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Melanie Matzies-Köhler, geboren am 28.07.1972 in Berlin, ist Diplom-Psychologin, Fachberaterin für Autismus und Autorin. Sie hat Bücher zum Thema Autismus sowie Patchworkfamilien veröffentlicht, arbeitet beratend für einen Jugendhilfeträger in Berlin und gibt diverse Fortbildungen zu ihrem Themenspektrum. Melanie Matzies-Köhler hat zwei Töchter und lebt derzeit in Falkensee, Brandenburg.

 

Gee Vero, geboren am 28.07.1971 in Grimma, studierte nach dem Abitur Anglistik in Leipzig und hat mehrere Jahre in London gelebt. Sie ist freischaffende Künstlerin und seit 2013 auch als Autorin und Referentin tätig. Sie betreibt u. a. das Kunstprojekt The Art of Inclusion. Die Diagnose Asperger Autismus erhielt sie im Jahr 2009. Bei ihrem Sohn Elijah wurde im Alter von 3 Jahren frühkindlicher Autismus diagnostiziert. Gee Vero lebt mit ihrem Mann und den drei Kindern in der Nähe von Leipzig.

Melanie Matzies-Köhler Gee Vero

 

Meine Brücke zu dir

Menschen inner- und außerhalb des autistischen Spektrums im Dialog

Verlag W. Kohlhammer

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

 

 

 

 

 

 

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030599-1

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030600-4

epub:    ISBN 978-3-17-030601-1

mobi:    ISBN 978-3-17-030602-8

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»Meine Brücke zu dir« (Gee Vero)

 

 

 

 

 

 

Geleitwort zum Buch »Meine Brücke zu Dir«

 

Beim Lesen eines schriftlichen Austausches zwischen zwei Menschen beschleicht mich als Außenstehende stets eine gewisse Unsicherheit, ob ich teilnehmen darf an so viel Intimität.

Was ist nun das Besondere an dieser Lektüre? Hier handelt es sich um einen Briefwechsel zwischen einer jungen Frau mit und einer ohne Autismus. Sie suchen nach Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen statt nach dem »Anderssein«. Ihnen geht es um Wertschätzung und Akzeptanz des Gegenübers. Sie werfen Fragen auf, wie z. B.: »Wofür ist Smalltalk wichtig?«, »Was ist das Selbst?«, »Wie schafft Kunst Barrieren zu überwinden?«. Gee Vero symbolisiert das mit ihren »Art of Inclusion-Bildern«, indem sie halbe »Barefaces« auf Aquarellpapier (bei blinden Menschen wird das halbe Gesicht auf Sandpapier ausgeschnitten) an Menschen verschickt und sie um Ergänzung des unvollständigen Bildes bittet.

Der Bundesverband autismus Deutschland e. V. hat seit seiner Gründung darauf gedrängt, bei Menschen mit Autismus nicht die Defizite zu benennen, sondern sie entsprechend ihrer Begabungen und Neigungen zu fördern und dort arbeiten sowie leben zu lassen, wo sie sich entfalten können. Wir leben in einer Welt des Diktats eines Zeitgeistes, der von Medien, Geld- und Wirtschaftswelt gesteuert wird und uns vorgaukelt, wie »man« zu denken und zu leben hat. Wer dem nicht folgt, wird ins Abseits gestellt.

Ich bewundere daher die innere Unabhängigkeit vieler Autisten, die sich freimachen von überflüssigen Fesseln, ohne dabei soziale Regeln zu vernachlässigen. Machen auch wir uns frei, gebrauchen unseren Verstand und bewahren uns unsere Menschlichkeit.

Dieses Buch gewährt einen tiefen Einblick in die Welt einer Frau mit Autismus. Ich durfte teilnehmen und habe mich beim Lesen sehr wohl gefühlt.

Maria Kaminski (autismus Deutschland e. V.)

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. Geleitwort
  2. Vorwort
  3. 1. Briefwechsel – Thema: Smalltalk
  4. 2. Briefwechsel – Thema: Leben/Sterben: Das Leben ist ein Kreis
  5. 3. Briefwechsel – Thema: Therapie und Wahrnehmung
  6. 4. Briefwechsel – Thema: Schule
  7. 5. Briefwechsel – Thema: Selbst und die anderen
  8. 6. Briefwechsel – Thema: Liebe
  9. 7. Briefwechsel – Thema: Kindheit(serinnerungen)
  10. 8. Briefwechsel – Thema: Selbstkonfrontation
  11. 9. Briefwechsel – Thema: 208
  12. 10. Briefwechsel – Thema: Clown wider Willen
  13. 11. Briefwechsel – Thema: Glaube
  14. 12. Briefwechsel – Thema: Bindung/Trennung-Scheidung
  15. 13. Briefwechsel – Thema: Begegnung
  16. 14. Briefwechsel – Thema: Unsere erste persönliche Begegnung
  17. 15. Briefwechsel – Thema: Freundschaft
  18. 16. Briefwechsel – Thema: Weihnachten und Feiertage
  19. 17. Briefwechsel – Thema: Wie entsteht Autismus?
  20. 18. Briefwechsel – Thema: Kunst und Gee Vero
  21. 19. Briefwechsel – Thema: Gees Zeit in England
  22. 20. Briefwechsel – Thema: Abschied
  23. Literatur zum Weiterlesen

Vorwort

 

Im Juni 2014 fand in Berlin ein Fachtag zum Thema Autismus statt. Besonders neugierig war ich auf eine der Referentinnen namens Gee Vero, eine autistische Referentin und Künstlerin.

Die Frau, die ich sah, beeindruckte mich sehr. Ich hatte selten einen so witzigen und anschaulichen Vortrag zum Thema Autismus gehört. Gee Vero sprühte vor Begeisterung für ihr Thema und sandte ein unablässiges Strahlen und Lachen in die Menge. Sie brachte ihre Erklärungen nachvollziehbar und verständlich für alle vor, um am Ende darzulegen: Wir sind alle vor allem eins: Menschen. Autisten sind in vielen Dingen nicht anders als Nicht-Autisten, aber sie verhalten sich oftmals anders als die Mehrheit der Menschen es aufgrund einer anders gelagerten Wahrnehmung erwarten würde. Diese andere Wahrnehmung hat Gee Vero in ihrem Buch »Autismus – (m)eine andere Wahrnehmung«1 beeschrieben.

Gee ließ mich nicht mehr los. Ich suchte nach Informationen über sie im Internet, fand viele Beispiele ihrer Kunst und befasste mich mit ihrem »Art of Inclusion«-Projekt. Das Projekt ist ein Appell, um Respekt, Zusammengehörigkeit und Gleichberechtigung zwischen allen Menschen in unserer Gesellschaft voranzubringen. Gee konnte sogar Udo Lindenberg, Angela Merkel und Ben Kingsley dazu bewegen, eine Gesichtshälfte zu ergänzen. Sie zeichnet dabei eine Hälfte vor, die andere Person ergänzt sie. So entstehen gemeinsameWerke, die Zusammengehörigkeit ausdrücken und Akzeptanz für Anderssein erreichen wollen.

