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Peter Patzak

Full Circle

(Drehbuch)

 

 

 

Copyright © 2015 Der Drehbuchverlag, Wien 

2. Auflage, 14. Februar 2016

Alle Rechte vorbehalten 

eBook: Full Circle (Drehbuch) 

ISBN: 978-3-99041-375-3 

„Kein Gespenst überfällt uns in vielfältigeren Verkleidungen als die Einsamkeit, und eine ihrer undurchschaubarsten Masken heißt Liebe.“

 

Arthur Schnitzler, Tagebuch 1913-1916

Michael Köhlmeier

 

Es ist ein erschütterndes Sittenbild. Und lässt einen allein. Dass gerade aus diesem Kontra Heiterkeit sprüht, verdankt die Geschichte dem unerschütterlichen Zutrauen der Figuren in die Souveränität ihres eigenen Ichs. Wenn mir alle Verantwortung übergeben wurde oder wenn es mir gelingt, mir selbst glaubhaft zu machen, alle Verantwortung sei mir übergeben worden, nämlich tatsächlich alle Verantwortung, dann wird das Leben auf merkwürdige Art leicht. Die drei Frauenfiguren Desiree, Catherine und Laura führen dies in einem Lebensstil vor, der unterschiedlicher nicht sein könnte. Desiree geht aufrecht und tapfer wie ein weiblicher Don Quijote durch die Welt, die wie durch ein Vexierglas von grauenhaft zu frühlingshaft springt, je nach dem Winkel, aus dem wir sie betrachten. Catherine – auch sie dem Don Quijote verwandt – trägt ihre Verruchtheit vor sich her, bisweilen mit dem Pathos der Verderbtheit, auch sie ihrer freien Wahl treu. Ich finde Catherine komisch, umso komischer, je abgefeimter sie sich gibt. Laura lieben wir von Anfang an. Wo alles nur Spiel scheint, ist sie der Einsatz. Im Gegensatz zu fast allen Anderen macht sie sich kein Bild von sich selbst. Sie ist. Und dass sie am Ende das Glück findet … finden könnte – selten begegnet man einem so ausgeklügelten Spiel mit dem Konjunktiv –, ergibt sich wie zwingend aus ihrem Zutrauen. Dass sie obendrein noch einen anderen Menschen mit sich ins Glück hineinreißt, darüber jubeln wir zuerst – dann denken wir nach, und nun setzt sich die Geschichte in unseren Köpfen fort, nun treiben wir in unserer Phantasie den Reigen weiter.

   Die Geschichte ist für Erwachsene erzählt. Man muss standhaft sein, um sie zu ertragen. Und mündig. Einer, der dieses Stück liest – der diesen Film sieht –, sollte seinen Weg so weit gegangen sein, dass umzukehren nicht vernünftig ist. Er sollte mit dem gleichen Selbstvertrauen ausgestattet sein wie die Figuren, die vor uns, stellvertretend für uns, über die Leinwand tanzen. Wer den Blick in die Augen von Laura, Desiree, Catherine, die Augen des kleinen Smith and Wesson, die Augen des in den Wirrsalen der Liebe sich verträumenden Andrew, die verrückten Augen von Kronfeld aushält und auch aushält, dass dieser Blick sich als Blick in die eigene Seele zurückspiegelt, der hat die Katharsis durchmessen. Das Kunststück besteht darin, dass wir auf diese Weise desillusioniert, das Leben als sehr nahe empfinden, was sich als eine unerwartete, unverhoffte Liebesfähigkeit herausstellen kann.

   Patzak verzichtet auf jede Symbolik, die auf etwas Höheres schließen lässt; die zu trösten vorgibt, indem sie sagt: Auf einer gewissen Ebene hängt alles mit allem zusammen, und das nennt man Sinn. Nicht einmal der alte Existentialismus erweist sich in diesem Geflecht als zuverlässig. Die Menschen, die hier handeln, sind nicht Geworfene, kein Schicksal spielt mit ihnen; was sie tun, tun sie aus freien Stücken. Als Laura in der Öltonne durch die Straßen von Los Angeles gerollt wird, sagt der Mann in den Cowboystiefeln zu ihr: „Du bist hier, weil du es unbedingt wolltest. Erinnerst du dich? Du bist aus freien Stücken hier.“ Und er lügt nicht. Die Menschen, die in diesem Stück ihr Spiel machen, sind so standhaft, so mündig, so erwachsen, wie wir, die wir ihre Geschichte sehen, es sein sollten. Sie muten uns ihre Geschichte zu. Es darf gefordert werden, dass, die Erzählung zu ertragen, nicht schwerer sein sollte, als das Leben zu leben.

