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Eva Brunner

Poetik des extremen Selbst

Eva Brunner

Poetik des extremen Selbst

Die narrativen Identitätsentwürfe der „confessional poets“

Tectum Verlag

Eva Brunner

Poetik des extremen Selbst. Die narrativen Identitätsentwürfe der „confessional poets“

© Tectum Verlag Marburg, 2016

Zugl. Diss. Humboldt-Universität zu Berlin 2015

ISBN: 978-3-8288-6451-1
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter
der ISBN 978-3-8288-3780-5 im Tectum Verlag erschienen.)

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Danksagung

Der größte Dank gilt meinem Erstbetreuer Prof. Dr. Martin Klepper für seine umfangreiche Unterstützung. Er hat mit seinen wertvollen Ideen und seiner konstruktiven Kritik entscheidend zu dieser Arbeit beigetragen. Ein ganz herzlicher Dank geht an meine Zweitbetreuerin Prof. Dr. Greta Olson von der Justus-Liebig-Universität Gießen, die mir stets mit Rat und Tat zur Seite stand. Ich möchte mich bei allen Beteiligten des Forschungskolloquiums Amerikanistik der Humboldt-Universität für zahlreiche nützliche Hinweise und eine nette Zusammenarbeit bedanken. Viola Amato und Amina Grunewald bin ich für unsere motivierende Arbeitsgruppe und detaillierte Kommentare zu einzelnen Kapiteln dankbar. Ein großer Dank gebührt der Fazit-Stiftung und der Humboldt-Universität zu Berlin (Caroline von Humboldt-Programm) für ihre Stipendien. Ohne diesen finanziellen Rahmen wäre die Arbeit nicht möglich gewesen.

Vielen Dank an meine Freunde und meine Familie. Ich bin meinen Eltern sehr dankbar, dass sie meine Pläne immer unterstützten. Ein weiteres Dankeschön geht an meine Schwester, die stets ein offenes Ohr für mich hatte. Außerdem bedanke mich herzlich bei meinen Schwiegereltern für ihre tatkräftige Hilfe. Einen großen Dank an Rita Petri für ein komplettes, gründliches Endkorrektorat und an meine Oma für einen Druckkostenzuschuss. Sibylla Vričić Hausmann sage ich vielen Dank für unzählige Kommentare und Korrekturen – vom ersten Exposé bis zur letzten Fassung. Ein besonderer Dank gilt Jens Rommel für seine wichtige und vielfältige Unterstützung. Ihm und unseren Kindern Jonathan und Tom möchte ich außerdem für ihre Geduld und Zuneigung danken.

Inhaltsverzeichnis

1Einleitung

1.1Confessional Poetry. Forschungsstand

1.2Poetik des extremen Selbst. Positionierung und Forschungsfragen

1.3Narrative Identität in Prosa und Lyrik. Zu Methode, Aufbau und Korpus

2Identität, Emotion und Narratologie. Theorien und Begriffe

2.1Paul Ricœur úber narrative Identität

2.2Psychologische Theorien

2.3Identität und Emotion

2.4Narratologische Schlagworte: Mimesis, Kohärenz und Bewusstsein

2.5Lyrik und Narrativität

2.6„A self-conscious self-consciousness“: Literarische Autobiografien

3Sylvia Plath: „Between myself and myself“

3.1Depression als Identitätskrise in The Bell Jar

3.1.1Die rekonstruierte Depression im Kontext von Zeitstrukturen und Ortswechseln

3.1.2Depression als Identitätskrise

3.1.3Narrative Identität und Gesellschaftskritik

3.2Das dynamische Selbst: The Unabridged Journals of Sylvia Plath

3.2.1Ausgaben und Genre

3.2.2Selbstreflexion und Schreibúbung als regelmäßige Praxis

3.2.3Emotionale Intensität und extreme Selbstzustände

3.2.4Identität und Schreiben, Identität und Weiblichkeit

3.3.Das trauernde Selbst in The Colossus

3.3.1Selbst, Schicksal und Schuld in „The Eye-Mote“

3.3.2Der lange Schatten der Eltern in „The Colossus“ und „The Disquieting Muses”

3.3.3Das versehrte Selbst in „Black Rook in Rainy Weather“ und „The Burnt-out Spa“

3.3.4„I shall be good as new” – Identiätsprozesse in „Poem for a Birthday“

3.4Das dekonstruierte Selbst in Ariel

3.4.1Sequentialität

3.4.2Erzählperspektive, Figuration und Motive

3.4.3Die Ästhetisierung extremer Gefúhle

4Anne Sexton: „Turn, my hungers!“

4.1A Self-Portrait in Letters – Porträt eines dialogischen Selbst

4.1.1Selbstdarstellung und Selbstvermarktung

4.1.2Therapie, Schreiben und Austausch

4.1.3Religiöse „confessions“

4.2Permanente Selbstaktualisierung in Live Or Die

4.2.1Identitätsthemen und emotionale Zustände

4.2.2Rúckblickende Selbstinterpretation in „Mother and Jack and the Rain“

4.2.3Neuentwurf als Ausbruchsversuch in „Walking in Paris“

4.2.4Ist-Zustände in „Self in 1958“

4.2.5Entscheidung, zu leben?

