Informationen zum Buch

10 Tage im Februar: Ein Mann verlässt seine Frau, und die Frau geht ins Kino. Denn das Karussell der Liebe hat sie nie wirklich interessiert, sondern immer nur der nächste Film.

Wie konnte es da passieren, dass sich ihr Leben zu einem müden Melodrama entwickelt hat? Es gibt nur eine Person, die ihr helfen kann: die große Regisseurin Jane Campion.

»Die Liebe ist stärker als der Tod, sagt Maupassant. Das Kino ist stärker als die Liebe, sagt Fendel. Ein extravaganter Roman über die Fallstricke hemmungsloser Liebesverkennung.« Hanns Zischler

»Es gibt diese Bücher, aus denen man den Blick hebt und sieht: Das Irrlichtern der Gefühle darf nie enden. Hier ist eins davon.« Peter Glaser

Heike-Melba Fendel

Zehn Tage im Februar

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Teil Eins

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Teil Zwei

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Über Heike-Melba Fendel

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

MEINER MUTTER

»Home is where you come when you run out of places.«

Barbara Stanwyck in »Clash by Night«

Teil Eins

Eins

Als ich ein paar Stunden vor der feierlichen Eröffnung der Filmfestspiele nach Hause komme, ist der Mann nicht da. Die sorgsam formatierte Nachricht hat er mit Bleistift auf den Notizblock geschrieben, von dem wir samstags die Einkaufsliste für den Biosupermarkt abreißen: »Ziehe für zehn Tage zu Sepp, das ist besser für uns beide.«

Sepp ist ein Linguist, der über die Handhabung von Plural und Nichtplural in unterschiedlichen Sprachen promoviert hat. Warum es etwa im Englischen »The Police are coming« heißt, im Deutschen aber »Die Polizei kommt«. Der Mann findet das interessant. Eine ordentliche Stelle hat der Sepp trotzdem nicht. Dafür ein Gästebett in seiner Zweizimmerwohnung im Wedding.

Den Block hat der Mann auf der Schlüsselablage im Hausflur platziert. Damit ich gleich Bescheid weiß. Damit ich nicht »Hallo!« in das leere Haus rufe, während ich meine Handschuhe ausziehe.

Ich rufe aber nie »Hallo!«, ich trage keine Handschuhe, und Bescheid weiß ich keinesfalls, nachdem ich diesen Satz gelesen habe, den er ohne Gruß und ohne Unterschrift fest auf das Papier gedrückt hat.

»Besser für uns beide.« Ich werfe meine Tasche in den Flur und nehme seine Notiz mit ins Esszimmer. Das Frühstück hat er abgeräumt, den Tisch abgewischt. Ich rücke die Tischdekoration zurecht, sinke auf den Stuhl und blicke ins Leere.

Gestern Abend sah der Mann wortlos fern, als ich aus dem Büro kam. Ich begann, an den blau-gold changierenden Georgettegardinen zu zupfen. Schön sind sie, wie alles in unserem Haus. Ich zupfte die Gardinen an den Fenstern Richtung Adolf-Scheidt-Platz, dann trat ich hinter das Mogensen-Sofa mit den golden schimmernden Polstern, die ganz wunderbar mit den Gardinen harmonieren, und zupfte dort weiter.

Für den wuchtigen Körper des Mannes ist es kein geeignetes Sofa, das ich da ausgesucht habe. Es ist hübsch, aber fragil. Der Mann hat sich darüber nie beschwert, er beult es stillschweigend aus.

Er kritisiert mich selten, damit ich aufhöre, ihn zu kritisieren. Dabei mag ich Kritik. »Oh«, sage ich, wenn sie ihm doch einmal unterläuft, »Oh, danke! Das stört dich also, dann lasse ich es.«

Ich meine das. Ich will ja nicht so bleiben, wie ich bin. Weil er aber im Großen und Ganzen so bleiben will, wie er ist oder mindestens wie er sein Selbstbild scharfgestellt hat, will er auch keine Korrekturen an mir einfordern. Dabei würde ich dieses Zupfen sofort und für immer unterlassen, wenn er nicht stur auf den Fernseher starrte. So aber zupfte ich weiter hinter dem Sofa herum, das er ausbeulte, ohne mich zu sehen.