Ich nahm per E-Mail Kontakt zu Gee auf. Rasch entstand ein intensiver Mail- und Briefwechsel und schnell erkannten wir, dass es uns beiden in unserer Arbeit um ein ähnliches Anliegen geht: Wir möchten Menschen zusammenführen. Wir betrachten uns beide als »Brückenbauerinnen«, die die eine Wahrnehmung mit der anderen verbinden wollen. Es geht mir in meiner persönlichen Arbeit nicht darum, einen Autisten zum Nicht-Autisten zu machen, sondern um Wertschätzung und Akzeptanz des jeweiligen Menschen. Genau wie Gee das in ihren Werken und Vorträgen immer wieder betont.

In unseren Briefwechseln ging es schon früh um allgemeine Lebensthemen oder um Fragen, die im Zuge meiner Arbeit mit autistischen Kindern aufkamen. Die Antworten, die Gee mir gab, waren oft so erstaunlich und interessant, dass ich sie mit anderen teilen wollte. Die Idee für das gemeinsame Buchprojekt war geboren!

Gee fand es reizvoll, sich auf diese Weise die nicht-autistische Welt tiefergehend zu erschließen und meine Erklärungen auch anderen autistischen Menschen zukommen zu lassen. Die anfängliche Brief-/Mailform behielten wir bei. Die Briefform wählten wir, weil sie uns bekannt war und Gee sich besser auf schriftlichem Weg austauschen kann als über direkte, persönliche Kommunikation (im Gespräch). Zu unserer großen Freude fand der Kohlhammer Verlag unsere Idee genauso spannend wie wir und willigte in das Projekt ein.

Liebe Leser, unsere Briefe sind kein Hin und Her wie beim Pingpong, wo darauf gewartet wird, wer den nächsten Ball nicht kriegt. Wir spielen in einem Team! Ob mit oder ohne Autismus, Gee und ich sind nahezu gleichaltrige Frauen. Jede von uns kann aus einem umfangreichen Fundus an Lebenserfahrung schöpfen. Seit unser Briefwechsel für den Kohlhammer Verlag zu Ende ging, haben wir uns bereits zwei weitere Male privat getroffen und unsere Beziehung auch auf dieser Ebene ausgebaut. Möglicherweise werden wir die Fortsetzung unserer Geschichte in einem weiteren Band aufzeichnen. Wir schreiben von »autistischen« und »nicht-autistischen« Menschen nur deshalb, weil diese unterschiedlichen Wahrnehmungswelten durch diese Begrifflichkeiten besser voneinander zu unterscheiden sind. Diese Trennung ist aber an sich eine künstliche, da wir alle in erster Linie Menschen sind. Autismus ist und bleibt eine andere Wahrnehmung, die zu einem anderen Verhalten in der sozialen Interaktion und in der Kommunikation führt. Autismus ist eine andere Art des menschlichen Seins, die das Verständnis und die Akzeptanz der Gesellschaft benötigt.

Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen!

Berlin, im Sommer 2016, Melanie Matzies-Köhler und natürlich Gee Vero

1     Gee Vero, Autismus – (m)eine andere Wahrnehmung. Feedaread.com 2014.

 

 

 

 

 

 

1.         Briefwechsel – Thema: Smalltalk

 

15.05.2015

Liebe Mel,

wusstest du, dass es zu Smalltalk jetzt auch schon ein Verb gibt? Wir müssen also nicht mehr nur einfach plaudern, sondern können cool smalltalken. Aber ganz egal, wie wir es nennen, Smalltalk ist für mich keineswegs nur eine leichte Unterhaltung, sondern eine ziemlich komplizierte Angelegenheit.

Fängt man einen Briefwechsel eigentlich auch mit einem Smalltalk an? Beschnuppert man sich auch auf schriftlicher Ebene oder ist dies einzig dem mündlichen Austausch vorbehalten?

Ich habe das Wort Smalltalk schon oft nachgeschlagen. Aber alles Recherchieren hat mir bisher nicht viel dabei geholfen, mir den Sinn des »leichten Gesprächs« ausreichend zu erschließen.

Ich verstehe es so, dass Smalltalk ein verbaler Austausch ist, der auf einem gewissen Level gehalten werden muss. Es geht dabei nicht primär um das Besprechen tiefgründiger Inhalte und auch nicht um das Lösen von Problemen. Smalltalk ist weit weg vom jeweiligen Selbst der sich Unterhaltenden. Es scheint mir, dass sich die Gesprächspartner beim Smalltalk auf einem Terrain bewegen, das von allen als sicher empfunden wird. Aber woher weiß ich denn, was für einen anderen Menschen sicher ist? Ist Smalltalk der Austausch von Dingen, die man entweder schon weiß oder die einen nicht weiter interessieren? Zählen Klatsch und Tratsch auch zu Smalltalk? Ist das ein eher bösartiger Smalltalk?

Was mir einfach nicht in den Kopf will ist, dass und warum man wertvolle Zeit einfach so verstreichen lässt. Anstatt sich über wirklich wichtige Dinge auszutauschen, Probleme anzusprechen und vielleicht sogar zu lösen, wird sich hinter Masken versteckt und immer wieder nach ähnlichen Strickmustern palavert. Ich habe das Gefühl, dass die Gesprächsteilnehmer das durchaus auch wissen und damit bewusst in Kauf nehmen. Oder irre ich mich da? Warum dieser langweilige stagnierende Wortabklatsch, wenn man stattdessen auch einen Mini-Thinktank abhalten könnte? Liegt es daran, dass der Smalltalk weniger Energie verbraucht, weil er unterbewusst abläuft? Ein Thinktank würde, wie der Name schon sagt, Denken involvieren, was eine bewusste Handlung ist, bei der jedes Gehirn sofort mehr Energie verbraucht.

So viel zu meiner Theorie. Nun zur Praxis. Über Smalltalk reden ist nicht schwer, einen Smalltalk halten dagegen sehr. So jedenfalls ist das bei mir. Im Smalltalk geht es um nicht so wichtige Dinge, richtig? Warum versagt dann mein bester Smalltalk-Eröffnungssatz »Das Jahr 208 war ein Schaltjahr und fing mit einem Freitag an« immer wieder? Das ist doch für die meisten nicht-autistischen Menschen eher unwichtig, oder nicht? Dieser Satz hat sich aber bislang allenfalls als ein Endsatz bewährt. Jedes Mal, wenn ich den bringe, ist das Gespräch vorbei. Wie hättest du denn darauf reagiert?