4.3The Book of Folly oder das märtyrerhafte Selbst

4.3.1Kohärenzbestrebungen

4.3.2Identität und Schuldgefúhle

4.3.3Identität und Patriarchat: Das Verhältnis zum Vater und zur Religion

4.3.4Konstruktionen des Andersseins in „The letting down of the hair“

5Robert Lowell: „I was a stuffed toucan“

5.1Die autobiografischen Kapitel in Robert Lowells Collected Prose

5.1.1Herkunft und Identität in „Antebellum Boston“

5.1.2„Near the Unbalanced Aquarium“ – Das kranke Selbst

5.2Life Studies als Selbstpositionierung

5.2.1Identifikation mit anderen Personen und historischen Ereignissen

5.2.2Familiengeschichten

5.2.3Psychiatrie- und Gefängniserfahrung

5.3Spiel mit dem confessional mode: The Dolphin

5.3.1Selbstdarstellung im Kontext der Delphin-Metaphorik

5.3.2Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit

5.3.3Die Einbeziehung der Briefe in narrativer und ethischer Hinsicht

6Fazit

Literarturverzeichnis

1 Einleitung

Sylvia Plath (1932–1962), Anne Sexton (1928–1974) und Robert Lowell (1917–1977) zählen zu den wichtigsten nordamerikanischen Lyriker*innen des 20. Jahrhunderts und werden als confessional poets bezeichnet.1 Sie schrieben unter anderem über psychische Zusammenbrüche, Suizid, ihre Ehen und das Verhältnis zu ihren Familien. Sie äußerten sich ihren Eltern gegegenüber durchaus kritisch. Das war in den 50er Jahren eher unüblich und wurde als schockierend empfunden (Meyers 2). Nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte das idealisierte Bild vom glücklichen Familienleben in der nuclear family mit einem arbeitenden Mann und einer haushaltsführenden, kinderversorgenden Frau, das die Autor*innen durch ihre eigenen Geschichten und die Schilderung von familiären Abgründen dekonstruierten. Der Dichter David Trinidad schreibt über Sexton: „Here was a suburban housewife confessing her strangeness, declaring herself ‚a possessed witch,‘ and finding in her failure as a Stepford wife her identity as an artist. This undoubtedly inspired me, as a young gay man, to set down my own feelings and experiences outside the norm“ (6).2 Ebenfalls ein Tabubruch der confessional poets war die öffentliche Thematisierung von eigenen psychischen Krankheiten, die trotz der wachsenden Bekanntheit psychologischer Erkenntnisse und psychoanalytischer Praxen nach wie vor problematisch ist. In formaler Hinsicht waren die Einbeziehung von alltäglichen Themen und die persönliche, subjektive Perspektive neu. Lange dominierte der Einfluss der Modernist*innen um Ezra Pound und T.S. Eliot mit der Bestrebung, Emotionen und Persönliches möglichst stark zu abstrahieren und die Welt durch möglichst treffende Bilder zu entschlüsseln. Marjorie Perloff betrachtet confessional poetry als Mythologisierung des persönlichen Lebens und schreibt über Lowells Gedicht „Man and Wife“: „[it] surely represents a reaction against Eliot’s dictum that poetry is not the turning loose of emotion but an escape from emotion; it is a reaction against the autonomous, ‘impersonal’ symbolist mode of Eliot, Pound, Stevens, the early Auden, and of the Robert Lowell of Lord Weary’s castle – the mode that dominated the first half of our century” („Realism and the Confessional Mode“ 72).

Bei confessional poetry handelt es sich um einen umstrittenen Begriff, der auf M.L. Rosenthals Kritik zu Lowells Band Life Studies „Poetry as Confession“ (1959) basiert und auf die autobiografischen Eigenschaften und tabubehafteten Themen der Texte abzielt. Rosenthal bewertet Lowells Lyrik zunächst mit den negativen Attributen „unpleasantly egocentric“ und „self-therapeutic“ (65), bescheinigt Life Studies aber hohe ästhetische Qualitäten und sieht den Band als überfällige Kritik an der amerikanischen Kultur aus der Perspektive des psychischen Zusammenbruchs. In Rosenthals Rezension, die einer neuen lyrischen Tendenz einen Namen gegeben hat, ohne dass die Beteiligten selbst sich zu einer Gruppe zusammengeschlossen, oder das Etikett angenommen hätten, wird mit dem Nebeneinander von Selbstbezug und dem ästhetischen Wert ein Spannungsverhältnis benannt, das grundsätzlich für die Texte ist. Dieses wurde über die Jahrzehnte der kritischen Betrachtung immer wieder neu bewertet. In der Literaturkritik lässt sich die Tendenz beobachten, den Begriff confessional zunehmend abzulehnen und zu betonen, dass die Werke nicht in erster Linie autobiografisch seien. Adam Kirsch schreibt zum Beispiel:

[T]he usefulness of criticism depends on its metaphors, and in confession it found a bad metaphor for what the most gifted of these poets were doing. The motive for confession is penitential or therapeutic – by speaking openly about his guilt and suffering, the poet hopes to make them easier to bear. Another possible motive is ethical: by refusing to join the conspiracy of polite silence around certain shameful subjects, he challenges us to shed light on our own dark places.

But the poets discussed in this book always approached their writing as artists, and their primary motive was aesthetic. (x)

Es trifft zu, dass die drei Autor*innen vor allem originelle, ästhetisch anspruchsvolle Lyrik schreiben wollten. Aber die Ästhetik, die diese Lyrik ausmacht, ist genau von den Elementen geprägt, die Kirsch aufzählt. Es ist wenig sinnvoll, einen Widerspruch zwischen den mit dem Begriff confessional verbundenen Eigenschaften und einem primär ästhetischen Bestreben herzustellen – denn genau in der Verbindung einer Selbstergründung, die therapeutisch wirksam sein kann, und der Offenlegung tabuisierter Themen in Verbindung mit formalen Ansprüchen, liegt die spezielle Qualität von confessional poetry. Für die Autor*innen bestand originelle, anspruchsvolle Lyrik zu diesem historischen Zeitpunkt in der Verwendung einer betont subjektiven Perspektive, die unter anderem durch autobiografische Strategien entsteht. Die confessional poets machten das persönliche Leben zum Hauptthema, das zwar in einer Wechselwirkung zum öffentlichen Leben steht, aber der Schwerpunkt liegt eindeutig darauf darzustellen, wie sich das Leben für einzelne Personen anfühlen kann, einen Lebensentwurf über die biografischen Fakten hinaus nachzuzeichnen. Diese Innenschau lässt sich meiner Meinung nach am besten über eine Zuspitzung auf Identität fassen. Da dies bislang in der Sekundärliteratur nicht hinreichend geschieht und die autobiografische Perspektive zunehmend relativiert wird, rücke ich die Frage nach Identität vor dem Hintergrund aktueller Theorien in den Mittelpunkt. Ich halte dabei an dem Begriff confessional poetry fest – und arbeite heraus, inwiefern die autobiografischen Eigenschaften und die Thematisierung von Selbstentwürfen und emotionalen Verfassungen zentral für die Poetik der Texte zuständig sind. Meine Lesart unterscheidet sich von den bislang angewandten biografischen, feministisch und psychoanalytisch orientierten Lesarten durch einen Identitätsbegriff, der von einer prozessualen, erst durch Erzählung realisierten Identität ausgeht und der Vorstellung eines wahren, feststehenden Selbst, welches sich in den Texten offenbart, entgegentritt.