Weil er mich nie sieht. »Nie« und »immer« soll man in Beziehungen ja nicht sagen. Ich sage beides ständig, meiner Unruhe wegen. Werde ich unruhig, verschiebt er mich in seinen toten Winkel. Immer ist das so. Nie ist das anders.

Unsichtbar, wie ich bin, muss ich mir Gehör verschaffen. Ich schreie und schreie, aber so ein toter Winkel ist auch mit Gebrüll nicht wiederzubeleben.

Ich solle mir mal zuhören, sagte er. Wenn ich mich doch nur selber hören könnte. Er unterschätzt mein Gedächtnis.

Einmal hat er mein Geschrei heimlich mit dem iPhone mitgeschnitten. Ich bestand darauf, dass er das löscht. Er versprach es. Ich glaube nicht, dass er es gemacht hat. Er braucht Belege technischer Art. Er braucht Beweise, die über das Erinnern triumphieren, das er nicht beherrscht. Geschehenes entgleitet ihm, wie ich einer Version von mir entglitten bin, die ihm Freude gemacht hätte, weil sie ihm mit Respekt begegnet. Diesen Respekt wirklich zu genießen hätten ihm seine Selbstzweifel allerdings rasch vermiest.

Der Abend war im Eimer, die Nacht blieb ohne Versöhnung, und heute Morgen ging dem Mann der letzte Rest Zuversicht verloren. Vor seinem Herman-Miller-Schreibtisch auf die Knie gerutscht, schluchzte er haltlos. Dann musste er los. Er hatte zu tun.

Ich hole meinen Rechner an den Esstisch, klappe ihn auf und starre auf das vierfarbige Microsoft-Logo, als sähe ich es zum ersten Mal. »Besser für uns beide.«

Ich werde nicht gern ungefragt in Irrtümer eingebunden.

Sein Handy wird er ausgeschaltet haben. Er weiß, ich denke mir Zahlen aus, einstige Hausnummern, mein Alter bei unserer ersten Affaire, sein Alter bei unserer neuerlichen Begegnung, Jahre später. Oder eines mit dem anderen addiert. Genauso oft rufe ich dann an. Das ergibt lustig viele angezeigter Anrufe in Abwesenheit. Er glaubt, ich sei hysterisch. Ich finde, er denkt zu symmetrisch.

Zehn Tage Berlinale gleicht er mit zehn Tagen Abwesenheit aus. Dezimalstrafe. Weil ich mir an allen zehn Fingern hätte abzählen können, dass es einmal so weit kommen würde, wenn ich nicht lerne, mich zusammenzureißen.

Kann er haben, jetzt, wo er weg ist. Ich schiebe das Drama beiseite an diesem Esstisch – einem Dieter-Rams-Tisch übrigens –, widme mich meinen E-Mails und tippe Ratschläge und Instruktionen in den Rechner. Finde Argumente für das gelbe statt des schwarzen Kleides als eindeutig bessere Wahl für den Auftritt auf dem roten Teppich, stocke ein Budget auf und lobe den Lieblingsmitarbeiter.

Wie sehr es den Mann freuen würde, wenn ich es mit ihm ähnlich professionell anginge.

Will ich aber nicht. Ich will 111 Anrufe in Abwesenheit. Ich will schreien, bis der Hals schmerzt, bis der Nachbar zur Rechten denkt, ich würde abgeschlachtet. Das ist besser für uns beide.

Regelmäßig bearbeitet der Mann die Hecke vor den Fenstern des Esszimmers mit der Kettensäge dieses Nachbarn, besonders intensiv, nachdem wir uns gestritten haben. Die brutal rasierte Heckenlinie gibt den Blick frei auf die Bushaltestelle der Linie 248, die, wenige Stopps entfernt, am Südkreuz ihren Ziel- und Endbahnhof erreicht. Die Häuser entlang dieser Strecke haben sich vom einheitlichen Siedlungsbau der zwanziger Jahre verabschiedet. Entstanden sind individuell gestaltete Eigenheime – sehr zum Entsetzen professioneller Konservatoren wie auch dem der Hobbysanierer vom Tempelhof e. V., dem der Mann rasch beigetreten ist.

