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Planetenroman

 

Band 17

 

Der Alpha-Asteroid

 

Hinter der tödlichen Barriere im All – ein Mutant muss sich bewähren

 

Robert Feldhoff

 

 

 

Im neunundzwanzigsten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung: Der verheerende Krieg gegen die Dolans ist seit langem vorüber, die verbrannte Erde wieder ein blühender Planet. Das Solare Imperium der Menschheit befindet sich in einem neuen Aufschwung. Doch die Terraner stehen vor nie geahnten Bewährungsproben: In der Milchstraße sind Sternenreiche entstanden, die feindliche Absichten haben.

In dieser Zeit bricht das Explorerschiff HARDEN FAST in die Tiefen der Milchstraße auf. Seine Besatzung soll einen neuartigen Antrieb erproben. Mit an Bord ist der Telepath und Orter Fellmer Lloyd, ein Unsterblicher und Mitglied des legendären Mutantenkorps.

Der Beginn des Fluges verläuft zunächst ohne Probleme. Dann aber treffen die Besatzungsmitglieder der HARDEN FAST auf eine Hyperbarriere im All und die Hinterlassenschaft eines uralten Volkes. Was danach geschieht, führt sie an die Grenzen der Belastbarkeit – und darüber hinaus ...

Prolog

 

2326 alte terranische Zeitrechnung: Bereits früh in ihrer kosmischen Geschichte stießen die Terraner auf die Spuren eines geheimnisvollen, äonenalten Volkes, dem sie in typischer Pragmatik den Namen »Oldtimer« gaben – weil seine Angehörigen sehr alt und nicht mehr vorhanden sind.

Die Spuren der Oldtimer wurden entdeckt auf Impos, dem Mond des Riesenplaneten Herkules. Es stellte sich heraus, dass diese Wesen vor etwa 1,2 Millionen Jahren eine sogenannte supraheterodynamische Existenz besiegt und eingesperrt hatten. Das »Suprahet« war ein Wesen, welches halb im Einsteinuniversum, halb in der fünften Dimension lebte. Man ging seinerzeit davon aus, dass es die Furcht vor dieser wieder erwachenden Wesenheit war, die die Superintelligenz ES dazu veranlasst hatte, in Panik die Milchstraße zu verlassen.

Erst lange später wurde der Ursprung des 2327 von den Terranern endgültig vernichteten Suprahet ermittelt, noch später der wahre Grund der Flucht des Geisteswesens (der außer Kontrolle geratene Schwarm, der eigentlich Intelligenz verbreiten sollte). Zurück blieb das Geheimnis der Oldtimer, die aus der galaktischen Geschichte verschwunden waren und nur hin und wieder Spuren hinterlassen hatten, die von großer Macht und einem kosmischen Auftrag zeugten.

Erst über eintausend Jahre später zeigten sich die größeren Zusammenhänge. Die Galaktiker erfuhren, dass vor etwa 1,6 Millionen Jahren ein Volk namens Querionen den Schwarm erbaut hatte, vor dem ES einst geflohen war. Die genaue Herkunft der Querionen ist auch heute noch unbekannt, aber die vagen Spuren führen zu den Erranten, den Kosmischen Ingenieuren, und somit letztlich zu den ersten primitiven Humanoiden aus Andromeda.

Die Querionen gaben nach Fertigstellung des Schwarms ihre Körperlichkeit auf und bildeten ein Geisteskollektiv, das den Weg seines Konstruktes aus der Ferne begleitete. Da auch die Milchstraße auf dem Weg des Schwarms lag, stellte das sich dort austobende Suprahet ebenfalls für den Schwarm eine Gefahr dar. Von daher nahm eine Million Mitglieder aus dem vergeistigten Kollektiv humanoide Gestalt an. Ein Teil davon siedelte sich auf dem Planeten Barkon an und wurde somit zu den Barkoniden, denen die Terraner bereits 1982 begegnet waren – ohne natürlich wissen zu können, dass es sich dabei um Abkömmlinge des gleichen Volkes handelte, zu dem auch die Oldtimer gehörten.

Die von den Terranern Oldtimer genannten Wesen waren Teil einer anderen Gruppe wieder stofflich gewordener Querionen, die heutzutage gemeinhin als Petronier bezeichnet werden. Es waren jene Petronier, die das Suprahet bändigten; nach Beseitigung der Gefahr wurden sie wieder körperlos und kehrten in das Kollektiv zurück. Die Barkoniden hingegen verblieben in der Galaxis und verloren die Erinnerung an ihre Herkunft.

