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Die großen

Entdecker

Zehn historische Reportagen über Abenteurer, die das Bild der Erde gewandelt haben

Herausgeber:

Liebe Leserin, lieber Leser,

Kolumbus und Magellan, Cook und Livingstone, Amundsen und Scott – die großen Entdecker sind zu fast mythischen Figuren geworden. Männer mit dem Willen, den Horizont zu überwinden, die sich hinauswagten auf Ozeane und durch Wüsten, in Schluchten und über Gebirge, durch Regenwälder und Eisebenen. Männer, die dorthin gelangten, wo nie zuvor ein Mensch gewesen ist. Nie zuvor?

Auf den Inseln in Atlantik und Pazifik lebten bereits Menschen. Am Amazonas, in der Sahara, im Inneren Afrikas, im Outback Australiens, zwischen den Gipfeln des Himalaya: Überall waren die europäischen „Entdecker“ Spätankömmlinge (mit Ausnahme wohl der Polregionen). Andere hatten das Land oft schon Jahrtausende vor ihnen erschlossen.

Und doch: Mit den Abenteurern aus Europa begann im 15. Jahrhundert – nachdem der Wikinger Leif Eriksson sogar schon um das Jahr 1000 die Küste des amerikanischen Kontinents erreicht hatte – ein neues Zeitalter. Begann eine Epoche der Erforschung der Erde, der Beschreibung ihrer Schönheiten, der Explosion von Wissen. Zugleich war dies auch der Beginn eines mitunter gewaltsamen Eroberungszuges, wie es ihn nie zuvor gegeben hatte.

Die Motive der Entdecker waren unterschiedlich: Die einen sollten neue Handelswege für ihre Herrscher erschließen, wie Christoph Kolumbus, der 1492 mit dem Ziel Asien nach Westen aufbrach – und in Amerika landete. Andere wurden getrieben von der Gier nach Gold und Land, wie der Konquistador Francisco der Orellana, der um 1540 durch Zufall den größten Strom der Erde, den Amazonas, entdeckte. Und wieder andere, etwa der Afrika-Reisende David Livingstone im 19. Jahrhundert, verstanden sich vor allem als Forscher.

Sie alle weiteten – mal tragisch, mal triumphal; mal rücksichtslos, mal naiv – den Gesichtskreis und zugleich die Einflusssphäre Europas kontinuierlich aus. Machten aus der kleinen Welt nach und nach einen kompletten Globus. Legten so auch das Fundament der Globalisierung.

Für diese exklusive eBook-Ausgabe hat die GEOEPOCHE-Redaktion zehn der spannendsten historischen GEO-Reportagen über die großen Entdecker der Geschichte ausgewählt und neu zusammengestellt. Die Artikel sind in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten in unterschiedlichen Ausgaben von GEO, GEOkompakt und GEOEPOCHE erschienen und hier ungekürzt zu lesen. Faktisch fundiert und zugleich packend geschrieben, erzeugen sie, auch ohne Bilder, ein plastisches Erlebnis von Geschichte.

Die Autoren porträtieren die Abenteurer, beschreiben deren Expeditionen minutiös im Stile von Reportagen, betten das Geschehen in den historischen Kontext, beleuchten Vorgeschichte ebenso wie Folgen.

Was das Geschilderte dabei immer wieder offenbart, ist ein mitunter unfassbarer Wagemut. Eine Kühnheit, die schließlich sogar – mit der Mondlandung von 1969 – die Grenzen des Planeten hinter sich ließ.

Michael Schaper

Chefredakteur GEOEPOCHE

Inhalt

1.
Leif Eriksson, um 1000

Kurs auf Vinland

Von Cay Rademacher

2.
Christoph Kolumbus, 1492

Jenseits des Horizontes

Von Cay Rademacher

3.
Francisco de Orellana, um 1540

Pionier wider Willen

Von Jens-Rainer Berg

4.
James Cook, um 1770

Die Entdeckung des Nichts

Von Jörg-Uwe Albig

5.
Ludwig Leichhardt, 1848

Verschollen im Outback

Von Insa Bethke

6.
David Livingstone, um 1870

Ins Herz der Finsternis

Von Cay Rademacher

7.
Roald Amundsen/Robert F. Scott, 1911

Duell in tödlicher Kälte

Von Wolf Schneider

8.
Ernest Shackleton, 1914

635 Tage jenseits der Welt

Von Klaus Bachmann

9.
Thor Heyerdahl, 1947

Das Abenteuer der „Kon-Tiki“

Von Dirk Liesemer

10.
Apollo 11, 1969

Der Triumph des Adlers

Von Cay Rademacher

Leif Eriksson, um 1000

Kurs auf Vinland

Die aus Skandinavien stammenden Wikinger durchqueren eisige Meere, besiedeln erst Island, dann Grönland. Im Jahr 1001 schließlich entdeckt der Kapitän Leif Eriksson eine paradiesische Küste, die er Vinland nennt, „Weideland“. Er ist der erste Weiße, der Amerika erreicht. Doch für die Nordmänner wird die Neue Welt zum Fluch

Von Cay Rademacher

August 1001, im Polarmeer westlich von Grönland: Nur die zentimeterdünnen Holzplanken seines Seglers trennen Leif Eriksson und 35 Mann Besatzung vom kalten Ozean. Das gut 20 Meter lange Wikingerschiff gleitet mit sechs Knoten durch die Wogen; schmutzig braun wölbt sich das von Leinen aus Walrossleder gehaltene Segel im arktischen Wind.

Vielleicht bläst irgendwo ein Wal eine Fontäne gen Himmel, doch der Steuermann wird darauf nicht achten. Stunde um Stunde umklammert er das große, hölzerne Ruder rechts am Heck.

Ein Augenblick der Unaufmerksamkeit, und das Schiff könnte sich quer zu den heranrollenden Wellen stellen, Wasser würde über die niedrige Bordwand schwappen, der Segler sinken.

Eine unsichtbare Strömung zerrt aus dem nebelverhangenen Norden bis in den Sommer hinein bizarr geformte Eisberge aufs Meer, manche kaum größer als Felsbrocken, andere so hoch wie die Klippen von Grönland. Träfe das Schiff auf Eis, die hölzernen Planken würden splitternd zerbersten. Margygjar würde die Männer dann holen, der schreckenerregende Meerestroll. Oder Hafgerdingar, der Hüter aller Stürme und Wogen, der ganze Schiffe verschlingt.

