichtet war.

»Arh!« Ich unterdrückte einen Schrei und wich einen Schritt zurück. Ich war allein mit einem vierhundertjährigen wahnsinnigen Wissenschaftler und einem Gehirn.

Der beigefarbene Klumpen lag in einem Gefäß auf dem Tisch.

»Was zum Teufel hast du hier unten vor?«, keuchte ich.

Elias beugte sich über das Gefäß und schaute hinein. »Wie gesagt, ich studiere hier. Du weißt, wie sehr ich mir wünsche, ich könnte Göttlichkeit, Magie und Wissenschaft dazu bringen, mit vereinten Kräften die Toten zu erwecken.«

Ich presste das Weihnachtsessen wieder hinunter in meinen Magen. »Warum untersuchst du das

Elias starrte immer noch auf das Gehirn. »Jetzt ist es weg.«

Ich holte tief Luft. »Was meinst du damit?«

»Das Demiblut, das in Naut Kafnars Adern war, ist jetzt weg.« Er zeigte auf den Klumpen. »Das bestätigt meine Theorie, dass Götterblut flüchtig ist. Der Effekt verdunstet mit der Zeit.«

Ich schauderte. »Ist das das Gehirn des Wilden?«

»Natürlich.« Elias drehte nicht einmal den Kopf in meine Richtung.

»Das ist ja grotesk.«

Er zuckte die Schultern und richtete sich auf. »Das ist eine Tatsache.«

»Können wir über das reden, weswegen ich gekommen bin?« Mit vorgetäuschter Geduld betrachtete ich die Wand, die mit Zeichnungen, Fotos und Formeln bedeckt war. Ich hatte langsam das Gefühl, mich im Hobbyraum eines verrückten Mörders zu befinden. Mir war auch sehr bewusst, dass Elias sich vor die Treppe gestellt hatte, meinem einzigen Weg nach draußen.

»Nur zu.« Er stand leicht breitbeinig da und hatte die Arme verschränkt.

Wieder holte ich tief Luft. »Ich brauche deine Hilfe.«

»Schwebt dir etwas Spezielles vor?« Die graublauen Augen glitten über meinen Körper. »Oder darf ich mir selbst aussuchen, was ich für dich tun kann?«

»Ich muss nach Hrafnheim.«

Seine Arme glitten aus ihrer Verschränkung, er machte einen Schritt auf mich zu und fuhr sich mit der Hand durch seine wilden Locken. Ich widerstand dem Drang, zurückzuweichen. Elias packte meine Schultern. Sein würziger Geruch stieg mir in die Nase, und die Wärme seiner Hände schoss in meine Arme. »Bist du wahnsinnig?«

»Tja, das bin ich wohl.«

Fast reflexartig lachte Elias laut auf, aber er wurde schnell wieder ernst. »Wie kommst du auf die Idee, dass du nach Hrafnheim musst?«