Wie funktioniert die „Mythologisierung des persönlichen Lebens“, um noch einmal auf Perloffs Beschreibung zurückzukommen, bzw. die Mythologisierung des Selbst, auf die sie sich zuspitzen lässt? Auf welche Mythen und Selbstkonzepte greifen die Autor*innen zurück, welche kreieren sie neu? Wie verhalten sich erzähltes Selbst, Identität und Schreibpraxis zueinander? Inwiefern beeinflussen Genreeigenschaften die Identitätserzählung? Bei dem Versuch, diese Fragen zu beantworten, beziehe ich mich vor allem auf das Konzept der narrativen Identität nach Paul Ricœur, Jerome Bruner, Anthony Kerby u.a.3 Dieses Konzept beschreibt Identität als ein dynamisches Gebilde, das erst durch Erzählung konstituiert wird. Bruner betont, dass es ein Selbst, das als feste Instanz existiert und durch Worte fassbar wäre, so nicht gibt. Er bezeichnet die Bildung eines Selbst als „narrative art“ (Making Stories 65). Verschiedene, heterogene Selbstbilder und diskordante Erlebnisse oder Persönlichkeitsmerkmale werden in der Erzählung vereinheitlicht und erhalten nachträglich einen narrativen Zusammenhang, wobei eine Kontinuität des Selbst über die Zeit hergestellt wird.4 Ricœur nennt diesen Mechanismus „diskordante Konkordanz“ (Das Selbst als ein Anderer 174). Laut Brockmeier entsteht personale Identität erst im Zuge des autobiografischen Prozesses, in dem einem Leben Bedeutung und Zusammenhang verliehen werden und Erinnerung und Erzählung untrennbar verwoben sind („Erinnerung, Identität und autobiographischer Prozess“ 24). Die Lebensgeschichte kann in jedem Erzählmoment verändert wiedergegeben werden und der Identitätsprozess bleibt lebenslänglich unabgeschlossen (ebd.). Die Identitätsbildung umfasst verschiedene zeitliche Perspektiven, indem das Selbst aus der Vergangenheit und Erinnerungen in das aktuelle Selbstbild integriert werden, das gleichzeitig so entworfen wird, dass es Wünsche und Hoffnungen für zukünftige Entwicklungen berücksichtigt (Bruner, Making Stories 64). Für die Art der Erzählung sind etablierte kulturelle Muster vorbildgebend (skripts), wobei Literatur wiederum die Möglichkeit hat, Erzählkonventionen zu verändern (Herman).5

Identität wird an einzelnen Stellen als zentrales Thema der Texte der confessional poets benannt. „At the heart of Anne Sexton’s poetry is a search for identity“, schreibt zum Beispiel Greg Johnson (81). Einige Forschungsarbeiten berühren das Thema, wobei in der Regel mit einem unspezifischen Identitätsbegriff gearbeitet wird (z. B. Wallingford; Witek), eine Beschränkung auf weibliche Identität stattfindet (z. B. Birkle; Saldívar), biografisch und teilweise pathologisierend (z. B. Alvarez; Butscher; Meyers) oder in psychoanalytischen Kategorien argumentiert wird (z. B. Britzolakis; Bronfen). E.V. Ramakrishnan und Tim Kendall beobachten den prozessualen Charakter von Sylvia Plaths lyrischen Identitätsentwürfen, berücksichtigen diesen Aspekt aber nicht weiter. Terri Witek findet bei Lowell eine Analogie zwischen der Konstruktion des poetischen Stils und der eigenen Identität und schreibt, für Lowell sei die Möglichkeit des Selbst äquivalent zur Möglichkeit der Sprache (5). Jedoch stützt er seine These auf die vielen verschiedenen Manuskriptstadien der Texte, in denen er die Veränderlichkeit der Identität begründet sieht. Er verbindet mit dem veröffentlichten Text ein festes Identitätsbild, das ihn nicht näher interessiert. In dieser Studie richte ich meine Aufmerksamkeit auf die dynamischen Identitätskonstruktionen im Werk von Plath, Sexton und Lowell und beschreibe sie als eine Poetik des extremen Selbst.

Mein Begriff des „extremen Selbst“ hat zwei Bedeutungen.6

a) Zum einen verweist er darauf, dass tiefgehende Selbstreflexionen und konfliktreiche Identitätsprozesse im Zentrum der Werke stehen. Die entworfenen Identitäten werden immer wieder hinterfragt und neu erzählt. Dabei spielt das selbstreferentielle Motiv des Schreibens in den Texten eine große Rolle, das ich als „Biographiegenerator“ (A. Hahn) betrachte. Es stellt eine institutionalisierte Form der Selbstthematisierung dar. Als Biografiegeneratoren gelten (traditionell) die Beichte, Autobiografien, Psychoanalyse, berufliche Lebensläufe, ärztliche Anamnesen, Gerichtsverhandlungen usw. Durch die Interpretation des Schreibens als Biografiegenerator in der Tradition der Beichte verwende ich den Begriff „confessional“ in dem Sinne, dass autobiografisches Schreiben ein Anlass dafür ist, die eigene Lebensgeschichte zu erzählen, sich selbst zu interpretieren und sich dabei mit möglichen eigenen „Verfehlungen“ in Bezug auf die Erfüllung bestehender Normen auseinanderzusetzen. Die Identitätserzählungen finden in verschiedenen Genres statt, wobei Lyrik das dominierende ist, und Genre-immanent eine besonders hohe Subjektivität mitbringt. Bei Gedichten steht häufig eine subjektive Sprecherperspektive in Form des lyrischen Ichs im Zentrum. Emotionen und Stimmungen sind wichtiger als Handlungen, dennoch sind Gedichte, anders als in der Forschung oft suggeriert, narrativ (Müller-Zettelmann, „Lyrik und Narratologie“; Hühn und Kiefer). Miranda Sherwin unterstellt confessional poetry eine ausgeprägte Narrativität, die sie sogar mit Identität verbindet – allerdings ohne das Konzept der narrativen Identität in ihrer Studie zu erwähnen: „Indeed, the confessional poets‘ collective interest in the nature of identity has resulted in a body of literature that shares as many commonalities with narrative forms as with poetry” (17). Mithilfe der meiner Arbeit zugrunde liegenden narrativen Identitätstheorien lassen sich die dargestellten Selbstentwürfe am genauesten beschreiben, da sie von einem dynamischen Identitätsbild ausgehen, das sich mit dem prozessualen Charakter der beschriebenen Entwürfe des Textkorpus‘ deckt. In den Texten hängen Identitätsprozesse eng mit emotionalen Komponenten zusammen. Dieser Zusammenhang wird in den narrativen Identitätstheorien angeschnitten (Kerby), aber nicht hinreichend thematisiert. Hier ist es hilfreich, andere Emotionskonzepte hinzuzunehmen, die identitätsrelevante Emotionen näher beschreiben wie „existential background feelings“ (Slaby und Stephan) und „self-referential emotions“ (Zinck).7