Seit zwei Tagen sind Leif Eriksson und seine Männer nun schon auf hoher See. Zwei Tage ohne Dunkelheit, denn die Sommernächte im hohen Norden sind weiß. Zwei Tage in einem offenen Schiff bei Wassertemperaturen nur wenig über dem Gefrierpunkt. In einem Schiff, dessen mit zähem Seehundfett zum Schutz gegen Bohrwürmer bestrichener Rumpf sich unter dem Anprall von Wind und Wellen verbiegt wie ein riesiges Tier.

Zwei Tage, seit Eriksson die vertraute, schützende Westküste Grönlands verlassen hat und auf Westkurs gegangen ist – hinaus auf den Ozean am Ende der Welt.

Doch segelt er wirklich ginnungagap entgegen, dem Abgrund, der finalen Grenze? Am Horizont, weit im Westen, glitzert es weiß unter Wolkengebirgen, die sich wie gigantische Fächer am Himmel entfalten. Stunde um Stunde rauschen die Wikinger auf diese Grenze zu.

Die unsichtbare Strömung wird immer stärker, reißt sie vom Westkurs fort, versetzt den Segler nach Süden. Die weiße Horizontlinie wächst, bis vor ihren Augen schließlich hohe Gletscher aufragen, davor eine lebensfeindliche Küste aus grauem und schwarzem Geröll; manche Steine sind flach und glatt geschliffen wie die Tischplatten von Giganten.

Eriksson lässt das Segel einholen. Er ist ein energischer Kapitän, doch erfahren und vorsichtig. Aus Furcht vor Untiefen lässt er weit vor dem unbekannten Land beidrehen. Mit ein paar Mann springt er ins Beiboot, das sie am Heck hinter sich über den Ozean geschleppt haben. In dem nur wenige Zentimeter tief gehenden Boot lässt er sich an die abweisende Küste aus Eis und Stein rudern.

Und wird so der erste Europäer, der Amerika erreicht.

Ein Millennium ist seither vergangen. Niemand hat an Bord des Wikingerschiffes, dessen Namen man heute nicht mehr kennt, ein Logbuch geführt. Leif Eriksson verfasst über seine Reise keinen Bericht – allein schon, weil er wahrscheinlich nicht schreiben kann. Von den 35 Männern, die mit ihm segeln, sind nicht einmal die Namen bekannt. Bis auf einen, und der ist kein Wikinger. Sondern ein Deutscher.

Und doch hat das Wissen um die erste Entdeckung Amerikas durch Europäer die Zeiten überdauert, wenn auch für Jahrhunderte nur auf fernen Inseln, in entlegenen Orten und vielleicht als Gerücht unter Seeleuten in den Häfen.

Denn die Geschichte von Leif Eriksson und jenen Männern und Frauen, die ihm folgen, ist eine Saga von Heldentum und Verrat, von Krieg und Frieden, von wagemutigen Seefahrern und geheimnisvollen Fremden, von hoffnungsvollen Siedlern und verschollenen Entdeckern.

Sie ist in den langen skandinavischen Wintern erzählt worden, von Generation zu Generation. Skalden haben sie vorgetragen, fahrende Dichter. Haben sie ausgeschmückt, verändert, haben Begebenheiten weggelassen, andere hinzuerfunden, Heldentaten mal dem einen, mal dem anderen Heroen zuerkannt.

Erst nach 1200 schreiben isländische Geistliche diese anonymen Geschichten auf. Zwei Berichte haben sich so erhalten, die „Grönländersaga“ und die „Saga von Erik dem Roten“.

Sie widersprechen sich in manchen Punkten, unterscheiden sich von Abschrift zu Abschrift in Details. Aber vor allem die wahrscheinlich etwas ältere, nüchternere, nicht so lyrische „Grönländersaga“ ist eine historische Quelle von unschätzbarem Wert. Mehr noch: Die Skalden sind nicht die Einzigen, die von Amerika künden. Um das Jahr 1000 dringen Missionare und christliche Priester in die fernsten Regionen der zuvor heidnischen Wikingerreiche vor, auch nach Island und Grönland.

Die nördlichen Neuchristen unterstehen anfangs dem Erzbischof von Hamburg und Bremen. Und es ist ein Kleriker von dort, Adam von Bremen, der um 1075 die „Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum“ verfasst, eine Geschichte seiner Diözese.

Wikinger, so überliefert der fromme Historiker, hätten ihm von einer „Insel“ erzählt, die „Weinland“ heiße: „Und hinter dieser Insel ist kein bewohnbares Land auf diesem Ozean zu finden, aber alles jenseits ist erfüllt von unbezwingbarem Eis und undurchdringlichem Nebel.“ Es ist die älteste schriftliche Erwähnung Amerikas.

Später berichten auch isländische Chronisten von „Vinland“, einem Land jenseits von Grönland. Und im 20. Jahrhundert schließlich werden Archäologen in ebenjenem Vinland die Relikte von Wikingern ausgraben – ein Indiz für die Richtigkeit der Sagas und eine wertvolle Ergänzung des in ihnen enthaltenen Wissens.

Wenig genug ist sicher in jenem Epos, das davon handelt, wie die Wikinger Amerika entdecken, besiedeln und wieder verlieren. Manche Geschichten bleiben so unklar, als hüllten sie sich in den gefürchteten arktischen Nebel.

Aber aus all den uralten Berichten und modernen wissenschaftlichen Funden können Historiker doch ein recht genaues Bild gewinnen.

Und so – oder ähnlich – muss es sich zugetragen haben:

Um das Jahr 800 segeln Männer, Frauen, Kinder fort aus Norwegen, Schweden, Dänemark, um niemals mehr wiederzukehren. Wahrscheinlich treibt diese Wikinger die Not aus ihrer immer dichter besiedelten Heimat, sicher auch Abenteuerlust.

Zudem wird etwa um diese Zeit das Klima milder als in den Jahrhunderten zuvor, was dazu führt, dass weniger Eisberge als sonst im nördlichen Meer driften – und dass manche Küsten, die zuvor hinter Packeiswällen unzugänglich waren, nun zumindest im Sommer mit einem Schiff zu erreichen sind.