Die Petronier wurden später erneut in kosmische Geschehnisse hineingezogen, als ES sie mit der Überwachung des Hyperkokons betraute, in denen unter anderem der Sternenozean von Jamondi dem Standarduniversum entzogen worden war.

Das Wissen um all diese Dinge indes gelangte nur mit großer zeitlicher Verzögerung zu den Terranern. Über eintausend Jahre lang waren die Oldtimer ein Mythos, ein lange vergangenes Volk, auf dessen Hinterlassenschaften man hin und wieder stoßen konnte ...

 

(Aus: Hoschpians unautorisierte Chronik des 14. Jahrhunderts NGZ; Kapitel 2.0.2, Kosmische Vorgeschichte: Die Querionen und ihre Abkömmlinge)

Kapitel 1

 

Herbst in Terrania ...

Man hatte dem Verlauf der Jahreszeiten in der riesigen Hauptstadt einen künstlichen Rhythmus aufgeprägt, der fast mitteleuropäisch anmutete. Nur mehr Sonne gab es und – gewöhnlich um Weihnachten herum – regelmäßig Schnee.

Ihr Apartment in Atlan Village schien entsetzlich leer. Die wenigen persönlichen Gegenstände darin wirkten deplatziert. Bis vor einer Woche hatte sie die meiste Zeit ohnehin im nahen Forschungscenter verbracht. Sie ließ sich von der Küchenautomatik ein teures Menü bereiten und dachte nach. All die Arbeit der letzten vier Jahre – aber nun war es geschafft. Reginald Bull hatte ein Experimentalraumschiff mit dem neuen Triebwerkszusatz ausgerüstet und sie, Sonja Conchal, zur wissenschaftlichen Leiterin bestellt. Als solche würde sie vor allem für technische Belange zuständig sein, aber auch ihren Platz im Bordalltag einnehmen.

Vier Jahre Arbeit ... Sie wollte es kaum glauben. Die HARDEN FAST wies einen Überlichtfaktor auf, der gut siebzehn Prozent über dem Leistungsvolumen gewöhnlicher Kurierschiffe lag. Konnte es überhaupt gut gehen? Sonja hegte noch Zweifel daran, ohne sie wissenschaftlich begründen zu können. Aber Bull war der Ansicht, dass auch in der Explorerflotte Neuentwicklungen gefördert werden mussten. »Lassen Sie die Grübelei!«, hatte er gepoltert, wie es seine Art war. »Es wird schon hinhauen, Sonja! Sie haben alles zehnfach geprüft, oder?« Und sie musste zugeben, dass Bull recht hatte. Doch Gefühle ließen sich eben nicht fortwischen wie Staub.

Ihr sonderbarer Gemütszustand verwunderte sie. Sonja ließ sich von der Kücheneinheit einen Cognac reichen. Sie leerte das Glas in einem Zug. Wie lange war es her, dass sie so richtig auf die Pauke gehauen hatte? Die Erinnerung verschwamm in ihrem Gedächtnis. Ein zweiter Cognac. Zwar wollte sie nicht betrunken werden, aber ein wenig Alkohol schien allemal in Ordnung. Wozu gab es schließlich Ausnüchterungspillen? Morgen früh würde sie trotzdem zeitig zur Stelle sein.

Der Cognac begann, kaum merklich seine Wirkung zu entfalten. Von Hand schaltete sie die Videosektion ein und sank wunderbar leicht in einen Sessel. Die Sitzfläche passte sich in Sekundenschnelle ihren schlanken Körperformen an. »Kanal Eins!«, rief sie. Auf dem Bildschirm erschien Perry Rhodans Gesicht. Ausgerechnet!, dachte Sonja. Sie verspürte wenig Neigung, mit Politik ihre Zeit totzuschlagen. Der Unsterbliche hielt eine Rede zu diesem und jenem Thema, angeblich höchst wichtig und doch vollkommen uninteressant, wie sie dachte.

Sie hörte nur mit halbem Ohr hin. Die Unsterblichen ... Eine Clique, zu der auch Reginald Bull gehörte. Sonja hegte größtes Misstrauen gegen solche Personen. Sie fand, dass kein Mensch älter als biologisch vorgesehen werden sollte. Wer da trotzdem noch die Regierungsmacht innehatte, musste den Kontakt zu gewöhnlichen Sterblichen längst verloren haben.

Sonja war keine Rhodanistin – beileibe nicht. Ihr Misstrauen gegen alle Leute, die sich anderen gegenüber automatisch überlegen wähnten, saß tief. Denn genau in diese Kategorie ordnete sie die Aktivatorträger ein. Bull wusste genau um ihre Ansichten. Sonja hatte schließlich kein Hehl daraus gemacht. So gesehen war es verwunderlich, dass man ihr trotzdem den Posten als wissenschaftliche Leiterin auf der HARDEN FAST gegeben hatte. Nun ja, sie wollte nicht weiter darüber nachdenken.