Diese Eigenheime sind allesamt Varianten unseres Hauses, bewohnt von Menschen mit Varianten der Hoffnung, die sich mit dem Ratenkauf solcher Häuser verbindet: Hier ein bisschen erfüllter das gemeinsame Leben, dort ein wenig näher am Irrtum gebaut. Hier verwunschen der Garten, dort verwahrlost, und übermorgen pflanze ich einen Apfelbaum.

Das heißt, ich werde den Mann bitten, den Apfelbaum zu pflanzen, wenn er wieder da ist. Er macht gern Dinge, die einen Anfang und ein Ende haben und dazwischen viel von seiner großen Kraft brauchen.

An der fleischfarbenen Fassade mit dem flächig abgeplatzten Putz wäre auch noch einiges zu tun. Keinesfalls jedoch bei diesem Dauerfrost, hat der Mann mir erklärt, als ich ungeduldig wurde. Deswegen schimmelt auch das Souterrain mit dem farbverklecksten Hobbyraum weiter vor sich hin – auf Tauwetter können wir lange warten.

Mein Bestreben gilt ja gar nicht der Sanierung der schadhaften Fassade oder der Trockenlegung der Grundmauer, sondern deren heilender Wirkung auf uns.

Er wird wiederkommen. Das tut er immer. Ich ja auch und das sehr schnell. Nicht im Bösen einschlafen, lautete die bisherige Regel. Für die kommenden zehn Tage hat er bestimmt eine neue Regel aufgestellt. Wahrscheinlich hat sie etwas mit Notwehr zu tun. Oder Selbstschutz.

Ich klappe den Rechner zu. Ich lasse mich nicht verlassen.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite fahren die Busse bis Ostbahnhof. Sie passieren mein altes Zuhause am Strausberger Platz, den alle mit »ß« schreiben. Dort presste ich jeden Morgen nach dem Aufwachen meinen Körper gegen das bodentiefe Glas des Schlafzimmerfensters und ließ den vierspurig strömenden Verkehr auf mich wirken wie James Spader und Deborah Kara Unger in David Cronenbergs »Crash«.

Die Fahrzeuge umrundeten Fritz Kühns Brunnenanlage mit ihrer Meter hohen Fontäne, deren Gischt bei Windgang wie Weihwasser über die selten gemähte Rasenfläche hinaus auf die Fahrbahn stob. Es gab wenige Kinder und keinerlei Kitas am weitläufigen Strausberger Platz, die Anwohner waren zu alt. Oder zu jung.

Am Adolf-Scheidt-Platz wird seit jeher viel gebrütet. Ein Brünnlein wurde zwischen den Weltkriegen zur Bekräftigung dieser Tatsache in seiner Mitte installiert. Eine Betonsäule sondert am unteren Rand tröpfelnd Wasser in ein kleines Becken ab, als hätte sie es an der Prostata. An den oberen Rand schmiegen sich nackte Gipskinder, als wollten sie nicht heim in die umliegenden, individuell gestalteten Häuser, zu den individuell gestalteten Problemen. Vielleicht fürchten sie ja auch den Klapperstorch, der ganz oben an der Säule, den Schnabel himmelwärts, in seinem Betonnest hockt, um beständig weitere kleine Tempelhofer zu produzieren.

Die Schulkinder, die jeden Morgen lärmend von der U-Bahn-Haltestelle Paradestraße an dem Brunnen vorbeilaufen, können mit der Mär vom Klapperstorch wahrscheinlich ebenso wenig anfangen wie offenkundig mit dem Konzept Abfalleimer. Auf die neben unserem Garten verlaufende Promenade werfen sie angebissene Schulbrote, auf die angrenzende Wiese spucken sie Kaugummifladen. Oder sie zielen mit leeren Müllermilch-Bechern auf unsere altersschwache Katze.

Die hatte einige wenige glückliche Wochen im neuen Heim erlebt, bevor sie auf unserem sorgsam vertikutierten Rasen von einem Fuchs angefallen wurde. Seither torkelt sie desorientiert gegen Zäune und Türrahmen. Meistens jedoch liegt sie in unserem Schlafzimmer auf dem Bett, ihrem Stammplatz, auf den der Mann sie sicher noch gehoben hat, bevor er die Nachricht schrieb. Er mag Tiere. Er ist freundlich.

Manchmal kommen uns Nachbarskinder besuchen, weil wir im Grunde unserer Herzen ja beide freundlich sind. Wir geben ihnen stets kleine Geschenke mit auf den kurzen Heimweg. Als Dankeschön legen sie Zeichnungen voller Sonnen und Herzen in unseren Briefkasten.