Fragen und Antworten müssen trotz der Leichtigkeit des Gespräches ja auch immer noch irgendwie korrespondieren. Sonst würde der Smalltalk wohl endgültig den Sinn verlieren. Was aber genau ist der Sinn von Smalltalk? Sich unterhalten, ohne sich zu nah zu kommen? Zu tanzen, ohne sich auf die Füße zu treten? Sich zu begegnen, ohne die Maske abnehmen zu müssen? Liegt der Sinn eher in der Handlung und nicht im Inhalt des Ausgetauschten? Machen gute Freunde auch Smalltalk oder reden die schon gleich tiefer miteinander? Ab wann ist es dann kein Smalltalk mehr? Kann ich an Smalltalk-Verhalten den Stand der Beziehung meines Gegenübers zu mir erkennen?

Gee

15.05.2015

Liebe Gee,

soeben erreichte mich deine E-Mail mit den Fragen zum Smalltalk. Vielen Dank dafür.

Ja, ich fange wohl auch einen Briefwechsel mit einer Prise Smalltalk an, zumindest meistens. Wir beide brauchen das nicht mehr, aber andere Personen könnten sich vielleicht daran stören und es als unhöflich empfinden, wenn man einen Brief oder eine E-Mail so beginnt, dass man gleich mit der »Tür ins Haus fällt«. Manchmal kommuniziert man ja mit Ämtern, Krankenkassen, Lehrern über E-Mails, da spielt diese Form der Höflichkeit schon eine Rolle.

Aber nun zu deinen konkreten Fragen, die auch für mich immer wieder spannend sind, weil ich mich mit so selbstverständlichen Themen intensiver befassen und es mir selbst erklären muss.

Smalltalk hat – ganz allgemein gesehen – eine soziale Funktion. Man macht ihn mit Menschen, die man kennenlernen möchte, zu denen man in Beziehung bleiben will oder die man lange nicht gesehen hat. Vielleicht ist der Smalltalk so eine Art »Aufwärmphase«. Wie bei Sportlern, die sich für ihre eigentliche Aufgabe, zum Beispiel ihren Wettkampf, zunächst aufwärmen müssen, um dann »loszulegen«. Beim Smalltalk geht es erst einmal nicht darum, seine Maske fallen zu lassen. Menschen sprechen nicht gleich über Krankheiten, Depressionen, Ängste, persönliche Schicksalsschläge oder hochtrabende Themen. Smalltalk ist ja ein »kleines Gespräch«. Klein nicht zwangsläufig im Sinne von »kurz«, sondern eher im Sinne von »seicht«/»belanglos«. Es sind also Themen, die keine große Denkleistung erfordern, vielleicht tatsächlich im »Energiesparmodus« abgehalten werden, aber immer mit etwas unterschiedlichen Zielen:

•  Person überhaupt kennenlernen (vielleicht macht sich das Unbewusste hier an die Arbeit, um zu »scannen«, ob jemand zu einem passt oder nicht)

•  Person zu einer bestimmten Zeit nicht mit tiefschürfenden Themen ansprechen (zum Beispiel, wenn jemand noch müde ist oder gerade wenig Zeit hat), aber um dennoch den Kontakt zu halten

•  Einen höflichen Gesprächseinstieg finden, um sich dann weiterführend unterhalten zu können (zum Beispiel bei einem Vorstellungsgespräch oder beim Arzt oder während eines Versicherungsgesprächs)

•  Wenn man Zeit überbrücken muss und eher zufällig aufeinander trifft, zum Beispiel im Warteraum eines Arztes oder im Flur in der Kita oder beim Friseur

Viele Menschen reden einfach gern. Über Gott und die Welt. Über Klatsch und Tratsch. Gerade beim Friseur, im Warteraum oder im Supermarkt. Tratsch und Klatsch hat dabei die Funktion, dass Menschen sich besser fühlen, wenn sie darüber sprechen, wie furchtbar andere sind oder wie schlimm es anderen geht. Klatsch und Tratsch hat also eigentlich sogar eine positive Funktion für viele.

Das gibt es nämlich auch noch: Den Smalltalk, der zwischen Tür und Angel zwischen bereits bekannten Personen stattfindet. Auch hier ist es so eine Art Überbrückungsfunktion, vielleicht sogar wirklich ein Energiesparmodus. Stell dir vor, eine Person kommt morgens ins Büro. Alle Kollegen und Kolleginnen sind auch gerade erst angekommen und vielleicht noch müde oder sie bereiten sich auf ihre Arbeit für den Tag vor. Jetzt kommst du und sagst: »Wusstet ihr eigentlich, dass das Jahr 208 ein Schaltjahr war und mit einem Freitag anfing?«. Wäre ich eine deiner Kolleginnen, würde ich erst erstaunt aufblicken und vielleicht höchstens ein »Aha« hervorbringen. In der Schule würde man sagen: »Thema verfehlt«. Ich wäre vielleicht sogar etwas irritiert.

Als Kollegin will ich morgens nur hören: »Guten Morgen! Gut geschlafen?« oder »Morgen! Heute scheint die Sonne ja schön«. Daraufhin müsste ich nur kurz antworten: »Ja, hab gut geschlafen« oder »Freu mich schon auf den Feierabend«. Abgesehen davon, dass ich sowieso nicht wüsste, ob das Jahr 208 mit einem Freitag anfing oder ein Schaltjahr war. Ich weiß, dass du so ein Gespräch anfangen willst, weil dich das Jahr 208 interessiert (du musst mir bei Gelegenheit bitte noch mal genauer schreiben, warum), aber dieses Interesse teilen die meisten Menschen wohl leider nicht, wobei ich nicht für alle sprechen kann, denn ich kenne auch einige nicht-autistische Menschen, die das wahrscheinlich grundsätzlich interessiert, weil sie Zahlen mögen.

Gute Smalltalk-Themen sind zum Beispiel:

•  Etwas dazu sagen, was jemand gerade tut (zum Beispiel: »Was liest du da gerade?«)

•  Ein Kompliment machen (»Schöne Bluse heute!«)

•  Wenn man an einem Ort ist, an dem etwas Gemeinsames stattfindet, dann dazu etwas sagen (»Sie haben hier ja heute alles schön für uns dekoriert.«)

•  Etwas zu einer Fernsehsendung vom Vortag sagen (»Hast du gestern auch xy gesehen?«) oder zu einem Film, der gerade im Kino angelaufen ist (»Hast du schon den neuen Film von … gesehen?)

•  Etwas zum Wetter oder Verkehr sagen

•  Wenn man die Person schon näher kennt, etwas über die Familie fragen, was belanglos ist oder über die Interessen der Person (»Wie geht es deiner Frau/deinen Kindern?«/»Warst du wieder mal beim Fußball?«

Wenn du dann eine Person schon gut kennst, musst du auch keinen Small Talk mehr machen, dann kannst du über alle Themen sprechen, die dich/euch bewegen. Jedenfalls so allgemein gesagt. Es ist schwer für mich, das alles genau auf den Punkt zu bringen, da es immer mal so oder so sein kann. Das ist ja immer das, was dir so schwer fällt, da flexibel reagieren und einschätzen zu können, in welchem »Modus« jemand gerade ist. Mich kannst du auch nicht zu jeder Tageszeit mit tiefschürfenden Themen ansprechen, Selbst Eheleute/Paare/enge Freunde smalltalken zwischendurch mal. Die meisten wechseln wohl alle ständig mal hin und her zwischen Smalltalk und »wichtigen/geistigen« Themen.

