Cover

Über dieses Buch:

Sätze wie Atemzüge, gestoßen aus einem Körper, der dem Druck nicht mehr standhält. Eine Sprache im Einklang mit der inneren Bewegung der Protagonistin, die an ihren Gedanken entlanggleitet, die Glasglocke abtastend, in der sie eingeschlossen ist. Eine physische Sprache, die sich am körperlichen Empfinden der Heldin orientiert, an ihrer Taubheit, an ihrer Entfremdung von sich selbst.

Julia Wolf erzählt mit außerordentlicher stilistischer Begabung von einer jungen Frau, die sich ihren Dämonen stellt. Vor vielen Jahren, als Ingrid die Welt nicht mehr aushielt, nahm sie ihre Sachen und verschwand. Raus aus dem kleinen, erdrückenden Vorort und dem Haus mit ihrer kranken Mutter, weg von dem Gedanken an Moritz, der nicht zu ihr stand. Doch jetzt ist sie schon Jahre in der Großstadt, und die Luft wird immer dünner. Ihr Bruder vertickt Drogen und ihre Kollegin in der Live-Sex-Bar liefert sie ans Messer. Als alle sie verraten haben, wird ihr klar: Wohin sie auch geht, ihre Erinnerungen nimmt sie mit. Und die Überzeugung, nichts wert zu sein. Um das zum Verschwinden zu bringen, muss Ingrid endlich handeln. Am Silvesterabend fliegt sie nach New York …

Julia Wolf

ALLES IST JETZT

Roman

EINS

Über mir wiegen sich Maiskolben im Wind. Ich liege auf der Erde, mein Nachthemd ist klamm, meine Füße schmerzen vor Kälte. Es raschelt im Feld, und das Gesicht meiner Mutter taucht auf, in ihren Augen stehen Tränen. Ihr Mund ein kleines Tier auf meinen Wangen, feuchte Küsse, ein Flüstern: Da bist du ja, da bist du ja.

Stunden sind vergangen, Lichtjahre, noch ist Ingrid sehr weit weg.

Ich liebe dich, schreit es von irgendwoher.

Ingrid stürzt und ist wach. Um sie herum ist es dunkel. Ingrid hat die Decke über den Kopf gezogen, liegt in einer Höhle aus Atem und Herzschlag. Sie liegt unter der Decke und horcht, Ingrid atmet. Im Flur geht der Schlüssel im Schloss.

Hallo?

Ingrid kennt die Stimme, sie kennt die Frau, die in den Flur tritt, die Hand an der Klinke. Das ist Jenny. Ingrid weiß, Jenny steht dort mit geröteten Wangen, in ihrer eigenen Höhle, einer Glocke aus Atem und kalter Luft. Jenny steht da und wartet. Als eine Antwort ausbleibt, versetzt sie der Wohnungstür einen Stoß. Das Linoleum knarrt, Igitt, hört Ingrid Jenny sagen. Jetzt hat sie einen Blick in die Küche geworfen. Ingrid hört Jenny seufzen, sie hört, wie Jenny den Mantel ablegt, das Wasser aufdreht, anfängt, mit Putzzeug, Geschirr zu hantieren. Es klappert und scheppert und rauscht aus der Küche, aus dem Radio ertönt Weihnachtsmusik. Ingrid liegt still, stellt sich vor, wie das Weiß ihrer Augen im Dunkel leuchtet. Nach einer Weile dreht Jenny Radio und Wasser ab, ihre Schritte nähern sich dem Bett. Jenny lässt sich auf der Bettkante nieder. Ingrid bemerkt erst jetzt den Luftzug an ihrem Bein, ihr Knie ragt unter der Decke hervor. Jennys Finger malt Kreise auf Ingrids Knie, kleine, drängende Kreise, das kitzelt. Ingrid bewegt sich trotzdem nicht.