Der Cognac tat immer besser seine Wirkung. Sonja fühlte sich leicht und beschwingt. Sie rief der Videosektion einen genuschelten AUS-Befehl zu und reckte wohlig ihre Glieder. Aus den Augenwinkeln sah sie Rhodans Bild verblassen. Es wurde still. Sollte sie tatsächlich den Abend vor dem Start daheim verbringen? Plötzlich fühlte sie sich viel besser, und sie beschloss, noch auf ein Weilchen das angrenzende Vergnügungsviertel zu besuchen. Drei oder vier Drinks vielleicht ... Sie konnte eine Varietévorstellung anschauen oder wieder einmal die verräucherte Atmosphäre der Raumfahrerkneipen schnuppern. Es gab viele Möglichkeiten.

Sonjas Melancholie schwand, als habe ein Windhauch ihre Seele gestreift und allen Ballast mit sich genommen. Sie erhob sich und trat vor eine der Spiegelflächen im Bad. Das also bin ich, dachte sie. Ich kann's nicht ändern ... Dabei hatte sie keinen Grund zur Klage: Ihr Haar fiel blond und struppig bis auf die Schultern. Das Gesicht wirkte fein geschnitten und fast edel. Es gab Männer, die sie schön genannt hatten, und mehr erwartete Sonja in dieser Hinsicht nicht vom Leben.

Sie entschied, kein Make-up aufzulegen. Schließlich bestand der Zweck ihrer nächtlichen Tour nicht darin, einen Liebhaber aufzugabeln. Kurz entschlossen griff sie eine Schachtel Ausnüchterungspillen aus der Medobox und steckte sie in die Mantelinnentasche. Als einzigen Schmuck legte sie das Medaillon mit dem Bild ihres Vaters um. Kühle Nachtluft umfing sie. Die Wetterleute hatten ja Herbst programmiert, mäßige Sturmtätigkeit und braun gesprenkelte, fallende Blätter. Wie jedes Jahr um diese Zeit ... Man behielt trotz aller Klimakontrolle noch immer den angestammten Zwölfmonatsrhythmus bei.

Viele Leute – Sonja eingeschlossen – hätten eine kürzere Abfolge der Jahreszeiten interessanter gefunden. In dieser Hinsicht wurde jedoch nichts geändert. Und wer ewigen Frühling oder das ganze Jahr über Sommer wollte, musste eben auf eine der Siedlerwelten auswandern. Sie selbst hatte mehrfach daran gedacht, ein paar Jahre lang die Wega-Welten zu bereisen. Dort lief alles beschaulicher ab als im Solsystem.

Aber aus ihren Plänen war nichts geworden. Irgendwann hatte sie diesen Forschungsauftrag erhalten, der sie auf Terra festhielt. Sie war nicht böse drum; schließlich stand sie nun kurz vor der Erfüllung eines Traumes. Die HARDEN FAST würde mit dem CONCHAL-Aggregat, ihrer Erfindung, einen ersten großen Flug unternehmen. Kurzstreckentests im Umkreis von fünfzig Lichtjahren hatten bereits zufriedenstellende Resultate erbracht.

Sonja wandte sich nach links, eine der großen Alleen hinunter. Unzählige Leuchtstoffreklamen erhellten in weniger als fünfhundert Metern Entfernung das angrenzende Vergnügungsviertel. Dort wurde Nacht für Nacht das Dunkel zum Tag gemacht. Es gab viele Leute, die nicht schlecht daran verdienten. Die chaotischen Zustände vergangener Zeiten waren jedoch längst vorüber. Zwar konnte man täglich von Unfällen, kleineren Delikten oder Spionagetätigkeit lesen – doch wer nahm das schon ernst! Die SolAb hatte alles im Griff. Es waren gute, friedliche Zeiten, ganz planvollem Aufbau und sinnvoller Fortentwicklung gewidmet.

Sonja überquerte einen breiten Boulevard. Die Oberfläche der Passage war nur für Fußgänger freigegeben. Erst in zwanzig Metern Höhe wälzte sich dichter Gleiterverkehr durch die Luft. Die Atmosphäre des Vergnügungsviertels umfing in Sekundenschnelle alles, was in das dichte Gewirr der Gassen und Tunnelwege eindrang. Ihre Nase nahm vielerlei fremde Gerüche auf, wie von exotischen Gewürzen und fremden Speisen. Das ganze Labyrinth war von Lärm erfüllt.