Ich weiß aus meinen Seminaren, dass viele Menschen Smalltalk nicht mögen. Dass es sie auch nicht immer interessiert, wie es dem Gegenüber nun wirklich geht oder was die Ehefrau oder Kinder so machen. Es geschieht aus Höflichkeit und um eine Beziehung zu beginnen oder aufrecht zu erhalten. Das Gegenüber fühlt sich wahrgenommen und sieht darüber hinweg, dass den anderen das vielleicht gar nicht so genau interessiert in diesem Moment. Bei Verkäufern weiß man ja auch, dass sie einen nicht mit diesem Dauergrinsen beglücken, weil sie einen so nett finden, sondern weil sie etwas verkaufen wollen. Trotzdem freut der Effekt. Die meisten Menschen werden gerne angelächelt.

Wie ist das denn bei dir? Wenn du redest, redest du dann immer nur »gehaltvoll« mit jemandem? Bist du permanent im »Philosophie«-Modus?

Hoffentlich wurde dir der Sinn und Zweck des Smalltalks etwas deutlicher. Ich freue mich auf eine Antwort. Viele liebe Grüße von Mel (PS: Das ist übrigens auch so eine Abschiedsformulierung für einen Brief, der somit gut abgeschlossen ist)

16.05.2015

Liebe Mel,

wow, das ist ganz schön viel Info und es beweist mir nur wieder, wie wichtig es ist, mich als Autist mit dem Thema Smalltalk auseinanderzusetzen.

Wenn ich eine E-Mail schreibe, dann schreibe ich immer zuerst das, was ich dem anderen am dringendsten vermitteln möchte, also das, was mir wichtig ist. Danach schmücke ich die Mail dann aus, das heißt, ich überlege mir eine passende Anrede und bedanke mich für das Anschreiben. Also schon ähnlich, wie du es machst, nur eben zeitlich verschoben. Die passende Anrede zu finden ist manchmal echt verzwickt, da es nur positive Anreden zu geben scheint. Gerade bei einem Beschwerdebrief oder einem Widerspruch ans Amt widerstrebt es mir eigentlich mit »Sehr geehrte …« zu beginnen. Aber da ich gelernt habe, dass und warum es so sein muss, mache ich es. Da beginnt dann wohl mein Verbiegen. Es fällt mir leichter, seit ich verstanden habe, dass mein Verhalten immer eine Konsequenz haben wird und dass ich diese Konsequenz schon durch eine kleine Änderung meines Verhaltens beeinflussen kann. Es gibt kein Falsch und kein Richtig, es gibt nur die Konsequenz. Also beende ich das Schreiben dann auch mit »freundlichen Grüßen« und hoffe, dass es nicht immer wörtlich genommen wird. Bei einem privateren Austausch frage ich nach dem Wohlbefinden, danke für die Nachricht und lasse den anderen wissen, dass ich mich über eine Rückmeldung freuen würde. Manchmal gibt es auch wetterabhängige sonnige, windige oder regnerische Abschiedsgrüße.

»Vielleicht ist der Smalltalk so eine Art ,Aufwärmphase‹. Wie bei Sportlern, die sich für ihre eigentliche Aufgabe, zum Beispiel ihren Wettkampf, zunächst aufwärmen müssen.«

Beim Sport macht das Sinn, aber warum müssen sich Menschen »aufwärmen«, ehe sie miteinander sprechen können. Ich kann entweder mit jemandem reden oder ich kann es nicht. Ich weiß nicht, woran es liegt und kann auch nicht vorhersagen, bei welchen Menschen es dann wie sein wird. Daraus entsteht zum Teil auch meine Angst vor den Begegnungen mit anderen Menschen. Ich werde mir die Sache mit dem »Aufwärmen« merken müssen. Ich kann es vielleicht immer noch nicht besser verstehen, aber es fällt mir leichter, es zu akzeptieren.

»Person kennenlernen (vielleicht macht sich das Unbewusste hier an die Arbeit, um zu ,scannen‹, ob jemand zu einem passt oder nicht)«

Das wäre eine durchaus plausible Erklärung für mich. Dann ginge es nur um dieses erste »Beschnuppern«. Aber dann dürfte es doch nur ein- oder zweimal stattfinden und nicht ständig?

»Person zu einer bestimmten Zeit nicht mit tiefschürfenden Themen ansprechen (zum Beispiel, wenn jemand noch müde ist oder gerade wenig Zeit hat), aber dennoch den Kontakt halten«

Woher weiß ich, ob jemand gerade müde ist oder keine Zeit hat?

»Einen höflichen Gesprächseinstieg finden, um sich dann weiterführend unterhalten zu können (zum Beispiel bei einem Vorstellungsgespräch oder beim Arzt oder während eines Versicherungsgesprächs)«

Also wieder beschnuppern? Smalltalk als Lösung, wenn man Zeit überbrücken muss und eher zufällig aufeinandertrifft, zum Beispiel im Warteraum eines Arztes, im Flur in der Kita oder beim Friseur. Das kommt mir so vor, als nutze man den anderen als eine Art Zeitvertreib. Das würde aber erklären, warum das Smartphone so wichtig ist. Technischer Smalltalk via WhatsApp. Das hat den Vorteil, dass man sich den Gesprächspartner aussuchen und ihn bei Bedarf einfach und schnell weglicken kann. Saubere Lösung.

Also kann ich mich darauf verlassen, dass beim Smalltalk, beim Aufwärmen wirklich keiner über mehr als das Wetter oder allgemeine leichte Themen sprechen möchte? Was ist mit tiefgründigen Themen, die einen selbst und den anderen nicht persönlich betreffen, wenn zum Beispiel ein schlimmer Unfall passiert ist. Darüber reden die Leute doch meistens sehr gern und auch ausführlich. »Hast du schon gehört, der Müller hatte einen Unfall«. »Weißt du schon, dass der Schulze entlassen worden ist?« oder »Soundso lassen sich scheiden«. Ist das auch Smalltalk? Was Leichtes ist es zwar nicht, aber doch eine sichere Zone, denn es geht ja nicht um uns, sondern um andere. Darauf läuft es doch hinaus, oder? Es soll weit weg von uns (selbst oder unserem Selbst) sein, dann ist es nicht gefährlich und die Worte sprudeln nur so hervor. Bei mir ist es genau anders herum. Schon der Gedanke an Smalltalk inklusive Blickkontakt während 70% der Gesprächszeit lähmt mich so sehr, dass ich schon gestresst in die Situation hineingehe. Um zu verhindern, dass ich komplett verstumme, muss ich mich dann zwingen, irgendetwas zu sagen. Genau dafür habe ich meine sogenannten »Smalltalk-Eröffnungs- bzw. Stille-Unterbrechungs-Sätze« wie den über das Jahr 208. Für mich ist ganz wichtig, dass ich überhaupt etwas sage und das tue ich dann mit solchen Sätzen. Weil ich so gestresst bin, vergesse ich oft auch, dass mein Gegenüber mit einer solchen Aussage wahrscheinlich nicht viel anfangen kann. Aber das ist in dem Moment zweitrangig. Ich denke, ich muss mir wirklich dringend passendere Sätze suchen und antrainieren, damit das Gespräch am Laufen gehalten werden kann und sich mein Gegenüber weiterhin mit mir wohl fühlt. Ansonsten wird er oder sie sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht auf die nächste Begegnung freuen. Allerdings habe ich auch schon die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die von meinem Autismus wissen, solche 208-Sätze geradezu erwarten und sich dann entsprechend darüber freuen. image So wie man einen Franzosen auch mal französisch sprechen hören will, auch wenn er perfekt Deutsch kann.