Auch zwei Zeuginnen Jehovas, eine ältere und eine jüngere Dame mit praktischen Frisuren und langen Röcken, kommen häufig wieder, seit ich sie kurz nach unserem Einzug für Nachbarinnen gehalten und auf einen Kaffee hereingebeten hatte. Den »Wachtturm« mit den erdfarbenen Illustrationen legte ich auf die Fensterbank des Gäste-WCs, wo bereits eine Kerze mit Papst-Wojtyla-Applikation samt Heiligenschein stand.

Alles passt zu allem in diesem Haus. Nur wir nicht zueinander, sosehr wir es wollen, denke ich mit Blick auf die Hecke, deren massakriertes Astwerk unter der gefrorenen Schneeauflage verborgen bleibt wie der Schnabel des Klapperstorches am schrecklichen Brünnlein.

Mutlos schüttele ich den Kopf und stelle mir vor, wie auch Jane ihren Kopf schütteln würde, wenn sie all das sähe. Vielleicht werde ich ihr ja bei unserem Wiedersehen davon erzählen. Wir werden uns wiedersehen: Denn der Mann ist weg, aber Jane kommt.

Ahnungslos bin ich vor 16 Tagen zum »Haus der Pressekonferenz« geradelt, wo der Direktor der Berlinale 600 Journalisten das bereits in weiten Teilen bekannte Programm vorstellte. Hinter der letzten Stuhlreihe filmten Kamerateams über die Köpfe der schreibenden Kollegen hinweg, wie sie es ab morgen bei den täglichen Pressekonferenzen im ersten Stock des Hyatt tun werden, wo Macher und Stars Fragen zu Film oder Rolle oder – wenn es blöd läuft – zu Figur und Frisur beantworten werden.

Wir nahmen zur Kenntnis, welche Gäste zu den jeweiligen Filmen erwartet werden und welche Produkte die Sponsoren, die der Direktor »Partner« nannte, bereithalten. Diese Partner wurden, in Anwesenheit ihrer in der ersten Reihe sitzenden Marketingchefs, noch einmal ausgiebig gelobt für ihr Engagement.

Und dann das: Mitten in die Verkündigungen, die Versprecher, die Floskeln und die Danksagungen, mitten in den connaisseurhaften Zynismus, mitten in die eigene zirkuspferdhaft fröhliche Grüßerei und Plauderei fiel ein keinesfalls vorab verkündeter Name: Der Festivaldirektor sagte, sie würden eine großartige Miniserie einer bedeutenden Regisseurin und Oscar-Preisträgerin vorstellen.

Wir freuen uns sehr, sagte er, und man mochte es angesichts seines Varieté-Tremolos beinahe glauben, wir freuen uns auf – Jane Campion.

Zwei

Alle dachten, ich würde mit mindestens einem der beiden Männer aus unserer WG im Kölner Friesenwall schlafen. Mit dem blonden Bruno oder dem kritischen Hagen. Aber Bruno schlief mit Männern, und Hagen mochte mich auch so.

Beide behandelten die Männer, mit denen ich wirklich schlief, sehr freundlich, wenn sie am Frühstückstisch unserer Gemeinschaftsküche aufschlugen. Manchmal fanden sie jemanden besonders nett und sagten das auch. Ich sagte »Mmh« und schleppte weitere Kandidaten aus dem Morocco oder dem Colombo an, wohin ich in kurzen Kleidern tanzen ging, wenn ich nicht selber hinter der Bar in irgendeiner Disco Longdrinks ausgab, die Schuhe zu hoch für die langen Stunden, aber der sich während der Schicht intensivierende Schmerz schien mir deutlich vernünftiger als das Tragen praktischer Schuhe.

Hagen hatte ein Beuteschema: magere Blondinen mit spitzen Nasen und schnippischem Mund. Mich verblüffte, dass es für diesen Frauentyp in Köln einen so reichen Fundus gab, aber mehr noch verblüffte mich das Prinzip Beuteschema. Ich war ganz und gar nicht festgelegt, sondern reagierte auf Angebote. Wählerisch zu sein kam für mich dem Vorurteil sehr nah.