   Ich habe nach der Lektüre von einer der Figuren geträumt. Von Andrew, der den guten Ausgang dieses Reigens behaupten darf, einfach weil er zusammen mit Laura aus dem Bild fährt, ohne dass ihm dabei etwas zustößt. Ich habe geträumt, er lädt mich zum Essen ein und sagt: „Wir müssen nicht reden.“ Als ich aufwachte, dachte, ich: Ja, aber es ist besser, wenn wir reden; ohne mir einen Sinn wenigstens einzubilden, könnte ich nicht leben. Andrew meint, man kann doch. Wir sollen Tage-aneinander-Reihen im menschheitsgeschichtlichen Sinn heißt: sich fortpflanzen. Und wenn alles nur noch Schein geworden ist, dann: wenigstens so tun, als würden wir uns fortpflanzen. Dann ist Ficken wesentlich. Zum Beispiel. Aber auch jedes kleine Ding ist wesentlich, jede zerquetschte Coladose, ein alter Handkarren, die scheinbar unbedeutendsten Handlungen sind wesentlich – aus dem einfachen Grund, weil sie in Summe das Leben ausmachen. Und unwesentlich ist die Große Idee.

   Schnitzler, als er seinen „Reigen“ schrieb, ahnte, dass außerhalb der Sexualität ein Sinn nur entweder mit irren Illusionen oder mit Gewalt herzustellen ist. In den Geschichten von Patzak ist selbst die Gewalt – außer der Zufall wendet sie an, wie beim Tod des kleinen Smith and Wesson – ohne jeden Sinn. Gewalt als ob. Alles als ob. Tun wir so, als ob es einen Sinn hätte, dass wir so tun, als ob es einen Sinn hätte, so zu tun, als ob es einen Sinn hätte … Aber auch das trifft nicht den Kern. Der Kern – das lehrt uns diese Geschichte – ist dort zu finden, wo nach dem gefragt wird, was ist. Und nicht nach dem, was es bedeutet, also: nicht nach einem Sinn, den irgendetwas haben soll. Sinn führt in den Untergang. Das Leben führt zum Tod. Dem Tod aber steht – wollen wir bescheiden sein und deshalb auf das große Wort Liebe verzichten – die Sexualität als gewaltiger Rivale entgegen.

   Die Geschichten folgen also keiner Philosophie, sie meiden Philosophie wie das Böse den Segen. Die Geschichten sind nicht zynisch. Wer das glaubt, wiegt sich in einer seltsamen Idylle, einer schwarzen Idylle, die nicht weniger biedermeierisch ist. Und moralisch sind die Geschichten erst recht nicht. Wer den Engel spielt – wie Herr Kronfeld –, dem bleibt nichts anderes übrig, als sich ausbluten zu lassen. So tun eben Engel. Was können die schon mit Blut im eigenen Körper anfangen! – Es sind erwachsene, mündige, heitere und auf eine verquere Art gültige Geschichten.

 

Michael Köhlmeier

PRÄAMBEL

 

Im globalen Dorf spielt es keine Rolle, wo du bist: am Wiener Flughafen, im Hotel in Tokio, im New Yorker Apartment oder in der ärmsten Favela von Rio de Janeiro. Überall drehen sich die Janusköpfe, jeder begehrt partout, was er nicht haben kann, hinter jeder Fassade knurren die Triebe und unter jeder Wahrheit steckt eine Lüge.

   In Full Circle kreuzen sich die Schicksale von fünf Frauen und fünf Männern: Raffaela schläft mit Christoph, Christoph schwängert Desiree, Desiree liebt Kronfeld, Kronfeld verführt Thomas und Thomas flirtet mit Raffaela. Ist also Full Circle eine Geschichte über die Liebe? Nicht unbedingt, denn Frau Tissen schlägt Ku, Ku schlägt Catherine, Laura raubt Herrn Kronfeld aus und Kronfeld schlitzt sich die Pulsadern auf. Was ist also Full Circle? Ein Trip um die Welt – und zugleich in die Abgründe der menschlichen Gier.

   Als Ensemblefilm angelegt, chronologisch erzählt, mit oft kreuzenden Handlungssträngen und stringent in seiner Analogie zu Arthur Schnitzlers „Reigen“ ist Full Circle provokant, amüsant, bestürzend und berauschend – und beeindruckt mit tiefem Verständnis für die lebenshungrigen Seelen seiner Figuren.