Ins Weiße Meer bis in die Gegend des heutigen Archangelsk wagen sich einige Pioniere vor. Andere erreichen die gewaltigen russischen Ströme und dringen auf Dnjepr und Don vor bis zu den Grenzen Asiens. Wieder andere rauben Ländereien in England und Frankreich.

Sehr viele Wikinger aber trotzen Nordsee und Atlantik: Teile Schottlands, die Orkneys, die Hebriden, die Shetlands werden von Siedlern aus Norwegen eingenommen. Um 870 entdecken sie Island.

Zwar sind ihnen ein paar irische Mönche um Jahrzehnte zuvorgekommen, doch die frommen Brüder fliehen vor den kriegerischen Nordmännern. Tausende Norweger strömen im 9. und 10. Jahrhundert nach Island.

Einer von ihnen ist Erik der Rote – und er kommt nicht freiwillig.

Gemeinsam mit seinem Vater verlässt der um 950 geborene Norweger seine Heimat, nachdem es dort zu mehreren Morden gekommen ist. Die Sagas sind nicht eindeutig, möglicherweise ist der Vater der Täter, vielleicht der Sohn.

Sicher ist nur: Auch in Island gerät Erik in Streit, mindestens zweimal erschlägt er Widersacher – das zweite Mal einen Nachbarn, der sich von ihm Pfosten geliehen und sie nicht zurückgegeben hat.

Auf dem thing, dem Rat aller freien Männer, wird er zu drei Jahren Acht verurteilt: Jeder darf ihn in dieser Zeit straflos töten. Erik flieht.

Doch der Mann mit dem auffallend roten Haupt- und Barthaar ist mehr als nur ein hitzköpfiger Totschläger. Er hat mächtige Freunde und Männer, die ihm bedingungslos folgen. Tjodhild ist seine Frau, eine Tochter aus reicher Familie. Um die Zeit, da Erik flieht, ist vermutlich schon ihr erster Sohn geboren: Leif.

Erik hat schon vor dem Thing ein Schiff versteckt und ein paar Mann angeheuert. Er segelt davon, „14 oder 15 Jahre, bevor das Christentum nach Island kam“, wie ein mittelalterlicher Chronist notiert – vermutlich also im Jahr 982. Sein Ziel ist eine eisige Küste, die bereits von sturmgetriebenen Wikingern gesichtet, doch noch nie betreten worden ist.

Auf diese Weise erreicht Erik der Rote Grönland.

Die mehr als zwei Millionen Quadratkilometer große Insel ist zu sechs Siebteln von Eis bedeckt, an manchen Stellen misst der kalte Panzer drei Kilometer. Doch im Süden und an der Westküste, wo Fjorde tief ins Land schneiden, ist das Meer eisfrei, schmücken Wiesen die Hänge, wachsen Wälder aus krüppeligen, kleinen Bäumen.

Vorfahren der Inuit haben einst hier gelebt, sind aus unbekannten Gründen aber wieder verschwunden. Erik und seine Männer finden nur noch ihre steinzeitlichen Relikte.

Drei Jahre lang erkundet der Geächtete das neue Land, gibt Fjorden und Bergen Namen, übersteht drei Winter, die hier sieben Monate andauern. Dann kehrt er zurück und berichtet den Wikingern auf dem kargen, vulkanischen Island von Karibu-Herden und weißen Falken, von Lachsen in Flüssen sowie Robben und Walrossen am Meer, von unzähligen, durch die Elemente knochenhell geschälten Treibholzstämmen, die einst, wie man erst viel später herausfinden wird, in Sibirien ins Meer gespült wurden und nun an den Küsten in jenem neu entdeckten Land bleichen.

Und vor allem berichtet er von Weiden, von Gras für Rinder, Schafe, Ziegen. „Grönland“ nennt er das Land: Grünland. Vielen Isländern muss das wie eine Verheißung klingen.

In 25 oder 35 Schiffen – hier widersprechen sich die Chroniken – machen sich im Jahr 986 Männer, Frauen und Kinder auf, um jenem Abenteurer zu folgen, den sie kurz zuvor noch ausgestoßen haben. 25 bis 30 Menschen finden Platz auf jedem Segler.

Es ist Sommer. Gerade mal neun Tage Fahrt sind es auf offener See zwischen Island und Grönland, die arktische Rieseninsel ist in Nord-Süd-Richtung rund 2700 Kilometer lang. Und doch erreichen nur 14 Schiffe ihr Ziel.

Über die Gescheiterten berichten die Sagas nichts: Manche Schiffe werden umgekehrt sein, leckgeschlagen im arktischen Meer, mit gebrochenem Mast oder Ruder. Andere Steuerleute werden in Nebelwänden, die plötzlich und unvorhersehbar aufziehen, die Küste verfehlt haben, werden gegen Eisberge geprallt oder in die Leere des Nordatlantiks gesegelt sein.

Die glücklichen Neuankömmlinge verteilen untereinander das Fjordland im Westen und Süden. Treiben Vieh auf die Wiesen. Stechen Grassoden aus, um sie zu meterdicken Hauswänden aufzuschichten.

Die Gebäude sind niedrig und fensterlos: künstliche Höhlen, erwärmt von Feuerstellen, Refugien bei zehn oder 20 Grad Frost in jenen Monaten, an denen die Sonne nur wenige Stunden am Tag nicht zu sehen ist.

Unter den Pionieren sind freie Männer und Frauen, aber auch Leibeigene, die als Knechte und Mägde schuften. Die Höfe liegen jeweils weit entfernt vom nächsten Nachbarn, mindestens einen Kilometer: Platz genug also für das Vieh und zudem Raum, um Streitigkeiten aus dem Weg zu gehen – denn auch wenn es das Thing und dessen Urteile gibt, werden manche Fehden in Blutrache ausgetragen, oft über Generationen hinweg.

Christen siedeln auf Grönland ebenso wie Heiden. Bald zieht eine völva von Hof zu Hof, eine heidnische Seherin. Und in einem Haus wird ein Holzstab aufbewahrt, in den mit Runen ein Zauberspruch eingeritzt ist: „Auf dem Meer, Meer, Meer lauern die Asen. Bifrau heißt die Jungfrau, die oben im Himmelblau sitzt.“

Erik der Rote bleibt Heide. Seine Frau, sein Sohn Leif und dessen später geborene Brüder und die Schwester hingegen sind Christen. Erik gründet in Südgrönland den Hof Brattahlid („steiler Abhang“), alljährlich treffen sich die Freien Grönlands hier zum Thing.