b) Zum anderen zielt der Begriff „extremes Selbst“ auf die im Kontext der Selbstbilder verhandelten Themen und das breite emotionale Spektrum ab. Die Autor*innen schildern schwierige familiäre Beziehungen zu Eltern, Partnern und Kindern und ihre eigenen psychischen Abgründe. Sie stellen psychische und emotionale Extremsituationen dar, die sich wiederum durch starke Gegensätze kennzeichnen. Es ist eine Rhetorik des Extremen zu beobachten – entweder sind die Autor*innen hochgradig inspiriert und genial oder außerordentlich verzweifelt, leer und unfähig. Diese spezifische Ausprägung der Identitätsentwürfe ist weniger Zeichen einer Pathologie (wie häufig argumentiert, z. B. von Hawthorn), eher eine verstärkte Form der „normalen“ emotionalen Bandbreite und zeit- und gesellschaftstypischer Konflikte, die auf diese Weise deutlich zu Tage treten (wie z. B. die Unterdrückung von Frauen oder die Idealisierung der Familie). In der widersprüchlichen Darstellung der personae – zum Beispiel an einem Ort als leidend und ausgeliefert und an einem anderen als souverän und eigenverantwortlich, zeigt sich, wie gegensätzlich die Selbstdarstellung in verschiedenen Erzählmomenten ausfallen kann. In der Summe entsteht so das Bild von Personen, die Beides – Stärke und Schwäche – verkörpern. Durch die ambivalente und zugespitzte Selbsterzählung entstehen besonders viele Identifikationsmöglichkeiten – aber auch Möglichkeiten der Abgrenzung – für die Lesenden. In jedem Fall regen sie eine Reflexion der eigenen Identität an.8

1.1 Confessional Poetry. Forschungsstand

Lowell, der eine halbe Generation älter ist als Plath und Sexton, galt zu seinen Lebzeiten als einer der bedeutendsten Mid-Century-Poets und verkörperte das Bild eines einflussreichen, in der Öffentlichkeit stehenden Intellektuellen. Grzegorz Kość schreibt: „No other American poet of this century was so celebrated during his lifetime as was Robert Lowell” (1). Robert R. Hahn bezeichnet ihn als den letzten berühmten Dichter Amerikas „in the Time cover-story sense“ (482), mit dem auch die präsente Bedeutung von Lyrik abnahm. 1960 nahmen Plath und Sexton an Lowells Lyrik-Seminar in Boston teil, und lernten sich dort persönlich kennen. Lowell war zu dieser Zeit ein Vorbild für Plath und Sexton. Diese Rollenverteilung hat sich hinsichtlich der posthumen Aufmerksamkeit verschoben, da Robert Lowells Bedeutung nach seinem Tod schwand. Diese Entwicklung zeichnete sich schon zu Lebzeiten ab und wurde von Lowell selbst in seinem letzten Gedichtband Day by Day (1978) angesprochen (Kość 233). Sextons Position ist nicht mit Lowells Rolle als öffentlichem Dichter vergleichbar. Sie erlangte bereits mit ihrem ersten Gedichtband Bekanntheit, hatte eine große Fangemeinde und wurde durch das Interesse der Frauenbewegung an ihrem Werk zu einer vielgelesenen Dichterin. Sylvia Plath hatte auch zu Lebzeiten schriftstellerischen Erfolg, der aber nicht mit ihrer posthumen Berühmtheit zu vergleichen ist. Es entspann sich ein regelrechter Mythos um ihre Person. Sie wurde zu einer feministischen Ikone und Christine Jeffs verfilmte Teile ihres Lebens mit Gwyneth Paltrow in der Hauptrolle (Sylvia, 2003). Plath ist gegenwärtig die Bekannteste der Drei (vor allem international und jenseits akademischer Kreise) und ihr Werk ist fester Bestandteil der Lehrpläne von Schulen, Colleges und Universitäten.

Diese Interessensverschiebung zeigt sich auch in der Forschungsliteratur. Das Forschungsinteresse an Lowell ist rückläufig, während es zu Plath und Sexton regelmäßig Neuerscheinungen gibt. Insgesamt liegt zu allen Autor*innen, die jeweils Pulitzer-Preise erhielten, eine kaum überschaubare Menge an Sekundärliteratur vor. Im Folgenden nenne ich einige der Hauptwerke und Forschungsrichtungen zu Plath, Sexton und Lowell. Ich konzentriere mich dabei auf die Beiträge, die besonders auf die Themen Identität, Autobiografie und confession eingehen.

Wenn sich Literaturwissenschaftler*innen für mehrere confessional poets interessieren, dann in der Regel entweder für Lowell und Plath (z. B. Marjorie Perloff und Steven Gould Axelrod) oder für Plath und Sexton (z. B. Linda Wagner-Martin, Diane Middlebrook und Jo Gill).9 Das lässt sich vermutlich dadurch erklären, dass die erste Gruppe die Lyrik von Lowell und Plath ernster nimmt und die zweite Gruppe sich besonders für Dichterinnen begeistert. R. Hahn beschreibt in seinem Artikel über die Reaktionen auf die Publikation von Lowells Collected Poems im Jahr 2003, in deren Folge viele versucht hätten, Lowells Ruf als den amerikanischen Autor des mittleren 20. Jahrhunderts zu rehabilitieren, beinahe nebenbei eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen Lowell, Plath und Sexton:

For other critics the great news of Life Studies lay not in the style but rather in the note struck by another line from “Skunk Hour,” My mind’s not right – the apparent disclosure of a scorchingly personal self, which in concert with the blood jet and nerve strikes of Plath and Sexton, set a fashion dominant to this day. Postmodernism notwithstanding, the prevailing mode in American poetry is still the first person lyric, posting individual importance, esteeming intensity and sensitivity, and exploiting self-criticism (unflinching honesty remains the chlichéd compliment of choice). (483).

Auch wenn dieses Zitat ein weiteres Beispiel für die Abwertung des autobiografischen Stils ist, betont Hahn eine Eigenschaft, die Sexton, Plath und Lowell verbindet: Sie teilen die Erfahrung psychischer Krankheit und schreiben darüber. Dies gilt sicher auch für weitere Dichter*innen, aber bei den Dreien sind die Parallelen besonders ausgeprägt, da alle mit einer manisch-depressiven (bipolaren) Störung assoziiert werden, während zum Beispiel John Berryman vor allem für Alkoholismus steht. Robert Hahn nennt eine weitere Komponente in Bezug auf Lowell, die auch für Sexton und Plath gilt. Es sei Kritiker*innen nicht möglich, Lowells Lyrik ohne seine persona zu betrachten (478). Dies liegt an den aus unterschiedlichen Gründen faszinierenden Lebensgeschichten der Drei, die das Interesse an den Texten nähren. Wenn sich erst einmal ein Mythos um eine Person gebildet hat, ist dieser nicht mehr wegzudenken. Durch die Einbeziehung autobiografischer Fakten haben die Autor*innen sich selbst mythisiert und somit dazu eingeladen, diesen Mythos fortzuschreiben. Von daher scheint es sinnvoll zu erkunden, welches Bild sie selbst in ihren Texten von sich kreieren, wofür ihre personae stehen und warum dies fasziniert – oder auch nicht mehr. Der Versuch, den Mythos zu dekonstruieren, ist vor allem in der Plath-Forschung erfolgt, wobei die Mythenbildung bei Plath durch den frühen Tod und den restriktiven Umgang ihrer Familie mit Informationen am größten ist (z. B. Rose).