»Kommen Sie, meine Dame, kommen Sie! Finden Sie Ihr Glück in Gralegos Gaststube!«, rief ein Swoon ihr hinterher. Seine Stimme klang schrill, und sie hatte keine Lust, dem Angebot zu folgen. Ein swoonsches Restaurant galt noch immer als höchst ausgefallener Treffpunkt. Die Lokalität würde zum Bersten gefüllt sein. Außerdem war sie gar nicht sicher, dass der Swoon wirklich sie gemeint hatte.

Je weiter Sonja in das Vergnügungsviertel eindrang, desto dichter geriet das Getümmel der Menschen und Außerirdischen. So manche Spezies ließ sich problemlos klassifizieren. Unither etwa oder Topsider waren bekannt, ebenso Epsaler, Aras oder Ertruser. Arkoniden oder Akonen erkannte man schon schwieriger, und bei Kolonialterranern war es oft gänzlich unmöglich. Sonja jedenfalls sah sich außerstande, das Gros der Passanten zuzuordnen.

Sie beschloss, in der nächstbesten Kneipe einzukehren. Nur Cognac musste es geben – und eine geeignete Sitzgelegenheit, wo sie ungestört ihren Gedanken nachhängen konnte. Eingekeilt in eine Traube von kleinwüchsigen Marsianern, wurde sie vorangeschoben. Sie musterte die Leute unauffällig und fand sich letztlich durch Zufall vor der Eingangspforte einer schmuddeligen Bar wieder.

In nüchternem Zustand hätte sie vermutlich einen Bogen darum gemacht. Aber heute war die Bar genau das, wonach sie Ausschau gehalten hatte. Die Luft stand verräuchert und unbeweglich im einzigen Gastraum. Abgeschabte Schilder wiesen auf sanitäre Anlagen und Hotelzimmer im ersten Stock hin. In der Luft hing ein opiumschwerer Geruch.

Sonja beschloss, sich im Gedränge einen Stuhl zu suchen. Den meisten Gästen konnte man ansehen, dass sie Raumfahrer waren. Sie trugen farbenprächtige Overalls in den verschiedensten Modeschnitten. Alle waren angestrengt bemüht, die wildverwegenen Züge um ihre Mundwinkel ja nicht beim Gelächter zu vergessen. Jedenfalls traf das für die Menschen und Menschenähnlichen zu. Darüber hinaus saßen an einem Tisch abseits vier Avoide, deren Schnabelgesichter keine deutbare Regung zeigten, und über die ganze Bar verteilt ein paar Fremdrassige, deren Bezeichnungen Sonja nicht kannte.

Sie steuerte einen Tisch mitten im Raum an. »Darf ich mich setzen?«

Ein alter, faltengesichtiger Raumfahrer deutete auf den einzigen freien Stuhl. »Natürlich!«, meinte er. »Kommen Sie nur! Wir sprechen von nichts Besonderem ...«

»Dann bin ich genau richtig«, gab Sonja lächelnd zurück. Sie winkte den Wirt heran. »Einen Cognac, nicht zu kalt, ohne Zutaten bitte.«

Der Mann nickte nur und entfernte sich. Sonja lauschte derweil den kauzigen Anekdoten, die vor allem der kleine Raumfahrer neben ihr zum Besten gab. »... damals war ich auf einem Seelenverkäufer, an die zwanzig Jahre mag's wohl her sein, jawohl, und wir trieben uns gerade um Beteigeuze herum, als – ihr werdet's kaum glauben – da so ein Springerkahn ankam und uns aufforderte ...«

Ihre Gedanken schweiften ab. Sie dachte daran, was am morgigen Tag wohl bevorstehen mochte. Erneut überkam sie das sonderbare Gefühl der Unsicherheit. Alle Tests waren gut verlaufen, gewiss – aber was sagte das letzten Endes aus? Zu wenig jedenfalls, wie sie dachte. Der Wirt stellte ihr den Cognac hin. Überrascht registrierte Sonja, dass der Mann das Getränk in einen stilechten Schwenker gefüllt hatte. Die Temperatur stimmte ebenfalls.

Kurz darauf kam der undefinierbare Körper zu ihrer Rechten schwankend hoch und torkelte davon. Ein hochgewachsener Neuarkonide, der bis dahin müßig an der Theke gelehnt hatte, belegte den freien Platz. Sonja schaute nur ganz kurz auf. Sie war an keinem Abenteuer interessiert. Indessen brachte der Barmann ihr einen neuen Cognac. Sie war überrascht, denn sie hatte nichts bestellt.