Ich schlief lange, frühstückte ausgiebig und schaute ab und zu an der Uni vorbei. Wenn eine Vorlesung interessant klang, setzte ich mich in den Hörsaal, egal in welcher Fakultät. Scheine machte ich ohnehin nicht, weil ich keinen Magister-Abschluss anstrebte. Nicht so sehr der Scheine sondern des nachzuholenden Latinums wegen. Dafür war mir meine Zeit dann doch zu schade.

Es gab oft Besuch im Friesenwall. Die Leute klingelten unangemeldet an unserer Tür, weil fast immer jemand aufmachte und alle viel Zeit hatten. Manchmal brachten sie Bier oder etwas zu rauchen mit, meistens jedoch brauchten sie unsere spärlichen Vorräte auf.

Eine »The-Fi-Fe«-Studentin zählte zu unseren Dauergästen. Ich hatte sie in einem Seminar über Asta Nielsen auf ihre Leopardenleggings angesprochen, und wir verstanden uns recht gut. Sie ging regelmäßig ins »PAM-Kino«, um vergleichende Studien an Pornofilmen vorzunehmen. Weil man dort, juristischer Spitzfindigkeiten wegen, nicht für den Film, sondern für Pralinen zahlte, schenkte sie uns regelmäßig diese Schachteln mit. Die Pralinen schmeckten scheußlich, aber irgendjemand aß sie immer auf.

Einmal brachte sie eine Bekannte mit. Andrea wollte Schauspielerin werden und nahm Unterricht im Theater »Der Keller«. Ich fand sie toll, sie gehörte nicht zu uns. Vom allgemeinen Geplänkel am Küchentisch nach kurzer Zeit gelangweilt, stand sie auf und dankte für die Gastfreundschaft. Ich bot an, sie zur Tür zu bringen.

»Komm doch mal ins Broadway«, sagte sie »Ich lege da die Filme ein.«

Das Broadway-Kino lag um die Ecke unserer Dreier-WG in der Ehrenstraße. Es hatte erst vor kurzem eröffnet und zeigte Kunstfilme. Bislang war ich nie dort gewesen, aber von nun an guckte ich, Andreas wegen, alle Filme im Programm.

Bei jeder Begrüßung im Foyer stippte sie erst ihre Maria-Schneider-Brüste heftig an mich und bugsierte mich dann ohne Ticket in den Saal. Ab und zu besuchte ich sie in ihrer kleinen Wohnung in der Südstadt.

Dort brachte sie mir Atemübungen bei und spielte ihr Lieblingslied auf dem kleinen Plattenspieler: »Es geht der Dolly gut/sie sitzt in Hollywood/an einem Tisch/mit Lilian Gish«. Dazu vollführte sie wilde Tänze, und ihre smaragdgrünen Augen funkelten vor Begeisterung.

Andrea erzählte mir von Filmen, die nicht im Broadway liefen und auch sonst nirgendwo in Köln. Die wollte ich sehen und bestimmt nicht auf VHS. Gemeinsam durchforsteten wir also das Berliner Kinoprogramm im TIP und stießen in einem Kreuzberger Kino auf eine Mitternachtsvorstellung von Coppolas »Der Pate«, Teil I und II, am übernächsten Tag.

»Du hast nie den ›Paten‹ gesehen?« Andrea konnte es nicht fassen, und ich schämte mich. Sie hatte beide Filme je siebenmal gesehen. »Sie-ben-mal« wiederholte sie und formte die Sieben zusätzlich mit gespreizten Fingern.

»Okay«, ich wusste, was ich zu tun hatte: »Ich fahre da hin.«

Andrea lachte. Dann wurde sie ernst und sagte beschwörend: »Filmen darf man hinterherreisen, Theateraufführungen und Ausstellungen auch. Männern niemals. Hörst du? Niemals.«

Sie gab mir häufig Ratschläge, dabei war sie kaum älter als ich. Genau wusste ich das nicht, weil Andrea über ihr Alter schwieg. Denn, noch so eine Weisheit von ihr: »Das Alter muss man abschaffen, bevor man anfängt, unter ihm zu leiden.«

Am nächsten Morgen ging ich zur Mitfahrzentrale, sie befand sich in einem kleinen Ladenlokal in der Nähe des Barbarossaplatzes. Ein Mann mit runder Nickelbrille saß, selbstgedrehte Zigaretten rauchend, an einem Tapeziertisch. Er zog etliche rosa und hellgrüne Karteikarten aus vergilbten Plastikboxen bevor er mir einen Fahrer für den kommenden Tag zu teilte.