Im Vorwort zum 2006 erschienenen Band The Cambridge Companion to Sylvia Plath fasst Jo Gill, die auch The Cambridge Introduction to Sylvia Plath (2008) veröffenticht hat, die bisherigen Strömungen der Plath-Forschung sinnvoll zusammen. Eine große Gruppe bilden die biografischen Ansätze (Newman; Alvarez; Wagner-Martin; Stevenson; Malcolm; Rose; Steinberg). Gill weist darauf hin, dass vor allem in den früheren Biografien verschiedene Ebenen zwischen Dichterin und Sprecherin sowie gelebter Erfahrung und poetischer Darstellung zu sehr vermischt werden (The Cambridge Companion xii). Ein großer Teil der früheren Debatte dreht sich um die Rolle von Plaths Familie und des Plath Estate, der Plaths literarisches Erbe im Auftrag der Familie verwaltet und dem Ted Hughes‘ Schwester Olwyn lange vorstand. Die Zusammenarbeit mit Linda Wagner-Martin, die Plath eher als Opfer – vor allem ihres Ehemannes Ted Hughes – beschreibt, wurde zum Beispiel verweigert, während die erste autorisierte Biografie, Bitter Fame (1989) von Anne Stevenson, Plath als kühle und unberechenbare Egoistin porträtiert. Die Arbeiten von Jacqueline Rose (1991) und Janet Malcom (1994) hingegen sind Meta-Biografien, in denen die Mythenbildung in den vorherigen Biografien analysiert wird. Die jüngeren Biografien vermitteln ein neutraleres Bild, wie zum Beispiel Peter Steinbergs Sylvia Plath (2004), ein Buch über die künstlerische Beziehung von Plath und Hughes Her Husband. Hughes and Plath – A Marriage (2003) von Diane Middlebrook oder das neueste Buch Sylvia Plath in Devon von Elizabeth Sigmund und Gail Crowther, bestehend aus den Erinnerungen an eine Freundschaft und der Rekonstruktion von Plaths letztem Lebensjahr. Ein verwandtes Problemfeld zur Rolle des Plath Estates im Zuge der Biografien ist der große Einfluss, den Ted Hughes als Herausgeber auf die Form der veröffentlichten Texte nahm. Zum einen veröffentlichte er Plaths Tagebücher in gekürzter Form und zum anderen wurde die Form von Ariel stark verändert. Gill nennt hierzu Marjorie Perloffs Artikel „The Two Ariels: The (Re)making of the Sylvia Plath Canon” (1984) und Lynda K. Bundtzen’s Buch The Other Ariel (2001). Mit der Edition der Tagebücher beschäftigte sich Nicole Seifert (2008) intensiv.

Als weiteren Ansatz der Plath-Forschung bezeichnet Gill die Perspektive der Mythologie und geht dabei kurz auf die Arbeiten von Steven Gould Axelrod (1990) und von Judith Kroll (1976) ein, wobei letztere mit dem Titel Chapters in Mythology die erste Plath-Studie in Buchlänge darstellte. Kroll argumentiert, dass zum Beispiel die Todessymbolik in Plaths Lyrik nicht ihrer eigenen psychischen Kondition, sondern ihrem Interesse an Mythen, Geschichten, Psychologie und der romantischen Literaturtradition geschuldet sei und für Kreativität, Wiedergeburt und Erkenntnisgewinn stehe.

Plaths Werk wurde vor allem aus psychoanalytischer und feministischer Perspektive analysiert, häufig in Kombination mit biografischen Ansätzen (z. B. Butscher 1967; Rose 1998). In David Holbrooks Sylvia Plath: Poetry and Existence (1976) und Edward Butschers Sylvia Plath: Method and Madness (1976) wird die Autorin anhand ihrer Texte analysiert und pathologisiert. Die psychoanalytischen Lektüren durch Elisabeth Bronfen (1998) und Christina Britzolakis (1999) zeugen hingegen durch poststrukturalistische Einflüsse von einer Haltung, die Skepsis gegenüber absoluten Wahrheiten aufweist (Gill, Cambridge Companion xiii). Zur Bedeutung feministischer Ansätze und der Women Studies möchte ich einen Absatz von Gill zitieren, in dem sie historische Eckpunkte sowie jüngere Kritik, wie durch das Buch von Renée Curry, skizziert:

Plath’s writing coincided with the emergence of the second wave of feminism and thus her work has frequently been read in terms of its recognition and representation of the conditions of life for women of the 1960s onwards. Studies by Alicia Ostriker, Jan Montefiore, Suzanne Juhasz and many others established Plath’s importance in a newly validated tradition of women’s writing. More recent feminist approaches have challenged some of the assumptions of such criticism. Renée Curry’s thought-provoking account of representations of whiteness in modern women poets, White Women Writing White: H.D., Elizabeth Bishop, Sylvia Plath and Whiteness (2000), critiques the essentialism and colour blindness of Plath’s poetry. (ebd. xiii)

Als Beitrag zur feministischen Forschung soll ergänzend Women’s Stories of the Looking Glass: Autobiographical Reflections and Self Representations in the Poetry of Sylvia Plath, Adrienne Rich, and Audre Lorde (1996) von Carmen Birkle beleuchtet werden. Birkle untersucht die Mechanismen einer weiblichen Identität als Dichterin anhand der historischen Lebensumstände der Autorinnen, ihrem Werk und metapoetischer Kommentare. Sie filtert aus autobiografischer Lyrik genrespezifische Eigenschaften heraus und für sie gelten seit Ende des Zweiten Weltkrieges bis heute Plath, Rich und Lorde als Repräsentantinnen für Lyrik von Frauen und Autobiografie als „weibliches Genre“.

Im Companion schreibt Gill weiter, dass das Politische in Plaths Werk aufgrund seines dominanten introspektiven Gehalts lange übersehen worden sei. Sie weist unter anderem auf die Arbeit von Deborah Nelson (2002) hin, die Plath vor dem Hintergrund der vom Kalten Krieg geprägten USA und deren Umgang mit Privatsphäre und Überwachung untersucht. Die transatlantische Perspektive, die Tracy Brain in The Other Sylvia Plath (2001) einnimmt, findet bei Gill ebenfalls Erwähnung (xiv). Hier lässt sich Confessing Cultures: Politics and the Self in the Poetry of Sylvia Plath (2009) von Lisa Narbeshuber anschließen. Narbeshuber argumentiert, Plaths Lyrik arbeite sich detailliert an der Geografie der Nachkriegsgesellschaft ab und daher projiziere Plath eher das kulturelle als das innere Selbst, bzw. das verinnerlichte Kulturelle (x).