Der auf Island verurteilte Totschläger ist nun ein geachteter Anführer der Pioniere, seine Kinder könnten auf Grönland für alle ihre Tage Ansehen und Land beanspruchen.

Und so wäre es wohl auch gekommen, wenn nicht eines Tages ein Gast auf Brattahlid erschienen wäre und seine Geschichte erzählt hätte …

Bjarne Herjolfson ist Kaufmann, ein „vielversprechender junger Mann“, wie es in der Saga heißt. Er segelt oft von Island, wo sein Vater lebt, nach Norwegen und wieder zurück. Doch als er eines Tages aus Norwegen heimkehrt, ist sein Vater verschwunden. Der sei, so hört er, nach Grönland ausgewandert. Bjarne lässt sich den Küstenverlauf beschreiben, dann segelt er mit mehreren Männern los, dem Vater hinterher. Nebel kommt auf, tagelang. Er weiß weder, wo er ist, noch, in welche Himmelsrichtung er segelt. Dann endlich klart es auf – und eine bewaldete Küste liegt vor ihm.

Wälder aber, so hat Bjarne gehört, wachsen auf Grönland nur in den geschützten Fjorden, nicht direkt an der Meeresküste. Also kann dieses Territorium nicht Grönland sein. Tagelang segelt er an den Gestaden entlang, geht aber nicht an Land, lässt sich auch von seinen Männern nicht erweichen, die frisches Wasser holen wollen.

Die Zeit drängt: Bjarne, der ja schon häufig von Norwegen nach Island gesegelt ist, weiß, dass der kurze Sommer fast vorüber ist, dass Eisberge, Nebel, Stürme drohen. Also weiter, weiter!

Schließlich schwenkt er nach Osten ab – und entdeckt tatsächlich Grönland, wo er seinen Vater wiederfindet. Später gelangt Bjarnes Geschichte zu den Bewohnern von Brattahlid.

In der „Grönländersaga“ liest sich das so, als sei Bjarnes Vater einer jener Pioniere in den 14 ersten Booten gewesen, sei demnach schon 986 ausgewandert. Bjarne selbst, der dieser Saga nach ebenfalls im Jahr 986 nach Grönland kommt, erzählt seine Geschichte aber erst „nach dem Tod des norwegischen Königs Olaf Tryggvasons“, so die gleiche Quelle – also im Winter des Jahres 1000.

Hat Bjarne demnach 14 Jahre lang geschwiegen über das geheimnisvolle Land, das er gesehen hat?

Das ist durchaus nicht unwahrscheinlich, denn in den ersten Jahren werden die grönländischen Siedler so viel zu tun haben, um ihre Höfe aufzubauen und sich auf die mörderischen Winter vorzubereiten, dass niemand eine solche scheinbar nebensächliche Geschichte weitergibt – oder falls doch: dass niemand dem Erzähler zuhört.

Möglich aber auch, dass in der Saga aus dramaturgischen Gründen der Aufbruch von Bjarnes Vater vorverlegt wird, er tatsächlich aber erst im Jahr 1000 Island verlässt. Die Einzelheiten der folgenden Ereignisse sprechen eher für diese Version.

Wie auch immer: ein eisiger Winter, ein dunkles Haus und viel Zeit für Erzählungen. Bjarnes Geschichte, vorgetragen am Herdfeuer, das auf einer im Erdboden liegenden Steinplatte blakt und den Raum verräuchert, lässt Leif Eriksson keine Ruhe, gibt dem Sohn des Grönlandpioniers wohl nun seinerseits die Lust auf das Entdecken ein, gibt dieser Leidenschaft zumindest ein Ziel.

Irgendwann in den lichtlosen Tagen fasst er einen Entschluss: Er will sich aufmachen zu jenem geheimnisvollen Territorium westlich von Grönland.

Leif – „ein großer, kräftiger Mann“, wie ihn die Saga schildert, „sehr stattlich anzusehen, klug, maßvoll und gerecht“ – kauft Bjarne, der bei seinem Vater bleiben will, dessen Schiff ab. Im Frühjahr 1001 heuert er 35 Mann an. Vielleicht, auch wenn darüber kein Wort fällt, sind einige darunter, die schon auf dem Segler gearbeitet und bereits mit Bjarne jenes rätselhafte Land gesehen haben. Ganz sicher sind es erfahrene Seeleute – und das müssen sie auch sein.

Die Drachenboote der Wikinger sind zwar der Schrecken des Abendlandes: gestreckte, niedrige, elegante Schiffe, die gesegelt und von drei Dutzend Mann auch gerudert werden können – ideale Gefährte für den raschen Überfall. Aber nicht für Fahrten im eisigen Nordozean.

Leifs neu erworbenes Schiff ist eine Knorr: hochbordiger und plumper als die Drachenboote, recht gut zu segeln, aber kaum zu rudern.

Die größten Wracks dieses Typs, die bis heute gefunden worden sind, haben eine Länge von 22 Metern und eine Breite von gut sechs Metern. Der Rumpf besteht aus einander überlappenden Planken, die durch Nieten sowie Fichtenwurzeln – die aber sehr schnell verrotten – mit Kiel und Spanten verbunden sind.

Vorn und hinten liegen erhöhte Decks, tief in der Rumpfmitte stapelt sich die Fracht, in Fässer verpackt oder wasserdichte Häute vernäht, denn oft schwappen Wogen ins Schiff.

Bis in den Juli treiben im offenen Meer, jenseits der Fjordmündung, viele Eisberge in der Strömung. Erst Anfang August wird es etwas weniger gefährlich.

Dann, höchstwahrscheinlich, bricht Leif Eriksson auf. Was immer er auch finden wird: Er weiß, dass er nur ein paar Wochen Zeit hat, ehe Eis, Sturm und Nebel den Ozean erneut unpassierbar machen. Falls er Land findet, muss er dort um jeden Preis überwintern – gleichgültig, wie es dort aussieht.