»Auf Kosten des Hauses«, meinte er, als er ihr fragendes Gesicht sah. »Sie sind neu hier; vielleicht kommen Sie mal wieder ...«

»Ich glaube nicht«, antwortete Sonja. »Morgen verlasse ich die Erde.«

»Schade. Na, was soll's. Trotzdem zum Wohl!« Der Mann ging, bevor Sonja ihm danken konnte. Genüsslich schnüffelte sie an ihrem frisch gefüllten Schwenker. Es war eine gute Marke. Sie konnte nicht widerstehen. Zwar spürte sie, dass ihr der Alkohol immer mehr zu Kopf stieg, doch tröstete sie sich weiterhin mit dem Gedanken an die Ausnüchterungspillen.

»... nicht die geringste Ahnung, wirklich nicht!«, sprach der alte Raumfahrer neben ihr, grölend fast. »Wer weiß, was die Springer getan hätten? Hundesöhne allesamt, doch irgendwie mag ich sie auch ...«

Er schickte ein paar wehmütige Blicke in die Runde. Außer dem Neuarkoniden war niemand mehr ganz nüchtern. Sonja spürte, wie des alten Mannes Stimmung auf sie übersprang. Sie leerte ihr Glas. Aber wenige Sekunden später stand bereits ein neuer Cognac vor ihr. Sie fühlte, dass ihre Stimme nicht mehr vollständig glatt klang. Trotzdem fragte sie: »Das zweite Mal, Barmann?«

»Ich war's nicht.« Der Mann entfernte sich.

»Es geht auf meine Rechnung, wenn Sie erlauben«, erklärte neben ihr der Neuarkonide. »Nur zu!« Er hob sein Glas und lächelte unverbindlich.

Sonja wusste nicht, weshalb sie annahm. Nun ja, ein wenig würde sie noch vertragen können. Sie war schließlich kein Kind mehr. In ihrem Magen breitete sich wohlige Taubheit aus, doch sie fühlte sich nüchtern genug, den Annäherungsversuchen des Neuarkoniden nötigenfalls zu widerstehen.

Der alte Raumfahrer neben ihr verstummte. Sein Blick war glasig auf einen Punkt fixiert. Eine neue Stimme mischte sich in den Hintergrundlärm. Zuerst war es nur ein Nuscheln, dann kamen die Worte deutlicher. Sonja erkannte ihre eigene Stimme. Sie kicherte. Vielleicht hatte man etwas in ihren Cognac getan, vielleicht lag es nur an der rauchgeschwängerten Luft. Jedenfalls war sie nicht mehr ganz Herr ihrer selbst.

Es störte sie nicht. Was konnte schon geschehen? Sie würde ebenso interessante Geschichten erzählen wie der alte Raumfahrer. »Hört mal her!«, verkündete sie. »Ich weiß was Geheimes. Nicht sehr geheim, sonst würd ich ja nicht hier rumlaufen dürfen, aber immerhin ... Ich bin Sonja Conchal. Ah, wartet, ich erzähl's euch!«

Und sie berichtete vom morgigen Start der HARDEN FAST, von der Wohnung in Atlan Village, von ihren Bedenken ... Dass der Blick des Neuarkoniden voller Interesse auf ihr ruhte, fiel Sonja nicht auf. Der große Mann bestellte ihr zweimal neue Cognacs. Beide Male leerte sie ihr Glas, ohne lange zu zögern. Mehrmals warf sie ihm rasche Blicke zu. Ein schöner Mann, ja – doch sie war lediglich stark angeheitert, nicht betrunken. Sie würde unter allen Umständen allein zu Bett gehen. Als er aufstand, dachte sie schon, er würde die Bar verlassen. Doch der Mann suchte lediglich die Visifonzelle im Hintergrund des Ladens auf und kam anschließend zurück.

Der Raumfahrer mit dem zerknitterten Gesicht schien wieder munter zu werden. »So was ist mir auch schon mal passiert«, berichtete er. Sonja ließ sich widerspruchslos unterbrechen. Was sie beschäftigte, hatte sie sich größtenteils von der Seele geredet. »Irgendwelche Leute haben mich zu 'ner Forschungsfahrt angeheuert, vor fast zwanzig Jahren, 's war auf Plophos, glaub ich, wenn mich nicht alles täuscht ...«

Sie fühlte ein sonderbares Brennen in den Augen. »Besser, ich gehe jetzt«, murmelte sie zu niemand Bestimmtem.