Du Faulpelz, sagt Jenny, nun steh doch mal auf! Und als das nichts hilft, Ey! Mann!, zieht Jenny Ingrid die Decke weg. Darunter Ingrid, weder ausgezogen noch abgeschminkt, Ingrid ziemlich verknittert. Das regt Jenny auf: Deine Haut muss doch atmen können, so! ruinierst du dein Kleid! Ingrid verknittert, stocksteif, wartet ab. Jenny über Schönheit und Schlaf, über Gesundheit und ein wenig Ordnung. Ihre Worte prasseln auf Ingrid nieder (Dialekt, ein warmer Sommerregen ist das). Jenny redet, bis nichts mehr zu sagen ist. Dann sagt sie:

Die Katze hat in die Küche gekackt.

Das weiß Ingrid. Sie war heute schon einmal wach, vor ein paar Stunden stand sie mit einem Glas Orangensaft in der Hand in der Küche, den Blick auf ein braunes, gezwirbeltes Etwas am Boden gerichtet. Die Katze saß blinzelnd daneben. Vor ein paar Stunden war Ingrid noch nicht bereit für diesen Tag, sie ist es auch jetzt nicht, doch Jenny kennt keine Gnade.

So ein Katzenklo, erklärt sie, das muss man ab und zu auch mal säubern. Ein reinliches Tier wie die Katze geht auf kein schmutziges Klo.

Reinliches Tier, denkt Ingrid unter zitternden Lidern verächtlich. Sie stellt sich tot, Sekunden verstreichen.

Hör mal, sagt Jenny dann, ich hab nicht viel Zeit.

Wenn das so ist, Ingrid beendet das Spiel. Sie sieht Jenny an, öffnet den Mund, ein einziges Wort kommt heraus: Kaffee.

Jenny, gute Jenny, zieht es vor, sich am Ton nicht zu stören. Sie deutet Ingrids Befehl einfach als Bitte: Steh endlich auf, dann kriegst du auch Kaffee.

Aus dem Badezimmerspiegel blickt Ingrid eine Krähe entgegen. Sie dreht das Wasser auf, der Spiegel beschlägt, die Krähe verschwindet im Dampf. Ich liebe dich, sagt Ingrid ins Nichts.

Nackt und geduscht kehrt Ingrid wenig später ins Zimmer zurück. Jenny sitzt auf dem Sofa und summt. Das ist eine Marotte von ihr, Jenny summt oft vor sich hin. Keine Melodie, eher ein Säuseln, wie Wind. Ein leichtes Vibrieren im Brustkorb, im Kopf. Es beruhigt Jenny, beruhigt auch die Katze, die auf ihrem Schoß sitzt und schnurrt. Jenny blättert in einer Zeitschrift.

Auf dem Tisch steht eine Tasse Kaffee. Ingrid hakt den Finger in den Henkel der Tasse, führt die Tasse zum Mund. Sie blickt aus dem Fenster. In der Wohnung auf der anderen Straßenseite läuft der Fernseher, ein blaues Leuchten. Im Fenster brennt eine Lichterkette. Zwischen Brennen und Leuchten, zwischen Gelb und Blau, in der Glasscheibe irgendwo Ingrid, Gespenst. Hinter ihr hört Jenny zu summen auf. Wie war deine Nacht?

Ingrid zuckt mit den Schultern, Ich weiß nicht, ich glaube, okay. Jennys Nacht hingegen war, Puh, das ging bis halb neun, dann hat sie die letzten Gestalten nach Hause geschickt.

Das Summen setzt wieder ein, dazu knistert Papier, Jenny hat umgeblättert. Ingrid überkommt Müdigkeit, mit einem Mal ist Ingrid so müde, dass sie die Tasse nur mit Mühe noch halten kann. Ingrid starrt aus dem Fenster und versucht sich zusammenzureißen. Jenny mag es nicht, wenn Ingrid so müde ist, das macht Jenny traurig. Jenny hat ein Buch über griechische Götter gelesen, und laut diesem Buch sind der Schlaf und der Tod miteinander verwandt. Es gab eine Zeit, in der bewachte Jenny Ingrid, während sie schlief. Jenny sah Ingrid beim Schlafen zu und war sich nicht sicher, ob Ingrid noch lebt. Das war, als sie sich kennenlernten. Als Jenny Ingrid fand, war Ingrid sehr müde, tage- und wochenlang lag sie auf Jennys Sofa und wollte nicht aufstehen.