Der war leider nicht bereit, mich am Friesenwall abzuholen, und bestand auf einer Seitenstraße in Ehrenfeld als Treffpunkt, wo er mit seiner polnischen Ehefrau lebte. Ausführlich erzählte er von ihrem heftigen Temperament und diversen Problemen mit dem gemeinsamen Sohn, bis ich am AKW bei Hamm-Uentrop endgültig einschlief und – nach kurzer Unterbrechung durch mürrische Grenzsoldaten – erst am Berliner Nollendorfplatz wieder zu mir kam.

Dafür verharrte ich während der 375 Minuten langen Vorführung beider »Paten«-Teile hellwach auf meinem Klappsitz, bis ich um acht Uhr morgens mit einem Dutzend Italienern aus dem Sputnik-Kino in das erwachende Kreuzberg heraustrat und in die Märzsonne blinzelte.

Schön war es hier. Die üppigen, frisch gestapelten Auslagen der türkischen Gemüsehändler leuchteten in Ampelfarben. Jede Sekunde könnten sie vor meinen übernächtigten Augen von Maschinengewehrsalven irgendwelcher Mafiosi zermatscht werden, während desorientierte Schäferhunde tödlich getroffenen Punkern das Blut von den schmutzig weißen Unterhemden leckten.

Ich kaufte mir eine Ananas. Viel mehr als die zwanzig Mark für die Rückfahrt blieben mir nicht, aber ich war noch nicht bereit für das friedliche Köln. Ich blätterte in meinem Adressbuch und suchte die wenigen Berliner Bekannten, die darin notiert waren. Alle wohnten sie in Kreuzberg.

Zweimal stand ich vor verschlossener Tür. Der dritte reagierte auf mein Klingeln und ließ mich baden und ausruhen, bevor er sich mit einem Joint ins Bett legte und in einer ziemlich zerfledderten Ausgabe von Klaus Theweleits »Männerphantasien« las. Umstandslos bot er mir das Sofa für die kommende Nacht an und gab mir einen Schlüssel.

In Kreuzberg wohnten nur Penner. Ich wollte durch das deutlich schickere Charlottenburg flanieren und etwas erleben. Auch wenn die spitzen weißen Lackschuhe es erschwerten, ging ich den ganzen Weg zu Fuß.

Ich wusste, es würde etwas passieren, das tat es immer. Allerdings dauerte es doch lange, und der fehlende Schlaf ließ mich schwach und ein wenig mutlos werden bei dem langen Marsch durch den Tiergarten.

Auf der Bleibtreustraße lief ich in der deutlich früher als in Köln einsetzenden Dämmerung einem fremdländisch aussehenden Mann in die Arme.

»Wie geht’s?«, fragte er. Er hatte tiefgraue Schatten unter den Augen. Ich sagte, ich sei müde, und ich erzählte ihm, warum. Er war begeistert. Ah, »Der Pate«, den habe er bestimmt fünfmal gesehen.

Ich sagte, ich sei aus Köln. Er komme aus Kuwait, erwiderte er. – Ein Scheich also. Ob ich Hunger hätte? Er sei ganz in der Nähe verabredet, sagte er und lud mich ein mitzukommen. Vor einem im Souterrain gelegenen Restaurant namens »Habibi«, blieb er stehen und bat mich, einen Moment zu warten.

Er kehrte mit einer Stofftasche zurück, aus der er einen schwarzen, mit goldenen Pailletten bestickten Kaftan zog. Er überreichte ihn mir mit bedeutungsvoller Miene und bat mich, sein Geschenk anzunehmen.

Auf sein Geheiß zog ich den klirrenden Kaftan im WC über mein Kleid. Er passte nicht zu den Schuhen, und ich bevorzugte deutlich engere Kleidung, aber warum nicht.

Um den sehr niedrigen Tisch voll kleiner Schüsseln mit matschigen Speisen saß eine Gruppe ebenfalls dunkelhäutiger Männer und schaute mich unbeteiligt an. Wir aßen mit den Fingern und sprachen wenig.