Der Neuarkonide verstand sie trotzdem. »Sie wollen uns schon verlassen?«, fragte er. »Darf ich Sie begleiten?«

»Sie dürfen nicht.«

»Ich bitte Sie.« Er lächelte freundlich. »Ich möchte Sie nur zu Ihrer Wohnung bringen. Sehen Sie mich an! Denken Sie, ich plane Übles?«

Sonja musste über den seltsamen Ausdruck lachen. Der Fremde war ihr sympathisch. »Also gut, aber nur bis zur Tür, okay? Sie kommen nicht mit rein!«

»Aber gewiss nicht. Wo denken Sie hin? Ich erledige nur ein Visifongespräch, dann bin ich so weit. Einen Augenblick bitte ... Warten Sie?«

»Aber nicht zu lange.«

Der Mann verschwand in der winzigen Sprechschale im Hintergrund. Er sprach erregt in die Optik – so viel erkannte Sonja –, wartete ein paar Sekunden und war bereits zurück. »Darf ich bitten?« Er hielt Sonja die Tür auf. Sie fuhr unwillkürlich ordnend über ihren struppigen Blondschopf und trat durch die Öffnung. Die kühle Herbstluft draußen empfing sie wie ein Schock.

»In welche Richtung halten wir uns?«

»Rechts, gleich die Straße hinunter, über den Boulevard.« Sie hätte es gar nicht zu sagen brauchen. Der Fremde hatte sich (zufällig, wie sie glaubte) von vornherein richtig orientiert.

»Sie wohnen in Atlan Village?«

»Seit vier Jahren schon.« Sonja bekam ihre Stimme jetzt besser unter Kontrolle. Inzwischen tat es ihr leid, so bereitwillig von ihren Lebensumständen und der Arbeit am CONCHAL-Triebwerk berichtet zu haben. Außerdem hatte sie nun diesen Mann am Hals. Sie war allerdings erstaunt, wie gesittet sich der Neuarkonide verhielt. Er machte keinerlei Anstalten, zudringlich zu werden.

»Wie ist Ihr Name?«, fragte sie.

»Markos-Ban.«

»Ich heiße Sonja. Von welchem Planeten sind Sie?«

»Oh, es ist eine kleine, relativ unbekannte Welt in M 13; Sie werden sie nicht kennen. Bald vielleicht ...«

Sie überquerten den Boulevard und schlenderten langsam die zweihundert Meter zu ihrer Wohnung hinüber. Sonja schluckte verstohlen zwei Ausnüchterungspillen. In spätestens einer Stunde würde ihr Kopf wieder klar sein. Dass sich ein unauffälliges Fahrzeug aus dem Verkehrsstrom über ihnen senkte und herabschwebte, entging ihr. Sie war Wissenschaftlerin, keine Geheimagentin. Alles, was sie über diese Dinge wusste, stammte aus einem Dreitagelehrgang der SolAb – und sie hatte nicht einmal besonders aufgepasst dabei.

So war es kein Wunder, dass die folgenden Ereignisse sie überraschten. Sie hatte sich bereits halb entschlossen gehabt, Markos-Ban kurz mit hineinzubitten. Doch daraus wurde nichts.

Gleichzeitig geschahen zwei Dinge: Der Gleiter, der in zwanzig Metern Entfernung scheinbar suchend den Weg entlanggeschwebt war, schloss mit einem zielsicheren Satz zu den beiden auf. Gleichzeitig zog der Neuarkonide eine fast durchsichtige Kanüle aus der Ärmeltasche. Er stieß die Spitze in Sonjas Arm, bevor sie den Sinn der raschen Bewegung erkennen konnte.

Sie fühlte, dass ihr Wille schwand. Aus eigenem Antrieb vermochte sie kein Glied mehr zu regen. Der Fremde zog ein schreibstiftähnliches Gerät aus der Manteltasche – und deutete damit zunächst auf ihre Beine, dann auf den Rumpf ... Über dem Medaillon mit dem Bild ihres Vaters stockte er. Er öffnete das Schloss und warf die Kette samt Anhänger in den öffentlichen Konverter vor Sonjas Haustür. Nicht einmal schreien konnte sie.

Markos-Ban kam zurück. Er forderte sie auf, den Gleiter zu besteigen – und zur eigenen Überraschung folgte sie unverzüglich. Vom Innern des Gefährts sah sie nichts. Es wurde dunkel.

 

Herbst in Terrania ...

Fellmer Lloyd schaute neben Ras Tschubai aus dem Fenster eines Bungalows, der direkt am Ufer des Goshun-Sees gelegen war. Knapp über dem Horizont schimmerte noch ein Rest versiegenden Sonnenlichts. Sportboote zogen mit kaum geblähten Segeln über die mäßig wellige Oberfläche; ein sanftes, ruhiges Bild. Fellmer erinnerte sich, dass es nicht immer so gewesen war. Im Lauf der Jahrhunderte hatte Terrania ebenso oft angespannte, ja kritische Tage erlebt wie gute Zeiten. Deshalb genoss er den Frieden an diesem Ort besonders. Überall in der riesigen Metropole gab es Zonen wie diese. Keine große Stadt kam ohne stille Seen, beschauliche Parks oder dergleichen aus. Er war 1945 geboren und hatte deshalb noch selbst erlebt, wohin allzu einseitige Städteplanung führen konnte.