Ingrid stellt die Tasse ab und geht hinüber zum Schrank. Sie wühlt in einer Schublade nach einer Strumpfhose und kann die Augen kaum offen halten, so müde ist sie.

Das Summen reißt wieder ab.

Machen wir jetzt Bescherung?, fragt Jenny vom Sofa. Sie legt die Zeitschrift beiseite. Ingrid zögert einen Moment lang, dann sagt sie: Ach Gott. Oder irgendwas in der Art. Vielleicht sagt sie auch gar nichts, sie hat eine Strumpfhose gefunden, steht auf einem Bein, das erfordert Konzentration.

Du hast kein Geschenk für mich, stellt Jenny fest.

Ich liebe dich, sagt Ingrid, balancierend, über die Schulter. Es gerät etwas zu scharf, selbst für Jennys Geschmack. Oh Mann, sie schnappt nach Luft: Ich möchte mal wissen, warum du so verdammt schlechte Laune hast.

Ingrid wechselt das Standbein, Ich, nein, wieso schlecht. Welche Laune. Sie rollt die Strumpfhose hoch, richtet sich auf. Ingrid stemmt die Fäuste in die Hüften, bevor sie sich umdreht. Sie steht da, große Nackte, unten Nylon, oben ohne, dazu nasses, nach hinten gekämmtes Haar. Ingrid versucht, entschlossen zu gucken, sie weiß, Jenny mag das.

Du bist wirklich selten mies drauf, seufzt Jenny und starrt Ingrids Brüste an: Dabei habe ich dir Kaffee und so. Jennys Augen groß und traurig, es tut Ingrid leid. Sie geht zu Jenny hinüber, möglichst entschlossen, sie beugt sich zu ihr hinab. Zwei Gesichter strecken sich Ingrid entgegen, ein kleines, ein großes, über zwei Paar Augen senken sich Lider. Jenny küsst Ingrid, die Katze stupst ihr die feuchte Nase gegen das Kinn.

Ich liebe dich, flüstert Ingrid, aber das ist auch wieder falsch.

Du Arsch, sagt Jenny und öffnet die Augen. Die Katze tut es ihr gleich. Dieser Blick. Jenny wird nicht schnell sauer, aber wenn sie mal sauer ist. Und sie hat ja auch recht. Ein Geschenk zu Weihnachten, eins zum Geburtstag, das darf man, das darf Jenny erwarten. Zwei Geschenke im Jahr sind nicht zu viel verlangt, wenn man sich liebt. Ingrid blickt in Jennys Augen und stellt sich vor, wie sie losrennt, kurz vor Ladenschluss noch eine Flasche Champagner ergattert, wie sie Jenny schnell einen Gutschein schreibt, für einmal essen gehen. Während Ingrid noch überlegt, wie sie die Bescherung retten kann, hat Jenny schon eine Idee. Sie schubst die Katze vom Schoß, umfasst Ingrids Hüfte. Ihre Daumen schieben sich unter die Strumpfhose.

Ach. Ach so. Ach, so einfach ist das?

Jenny nickt, ganz einfach, manchmal.

Es könnte perfekt sein. Versöhnung, wo gar kein Streit war. Ein Schmatzen und Seufzen, ein Rascheln der Kissen, so schön. Wenn Gordan nicht wäre. Der hat einen Schlüssel zu Ingrids Wohnung, also, der wohnt da. Fürs Erste, nicht lang. Gordan platzt rein. Im roten Kostüm. Steht breit, grinsend unter dem Rauschebart, in der Tür. Brüderchen als Väterchen, Ingrid dachte, er sei bei einem Auftritt im Kaufhaus, aber nein.

Hab was vergessen, sagt Gordan und rührt sich nicht von der Stelle. Guckt einfach nur, wie Ingrid und Jenny, ineinander verschlungen, Arme und Beine und Nylon, sehr hübsch. Jenny und Ingrid wie aus einem Mund: Was willst du?