Zum Abschied gab mir mein neuer Freund, Scheich Alaa Sattar-Nija, seine Karte. Sie war aus weißem Büttenpapier. Name, Telefonnummer und Adresse waren erhaben in Goldbuchstaben geprägt.

»Du musst zum Cannes-Filmfestival kommen.«

Ja, das muss ich, dachte ich, als ich in das Taxi stieg und nach Kreuzberg zurückfuhr.

In Köln ließ ich mich am folgenden Tag von einem kooperativen Fahrer direkt vor der Wohnung meiner Freundin Marianne absetzen und klingelte Sturm. Ich erzählte ihr von meinem Abend mit dem Scheich und schlug vor, gemeinsam nach Cannes zu fahren. Jede Freundschaft brauche schließlich Abenteuer, versuchte ich sie zu überreden.

Sie war nicht überzeugt. Der fehlenden Akkreditierung und der zu hohen Kosten wegen. Marianne war sehr vernünftig, aber es zog sie zu Menschen, die es nicht waren.

Wir hatten uns auf dem Schulhof in der Raucherecke kennengelernt. Sie stand dort regelmäßig herum, dabei rauchte sie gar nicht. Erst Jahre später griff sie seufzend zu, nachdem ich ihr zum zigsten Mal eine Camel light angeboten hatte.

Inzwischen rauchte sie mehr als ich, weil eine Photographin ständig warten musste. Entweder auf die Menschen, die sie photographieren wollte, oder auf das Trocknen der Bilder dieser Menschen in ihrer Dunkelkammer.

Ich kriegte sie eigentlich immer rum, aber zwei Wochen Cannes waren keine Kleinigkeit. Die Scheichgeschichte machte es nicht besser.

»Aber guck mal«, sagte ich, »vielleicht gibt uns ja jemand einen, äh, Vorschuss, und dann können wir da bestimmt viel Geld verdienen. Du machst Photos von den ganzen Stars, und ich schreibe was. Und Hagen leiht uns bestimmt sein Auto, und der Scheich hat sicher viel Platz.«

Sechs Wochen später fuhren wir in Hagens orangefarbenem VW-Kombi an die Cote d’Azur. Auf der zwanzigstündigen Reise rauchten wir viel und redeten ununterbrochen. Ab und zu leerten wir den herausnehmbaren Aschenbecher entlang der Wegstrecke. Wenn mir auf den Bergstraßen übel wurde, schlief ich ein und überließ mich Mariannes Fahrkunst. Einmal schrammte die Beifahrerseite einen Felsvorsprung an einer engen Kurve.

»Versicherungsfall«, murmelte ich, als wir den Blechschaden betrachteten.

Wir parkten den lädierten Kombi auf der Rue d’Antibes oberhalb der vollgesperrten Croisette, die sich in sanftem Bogen die Küste entlangzog und schminkten uns vor dem Rückspiegel. Auf dem Weg zum Palais du Festival kamen uns zahlreiche Passanten entgegen, denen in Plastik eingeschweißte Akkreditierungen vor dem Solarplexus baumelten. Über der Schulter trugen sie schwarze Synthetiktaschen mit dem Schriftzug des Festivals.

»Du hast den Wisch?« Marianne nickte. Natürlich hatte sie ihn. Sie verlor nichts. Sie vergaß auch nichts. Nicht einmal, all jene Dinge für mich mit einzupacken, von denen sie vermutete, ich würde sie vergessen.

Der »Wisch« war ein Empfehlungsschreiben in englischer Sprache. Auf dem Briefbogen war ein Logo der »Kölner Illustrierten«. Einer Zeitschrift, die es nicht so richtig gab. Eigentlich gar nicht. Im Juli erst sollte die erste Ausgabe erscheinen. Mit einer, nun ja, Reportage über das Filmfestival in Cannes. Deswegen setzte sich der Chefredakteur in spe in seinen handgetippten Zeilen an to whom it may concern wortreich dafür ein, dass wir eine Akkreditierung bekommen.