»Wann wollte Wuriu zurück sein?« Der schlanke Teleportermutant an seiner Seite schaute fragend, jedoch ohne wirkliches Interesse.

»Ich weiß es nicht genau«, antwortete Fellmer träge. »Seit er diese Macke hat, den Wein persönlich auszusuchen ... Aber da ist er ja!«

Sengus unverwechselbare Gestalt schob sich eben schwer beladen mit ein paar Korbtüten voller Getränke durch die Eingangstür. »Keine Panik, Freunde!«, rief er. »Ich bin schon zurück, für die Genießer unter uns ist gesorgt!«

Ungefähr dreißig Personen kamen im großen Wohnzimmer des Bungalows zusammen. Dabei waren alle Zellaktivatorträger, die derzeit in Terrania weilten: also Mercant, John Marshall, Tifflor, Bull und ein paar Mutanten. Gucky und Goratschin fehlten dagegen, ebenso Rhodan und Atlan, die sich irgendwo in der Galaxis herumtrieben. Außerdem hatten sich ein paar von Sengus anderen Freunden eingefunden; Personen, die Fellmer nicht kannte und in manchen Fällen auch nicht mochte.

»Kommt schon!«, rief Sengu lebhaft. Der Spähermutant würde in drei Stunden sein achthundertfünfundsechzigstes Lebensjahr vollenden – immerhin Grund genug für eine kleine Feier in ziemlich engem Kreis. Fellmer und Ras Tschubai ließen sich von der Servoautomatik des Hauses Weingläser reichen und gesellten sich dem vergnügten Haufen hinzu. Sengu schenkte ihnen persönlich ein, als sie an die Reihe kamen. »Tut mir leid, dass ich erst Wein besorgen musste, Freunde«, meinte der korpulente Japaner, »aber ich habe gedacht, ihr hättet es vielleicht vergessen ...«

»So wie letztes Jahr!«, witzelte jemand.

»Und das Jahr davor!« Fellmer erkannte Ralf Martens Stimme.

»Aber du kannst dich nicht jedes Jahr drücken, stimmt's?«

Die Party näherte sich leichter Ausgelassenheit. Doch Fellmer fand sich außerstande, richtig daran teilzuhaben. Er spürte förmlich, dass etwas in der Luft lag. Tschubai stupste ihn in die Seite. »Nun los, Fellmer, setzen wir uns zu den anderen!«

»Einen Augenblick bitte. Ich möchte noch etwas am Fenster stehen bleiben, mir die Boote ansehen ...«

»Wie du willst.«

Fellmer nippte gedankenverloren an seinem Glas und drehte den Wein unter der Zunge. In der Tat ein guter Jahrgang, dachte er. Sengu entwickelte sich mit der Zeit zum echten Genießer. Wie so viele von ihnen ... Sie kamen in die Jahre. Langeweile tat einem Unsterblichen selten gut. Nicht jeder wurde so leicht damit fertig wie Gucky, der irgendwie immer genügend zu tun zu haben schien, oder Ishibashi und Kakuta, die in ihren jeweiligen Hobbys ganz aufzugehen pflegten.

Das Visifon im Nebenzimmer summte. »Ich gehe hin!«, rief Fellmer Sengu zu, als dieser sich erheben wollte. Der Bildschirm zeigte einen SolAb-Major mittleren Alters.

»Sonderoffizier Lloyd? Sie halten sich bei Sonderoffizier Sengu auf, nicht wahr?«

»Das ist richtig. Was ist Ihr Anliegen?«

»Ich störe natürlich ungern. Aber würden Sie bitte Solarmarschall Mercant an eine abgeschirmte Leitung holen? Es gibt da ein Problem ...«

»Warten Sie.«

Fellmer betrat das geräumige Wohnzimmer und tippte Mercant auf die Schulter. »Für Sie, Sir. Ein SolAb-Major mit einem dringenden Anliegen. Der Mann wollte, dass Ihr Gespräch über die gesicherte Leitung läuft. Hier entlang, ich kenne mich bei Sengu aus.«

Er führte den kleinen Mann mit dem schütteren Haarkranz in einen abgeschirmten Raum. Von dort aus legte er das Gespräch auf die richtige Leitung um. »Sie können jetzt sprechen, Sir.«

»Danke, Fellmer!«

Der Mutant verließ den Raum. Nachdenklich nahm er seinen Beobachtungsposten am Fenster wieder ein. Die meisten Segler hatten den Goshun-See inzwischen verlassen. Es wurde merklich dunkler, da es auf dreiundzwanzig Uhr Ortszeit zuging. Das Stimmengewirr im Wohnzimmer nahm an Fröhlichkeit zu. Woran lag es nur, dass er sich von der Stimmung nicht wie gewöhnlich anstecken ließ? Es war wie eine Vorahnung – etwas, das jeden Menschen ab und zu überkam.