Gordan deutet zum Tisch: Die Glocke.

Ingrid hebt die Augenbraue, Gordan soll sich gefälligst beeilen, soll holen, weswegen er stört. Gordan setzt sich in Bewegung, in Zeitlupe läuft er zum Tisch. Indes zieht sich Jenny rasend schnell an. Sie mag nicht von ihm angesehen werden, nicht so und nicht anders: Glotz nicht so blöd, du saublöder Penner!

Gordan schnappt sich die Glocke. Gordan bimmelnd vom Tisch wieder zur Tür, Habe die Ehre!, und raus.

Es herrscht nur kurz wütende Stille, dann steht Jenny mit erhobenen Händen mitten im Zimmer. Warum, Ingrid, sag mir, warum?

Ingrid auf dem Sofa legt den Kopf in den Nacken, sie haben dieses Gespräch schon so oft geführt: Er ist mein Bruder, Jenny, darum.

Jennys Hände erschlaffen, sie muss jetzt auch los, ihre Eltern warten bestimmt schon auf sie. Kein letzter Blick, kein Kuss, keine Kreise auf Ingrids Knie, nur das Knallen der Tür.

Am selben Abend, Heilige Nacht. Ingrid läuft die Straße entlang, die Handtasche baumelt, Ingrid trägt ein billiges Kleid, einen billigen Mantel, ein kunstseidenes Mädchen ist sie, das zur Arbeit geht. Vor dem Klub steht Graziella auf einer Leiter, sie hält eine riesige rosafarbene Schleife aus Plastik über dem Kopf. Edgar, Zigarette im Mundwinkel, blickt zur Chefin hinauf, er hält die Leiter. Als Ingrid bei ihnen angelangt ist, hat Graziella die Schleife über der Tür angebracht.

Frohe Weihnachten, sagt Ingrid, und: Schöne Schleife. Edgar zuckt mit den Schultern, einer wie er hat keine Meinung zu Rosa. Graziella verkündet: Das Ding ist verdammt schwer, auch wenn’s nicht so aussieht. Graziella ist stark. Sie betrachtet ihr Werk, die schwere rosa Schleife über der Tür, dann steigt sie die Leiter hinab. Ihr Po nähert sich Edgars Gesicht. Edgar zieht eine Grimasse, als fürchte er den herannahenden Po. Er lässt die Leiter los, tritt zurück, zwinkert Ingrid hinter dem Rücken der Chefin zu. Graziella merkt nichts, sie lässt sich nichts anmerken, sie geht voran, Ingrid folgt ihr.

Im Innern des Klubs werden aus zwei Frauen viele, zig Münder und Blicke und Beine, Graziella und Ingrid sind umgeben von Spiegeln. In der Mitte des Raums ein Podest, eine Diskokugel hängt drüber. Noch dreht sich hier nichts, noch wurde das Licht nicht gedämpft. Räudiger Plüsch, mit Samt ausgeschlagene Ecken. Über der Bar der Schriftzug, in dem schon mehr als ein Lämpchen, Buchstabe fehlt.

Irgendwo hinter den Spiegeln kauert Mona über einem Strich Koks, sie ruft einen Gruß. Draußen klappert Edgar noch mit der Leiter. Graziella durchquert stampfenden Schrittes den Raum, verschwindet zwischen den Spiegeln. Ingrid zieht ihren Mantel aus und steht da in der funkelnden Pracht ihres paillettenbesetzten Kleides. Den Job hat Jenny Ingrid besorgt. Es war ein Zufall, dass Jenny Graziella begegnet ist, auf dem Heimweg im Morgengrauen, in Kemals Kiosk. Zwei Frauen vom gleichen Schlag, die mussten sich nur kurz beschnuppern, dann haben sie zusammen Mokka getrunken und Zigaretten geraucht. Jenny hat Graziella von einem Mädchen erzählt, das dringend Arbeit sucht.