Seine Männer werden also getrockneten Fisch sowie Karibu- und Robbenfleisch laden, Frischwasser und andere Vorräte. Dazu eiserne Spaten, um Grassoden für Wände auszustechen, Hobel, Messer, Äxte zum Holzbau, roten Jaspis und goldglänzende Pyritkristalle, die sie gegeneinanderschlagen, bis Funken sprühen und sie so Feuer entzünden.

Und sie werden Waffen mitnehmen: Schwerter, Schilde, Speere, Helme.

Dann hissen sie das Rahsegel am Mast der Knorr, ein rechteckiges Stück groben Wollstoffs an einem Querbalken. Es ist eingefärbt mit rotem Pigment und imprägniert mit Birkenpech und Pferdefett, das man aus den Mähnen der Tiere gewinnt und auf den Stoff drückt.

Auch wenn eine Knorr plumper ist als ein Drachenboot, so kann Leif doch mit ihr hoch an den Wind gehen, also im spitzen Winkel zur Windrichtung fahren, ja im Zickzack gegen den Wind kreuzen. Unter guten Bedingungen, bei einer Brise von hinten, wird er mehr als 260 Kilometer am Tag zurücklegen.

Wenig ist von der Abfahrt überliefert oder von Leifs genauem Plan. Das Schiff wird durch den Fjord gleiten, winzig angesichts gewaltiger Felsen und Hügel, fast lautlos im dunkelblauen Wasser, im Schlepptau zwei schlanke, unbemannte Beiboote. Dann wird der Wind kälter, das Land zu beiden Seiten, ungeschützt und karg nun, tritt langsam zurück.

Schließlich die Mündung zum Meer: Eine mächtige Dünung kommt auf, ein, zwei Meter hoch. Es knarrt im ledernen Tauwerk, Planken scheuern an Spanten.

Möglich, dass der Kapitän selbst am Steuer steht. Oder dass er einen styrimadr angeheuert hat und sich allein auf die Navigation konzentriert.

Leif wird kurz auf West-, dann auf Nordkurs gehen, die grönländische Westküste entlang, immer höher hinauf. Wahrscheinlich hat er aus Bjarnes Bericht geschlossen, dass das unbekannte Land Grönlands Norden näher liegt als der Südspitze.

Die Westküste, die Leif nun mehr als drei Tage entlangsegelt, kennt er wahrscheinlich schon von früheren Fahrten: Hier liegen die Fjorde der westlichen Siedlung, noch höher gen Norden die Felsen und Strände, auf denen Wikinger Walrosse und Robben jagen.

Er erreicht Bjarneyar, die „Eisbäreninsel“: Über 1900 Meter hoch ragen die Felsen aus dunklem Basalt auf, bekrönt von schimmernden Gletschern. Hier erst lässt Leif auf Westkurs gehen, hin zum Horizont, hinaus auf die See.

Nun wird die Sonne zu seinem Leitstern. Er orientiert sich an der Schattenlänge, die sie zu Mittag wirft, also am höchsten Punkt ihrer Bahn – vielleicht ist es der Schatten der Bordwand, den er ausmisst. Solange dieser Schatten jeden Mittag die gleiche Länge wirft, segeln die Männer westwärts auf dem gleichen Breitengrad – doch nur, sofern die Reise nicht zu lange dauert, sich der Sonnenstand nicht durch die Jahreszeiten ändert; und sofern es Leif gelingt, die Mittagszeit gut zu schätzen, denn Uhren kennen die Wikinger nicht.

Verhängen Wolken den Himmel, hält er vielleicht einen sólarsteinn in die Höhe – einen Feldspat, der das Licht der Sonne polarisierend bricht und dem Navigator somit anzeigt, wo ungefähr das Gestirn am Himmel steht.

Leif achtet auch auf den Wind: Ist er kalt und schneereich, bläst er direkt aus Norden; kalt und trocken hingegen ist der Nordost. Der Ostwind treibt hohe, weiße Wolkenberge auf, der Südwind bringt milde, dunstige Luft.

Der Polarstern, der den Wikingern oft den Weg weist, ist um diese Jahreszeit nur in klaren Nächten sichtbar. Bei Nebel ist Leif blind. Treiben ihn Stürme oder Strömungen vom einmal gewählten Breitengrad ab, dann bemerkt er dies erst, wenn der Mittagsschattenstand deutlich anders ist als zu Beginn der Reise. In welche Richtung er segelt, welche Distanz er schon zurückgelegt hat, das kann er deshalb trotz aller Navigationskunst nur grob schätzen.

Ein paar Männer werden ständig Ausguck halten und den Himmel nach Spiegelungen absuchen. Denn die Sonne wird von den Gletschern reflektiert, und das derart abgestrahlte Licht ist manchmal schon auf 100 Kilometer Entfernung auszumachen – lange bevor das Land selbst in Sicht kommt.

Sie essen karge Kost, Dörrfleisch und Grütze; vielleicht lodert an Bord ein kleines Feuer zum Kochen in einem Kessel oder einem wannenförmig ausgeschnittenen Speckstein, sorgfältig gehütet, damit kein Funke auf das fetttriefende Holz springt.

Vielleicht auch schlagen die Männer Eis aus Tauwerk und Segel, denn sollte sich der kalte Panzer erst einmal festsetzen, würde sein Gewicht das Schiff gefährlich tief in die Wogen drücken.

Dann, irgendwann, sieht ein Seemann eine Spiegelung weit voraus am Himmel oder hoch auftürmende Wolken, wie sie nur über dem Festland stehen. Das Wagnis ist geglückt – schneller vielleicht, als Leif zu hoffen gewagt hat. Wohl zwei Tage nur ist er auf dem offenen Meer gewesen, kaum 500 ungeschützte Kilometer. Doch ist es das Risiko wert?

„Sie segelten an das Ufer“, heißt es in der „Grönländersaga“, „warfen Anker und ruderten mit dem Beiboot an Land. Doch es gab dort kein Gras. Das ganze Land bestand aus großen Gletschern, und zwischen Gletschern und Meer war alles wie eine einzige Steinplatte (norwegisch: helle). Das Land sah aus, als hätte es keine Reichtümer. Da sagte Leif: ‚Ich will diesem Land einen Namen geben. Es soll Helluland heißen.‘ Dann gingen sie wieder an Bord.“

Möglich, dass Leif Eriksson dort, beim heutigen Cape Aston auf Baffin Island, als Zeichen seiner Landung zwei Geröllhaufen aufschichten lässt (deren Reste werden Forscher jedenfalls später entdecken). Doch ein Paradies hat er – der erste Weiße, der Amerika erreicht – nicht gefunden, nicht einmal ein zweites Grönland. Baffin Island ist eine unwirtliche, arktische Insel, auf der es noch heute so aussieht, wie in den Sagas beschrieben: Gletscher, davor flache Steine. Und sonst nichts.