Tim Kendall konzentriert sich in seiner Studie Sylvia Plath: A Critical Study (2001) auf Plaths Lyrik, vor allem auf den Band Ariel. Er bezieht sich zwar auch auf andere Texte, findet diese jedoch nur interessant, um die „at times uncompromisingly difficult texts“ besser zu verstehen (Vorwort, erste Seite ohne Seitenzahl). Kendall betont den Prozesscharakter der Identitätsbilder und schreibt über Ariel, „they are poems of becoming rather than being […] without ever settling on a stable and monolithic identity“ (51). Im gleichen Jahr erschien Silvianne Blossers A Poetic on Edge: The Poetry and Prose of Sylvia Plath. Sie widmet sich Plaths poetologischer Entwicklung und untersucht, wie genau Plaths Sprache funktioniert und bedient sich dabei jener Begriffe, die Plath selbst benutzte, wenn sie über ihr eigens Schreiben reflektierte.

Der neueste Sammelband Representing Sylvia Plath (2011), herausgegeben von Sally Bailey und Tracy Brain untersucht die Genese von Plaths Texten mit Schwerpunkt auf verwendete Materialien von bildender Kunst zu Frauenmagazinen. Eine weitere Forschungslücke hat Luke Ferreter mit Sylvia Plath’s Fiction: A Critical Study (2010) geschlossen. Dem ersten Buch, das sich ausführlich Plaths, für ihr erreichtes Alter ebenfalls umfangreichem Prosawerk (Roman bzw. Romanentwürfe, Kurzgeschichten), widmet. Ein von Anita Helle herausgegebener Sammelband, The Unraveling Archive (2007), vereinigt neuere Essays, die Plaths Werk und dessen Rezeption in einen größeren historischen und soziokulturellen Kontext einordnen und dabei verstärkt auf Archivmaterial zurückgreifen. Eye Rhymes (2007), herausgegeben von Kathleen Connors und Sally Bailey, versammelt Aufsätze über Plaths Verhältnis zu den bildenden Künsten. Zusätzlich liegen frühere Sammelbände von Linda Wagner-Martin (1984) und Harold Bloom (1989) vor. Die Indiana University gibt mit The Plath Profiles zudem ein interdisziplinäres Journal mit Plath-Studien heraus.10

Ebenso alt wie die Plath-Forschung ist die Diskussion, ob Sylvia Plaths Werk als confessional zu bezeichnen ist. Im Companion schreibt Gill, dass dieser Kontext der Komplexität der Texte nicht gerecht werde, es aber immer wieder zu fruchtbaren Revisionen des Terms käme, z. B. in Deborah Nelsons Analyse des confessional mode, als ein Produkt der durch den Kalten Krieg verursachten Unsicherheiten in Bezug auf Privatheit und Überwachung (xxii). Gill brachte im gleichen Jahr wie den Companion den Band Modern Confessional Writing: New critical essays (2006) heraus, der den Begriff mit seiner Forschungsgeschichte und Genrespezifika und -entwicklungen hinterfragt.

Auch zu Sextons Werk bietet Jo Gill einen aktuellen Zugang. In Anne Sexton’s Confessional Poetics (2007) verbindet sie ein close reading einzelner Texte aus Sextons Gesamtwerk mit einer literarischen, historischen und kulturellen Kontextualisierung. Gill verwendet den Begriff des Narzissmus als positiv besetztes Konzept, um Sextons Poetik zu beschreiben: „It is the notion of narcissism which is the key; when recuperated as a strategy which reconciles the inside and the out, the private and the public, the self and the other, it offers a strategy for reading both the detail of Sexton’s writing and its engagement with larger contexts” (5). Zudem wendet sich Gill in Anlehnung an poststrukturalistische Konzepte dem Verhältnis von Sprache, Wahrheit, Authentizität und Subjektivität bei Sexton zu. Caroline King Barnard Hall (1989) hat eine Monografie zu Sexton vorgelegt, in der sie alle Lyrikbände einzeln und chronologisch mit dem Ziel bespricht, die Veränderungen in Sextons Werk zu den drei zusammenhängenden Themen „the nature of the mid-twentieth-century female experience, the lineaments of madness, and the character of confession“ (xi) zu analysieren. Diese Studie geht, wie viele frühere Beiträge, von einem feststehenden Subjektbegriff aus und interpretiert Sextons Geschichte aus feministischer Sicht als Flucht und Befreiung gleichzeitig, wobei Leben und Werk gleichgesetzt und Selbstmord glorifiziert werden: „For Sexton, escape and arrival are identical conclusions. Suicide is an act of female triumph, for it is the ultimate affirmation of self and of freedom from male domination” (173). In eine ähnliche Richtung argumentiert Diane Hume George in Oedipus Anne (1987), wobei sie die feministische Lesart mit psychoanalytischen Modellen kombiniert. Es liegen mindestens drei Sammelbände zu Sexton vor mit Essays, Rezensionen und Interviews – allerdings alle aus den 80er Jahren (Bixler, Henigan and Lederer (1988); Colburn (1988); Wagner-Martin (1984)).

Sexton wird, meist zusammen mit Plath u. a., im Kontext von Inzest (Swiontkowski) oder Selbstmord (Berman; Gentry; Keller) besprochen. Es liegt eine umfangreiche Biografie zu Sexton vor, die Diane Middlebrook (1991) im Auftrag von Sextons Tochter geschrieben hat. Dieses Buch hat eine große öffentliche Debatte um die Ethik von Biografien und die psychoanalytische Schweigepflicht ausgelöst, da Middelebrook von Aufnahmen aus Therapiesitzungen Gebrauch machte.

Zwei neuere Monografien widmen sich den bislang vernachlässigten Einzelaspekten Religion und Lehrtätigkeit im Werk und Wirken Sextons: Transgressing boundaries. A geography of Anne Sexton’s spirituality von Floriana Puglisi (2006) und Anne Sexton. Teacher of Weird Abundance von Paula M. Salvio (2007).