Vielen Dank für deine zahlreichen Vorschläge zum Thema Smalltalk, die ich mir definitiv noch einmal genauer anschauen werde. Ich muss mich immer wieder daran erinnern, dass ich mich bis zu einem bestimmten Punkt auch für den anderen interessieren muss, wenn ich adäquat mit ihm interagieren möchte. Eigentlich ist mir gleich, was jemand gestern im Fernsehen gesehen hat oder welches Buch er gerade liest. Werde ich selbst allerdings nach so etwas gefragt, dann beginne ich meist einen längeren Monolog zu halten, was beim Smalltalk ja auch eher hinderlich ist. Das ist ein weiteres Problem.

Du schreibst:

»In der Schule würde man sagen: ,Thema verfehlt‹. Ich wäre vielleicht sogar etwas irritiert.«

Nicht nur der 208er Satz läuft unter »Thema verfehlt« … – so könnte ich durchaus auch meine Autobiographie nennen. image Aber ja, ich verstehe, was du meinst. Also frage ich, ob jemand gut geschlafen hat, obwohl ich das gar nicht wissen will? Und was, wenn derjenige nicht gut geschlafen hat? Was, wenn ihn Alpträume gequält haben oder er die ganze Nacht mit Durchfall auf dem Klo verbracht hat? Kann ich mich darauf verlassen, dass er dann trotzdem sagt, er habe gut geschlafen? Was für einen Sinn macht das denn? Wäre es denn nicht besser, wenn ich ihm etwas über die innere Uhr und Schlafrhythmus erzählen würde, damit er morgens nicht mehr so müde ist? Ich kann außerdem Menschen sehr gut erspüren, d. h. ich fühle, wenn sie mich anlügen. Dann fühle ich, dass es ihnen schlecht geht und höre aus ihrem Mund aber das Gegenteil. Das ist sehr schlimm für mich. Solche Situationen und solche Menschen versuche ich zu meiden. Leider ist das bei ganz vielen Menschen so … – das Selbst weint, aber das Ich, also die Maske lacht. The show must go on. Man kann jedoch nicht immer der Clown sein. Und wenn jemand sich schon am Morgen auf den Feierabend freut, ist er dann nicht im falschen Job unterwegs?

»Gute Smalltalk-Themen sind zum Beispiel: Ein Kompliment machen (›Schöne Bluse heute!‹)«

Da würde ich dann denken, dass der Pullover von gestern nicht schön war. Ein solcher Satz würde gleich mehrere Tabs in meinem Hirn öffnen: Was ist schön? Wie können wir voneinander wissen, was für uns schön ist? Damit wäre ich dann eine ganze Weile, wenn nicht den gesamten Tag beschäftigt.

»Wenn man an einem Ort ist, an dem etwas Gemeinsames stattfindet, dann dazu etwas sagen (›Sie haben hier ja heute alles schön für uns dekoriert‹)«

Aber wenn ich das sehe, dann sieht es der andere ja auch. Warum soll ich es ihm dann noch mal sagen? Bedeutet Smalltalk etwa auch, sich das Offensichtliche mitzuteilen?

Ich hänge wohl auf dem tiefgründigen Gesprächslevel fest. Es fällt mir unheimlich schwer, über Belangloses zu plaudern. Ich muss mich immer wieder bewusst daran erinnern und das kostet Kraft und Energie, die mir dann anderswo wieder fehlen. Woran kann ich erkennen, wen ich wann wie und wie oft zu welchem Thema ansprechen kann?

»Bei Verkäufern weiß man ja auch, dass sie einen nicht mit diesem Dauergrinsen beglücken, weil sie einen so nett finden, sondern weil sie etwas verkaufen wollen.«

Bei vielen Verkäufern und Menschen im Dienstleistungsgewerbe merkt man, dass sie zwar wissen, welche Regeln es im Umgang mit dem Kunden hinsichtlich Höflichkeit und Smalltalk gibt, aber dass sie diese nicht mehr wirklich ernstnehmen. Die schauen einen zum Teil gar nicht an, unterhalten sich über drei Kassen hinweg mit der Kollegin und zum Abschluss schieben sie noch ein gelangweiltes »Schönen Tag noch« nach und dann kommt schon der nächste dran. Automatisierte Abfertigung anstatt Kundenfreundlichkeit. Deshalb kam mir schon so manches Mal die Idee, Sozialtraining für Nicht-Autisten anzubieten, die in öffentlichen Bereichen mit Kundenverkehr arbeiten. So eine Art Auffrischkurs, wie es ihn nach dem Führerscheinentzug wohl auch gibt. Solch Verhalten irritiert mich als Autisten nämlich sehr. Ich eigne mir diese sozialen Regeln an, hauptsächlich, damit sich die Gesellschaft wohler mit mir fühlt, nur um dann die einzige zu sein, die sich daranhält. Das macht mich ganz schnell wieder zum Außenseiter. image

Ich glaube nicht, dass ich gut und sicher zwischen Smalltalk und Tiefgründigem wechseln kann, aber dazu müsste man wohl Hans2 befragen. Ich weiß jedenfalls, dass ich für den Geschmack meiner Familie oftmals zu früh am Tag zu tiefgründige Dinge besprechen will. Aber es gibt doch so viele wichtige Dinge zu besprechen und unsere Redezeit ist so begrenzt. Letztens habe ich Hans am Sonntagmorgen gegen 7 Uhr gefragt, warum Menschen andere Menschen kritisieren und was genau Kritik eigentlich ist. Er war noch im Aufwachmodus, was er mir dann zum Glück auch ganz deutlich gesagt hat. Klare Ansagen, das hilft. Also haben wir dann darüber gesprochen, wie gut der neue Käse schmeckt, obwohl wir uns diese gustatorische Wahrnehmung verbal gar nicht mitteilen können. Smalltalk eben. image