Fürs Erste, hat Jenny gesagt und Ingrid mit blauen Augen angesehen, wird es schon gehen. Wohl war Jenny nicht bei der Sache, sie wollte das Beste für Ingrid. Dem Mädchen hingegen war alles egal, Ingrid war gerade mal zwanzig und unendlich müde. Jahre später leert Ingrid immer noch Aschenbecher. Ingrid leert und fegt, sie wischt und schrubbt, schleppt Fässer und schneidet Limetten, weil sie dafür bezahlt wird. Die Arbeit im Klub, das ist Ingrids Job, das hat nichts mit ihr zu tun.

Während Ingrid ihren Tresen herrichtet, laufen die anderen ein. Sie vollziehen Graziellas Gang, benötigen zehn bis zwölf Schritte vom Vorhang zur Tür zwischen den Spiegeln, Hey Ingrid –

Hey.

Mike und Kathi, dann Dean. Als Letzte schlüpft Olga herein.

Alle sind da, und nichts passiert. In Ingrids Glas zischelt die Kohlensäure. Ingrid raucht in aller Ruhe, sie ist bereit. Das Licht wird gedämpft, die Diskokugel beginnt sich zu drehen, Graziella tritt zwischen den Spiegeln hervor. Also dann. Musik erklingt.

Nach einer Weile kommt Edgar von draußen herein. Edgar mit Ringen unter den Augen und abgebrochenem Schneidezahn setzt sich an den Tresen zu Ingrid. Was ist der Unterschied, Edgar macht einen Scherz, den keiner hören will. Was ist der Unterschied, Edgar liefert die Antwort gleich selbst. Ingrid lacht. So ist das zwischen den beiden, Edgar macht einen Scherz, den keiner hören will, und Ingrid lacht. Graziella lacht nicht, Graziella wirft Edgar einen Blick zu, Was hast du eigentlich hier drinnen verloren? Edgar trollt sich, um vor der Tür Männer zu locken, Wie wär’s? Ganz heiße Hasen, die wildesten Hengste, Bienen und Miezen, treten Sie ein!

Ingrid hinter ihrem Tresen schließt kurz mal die Augen, passiert ja noch nichts. Die Strahlen der Diskokugel gleiten über ihre Lider hinweg, Lichttupfen, Sommerlaub, das ist lange her, viele Nächte, die alle eine waren. Ingrid denkt nicht an diese Nächte, sie sind einfach da, wenn sie die Augen schließt.

Verdammt, Ingrid, Kundschaft! Graziella schüttelt verärgert den Kopf. Edgar führt eine Gruppe Abiturienten herein. Die Herren wollen ihr Weihnachtsgeld ausgeben, das in einem Briefumschlag unter dem Baum lag, neben Elektronik und Sportklamotten, was man eben so schenkt. Die Herren sind Jungs, nur wenige Jahre jünger als Ingrid (sind nur ungefähr einhundert Jahre jünger als Ingrid). Sie kommen aus gutem Hause, das erkennt Ingrid sofort. Da lugt mal ein Hemdzipfel raus, die teure Hose hängt tief. Ingrid kennt diese Jungs, sie ist mit ihnen zur Schule gegangen, fast wäre sie einer von ihnen geworden. Wenn nicht, ja, was eigentlich? Die Jungs erkennen Ingrid jedenfalls nicht, die sehen nur das Kleid. Ingrid hat sehr schöne Arme, das Licht steht ihr gut. Komplimente, die Jungs wissen, ihnen gehört diese Welt, sie spucken ihre Dummheiten auf Ingrids Tresen.

Achtundzwanzig achtzig, sagt Ingrid und lächelt. Das sind neun Schnäpse, neun kleine Schnäpse, ihr Zwerge. Mehr gestattet sich Ingrid nicht, nur das: ihr Zwerge. Und auch das nicht laut, sondern ganz leise, ohne Worte vielleicht. Mit einem Lächeln.