Robert Lowell wird genau wie Plath und Sexton im Kontext des confessional mode diskutiert. Eine Diskussion, in die die Frage nach der Rolle der autobiografischen Fakten mit eingeht. So ist eine der ersten Monografien mit The Autobiographical Myth of Robert Lowell (Cooper 1970) betitelt. Im Vorwort schreibt Philip Cooper: „Properly considered, Lowell‘s confessional mode is not other than the principle of poetry itself: the personal touches the archetypal, becoming autobiographical myth” (vi). Cooper stellt Lowells Werk als aufeinander aufbauendes, zusammenhängendes Werk dar. Die Forschung zu Lowell ist auch dadurch geprägt, seine Bedeutung für die amerikanische Lyrikgeschichte zu klären, wobei es um die Frage seiner sinkenden Reputation geht und er stellvertretend für die Erneuerung lyrischer Stile steht. Die Diskussion um seine nationale Rolle und lyrische Originalität ist ausgeprägter als bei Plath und Sexton. Eine der neuesten Monografien von Grzegorz Kość (2005) versteht sich als intellektuelle Biografie, untersucht Lowells Übergang von einer modernen zu einer postmodernen Ästhetik und hinterfragt, warum seine Poetik zunächst so erfolgreich war und schließlich nicht mehr zeitgemäß scheint. Lowells Werk wird häufig in drei Phasen eingeteilt, wobei die frühe als modernistisch und religiösen Themen zugewandt, die mittlere als confessional und die spätere als politisch gilt (Hayes). Paula Hayes (2013) liest die frühen Werke Lowells, um die Errungenschaften der späteren confessional Phase zu demonstrieren, die ohne das Frühwerk nicht zu verstehen seien. Sie stellt die verschiedenen Phasen anstelle von Brüchen als Entwicklung dar und betont den Zusammenhang zwischen kulturellen und autobiografischen Tropen.

Verschiedene Arten der Selbstthematisierung sprechen Teri Witek und Katharine Wallingford an. Witek untersucht in Robert Lowell and Life Studies. Revising the Self (1993) den Wandel der Selbstbilder, die mit verschiedenen Manuskriptstadien von Life Studies einhergehen. Wallinghorst zieht in Robert Lowells Language of the Self (1988) eine Traditionslinie von Lowells Art der Selbstthematisierung zum Puritanismus bis hin zur Psychoanalyse.

Ausführliche Analysen seines Stils und einzelner Gedichte bieten The Poetic Art of Robert Lowell von Marjorie Perloff (1973) und Robert Lowell’s Life and Work. Damaged Grandeur (1995) von Richard Tillinghast. Steven Gould Axelrod verfasste die Monografie Robert Lowell: Life and Art (1978) und gab verschiedene Sammelbände heraus (Axelrod und Deese 1986; Axelrod 1999). Ein weiterer Sammelband liegt von Harold Bloom (1987) vor. Lowell wird genau wie Plath und Sexton primär biografisch, psychoanalytisch und im Kontext psychischer Krankheit besprochen (z. B. Hamilton; Mariani; Kramer; Meyers).

1.2 Poetik des extremen Selbst. Positionierung und Forschungsfragen

Wie beschrieben, liegt eine umfangreiche Forschungsliteratur zu den drei Autor*innen vor, die in diese Arbeit einfließt. Mein Ziel ist, eine Lektüre von Plath, Sexton und Lowell mit dem Schwerpunkt Identität unter Berücksichtigung der emotionalen Aspekte zu leisten. Ein derartiger Fokus scheint mir sinnvoll, da Identität als wichtiges Thema für alle drei Autor*innen benannt, aber bislang nicht zentral diskutiert wurde. Die Prosabände, ausgenommen The Bell Jar, also Tagbücher, Briefe und gesammelte Prosa, wurden selten als eigenständige Werke besprochen, sodass diese in meiner Arbeit eine ungewohnte Aufmerksamkeit erhalten.

Neben dem Forschungsbeitrag zu den einzelnen confessional poets möchte ich die literaturwissenschaftliche Diskussion von narrativer Identität fortführen, und deren genrebedingten Besonderheiten in Lyrik hervorheben. Auch wenn Ricœur seine Theorien auf Begriffe der Literaturwissenschaft wie Narration und Story stützt, wurden sie zunächst in der Psychologie und Soziologie aufgenommen – es fand kaum ein interdisziplinärer Austausch statt. In den letzten Jahren finden die Theorien zunehmend in den Literatur- und Kulturwissenschaften Beachtung (z. B. Holler und Klepper; Neumann; Kilian; Meretoja), wobei weiterer Forschungsbedarf besteht, wie Birgit Neumann und Ansgar Nünning postulieren (4). Narrative Identitätstheorien beruhen auf teilweise veralteten narratologischen Begriffen und berücksichtigen in erster Linie konventionelle Autobiografien. Hier ist die Anwendung auf lyrische Texte, deren Narrativität oft ignoriert wird, reizvoll um teleologische und kohärente Identitätsvorstellungen zu hinterfragen.11 Die theoretisch unterrepräsentierten emotionalen Identitätsaspekte treten in der Lyrik durch die gegebene Relevanz von Motiven und Stimmungen deutlicher hervor. In den lyrischen Identitätsentwürfen spielt das Konzept des Raums eine wichtige Rolle, sodass Ricœurs ausschließliche Konzentration auf Zeit infrage gestellt werden muss. Die vieldiskutierten Texte der confessional poets bieten mit ihren autobiografischen Eigenschaften, den vielseitigen Selbsterzählungen und dadurch, dass neben Lyrik auch Prosatexte unterschiedlicher Genres vorliegen, ein besonders gutes Beispiel für eine Analyse von Genreunterschieden in Bezug auf narrative Identität.

Zur Analyse der Selbstdarstellungen und Identitätsprozesse in den Texten und der Frage, welche Emotionen damit einhergehen, möchte ich einige Unterfragen formulieren. Es gilt, das Verhältnis zwischen verschiedenen Artikulationsorten von narrativer Identität zu beleuchten und zu fragen, auf welche äußeren Identitätsvorstellungen im Sinne von Skripten sich die Texte beziehen und inwiefern sie diese übernehmen oder verändern. Welche Rolle spielen die Geschlechterzugehörigkeit, die eigene Herkunft und die Erfahrung psychischer Krankheit? Wie hängen Identität und Emotion mit Körperlichkeit zusammen?

Ein zweiter Fragenkomplex betrifft die Textformen. Wie sehr beeinflussen sich Identitätsdarstellung und Genre? In welchem Verhältnis stehen Identität und Schreibpraxis? Und wie verhalten sich die einzelnen autobiografischen Strategien zur Identitätsthematik? Eine besondere Beachtung hinsichtlich des Identitätsprozesses finden verschiedene Zeitformen. Wo handelt es sich um Erinnerungen und Rekonstruktionen, warum sind diese für das aktuelle Selbstbild wichtig, wo finden Selbstaktualisierungen statt und wo schließt der Identitätsentwurf explizit eine zukünftige Perspektive mit ein? Welche Stilmittel und Motivketten sind mit den Selbstthematisierungen verbunden? Und inwiefern sind räumliche Referenzen neben den Zeitstrukturen bedeutsam? Zudem zieht sich die Frage nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Plath, Sexton und Lowell durch die gesamte Arbeit.