Was nun? Bjarne behauptet ja, eine bewaldete Küste gesehen zu haben. Dort mag es „Reichtümer“ geben, zumindest kann Leif auf milderes Wetter hoffen. Andererseits hat Bjarne nie einen Fuß auf das unbekannte Territorium gesetzt.

Was, wenn er sich getäuscht oder wenn er in jenen langen Winterabenden bei seinen Erzählungen übertrieben hat? Für Leif ist Bjarne ein Fremder. Kann man ihm überhaupt trauen?

Denn wenn das neu entdeckte Land überall so schroff ist, dann wird es zur Todesfalle. Ein paar Wochen Zeit hat Leif noch, um die Rückfahrt zu wagen, dann wird es zu spät sein im Jahr.

Wenn er bis dahin nichts anderes findet, bleibt ihm nur diese Stein- und Eiswüste, um dort den monatelangen Winter zu erwarten.

Leif zögert nicht: Er lässt das Segel setzen. Die Knorr gleitet die Küste entlang, mit der Strömung, mit den Eisbergen – Kurs Süd.

Nach ein, zwei Tagen gibt einer seiner Beobachter erneut ein Zeichen.

„Dieses Land war flach und bewaldet“, so steht es in der Saga, „und so weit sie sehen konnten, erstreckte sich ein weißer Sandstrand, der zum Meer hin sanft abfiel. Da sagte Leif: ‚Wir wollen auch diesem Land einen Namen geben, der zu ihm passt, und werden es Markland (Waldland) nennen.‘ Dann gingen sie an Bord, so rasch sie konnten.“

Wieder diese Eile: Die Männer entdecken eine neue Welt, doch sie nehmen sich nicht einmal einen Tag Zeit, sie zu erkunden. Wälder bedeuten Reichtum, zweifellos, vor allem für Menschen, deren Heimat das holzarme Grönland ist. Doch Leifs Volk ist eine Gemeinschaft von Viehbauern – Weideland ist ihnen wichtiger als alles andere. Mit der Kunde vom „Grünland“ hat sein Vater einst Siedler auf die abenteuerliche Reise von Island weggelockt. Nur wer Weideland findet, ist ein wahrhaft großer Entdecker.

Also weiter! Es geht schon auf Mitte August zu, der Sommer ist bald vorüber.

„Jetzt segelten sie vor gutem nordöstlichen Wind auf das Meer und sahen nach zwei Tagen Land“, so fährt die Saga fort. „Als sie näher kamen, trafen sie eine Insel, die nördlich des eigentlichen Landes lag. Sie betraten die Insel bei gutem Wetter. Sie sahen, dass das Gras betaut war, und wenn sie die Hände zum Tau hin und dann zum Munde führten, meinten sie, sie hätten noch nie zuvor etwas so Süßes geschmeckt.“

Endlich ist Leif am Ziel. Vorsichtig steuert er seine Knorr zwischen Insel und Landzunge hindurch in eine Bucht.Dort erkennt er einen Strand, einen Fluss und am Horizont Tannen-, Fichten-, Lärchenwälder. Dazwischen Wiesen, sattgrün, blumenbetupft.

Ein Paradies.

So ungeduldig ist nun selbst Leif, der stets so Vorsichtige, dass er den Segler in der Bucht bei Ebbe auf Grund laufen lässt. Er springt mit seinen Männern in die Beiboote, rudert zum Ufer, betritt das Land. Sein Land.

Epaves Bay wird man Jahrhunderte später diese Bucht nennen, einen kleinen Landeinschnitt an der äußersten Nordspitze Neufundlands neben dem heutigen Fischerdorf L’Anse aux Meadows.

„Die Tag- und die Nachtlänge war weniger unterschiedlich als auf Grönland oder Island“, heißt es in der Saga, „und am ‚Schandtag‘ (dem kürzesten des Jahres) stand die Sonne sowohl zur Frühstückszeit als auch zur Vesperzeit am Himmel.“

Mehr als 3500 Kilometer ist Leif von Brattahlid aus gesegelt, weit nach Norden, dann nach Westen und anschließend nach Süden. Seine Bucht liegt etwa auf dem Breitengrad von London.

Mit der Flut zerren die Wikinger ihre Knorr den Fluss hinauf bis zu einem kleinen See, wo sie sicher ankern. Dann „trugen sie ihre Schlafsäcke aus Fell an Land und bauten Unterkünfte“.

Die Männer um Leif Eriksson sind angekommen in der Neuen Welt.

Helge Ingstad, ein norwegischer Hobby-Archäologe, wird 959 Jahre später nach langer Suche die kärglichen Ruinen von Leifsbudir („Leifs Häuser“) finden – jener ersten weißen Siedlung in Amerika. Forscher entdecken nun dunkle Verfärbungen im Boden, ein paar Steine, uralte Feuerstellen, Holzreste sowie eine fingerlange Bronzenadel, wie sie die Wikinger um das Jahr 1000 in ihren Gewändern getragen haben.

Ingstad kann jedoch nicht herausfinden, ob Leif und seine Männer all das, was er sichtet, bereits in jenem ersten Spätsommer errichtet haben oder ob manche Gebäude erst in den Jahren darauf entstanden sind. Möglich ist es schon, dass Leifsbudir innerhalb weniger Wochen entstanden ist – denn die Siedlung der Pioniere ist bescheiden.

Drei Häuser und fünf Nebengebäude (vielleicht Vorratsschuppen) wölben sich ohne Symmetrie oder erkennbare Ordnung über die sanft ansteigenden Wiesen, nahe am Fluss, nahe der Flutlinie des Meeres.

Leif lässt die Hütten so bauen, wie er es auf Island und Grönland gelernt hat: schnell, schmucklos, gegen Kälte isoliert. Selbst das größte Haus – etwa 15 Meter lang, fünf Meter breit, vier Räume – ist ohne Fenster.