Ja, ja, der Abschied … – ich bin generell nicht gut im Verabschieden oder Beenden. Als Kind bin ich aus einem Gespräch einfach herausgegangen. Komisch, ich weiß. Bis heute schaffe ich das Verabschieden nicht wirklich. Meist sage ich einfach »ich bin jetzt fertig« oder wenn ich überfordert bin auch »ich will da nicht mehr drüber reden«. Beides nicht wirklich passend und vielleicht sogar schon unhöflich, aber immer noch besser als einen Meltdown3 zu haben beziehungsweise nicht mehr adäquat reagieren zu können. Ich bin Autist und bleibe es auch. Ich kann mich nur so weit verbiegen, ohne zu zerbrechen. Manchmal ist weggehen dann der einzige Weg, der für beide Parteien gut ist. Wenn nicht-autistische Menschen mehr über Autismus wüssten, dann würden sie dies besser verstehen und vielleicht auch akzeptieren können. Deshalb muss ich fast ständig über all diese Dinge reden und wir müssen versuchen, uns gegenseitig die jeweilige Lebenswelt zu erklären. Ich danke dir, Mel, dass du dies mit mir tust. Menschen wie dich, die nenne ich Brückenmenschen. Es sind Menschen, denen es leichter fällt, eine Brücke zu einem Menschen zu bauen, der anders ist als sie selbst. Solche Menschen machen mir Mut und geben mir Hoffnung, dass wir irgendwann wirkliche Inklusion haben können, weil wir zur Akzeptanz gefunden haben.

Ich grüße dich und freue mich schon auf richtige tiefgründige Gespräche mit dir,

Gee

16.05.2015

Liebe Gee,

auf diesen Brief muss ich sofort noch mal antworten. Mich hat dein Satz »So könnte ich meine Autobiographie« nennen, traurig gestimmt. Das mit dem verfehlten Thema hab ich nur auf den Einstiegssatz für einen Smalltalk bezogen, und du auf dein komplettes Leben. Er war auch etwas unglücklich gewählt. Tut mir leid! Sollte salopp, witzig klingen.

Auch stimmt es mich etwas nachdenklich, dass du alles so ganz genau erfragst, um es dann anzuwenden, damit die anderen sich mit dir wohlfühlen. Ich finde es toll, dass du das alles lernen möchtest und bin für dich da. Aber ich bin auch dafür da, um anderen aufzuzeigen, dass sie dich fragen sollen, wenn etwas »komisch« erscheint. Dass sie versuchen sollen, dich besser zu verstehen. Nicht nur urteilen, sondern verstehen. Dafür ist unser Brückenbau da. Du verbiegst dich eh schon sehr viel.

Vielleicht kannst du eher Fragen stellen und Erklärungen erbeten als zu versuchen, alles zu verstehen, was andere intuitiv machen. Frage die Gesprächspartner einfach, ob du jetzt zu einem anderen Thema wechseln kannst oder was auch immer du wissen möchtest.

Smalltalk halten ist ein bisschen so, wie sich für Geschenke bedanken, die einem nicht hundertprozentig gefallen haben. Wenn ein Freund/eine Freundin mir Blumen mitbringt, die ich nicht leiden kann, sage ich nicht: »Die Blumen gefallen mir nicht. Tausche sie bitte um!«, sondern ich sage. »Dankeschön, das freut mich aber!«. Mir gefällt diese Blumensorte nicht, aber ich freue mich, dass der Freund/die Freundin mir überhaupt welche mitgebracht hat. Ich weiß, dass ihn/sie das freut, denn er/sie wollte mir eine Freude machen. Würde ich also sagen: »Tausch die Blumen lieber um«, dann wäre er/sie traurig und das möchte ich nicht und das wäre unfair.

Da nicht zu jeder Tageszeit ein tiefschürfendes Gespräch angezeigt ist und ich ein solches auch gar nicht mit jeder Person in meinem Leben führen kann oder will, befinde ich mich mit Smalltalk immer auf sicherem Terrain wie mit dem »Dankeschön, das freut mich aber« in Bezug auf die Blumen. Je nachdem, wie die Beziehung sich danach entwickelt, leite ich zu gewichtigeren Themen über.

Ich bekomme durch deine Briefe immer wieder einen Eindruck, wie zermürbend dieses Rätselraten für dich ist. Übrigens zeigt dein Brief auch eins: Du bist viel sensibler als viele nicht-autistische Menschen. Die merken oft gar nicht, ob es einem eigentlich schlecht geht oder nicht, wenn man auf die Frage »Wie geht’s?« mit »Gut« antwortet. Sie merken es nicht oder wollen es eben auch gar nicht wirklich wissen und »überhören« den Unterton. Vielleicht ist da deine Sensibilität sogar manchmal eine Stolperfalle? Dass du das nicht einfach »überhören« kannst?

Ich ende an dieser Stelle mit: Du bist super, wie du bist!!!

Mel

16.05.2015

Liebe Mel,

jetzt keine Prise Smalltalk, stimmt’s? Wir antworten uns am selben Tag und es ist davon auszugehen, dass es uns immer noch gut geht und sich das Wetter nicht großartig geändert hat. Wenn ich jetzt mit »Wie geht es dir?« begonnen hätte, dann wäre das schon wieder komisch gewesen. Ich beginne zu verstehen. Aber warum stimmt dich mein Buchtitel traurig? Er bezeichnet nur, wie die Gesellschaft mich bisher wahrgenommen hat, er definiert deshalb doch nicht mich. Und irgendwie ist es schon so, dass ich oftmals das Thema verfehlt habe. Das ist an sich ja nicht weiter schlimm. Dass es mir bis vor kurzem nie erklärt wurde bzw. dass ich um keine Erklärung bitten konnte, das ist schlimm. Aber nun habe ich ja unseren spannenden Austausch hier. Ich ändere den Titel der Autobiographie hiermit zu »Thema verfehlt mit Aussicht auf Besserung«. Ich empfinde es immer als hilfreich, wenn ich meine Schwachstellen erkenne, weil ich erst dann die Möglichkeit habe, etwas zu ändern. Wenn ich es denn ändern möchte. Also Vorhang auf und ein Applaus für die intrinsische Motivation.

Ich lebe in einer nicht-autistischen Gesellschaft, die sich erst auf dem Weg zur Akzeptanz des Anderssein von anderen Menschen befindet. Ich weiß, dass diese Gesellschaft Grenzen hat, was Toleranz angeht. Ich erlebe es am eigenen Leib, auch bei Menschen, die mich kennen und von meinem Autismus wissen. Da die Menschen bis zu 95% der Zeit unterbewusst agieren, verfallen sie immer wieder sehr schnell in ihre alten Denkmuster und Handlungsweisen. Es dauert eben, bis das Gehirn neue Wege beschreitet, weil es mehr Energie kostet, als einfach weiterhin auf den altbekannten Pfaden zu wandeln. Ich muss die Veränderung sein, die ich haben möchte. Ich verbiege mich. Stimmt. Aber ich tue es für mich, nicht für die anderen. Das ist ein großer Unterschied. Und dass ich mich verbiegen muss, das habe ich schon sehr früh begriffen. Das war auch gar nicht schwer zu verstehen. Da brauchte ich mir nur die Bäume im Wind anzuschauen. Die, die sich nicht verbogen haben, sind gebrochen. Wenn ich eines nicht wollte, dann am Leben zu zerbrechen. Also habe ich das Verbiegen erlernt und ich habe auch gelernt, mich nach jedem Sturm wieder aufzurichten. Verbiegst du dich nicht auch? Wenn du dich ankleidest, ziehst du da immer an, was dir grad gefällt, oder denkst du nicht auch darüber nach, ob das Outfit zum Termin passt oder den Menschen gefällt, die du zu treffen planst? Gibt es nicht auch Dinge, die du gern tun würdest, dir aber verkneifst, weil du die Reaktion deiner Umgebung erahnen kannst und somit die Konsequenz deines Verhaltens vorhersagen kannst und das Ganze dann abbrichst?