1.3 Narrative Identität in Prosa und Lyrik. Zu Methode, Aufbau und Korpus

Mein Vorgehen verbindet eine enge literaturwissenschaftliche Textanalyse mit dem Augenmerk auf Identität und Emotion vor dem Hintergrund eines interdisziplinären Ansatzes aus narrativen Identitätstheorien, Narratologie und Emotionstheorien. Nachdem close reading in den Forschungsarbeiten der letzten Jahre zugunsten von historischen und editorischen Kontexten immer mehr in den Hintergrund gerückt ist, kehre ich mit diesem Ansatz zu den Primärtexten zurück. Durch die Betonung des fiktiven Elements jeder Identitätserzählung relativiert sich die Suche nach (auto-)biografischen Wahrheiten. Alle Texte werden gleichermaßen hinsichtlich ihrer Thematik und Stilistik analysiert. Mit narrativer Identität als theoretischem Hintergrund ist die Diskussion nicht auf einzelne Identitätsaspekte, wie zum Beispiel Gender, beschränkt und löst sich in psychologischer Hinsicht gegenüber den psychoanalytischen Modellen von der Konzentration auf Familienkonstellationen und Sexualität.

Nach der Einleitung folgt ein Theoriekapitel, in welchem die Konzepte zu narrativer Identität, Emotion und Narratologie, die dieser Arbeit zugrunde liegen, vorgestellt werden. Dann folgen die drei Hauptteile nach den drei Autor*innen unterteilt. Ich beginne mit einem Teil zu Plath, als nächstes folgt der Sexton-Teil und am Schluss steht der Teil zu Lowell. Somit sind sie nach ihrer Lebensspanne sortiert; Plath wurde zuletzt geboren und ist zuerst gestorben. Sexton liegt in der Mitte und Lowells Wirken umfasst den längsten Zeitraum. Ein weiteres Argument für diese Reihenfolge ist, dass von Plath mit The Bell Jar ein autobiografischer Roman vorliegt, der als Ausgangspunkt für den Genrevergleich dienen soll. Die Reihenfolge spiegelt nicht zuletzt die Verlagerung bezüglich der Bedeutung, die ihnen beigemessen wird, wider.

Jeder Teil besteht aus drei bis vier Kapiteln. Zunächst bespreche ich jeweils ein Prosawerk (bei Plath zwei), dann zwei Lyrikbände. Dies dient dazu, die Identitätsentwürfe in den verschiedenen Genres zu vergleichen, und die Besonderheiten der lyrischen Identitätsentwürfe, die auch das Hauptwerk der Autor*innen bilden, zu betonen. Ich habe jeweils die Bände ausgewählt, die im Hinblick auf Identität, Autobiografie und den confessional mode am markantesten sind. Da ich auf Veränderungen und Konstanten der Selbstentwürfe eingehen möchte, habe ich zumindest bei Sexton und Lowell jeweils einen früheren und einen späteren Band ausgewählt.

Im Plath-Teil lese ich zunächst The Bell Jar (1963), wobei ich die Erzähltechnik im Hinblick auf Autobiografiemarker untersuche und die dargestellte Depression als emotionale Veränderung, die eine Identitätskrise nach sich zieht, als Hauptthema des Romans interpretiere. Das nächste Kapitel ist den Unabridged Journals (2000) gewidmet. Hier steht Plaths Begriff eines dynamischen Selbst im Mittelpunkt, der sich auch im Ausprobieren verschiedener Stimmen, Stile und Persönlichkeiten äußert. Desweiteren gehe ich mit dem eigenen Schreiben, den protokollierten Stimmungswechseln und Plaths Selbstverständnis als Frau auf die Hauptthemen ihrer Tagebucheinträge ein. Bei der Besprechung von The Colossus (1960) zeige ich, dass die Selbstentwürfe in diesem Band von einer rückwärtsgewandten Perspektive bestimmt sind und eine Rekonstruktion der Vergangenheit das aktuelle, trauernde Selbst dominiert. Die Selbstentwürfe in Ariel (1965) hingegen, sind von einer stärkeren Gegenwärtigkeit, einer größeren emotionalen Bandbreite und einer Dekonstruktion des Selbst bestimmt, die durch markante Bilder und weitere effektvolle Stilmittel dargestellt werden.

Der Teil zu Sexton beginnt mit einem Kapitel zu ihren Briefen, A Self-Portrait in Letters (2004), die ich im Hinblick auf die dialogische Selbstkonstruktion, die auch mit Selbstvermarktung einhergeht, und die Themen Beichte und Religion, Psychotherapie und die Funktion des Schreibens behandle. Als ersten Lyrikband bespreche ich Live oder Die (1966). Dabei gehe ich auf die Gesamtkomposition des Bands und die Bedeutung des Titels für die getätigten Selbstentwürfe ein, die von einem beschwerten Lebensgefühl zeugen, und gleichzeitig der Melancholie eine permanente Selbstrekonstruktion entgegensetzen. Danach analysiere ich The Book of Folly (1972) und arbeite heraus, dass Schuldgefühle, der Eindruck der eigenen Andersartigkeit und die Unmöglichkeit, sich mit traditionellen Autoritäten wie Kirche und Politik zu identifizieren, den Selbstdiskurs bestimmen und auf ein Vakuum an hilfreichen Mustern als Identitätsvorlage hinweisen.

Im Kapitel zu Lowells Collected Prose (1987) bespreche ich zwei autobiografische Fragmente genauer. Bei einem geht es um Lowells Familie und die Rekonstruktion seiner ersten Lebensjahre und bei dem anderen um einen von Lowells Psychiatrieaufenthalten. Hier hebe ich hervor, wie wesentlich seine Abstammung aus einer traditionsreichen Familie und ein direkter Bezug zu literarischen Traditionen für seine Identität sind. Ich zeige auf, dass eine große Sicherheit und Erhabenheit, trotz aller Probleme, aus seiner Selbstdarstellung hervorgeht. Lowells Life Studies (1959) bespreche ich im Hinblick auf das erstaunlich geringe Maß dargestellter Selbstreflexion und direkter Gefühlsbeschreibungen. Im Kapitel zu The Dolphin (1973) geht es um die ethische Debatte nach Grenzen der autobiografischen Anleihen, die das integrierte Material auslösen und die moralischen Fragen, die Lowell hier in Bezug auf sein Liebesleben und sein Werk stellt.

Das Fazit ist neben der Darstellung der Ergebnisse besonders dem Vergleich zwischen Plath, Sexton und Lowell gewidmet. Es werden die Grenzen des narrativen Identitätsverständnisses diskutiert und die Grenzen dieser Arbeit benannt.