SYNOPSIS

 

Um sich und seine Frau vor dem finanziellen Ruin zu bewahren, fliegt HERR KRONFELD von Wien nach Rio, um eine alte Freundin der Familie um Geld für ein riskantes Spekulationsgeschäft zu bitten. Seine feinsinnige, aber einsame Frau DESIREE bleibt in Wien, wo sie sich mit einer Jugendfreundin trifft: die schöne CATHERINE, die sich nach einem Kindheitstrauma noch immer vor der Dunkelheit fürchtet.

   In Rio bekommt Kronfeld von der reichen, hart gesottenen FRAU TISSEN den erhofften Kredit, nimmt das Straßenmädchen LAURA mit ins Hotelzimmer – und wird prompt von ihr ausgeraubt. Lauras Komplize, ein neunjähriger, einarmiger Bub aus den Elendsvierteln, kann entwischen, doch Laura wird jäh an der Hand gepackt: der Japaner KU, Frau Tissens dauerscharfer Liebhaber und Leibsklave, hat alles beobachtet. Statt Laura der Polizei auszuliefern, „vergnügt“ er sich mit ihr am Strand und bricht ihr zum hundertsten Mal das Herz.

   In New York lernen wir eine Künstlernatur kennen: den schwarzen Cellisten ANDREW, der zur Miete in Desiree Kronfelds Brooklyner Apartment wohnt und sich als Fotomodell für Werbekampagnen über Wasser hält. Andrews breites Grinsen bleibt an den nachfolgenden Schauplätzen stets auf Plakatwänden präsent, von Europa bis Japan.

   Nach Japan fliegen auch die zynische Frau Tissen und ihr devoter Liebhaber Ku. In einem Nazi-Fetischrestaurant beobachtet Ku seine Herrin bei einem Treffen mit ihrer Angestellten und Ex-Geliebten Catherine; wir erkennen die Jugendfreundin von Desiree Kronfeld. Abermals erwacht Kus gewalttätige Seite. Wie ein Getriebener verfolgt er die klaustrophobische Catherine durch die Tokioter U-Bahn und zwingt sie in einem dunklen Hotelaufzug zum Sex. Wenige Tage später benutzt auch Tissens blasierter Sohn CHRISTOPH die schöne Catherine für seine masochistischen Obsessionen.

   Wieder in Europa, sind Herr Kronfeld und seine Frau Desiree zu einem Dinner in Frau Tissens Frankfurter Villa geladen. Beim Tischgespräch stellt sich heraus, dass die kinderlosen Kronfelds eine künstliche Befruchtung planen. Warum dies nötig ist, ahnt der Zuschauer, als Herr Kronfeld begehrliche Blicke auf Christoph, den Sohn des Hauses, wirft. Dieser wiederum stillt später sein unerwidertes Verlangen nach Kronfelds Frau Desiree, indem er heimlich in der Befruchtungsklinik Kronfelds Sperma durch sein eigenes ersetzt. Kurzfristige Erfüllung findet Christoph mit RAFFAELA, dem spöttischen, lebensklugen Hausmädchen der Familie Tissen. Sie verführt den reichen Sohn ihrer Dienstgeberin mit ihrem Talent, Männer nur durch Augenverdrehen zu befriedigen.

   Herr Kronfeld reist nach Hamburg, doch nicht nur wegen des Spekulationsgeschäfts. Bei einem Bummel über den Fischmarkt macht er sich an den attraktiven THOMAS heran, einen jungen Marathonläufer, der Herrn Kronfeld schon vor seinem Flug nach Rio im Zug zum Flughafen ins Auge stach und dessen Telefonnummer er durch Zufall an sich brachte.

   Immer mehr verschränken sich nun die Schauplätze und Verstrickungen zwischen den Protagonisten. Während Herr Kronfeld, fern seiner schwangeren Frau, seinen geheimen Lüsten frönt, verlässt Laura, das brasilianische Straßenmädchen, ihren drogensüchtigen Vater und folgt einem zwielichtigen Zuhälter arglos nach Amerika. In Frankfurt befreit sich Ku endlich aus Frau Tissens emotionalem Würgegriff. In Wien konfrontiert Catherine ihre greise Mutter im Altersheim mit der Wahrheit über den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater. Und in einem deutschen Sportbordell stürzt sich Frau Tissens Sohn Christoph in einen bizarren Boxkampf; der Mann, der ihn niederschlägt, ist kein anderer als der Japaner Ku.