Selbst ich verstand, warum die schmallippige Französin am Schalter für die Presseakkreditierungen nicht recht von unserer Mission überzeugt war und ihren Chef hinzuzog. Der wandte sich mit abschließendem Seitenblick von uns ab und sagte laut vernehmlich: »Je m’en fou.«

Dass die Sache mit dem Scheich Quatsch war, hatte ich mir bereits gedacht, als sich der Kaftan bei näherer Prüfung durch die Inhaberin eines Second-Hand-Ladens als Billigware entpuppt hatte. Alaa Sattar-Nija war Journalist. Er teilte sich das möblierte Zweizimmerapartment mit einer Handvoll arabischer Kollegen. Es lag am schäbigen Teil der Croisette, weit hinter dem Hotel Martinez, das die offizielle Festivalmeile nach Süden abschloss. Marianne und ich schliefen auf schmalen Kinderpritschen, die den Durchgang zum Bad flankierten.

Weder Alaa noch seine diversen arabischen Mitbewohner traten uns zu nah, aber alle latschten ständig an uns vorbei. Einen eigenen Schlüssel hatten wir nicht, und die ständige Warterei vor dem Apartmenthaus nervte. Da traf es sich gut, dass wir inzwischen Bekanntschaft mit zwei Wiener Journalisten geschlossen hatten. Sie gaben irgendein Fanzine heraus, und in ihrer Festival-WG an der Rue d’Antibes waren zwei Matratzen unbelegt. Wir packten unsere Sachen, gaben dem offensichtlich erleichterten Alaa zum Abschied die Hand und sagten: »Vielen Dank für alles.«

Die Croisette war Laufsteg, Rummelplatz, Suchoberfläche und Arbeitsweg. Wie alle anderen rannten wir hin und her, Marianne mit zwei prallgefüllten Phototaschen, die sie nicht in unseren wechselnden Unterkünften zurücklassen wollte, ich mit Clutch. Vorbei an Carlton und Chanel, Majestic und Martinez, den Stellflächen mit Filmwerbung; an Karussells und Losbuden, Strandlokalen und Stretchlimousinen. Den Blick immer wieder zum Himmel gerichtet, wo kleine Flugzeuge zitternde Werbebanner durch den Himmel zogen.

Wenn wir nicht im Strom hin und her liefen, schmuggelten wir uns in die Suiten, die Restaurants, die Partys mit laxer Türpolitik. Wir schlossen Freundschaften mit Schnorrern wie uns und gingen auf Tuchfühlung mit jenen, die sich eingerichtet hatten – in ihren Funktionen, ihren im Vorjahr gebuchten Suiten. Im Geschäft also.

Leider hatte uns die Kölner Illustrierte zwar einen Brief, aber keine Spesen mit auf den Weg gegeben. Also trieben wir uns in den Pavillons am Strand auf Empfängen herum. Wenn es keine Empfänge gab oder die Türsteher zu streng waren, gingen wir auf die Terrassen und in die Bars des Carlton und des Majestic, wo ein Milchkaffee teurer war als meine Spitzenbluse aus dem Second-Hand-Laden und wo bei grün lasierten Nüssen und geizig portionierten Getränken Geschäfte gemacht und junge Frauen beäugt oder zu Drinks eingeladen wurden.

Wie die Milchkaffees wurden auch die Drinks umgehend von Kellnern in weißer Livree abkassiert, die mitsamt ihren hochgehaltenen Tabletts im Slalom um die vielen kleinen Tische mit den vielen Geschäftemachern glitten.

Die Terrasse war immerhin so riesig, dass auch wir beständig um diese Tische kurven konnten, ohne uns jemals auf die wenigen freien Plätze zu setzen und in die Verlegenheit zu kommen, etwas bestellen zu müssen. Bis ich den sympathischen Peter Weir erblickte, der soeben mit ein paar Damen Platz genommen hatte. Seinen Film hatten wir am Vortag gesehen.

Ich steuerte auf seinen Tisch zu, lächelte die Damen an – ein weiterer Rat von Andrea: Immer zuerst die Damen anlächeln – und sagte: »Ich möchte Sie interviewen.«

Er war wirklich nett. Er sagte nicht, ich solle ihn in Frieden seinen überteuerten, lauwarmen Kaffee trinken lassen oder mindestens etwas höflicher fragen. Er bat mich lediglich, am nächsten Tag in die Suite 213 im Majestic zu kommen, er wiederholte es freundlich: 2–1-3, dort säßen die Kollegen von der PR-Agentur. Dann fragte er, wie ich hieße, wiederholte auch das Gehörte zweimal und sagte, er werde die Pressebetreuer informieren.