Seine Männer stechen Grassoden aus, fünf Zentimeter dick, einen Meter lang, einen Viertelmeter breit. Die schichten sie aufeinander zu einer fast zwei Meter dicken Mauer und füllen die Zwischenräume mit Sand und Geröll auf. Ein paar Stämme – Treibholz wahrscheinlich, das es im Überfluss gibt – stützen die Konstruktion und das niedrige Dach aus Grassoden.

Im düsteren Inneren kann man kaum stehen, in flachen Steinen blakt ein Docht, dessen Flamme mit Fischöl oder Robbentran gespeist wird. Die hölzerne Eingangstür, immerhin, dreht sich in eisernen Angeln. Wahrscheinlich haben die Wikinger diese Beschläge mitgebracht.

Vielleicht aber auch sind sie vor Ort gefertigt – es wäre das erste in Amerika geschmiedete Eisen. Denn Leif entdeckt schnell, dass die flachen Gewässer im Hinterland bräunlich glänzen von Rost: von Raseneisenstein, wie in Norwegen. Dabei handelt es sich um ein minderwertiges Erz, dessen Klumpen an der Oberfläche leicht einzusammeln sind.

Die Männer graben ein Loch, anderthalb Meter breit, 75 Zentimeter tief. In dieser Grube verglimmt Holz langsam zu Holzkohle; und mit dem schwarzen Brennmaterial aus dem simplen Köhlermeiler befeuern sie einen Ofen, in dem sie das Sumpfeisen schmelzen.

Viel Metall gewinnen sie damit nicht, wenige Kilogramm vielleicht. Doch das reicht, um Nieten im Boot zu ersetzen, schartige Waffen zu reparieren und vielleicht auch für die Angeln an einer Tür.

Die Beiboote liegen regengeschützt in Schuppen am Ufer, sodass die Männer sie schnell ins Wasser wuchten können. In den Booten transportieren sie Baumstämme ins Dorf, die sie in den etwa zehn Kilometer entfernten Wäldern schlagen. Sie jagen Sattelrobben im Wasser und auf den vorgelagerten Klippen. Vielleicht strandet ein Wal am Ufer, den sie ausschlachten. Im Fluss leben Lachse. Die Jäger erlegen Karibus, bringen kostbare Pelze von Bären, Wölfen, Füchsen und Luchsen zurück. Und sie entdecken seltsame Beeren.

Eines Abends aber, so überliefert die „Grönländersaga“, fehlt ein Mann in der Siedlung: Tyrkir, ein Deutscher – und eine der seltsamsten Gestalten, die je in den nordischen Geschichten beschrieben werden.

Wer ist dieser Mann? Wie gelangt ein Deutscher in das Schiff grönländischer Wikinger? Der anonyme Dichter der Saga verrät es nicht. Möglich, dass er auf einem der Raubzüge der Nordmänner in Deutschland verschleppt und im Norden als Leibeigener festgehalten worden ist.

Jedenfalls scheint Tyrkir schon im Haus von Erik dem Roten gelebt zu haben, denn Leif, der ihn offenbar verehrt, nennt ihn „Ziehvater“.

Dieser rätselhafte Deutsche – „mit gewölbter Stirn, rollenden Augen und einem unscheinbaren kleinen Gesicht, klein und nicht sehr ansehnlich, aber geschickt in allen Handwerken“ – verschwindet plötzlich. Leif, außer sich vor Ärger, „gibt seinen Männern die Schärfe seiner Zunge zu spüren“ und führt dann persönlich einen Suchtrupp an.

Tatsächlich finden sie Tyrkir bald – und der ist offenbar berauscht.

Es dauert eine Weile, bis die erstaunten Wikinger seine wirre Geschichte enträtseln: Tyrkir, der aus seiner alten Heimat Wein kennt, hat Trauben gegessen. Leif, erfreut, lässt daraufhin Weinreben schlagen und in das Schiff legen, um sie später nach Grönland zu bringen. „Vinland“ nennt er dieses Paradies, „Weinland“.

Nur: Auf Neufundland wächst kein Wein, dafür ist es zu kalt. Selbst wenn Tyrkir doch irgendwie wilde Reben gefunden hätte – Trauben, gepflückt und gegessen, machen niemanden betrunken. Und welchen Sinn hätte es gar, Weinreben abzuschlagen und in ein Schiff zu legen?

Möglicherweise ist diese Geschichte ein kolossales Missverständnis.

Die Dichter der Sagas wissen nicht, wie Wein gekeltert wird, haben ihn wohl niemals genossen, denn in Island, Norwegen und Grönland wachsen keine Reben. Sie wissen aber, dass Leif jene reiche Entdeckung „Vinland“ getauft hat. Also erfinden sie vermutlich eine Legende, die den Namen erklären soll.

Die Silbe „vin“ hat jedoch, kürzer gesprochen, in der Sprache der Nordmänner noch eine andere Bedeutung. Eine Bedeutung, die in der Familie Eriks des Roten bekannt sein muss, denn der stammt aus einer norwegischen Region, in der viele Ortschaften jene Silbe im Namen führen – sie bedeutet nämlich auch „Weide“.

Und ein ideales „Weideland“ ist diese entlegene Ecke Neufundlands ja.

Wahrscheinlich also hat Leif, ganz wie sein Vater mit Grönland, der verheißungsvollen Entdeckung einen Namen gegeben, der Viehbauern anlocken soll.

Und ob Tyrkir, der Deutsche, tatsächlich existiert hat und nur in diese Legende hineingerutscht ist – oder ob er ein dichterisches Fantasiegebilde ist, wird man wohl nie herausfinden.

Sicher ist nur, dass Leif und seine Männer in Vinland überwintern – und das offenbar ohne Probleme, denn die dunkle Jahreszeit erscheint den Grönländern hier außerordentlich mild. „Kein Frost kam im Winter“, heißt es in der Saga.

Im Sommer des Jahres 1002 kehrt Leif nach Grönland zurück (vorher wäre es zu gefährlich gewesen, die Strömung treibt Eisberge bis zum Eingang der Bucht). In Brattahlid, auf dem Hof seines Vaters, erzählt er von den Weiden Vinlands, von milden Wintern, von Pelzen und Walen, von Holz und Eisen und befeuert damit die Neugier der Zuhörer.

