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»Was da unaufhörlich tickt / und feuert, das soll ich sein?« Die Neugier auf die Erfahrung seiner selbst und auf die Rätsel, die »ihm der Alltag und die Philosophie und die Biologie zuspielen« (Der Spiegel), hat sich Hans Magnus Enzensberger seit der Verteidigung der Wölfe (1957), seinem ersten Gedichtband, nicht nehmen lassen. In all den Jahrzehnten seither ist sein Werk wie wenige andere zu einem poetischen Vademecum für Zeitgenossen geworden. »Wir wüßten keinen, mit dem wir uns lieber einen Reim auf diese Welt machen würden«, schrieb einmal die Neue Zürcher Zeitung – voilà: Enzensbergers persönliche Auswahl seiner Gedichte aus sechseinhalb Jahrzehnten.

 Wieder hat Enzensberger die Taschenbuchausgabe seiner gesammelten Gedichte im Fünfjahresrhythmus renoviert: Einiges aus der älteren Zusammenstellung wurde herausgenommen, Neues aus der letzten illustren Sammlung Blauwärts (2013) integriert. Mehrere bislang ungedruckte Gedichte kamen hinzu. So schreibt sich die Auswahl seiner Gedichte weiter fort als die Geschichte eines Zeitgenossen, der die Systeme hinter sich läßt und der unfaßlichen Monstrosität der »Realität« (s)eine Sprache gibt.

 Hans Magnus Enzensberger, geb. 1929 in Kaufbeuren, lebt in München.

 Zuletzt sind von ihm im Suhrkamp Verlag erschienen: Blauwärts. Ein Ausflug zu dritt (2013), Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (st 4553 ) und Tumult (2014).

 

 

Hans Magnus Enzensberger
Gedichte

1950-2015

Suhrkamp

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4554.

© dieser Zusammenstellung Suhrkamp Verlag Berlin 2014

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlagfoto: Jürgen Bauer

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

 

eISBN 978-3-518-74369-0

www.suhrkamp.de

Gedichte
1950-2015

 

Utopia

Der Tag steigt auf mit großer Kraft

schlägt durch die Wolken seine Klauen

Der Milchmann trommelt auf seinen Kannen

Sonaten: himmelan steigen die Bräutigame

auf Rolltreppen: wild mit großer Kraft

werden schwarze und weiße Hüte geschwenkt.

Die Bienen streiken. Durch die Wolken

radschlagen die Prokuristen,

aus den Dachluken zwitschern Päpste.

Ergriffenheit herrscht und Spott

und Jubel. Segelschiffe

werden aus Bilanzen gefaltet.

Der Kanzler schussert mit einem Strolch

um den Geheimfonds. Die Liebe

wird polizeilich gestattet,

ausgerufen wird eine Amnestie

für die Sager der Wahrheit.

Die Bäcker schenken Semmeln

den Musikanten. Die Schmiede

beschlagen mit Eisernen Kreuzen

die Esel. Wie eine Meuterei

bricht das Glück, wie ein Löwe aus.

Die Wucherer, mit Apfelblüten

und mit Radieschen beworfen,

versteinern. Zu Kies geschlagen,

zieren sie Wasserspiele und Gärten.

Überall steigen Ballone auf,

die Lustflotte steht unter Dampf:

Steigt ein, ihr Milchmänner,

Bräutigame und Strolche!

Macht los! mit großer Kraft

steigt auf

 

 

der Tag.

Geburtsanzeige

Wenn dieses Bündel auf die Welt geworfen wird

die Windeln sind noch nicht einmal gesäumt

der Pfarrer nimmt das Trinkgeld eh ers tauft

doch seine Träume sind längst ausgeträumt

es ist verraten und verkauft

 

wenn es die Zange noch am Schädel packt

verzehrt der Arzt bereits das Huhn das es bezahlt

der Händler zieht die Tratte und es trieft

von Tinte und von Blut der Stempel prahlt

es ist verzettelt und verbrieft

 

wenn es im süßlichen Gestank der Klinik plärrt

beziffern die Strategen schon den Tag

der Musterung des Mords der Scharlatan

drückt seinen Daumen unter den Vertrag

es ist versichert und vertan

 

noch wiegt es wenig häßlich rot und zart

wieviel es netto abwirft welcher Richtsatz gilt

was man es lehrt und was man ihm verbirgt

die Zukunft ist vergriffen und gedrillt

es ist verworfen und verwirkt

 

wenn es mit krummer Hand die Luft noch fremd begreift

steht fest was es bezahlt für Milch und Telefon

der Gastarif wenn es im grauen Bett erstickt

und für das Weib das es dann wäscht der Lohn

es ist verbucht verhängt verstrickt

 

wenn nicht das Bündel das da jault und greint

die Grube überhäuft den Groll vertreibt

was wir ihm zugerichtet kalt zerrauft

mit unerhörter Schrift die schiere Zeit beschreibt

ist es verraten und verkauft.

Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer

Soll der Geier Vergißmeinnicht fressen?

Was verlangt ihr vom Schakal,

daß er sich häute, vom Wolf? Soll

er sich selber ziehen die Zähne?

Was gefällt euch nicht

an Politruks und an Päpsten,

was guckt ihr blöd aus der Wäsche

auf den verlogenen Bildschirm?

 

Wer näht denn dem General

den Blutstreif an seine Hose? Wer

zerlegt vor dem Wucherer den Kapaun?

Wer hängt sich stolz das Blechkreuz

vor den knurrenden Nabel? Wer

nimmt das Trinkgeld, den Silberling,

den Schweigepfennig? Es gibt

viel Bestohlene, wenig Diebe; wer

applaudiert ihnen denn, wer

steckt die Abzeichen an, wer

lechzt nach der Lüge?

 

Seht in den Spiegel: feig,

scheuend die Mühsal der Wahrheit,

dem Lernen abgeneigt, das Denken

überantwortend den Wölfen,

der Nasenring euer teuerster Schmuck,

keine Täuschung zu dumm, kein Trost

zu billig, jede Erpressung

ist für euch noch zu milde.

 

Ihr Lämmer, Schwestern sind,

mit euch verglichen, die Krähen:

ihr blendet einer den andern.

Brüderlichkeit herrscht

unter den Wölfen:

sie gehn in Rudeln.

Gelobt sein die Räuber: ihr,

einladend zur Vergewaltigung,

werft euch aufs faule Bett

des Gehorsams. Winselnd noch

lügt ihr. Zerrissen

wollt ihr werden. Ihr

ändert die Welt nicht.

Blindlings

Siegreich sein

wird die Sache der Sehenden

Die Einäugigen

haben sie in die Hand genommen

die Macht ergriffen

und den Blinden zum König gemacht

 

An der abgeriegelten Grenze stehn

blindekuhspielende Polizisten

Zuweilen erhaschen sie einen Augenarzt

nach dem gefahndet wird

wegen staatsgefährdender Umtriebe

 

Sämtliche leitende Herren tragen

ein schwarzes Pflästerchen

über dem rechten Aug

Auf den Fundämtern schimmeln

abgeliefert von Blindenhunden

herrenlose Lupen und Brillen

 

Strebsame junge Astronomen

lassen sich Glasaugen einsetzen

Weitblickende Eltern

unterrichten ihre Kinder beizeiten

in der fortschrittlichen Kunst des Schielens

 

Der Feind schwärzt Borwasser ein

für die Bindehaut seiner Agenten

Anständige Bürger aber trauen

mit Rücksicht auf die Verhältnisse

ihren Augen nicht

streuen sich Pfeffer und Salz ins Gesicht

betasten weinend die Sehenswürdigkeiten

und erlernen die Blindenschrift

 

Der König soll kürzlich erklärt haben

er blicke voll Zuversicht in die Zukunft

An alle Fernsprechteilnehmer

Etwas, das keine Farbe hat, etwas,

das nach nichts riecht, etwas Zähes,

trieft aus den Verstärkerämtern,

setzt sich fest in die Nähte der Zeit

und der Schuhe, etwas Gedunsenes,

kommt aus den Kokereien, bläht

wie eine fahle Brise die Dividenden

und die blutigen Segel der Hospitäler,

mischt sich klebrig in das Getuschel

um Professuren und Primgelder, rinnt,

etwas Zähes, davon der Salm stirbt,

in die Flüsse, und sickert, farblos,

und tötet den Butt auf den Bänken.

 

Die Minderzahl hat die Mehrheit,

die Toten sind überstimmt.

 

In den Staatsdruckereien

rüstet das tückische Blei auf,

die Ministerien mauscheln, nach Phlox

und erloschenen Resolutionen riecht

der August. Das Plenum ist leer.

An den Himmel darüber schreibt

die Radarspinne ihr zähes Netz.

 

Die Tanker auf ihren Helligen

wissen es schon, eh der Lotse kommt,

und der Embryo weiß es dunkel

in seinem warmen, zuckenden Sarg:

 

Es ist etwas in der Luft, klebrig

und zäh, etwas, das keine Farbe hat

(nur die jungen Aktien spüren es nicht):

Gegen uns geht es, gegen den Seestern

und das Getreide. Und wir essen davon

und verleiben uns ein etwas Zähes,

und schlafen im blühenden Boom,

im Fünfjahresplan, arglos

schlafend im brennenden Hemd,

wie Geiseln umzingelt von einem zähen,

farblosen, einem gedunsenen Schlund.