   Raffaela verlässt daraufhin Christoph und zugleich Europa. Auf der Staten Island-Fähre in New York begegnet sie Andrew, dem schwarzen Cellisten, der die kecke Europäerin in sein Brooklyner Apartment einlädt. Am selben Abend verhindert Andrew einen Überfall eines jugendlichen Desperados auf ein „Deli“ in der Nachbarschaft – und in grausamer Parallele wird zur selben Zeit im Straßengewühl von Rio de Janeiro Lauras junger einarmiger Freund von einem LKW überfahren und getötet. Auch für Kronfeld wendet sich das Blatt. Als nach einem Rückzieher Frau Tissens sein Spekulationsgeschäft platzt, legt er sich die weißen Flügel der Fantasie an und verblutet, von Thomas träumend, in der Badewanne.

   Während Herr Kronfeld seinem Tod entgegen träumt, folgt Andrew seinen Träumen nach L.A., wo er sich erfolgreich als Orchestermusiker bei den L.A. Philharmonics bewirbt. Indes besucht Desiree Kronfeld ihr Brooklyner Apartment – und trifft zu ihrem Erstaunen auf ein ihr bekanntes Gesicht: Tissens ehemaliges Hausmädchen Raffaela hat es sich in Andrews Wohnung gemütlich gemacht. Als aber Desiree telefonisch vom Selbstmord ihres Mannes erfährt und dessen letzter heimlicher Liebhaber, der Marathonläufer Thomas, ebenfalls in Brooklyn auftaucht, wirft Desiree die beiden jungen Leute kurzerhand hinaus. Bei dieser Gelegenheit entdecken Raffaela und Thomas ihre Sympathie für einander.

   Desiree, wieder in Wien, wird getröstet von ihrer Jugendfreundin Catherine und findet seelischen Halt in der Vorfreude auf ihr Baby; nicht ahnend, dass dieses niemals Kronfelds Augen haben wird. Und Andrew in L.A. feiert seinen unverhofften Karrieresprung, indem er am Straßenrand eine brasilianische Prostituierte aufgabelt: es ist Laura, die zwar das Land, nicht aber den Beruf wechseln durfte. Bei einem missglückten Sex-Versuch verlieben sich die beiden ineinander, Andrew befreit Laura aus den Klauen ihres Zuhälters, sie klemmt sich hinters Steuer und die beiden fahren gemeinsam in eine ungewisse Zukunft – aber immerhin eine Zukunft…

1. Int. Wien / Biedermeierhaus / Arbeitszimmer – Morgendämmerung

 

Eine gepflegte Männerhand schiebt auf einer von unten beleuchteten Glasplatte – wie man sie von Juwelieren kennt – bunte Schmucksteine zu einem Kreis zurecht: Aquamarine, Smaragde, Topase, Turmaline, Zitrine, Amethyste und Saphire.

 

Herr KRONFELD (55) hält sorgenvoll inne. An seine Schultern sind zwei mächtige weiße Flügel montiert, mit prächtigen Federn und silberner Mechanik. Die Spannweite reicht über seine Arme hinaus. Herr Kronfeld erhebt sich.

 

Der Raum: Ein Arbeitszimmer im perfekten Biedermeierstil. Rötliches Licht aus Kohlenfadenlampen.

 

Er geht einige Schritte auf und ab. Die Flügel schwingen. Aus der Stereoanlage tönt die Ouvertüre aus „Tannhäuser“. Man hört ein vorfahrendes Auto.

 

Herr Kronfeld bleibt kurz regungslos stehen, dann legt er die Flügel rasch ab und bettet sie sorgfältig in einen weinroten Lederkoffer. Herr Kronfeld schlüpft in einen schwarzen Sweater.

 

 

2. Ext. Wien / Straße in Nobelvorort – Morgendämmerung

 

Eine Villenstraße. Gebäude unterschiedlicher Stile. Dann das Biedermeierhaus. Hinter einem Fenster schimmert das rötliche Licht. Leise die Ouvertüre aus „Tannhäuser“.

Ein Federal-Express-Auto hat gehalten.

Herr KRONFELD kommt aus dem Haus, der FAHRER überreicht ihm ein dickes Kuvert. Herr Kronfeld unterschreibt die Übernahme.

 

KRONFELD

Ich habe die Sendung gestern Abend schon erwartet.

 

FAHRER

Tut mir leid. Ich bin vor einer halben Stunde losgeschickt worden – und der Verkehr…

 

Herr Kronfeld drückt dem Fahrer eine Banknote in die Hand.