Nur von einem berichtet er nicht: von anderen Menschen.

Das neu entdeckte Land, so scheint es, ist menschenleer wie einst Grönland. Ein tödlicher Irrtum – und ein Fluch, der seine Familie trifft.

Erik der Rote stirbt im Winter 1002. Leif, der Erbe, bleibt in Brattahlid. Er wird nie wieder nach Amerika segeln. Doch sein jüngerer Bruder Thorwald leiht sich die Knorr, heuert 30 Mann an und fährt los: Er will Vinland erforschen. Tatsächlich landet er in Leifsbudir, erkundet auch das Land – vielleicht entlang des Sankt-Lorenz-Golfes, möglicherweise reist er gar südlich bis nach Cape Breton in Nova Scotia.

Doch er ist nicht länger allein: Die Wikinger treffen auf neun skraelinge, was vielleicht „Menschen in Lederhäuten“ meint oder, verächtlicher, „Schrate“. Ohne zu zögern, greifen sie die Einheimischen an, erschlagen acht Männer, der neunte kann fliehen.

Die Eingeborenen sind „klein gebaut, mit schreckenerregendem Äußeren und wirrem Haar auf dem Kopf“ – wahrscheinlich Indianer vom Stamm der Beothuk, die auf Neufundland siedeln.

Doch sicher ist dies nicht: Niemand kann sie mehr fragen, denn der letzte Beothuk starb 1829. Das Volk wurde ein Opfer der Kämpfe und eingeschleppten Seuchen jener Weißen, die Nordamerika ab dem 16. Jahrhundert besiedelten.

Bald nach dem Massaker stürmen Indianer auf die Grönländer zu, schwingen steinerne Tomahawks und schießen mit Pfeil und Bogen – steinzeitlichen Waffen, die den eisernen Schwertern und Streitäxten der Wikinger aber kaum unterlegen sind.

Ein Pfeil dringt Leifs Bruder unterhalb des Arms in die Brust und verwundet ihn tödlich. Seine Männer geben daraufhin auf, segeln zurück nach Grönland, fast ist es schon eine Flucht.

Nun will Leifs jüngster Bruder Thorstein Vinland erreichen. Doch ein Unwetter treibt seinen Segler zurück an die grönländische Küste, wo er stirbt, vielleicht an einer Krankheit.

Anschließend macht sich Thorfinn Karlsefni auf den Weg, ein angeheirateter Verwandter Leifs. Thorfinn, ein vermögender Isländer, nimmt 60 Mann mit, seine Gattin und vier weitere Frauen, dazu Rinder und wohl auch Schafe und Ziegen.

Diesmal, endlich, wollen sich die Wikinger in Vinland festkrallen.

Tatsächlich erreicht Thorfinn die Siedlung auf Neufundland und übersteht den Winter. Im Sommer darauf wird sein Sohn Snorri geboren, der erste Weiße, der in Amerika das Licht der Welt erblickt. Die Neuankömmlinge handeln, so steht es in der Saga, mit den Indianern, Felle gegen Butter.

Und doch: Als ein Wikinger einen Skraeling beim Diebstahl zu ertappen glaubt, erschlägt er ihn. Es kommt zu einer Schlacht, die die Nordmänner gewinnen. Aber Thorfinn sieht ein, dass er sich gegen die Übermacht der Einheimischen nicht halten kann. Nach dem zweiten Winter segelt er davon.

Als wäre es die Bestimmung der Familie, den Zugang nach Vinland zu erzwingen, macht sich noch in jenem Sommer, in dem Thorfinn zurückkehrt, Freydis auf, die Schwester Leifs. Sie führt gemeinsam mit ihrem Gatten ein Schiff mit Auswanderern an; zwei zufällig aus Norwegen angereiste Brüder kommandieren ein zweites.

Doch sie halten nur einen Winter durch. In den kalten Monaten streiten sich die Siedler. Weshalb, das wird aus den Sagas nicht so recht klar. Offenbar provoziert die hochfahrende, arrogante Freydis die beiden Brüder.

Jedenfalls bringt sie ihren Mann schließlich dazu, eines frühen Morgens die ahnungslosen Fremden zu überfallen und niederzumachen. Fünf Frauen, die mit den Männern angereist sind, erschlägt Freydis mit eigener Hand.

Nach der Bluttat kehrt auch sie zurück aus Vinland. Leif kommen Gerüchte über den Mord an den Brüdern zu Ohren, doch er bringt es nicht übers Herz, die eigene Schwester zu bestrafen. Sie lebt bis zum Ende ihrer Tage in Grönland, verachtet von allen.

Die Reise der Freydis ist die letzte Vinland-Fahrt, von der die Sagas künden. Und tatsächlich, das beweisen die Funde in L’Anse aux Meadows, wird Leifsbudir nur wenige Jahre lang bewohnt. Dann verfällt die Siedlung.

Indianer, das zeigen manche Objekte, leben zeitweise in den Ruinen, schließlich verlassen auch sie den Ort. Er bleibt einsam, bis heute.

Nachfahren der Wikinger sind wohl trotzdem noch lange nach Amerika gesegelt. Im Jahr 1121, so steht es in isländischen Annalen, fährt Bischof Erik Gnupsson von Westgrönland aus gen Vinland – und wird nie wieder gesehen.

Was lockt Gnupsson nach Amerika? Will er nordische Siedler betreuen, die sich dort in der Zwischenzeit niedergelassen haben, von denen wir heute aber nichts mehr wissen? Oder geht er übers Meer, um die Skraelinge zu missionieren?

Womöglich gelangt der rätselhafte Kirchenmann tiefer in den Süden als je ein Wikinger zuvor: Denn in den Relikten einer alten Indianersiedlung an der Küste von Maine bergen Archäologen im 20. Jahrhundert eine abgegriffene norwegische Silbermünze, die König Olaf III. Kyrre zeigt – und der regierte von 1067 bis 1093.

Doch die Grönländer besitzen kaum Geld. Wozu auch? Sie tauschen alles, was sie benötigen. Nur Kleriker verfügen über Münzen – und solche aus Silber sind derart kostbar, dass sie wohl zum Schatz eines Bischofs gehört haben könnten.