Ich glaube, dass Nachfragen eine wirklich gute Kompensationsstrategie ist … Wer nicht fragt, bleibt dumm … aber manchmal ist es schwer, weil ich mittlerweile genug Fremdwahrnehmung habe, dass ich weiß, dass ein erwachsener Mensch all das eigentlich wissen müsste. Dann weiß ich, dass ich Dinge frage oder tue, für die sich ein nicht-autistischer Mensch vielleicht schämen würde. Mir macht das nichts aus, aber dann schämt sich am Ende mein Gegenüber für mich und beginnt sich mit mir unwohl zu fühlen. Ich will also oft fragen, tue es aber dann aus diesem Grund nicht. Als ich noch weniger Fremdwahrnehmung hatte, da habe ich diese Dinge einfach getan … – sozusagen ohne Rücksicht auf Verluste. Ich wusste es nicht besser. Jetzt weiß ich es besser, aber es behindert mich trotzdem oder erst recht. Die Devise muss dennoch lauten: Nicht verzagen, sondern fragen.

Zum Thema Blumen möchte ich meine Blumen-Erfahrung mit dir teilen. Nach meinen Vorträgen habe ich anfangs fast immer Schnittblumen bekommen. Als Dankesgeste, wie du schreibst. Ich habe damit allerdings folgende Probleme: Diese Blumen haben nur noch ein sehr begrenztes Leben, d. h. sie werden verwelken, also sie sterben und das in meiner Obhut. Egal wie gut ich sie pflege. Ich verstehe nicht, warum man mir ein solches Geschenk macht. Zum Dank für meinen tollen Vortrag bekomme ich etwas, das vor meinen Augen dahinsiechen wird. Topfpflanzen wären noch okay. Aber einen Blumenstrauß zu bekommen macht mich traurig, weil ich nicht möchte, dass für mich oder wegen mir deren Leben verkürzt wird. Ich gebe den Menschen mit meinen Vorträgen ja auch etwas Dauerhaftes. Warum bekomme ich zum Dank etwas so Vergängliches? Schnittblumen, da sie sich ja schon im Sterbeprozess befinden, brauchen außerdem Wasser, um wenigstens noch ein bisschen zu erfreuen. Also stehen sie während meines Vortrages natürlich im Wasser und werden diesem erst entnommen, wenn es Zeit für das Dankeschön ist. Sie sind dann genau dort tropfnass, wo ich sie anfassen muss. Ich aber mag das plötzliche Gefühl von Wasser überhaupt gar nicht an meinen Händen oder sonst wo spüren, da meine Körperwahrnehmung dann sofort hochfährt und mich überfordert. Vor allem nach Vorträgen bin ich dann ja auch schon grundgestresst. Mir ist bewusst, dass Menschen, die mich nicht kennen, dies nicht wissen können. Also habe ich immer wieder kundgetan, dass ich keine Schnittblumen mag und warum das so ist. Ich habe auch gesagt, dass ich weiß, dass nicht-autistische Menschen gern Blumen als Dankeschön überreichen. Aber ich habe auch darauf hingewiesen, dass man mir ja eine Freude machen möchte (und nicht sich selber) und ich würde mich zum Beispiel sehr über Edding 3000 Stifte freuen, eine Flasche Rotwein oder Pixi-Bücher für Elijah. Als ich zum zweiten Mal an einer Schule in Freiberg war, gab’s als Dank dann auch eine Packung Freiberger Bier (beim ersten Mal waren es noch Blumen). Die Menschen haben es eigentlich immer gut annehmen können. Ich möchte sie nicht verletzen und sie wollen mir gebührend danken, also müssen wir darüber reden. Mittlerweile gibt es sogar eine Blumenklausel in meinen Verträgen, die ich mit Veranstaltern abschließe.

Wenn du zum Beispiel ein Bild geschenkt bekommst, welches dir so gar nicht gefällt und du bedankst dich dafür, dann denkt der Schenkende, dass dir das Bild gefällt und kommt das nächste Mal wieder mit einem solchen oder ähnlichen Bild. Wenn er dann irgendwann später erfährt, dass dir schon das erste Bild nicht gefallen hat, dann wird er mehr als nur traurig und enttäuscht sein. Hier geht es doch einzig und allein um Wahrnehmung. Was dein Freund schön findet, ist für ihn schön, aber vielleicht auch nur für ihn. Wenn dir also die Blumensorte nicht gefällt, dann sag es ihm doch, damit er das nächste Mal deine Lieblingsblumen kaufen kann. Er hat doch nichts falsch gemacht, aber wenn du ihm nicht sagst, was du lieber hättest, dann hat er doch keine Chance, dich mit Blumen zu beglücken. Dann denkt er ein Leben lang, er hat dir eine Freude gemacht, obwohl es nicht so war. Das finde ich traurig. Natürlich kommt es auf das Wie an, also wie du es ihm sagst. Behutsam und verständnisvoll, aber doch auch offen und bestimmt. Du machst das schon.

Oh ja, das Leben ist ein großes Rätsel, aber für jedes Rätsel gibt es eine oder manchmal sogar mehrere Lösungen. Ich werde immer besser mit dem Nachfragen und so entwirrt sich das Durcheinander immer mehr. Manchmal habe ich sogar richtig Freude am Fragen, weil es mir bewusstmacht, dass ich bei meiner Art Denken in keiner Box gefangen bin. Autistisch zu sein, kann durchaus auch befreiend sein. Jedes Mal, wenn ich die Menschen beobachte, kommen sie mir doch sehr eingeengt vor. In ihrem Sein und ihrem Denken. Engt die Angst vor der Konsequenz ihres Verhaltens sie ein? Die Angst davor, auch mal Selbst zu sein, das Ich zu übergehen? Auch mal komplett schief zu liegen?

Mit dem Fühlen habe ich gar keine Probleme. Das ist manchmal eher zu viel und ich kann die vielen Untergefühle oft nicht benennen oder weiß nicht, ob es meine Gefühle sind oder die des anderen. Auch deshalb gehe ich in solchen Situationen weg, um wieder zu wissen, wer ich bin und was ich fühle.