Die Show beginnt. Mona stakst auf die Bühne, Stilettos, sie nimmt auf spitzen Pobacken Platz. Klappt ohne Umschweife vor den Jungs ihren Leib auseinander. Kein Raunen, ein Schnaps, ein alltäglicher Anblick. Mona wälzt sich, Ansicht von hinten. Mike tritt heran, der von Edgar gepriesene, unermüdliche Mike. In Latzhose, darunter glänzende, ölige Haut. Mikes Hand landet klatschend auf Monas Po. Ein kurzer Wortwechsel, Rollenspiel, dann geht es los. Mike lässt den Latz herunter. Kein Raunen, neun Zwerge verschränken die Arme. Mike kennt diesen Moment, er genießt ihn, hält seinen Schwanz in den Raum. Mona bittet und bettelt, Mike packt ihren Schopf. Ingrid betrachtet Mikes Hintern, die Grübchen, die sich rhythmisch vertiefen.

Es wandern noch einige Schnäpse über den Tresen, ohne dass Ingrid Trinkgeld kassiert. Olga hat gar nicht erst angefangen zu arbeiten, es lohnt heute nicht. Olga sitzt neben Graziella, die beiden rauchen in grimmigem Einvernehmen: Das schafft die Ingrid heute auch mal alleine. Auf der Bühne Kathi kopfüber, die Schenkel neben den Wangen. Dean versucht, den Schemel, der Kathi ist, zu besteigen, aber der wackelt, der kippt, fast fällt Kathi um. Noch einmal. Dean hat Konzentrationsschwierigkeiten, mit hastiger Hand hilft Kathi nach. Das Publikum verzeiht so etwas nicht, das haben die Abiturienten schon besser gesehen. Sie ziehen weiter. Bevor Dean sich wieder fängt, ist das Rudel zur Tür hinaus. Nur einer bleibt zurück, als sei er plötzlich nicht sicher, zu wem er gehört. Vor dem schwarzen Samtvorhang hält er inne, er dreht sich um. Sein Blick gleitet durch den Raum, über den ins Schwitzen geratenen Dean, über Kathi, die sich mit einer gereizten Bewegung das Haar aus der Stirn streicht. Der Junge schaut Ingrid an, und in seinem Blick ein Bruchteil von etwas, Gedanke, Erkenntnis, dann verschwindet auch er durch den Vorhang.

Zwischen den Spiegeln ein Gang, am Ende des Gangs eine Tür, in der Tür Licht. Ingrid tritt vom Dunkel ins Licht, in den Rauch. Ein runder Tisch, eine Lampe darüber. Mona, die eben noch nackt war, trägt Nicki, dreht einen Joint. Mike, mit blanker Brust, isst eine Banane. Kathi steht über den Tisch gebeugt, sie verteilt Schnapsgläser, Schokoküsse. Edgar macht einen Scherz, über den Kuss und seine Bezeichnung, typisch Edgar. Ingrid lacht, aber Kathi versetzt Edgar einen Klaps auf den Hinterkopf. Etwas zu fest, Edgar spuckt Schoko und Schaum auf den Tisch. Graziella schüttelt verärgert den Kopf. Jedem was Süßes und Schnaps für alle, mit einem lilafarbenen Lappen wischt Graziella die Pampe weg. Edgar lacht auch schon wieder, er klopft auf den Stuhl neben sich. Ingrid nimmt Platz. Edgar hat Weißes im Mundwinkel, Ingrid sieht es und sagt nichts. Sie hört seine Stimme, riecht seinen Atem, seinen süßlichen Atem. Ingrid blickt hinab, auf ihre Hände im Schoß. Wie tote Tauben, als würden sie schon lange dort liegen. Als seien sie einfach vom Himmel gefallen.

Ingrid spürt einen Blick und schaut hoch. Einen Moment lang stimmt etwas nicht. Graziella atmet laut aus, Dean hebt die Brauen, und Kathi schmunzelt. Da versteht Ingrid: über dem Tisch, unter der Lampe, die Fäuste der anderen, mit Gläsern darin. Und auch Ingrids Hand erwacht, greift nach dem Glas, steigt in die Höhe. Durch den Dunst blickt Ingrid in Olgas helles, fernes Gesicht. Olgas Lippen formen ein Wort, Olga spitzt den Mund wie zum Kuss.

Prost, hört Ingrid sie sagen.