Mercant führte derweil im abgeschirmten Raum sein Gespräch. Natürlich drang kein Wort davon heraus. Fellmer war aber fast sicher, dass der SolAb-Major irgendeine Hiobsbotschaft zu verkünden hatte. Umsonst störte man Mercant nicht in seiner karg bemessenen Freizeit. Die Tür öffnete sich. Mercants Kopf schaute heraus und fand mit einem Blick den Mutanten. Der kleine Mann winkte.

Fellmer tat nicht überrascht. Mit wenigen Schritten war er an der Tür. Er hatte ja geahnt, dass etwas in der Luft lag. »Sir?«

Mercant lächelte schmerzlich. »Setzen wir uns doch, Fellmer. Es ist immer das Gleiche: Kaum glaubt man, ein wenig zur Ruhe gekommen zu sein, geschieht etwas Unvorhergesehenes. Nun, zur Sache. Morgen früh soll ein Versuchsraumer der Explorerflotte starten, die HARDEN FAST. Wir haben einen neuen Triebwerkstyp in das Schiff eingebaut. Die Konstrukteurin, Sonja Conchal, hat natürlich alle Freizügigkeit zugestanden bekommen. Sie gehört weder der Abwehr noch der Flotte an. Solarmarschall Bull hat sie lediglich vorübergehend in die Explorerflotte übernommen.

Da wir jedoch glaubten, trotzdem etwas für sie tun zu müssen, haben wir ihr einen Mikrosender mitgegeben – als Vorsichtsmaßnahme. Sie wusste nichts davon. Sonja Conchal ist Geheimnisträgerin von ziemlich niedrigem Rang, aber immerhin. Vor einer Stunde ungefähr ist sie uns ... äh ... abhandengekommen.«

Fellmer glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. »Abhandengekommen? Wie ist das zu verstehen?«

»Ich weiß es selbst nicht«, antwortete Mercant. »Meine Leute vermuten einen dieser Kleinst-Geheimdienste, die wir nur sporadisch überwachen ... Die Zeiten sind friedlich, Sie wissen ja. Ich möchte Sie nun bitten, sich der Sache anzunehmen. Große Schwierigkeiten sind kaum zu erwarten. Man hat zwar den Sender gefunden und ausgeschaltet, aber bei Ihren Fähigkeiten dürfte das kein Problem sein, Fellmer. Sie bekommen es aller Wahrscheinlichkeit nach mit wenig ausgebildeten Leuten zu tun.«

»Wir wissen also nicht, wo Sonja Conchal im Augenblick ist?«

»Nein. Der Major hat unverzüglich den letzten bekannten Standort prüfen lassen. Da war nichts. Trotzdem möchten wir, dass der Start der HARDEN FAST wie vorgesehen morgen früh stattfinden kann. Und noch etwas, Fellmer: Es wäre mir lieb, wenn Sie den Flug begleiten könnten. Sobald Sie Sonja Conchal haben, behalten Sie die Dame im Auge!«

»In Ordnung. Ich nehme an, dass ich alles Weitere im SolAb-Hauptquartier erfahre?«

Mercant lächelte. »Natürlich, wie immer. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Tut mir leid, dass ich Sie belästigen muss.«

Fellmer verabschiedete sich von Sengu und Tschubai. Er nahm einen Dienstgleiter. Im Hauptquartier traf er den Major, der zuvor Mercant die Nachricht von Sonja Conchals Verschwinden übermittelt hatte. Sie steuerten mit ein paar SolAb-Zivilgleitern die bewusste Stelle in Atlan Village an. Fellmer informierte sich indessen aus einer dünnen Aktenmappe über die Einzelheiten des Falles. Als sie anlangten, war er so weit wie möglich im Bilde.

»Was können wir tun?«, fragte der Major. »Oder besser: Was können Sie tun, Sir? Normalerweise ...« Er zuckte die Achseln. »Es würde eine Weile dauern.«

Fellmer schaute ihn nichtssagend an. »Zunächst stelle ich fest, ob die bewussten Personen noch in der Nähe sind. Währenddessen warten Sie bitte ab. Sorgen Sie dafür, dass ich ungestört arbeiten kann.«