»Ich ende an dieser Stelle mit: Du bist super, wie du bist!!! Mel«

Das ist gut zu wissen, denn so bin ich ja nun mal.

Gee

PS: Lob ist schwierig zu ertragen, aber das hier ist ja geschrieben, da ist es einfacher.

2     Hans ist der Ehemann von Gee

3     Meltdown: autistischer Zerfall (zum Beispiel Schlagen, Beißen, Treten, Schreien, Weinen)

 

 

 

 

 

 

2.         Briefwechsel – Thema: Leben/Sterben: Das Leben ist ein Kreis

 

21.05.2015

Liebe Gee,

vorgestern hast du mir dieses beeindruckende Bild von einem Kreis geschickt, der aus Fingern besteht, die alles halten. Ich füge es mal ein, damit du dich erinnerst:

Images

Ohne Titel (Gee Vero)

Du hast dazu geschrieben:

»Das Leben mit Autismus ist ein Kreis. Keine gerade Linie. Es ist immer alles da, nicht nacheinander, nie ist etwas vorbei oder kommt erst noch, ein Kreis«.

Außerdem schriebst du noch:

»Wir haben alle nur den Moment und wenn wir Glück haben, wird aus diesem Moment eine schöne Erinnerung, die wir behalten dürfen. Das nennt ihr dann Vergangenheit. Und die Momente, von denen ihr träumt, die fädelt ihr auch schon wie eine Perle auf eine Kette und nennt das Zukunft«.

Dieses Bild und deine Worte haben mich emotional berührt. Leben mit Autismus ist ein Kreis. Habe ich dich richtig verstanden in der Annahme, dass du im »Hier und Jetzt« lebst, also ähnlich wie ein Buddhist immer in diesem Moment? Das wäre außerordentlich befreiend für den Geist. Ich wünsche mir oft, dass mir das gelänge. Ich habe auch eine Ahnung, dass die Zeit dadurch »länger« wird oder zumindest so wirkt. Ich versuche immer gedanklich, im Hier und Jetzt zu sein, aber ich schaffe es nicht konsequent. Wenn ich es schaffe, kommt es mir jedenfalls so vor, als wäre die gefühlte Zeit länger gewesen.

Wenn du immer im Hier und Jetzt lebst, berücksichtigst du die Vergangenheit oder Zukunft überhaupt für dein Handeln oder dein Leben allgemein? Menschen sind doch stark durch ihre Vergangenheit geprägt, durch verletzende, traurige oder gar traumatische Ereignisse oder auch durch schöne Momente, die sie nachhaltig prägen. Ist das bei dir gar nicht so? Entsteht dein »Selbst« täglich neu? Planst du gar nicht voraus, in die Zukunft?

Wie kann etwas schon da sein, was erst noch kommt? Wie kann etwas vorbei sein und noch da? Meinst du damit die Prägungen oder Erinnerungen? Gedanklich oder auch emotional kann die Vergangenheit in mir weiterleben und ist also auch noch. Die Zukunft kann ich mir auch bildlich vorstellen und vorher empfinden. Ich habe die Anlagen zu dem, was ich erreichen will, bereits in mir. Ist das damit gemeint?

Wenn ich gedanklich meine Träume visualisiere, dann heißt das aber nicht, dass diese Träume immer reale Zukunft werden. Meinem Verständnis nach werden meine Träume nicht automatisch auch zukünftige Erlebnisse. Das kann so sein, aber muss nicht. Das hängt zum Beispiel auch von den anderen Menschen ab, mit denen wir in Resonanz treten.

Wenn du das Bild des Kreises nutzt, gilt das auch für Leben und Sterben? Auch für mich liegen Leben und Sterben nah beieinander. Einer lebt, der andere stirbt. Aus der Asche wird neues Leben hervorgehen. Das ist allerdings losgelöst von meinem Ich, also der »Seele«, die ich bin oder die mich umhüllt. Mich als Melanie gibt es wohl danach nicht mehr. Vielleicht eine Energie, die wieder Neues schafft und sich mit der »All-Energie« mischt. Aber Melanie Matzies-Köhler wird irgendwann zu Staub und Asche.

Ich danke dir jetzt schon für deine Antwort auf diese Fragen. Viele liebe Grüße von Mel

22.05.2015

Liebe Mel,

wenn du schreibst, dass dich das, was ich geschrieben habe, emotional berührt, ist dies dann etwas Positives? Ich meine, hat es dich gut berührt oder war es eher schlimm?

Ich möchte versuchen, dir zu erklären, was es mit meinem Kreis auf sich hat.

Vielleicht sollte ich schreiben, dass mein Leben mit Autismus ein Kreis ist. Ich kann ja wirklich nur für mich und von mir sprechen. Aber es ist so, meine Linie hat keinen Anfang und kein Ende. In diesem Kreis liegt mein Erleben, mein Dasein, mein gesamtes Sein. In diesem Kreis ist alles, was ich bin, wer ich war und auch wer ich sein kann. Dort findest du mein Glück und meine Freude, meine Sorgen und Ängste, meine Wünsche und Träume. Dieser Kreis bin ich selbst.

Was ist das »Hier und Jetzt« für dich? Ich würde eher sagen, dass ich in einem »Überall und Immer« lebe. Dieses Alles ist immer in dem einen Moment, den ich lebe und erlebe. Ich sage natürlich, weil ich es gelernt habe, auch Dinge wie »Meine Buchlesung gestern war sehr schön«, aber ich empfinde es nicht so. Wie fühlt es sich an, gestern erlebt zu haben? Die Buchlesung ist immer da, in diesem Moment, in dem ich hier schreibe, ist sie da. Genauso wie meine Einschulung, meine gesamte Schulzeit, meine Zeit in England, alle Menschen, denen ich begegnet bin, alles, was ich erlebt habe, alles ist immer da … in diesem Moment. Erlebbar da, spürbar jetzt und immer. Was meinst du damit, dass die Zeit länger wird? Zeit ist immer da, ist eine Konstante. Natürlich haben Menschen unterschiedliche Wahrnehmungen von Zeit. Wenn wir am Supermarkt an der Kasse warten müssen, weil drei Leute vor uns jemand das Kleingeld nicht schnell genug aus dem Portemonnaie fingern kann, dann scheint die Zeit sehr langsam zu vergehen. Bei den letzten Urlaubstagen am Meer ist es genau anders herum, da verfliegt die Zeit im Nu. Meine Zeitwahrnehmung ist auch sehr speziell. Ich empfinde nicht, dass Zeit vergeht. Für mich und in meinem Moment ist immer Zeit. Natürlich vergehen die Minuten, Stunden und dann auch die Tage und Wochen. Aber das sind künstlich geschaffene Hilfsmittel, um die Zeit einzuteilen. Am Ende vergehen nur wir und nicht die Zeit. Sie bleibt. Vielleicht ist die Zeit sogar das Einzige, was irgendwann einmal von uns übrigbleibt.