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Livia Klingl
Lauter Fremde!

LIVIA KLINGL

Lauter Fremde!

Wie der gesellschaftliche Zusammenhalt zerbricht

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www.kremayr-scheriau.at

eISBN 978-3-218-01074-0

Inhalt

Einander fremd

Die vielen Gesichter des Landes

Rabee Alrefai: »Ich will hier ein Erwachsener sein, kein Kind und kein Opfer«

Hassan Baroud: »Das stärkste Gefühl des Fremdseins ist, wenn man sich in einer Gesellschaft selber fremd macht«

Karin Czerny: »Das Wort ›fremd‹ ist mir fremd, aber Enge mag ich nicht«

Muna Duzdar: »Fremd war ich als Kind, weil man mich als Kind einer ausländischen Familie wahrgenommen hat«

Tatjana Gabrielli: »Es gibt die Arroganz derer, die meinen, das ist mein Österreich, was machst du da jetzt hier?«

Zakarya Ibrahem: »Ich kann die Angst verstehen. Viele wissen nichts über die Fremden«

Harald Kubiena: »Wir sehen die Dinge nicht so, wie sie sind, sondern so, wie wir sind«

Maynat Kurbanova: »Ich bin eine Fremde in der Fremde, egal, wo ich bin«

Nina Kusturica: »Fremd ist man, weil es einem dauernd gesagt wird«

Hannah Miriam Lessing: »Dass man sogar eine Ethnie oder eine Religion auseinanderdividieren kann, das ist mir fremd«

Silvana Meixner: »Ich bin auf beiden Seiten. Ich bin ›wir‹ und ›die anderen‹«

MM: »Es gibt auch das Fremde im eigenen Land«

Hadi Mohammadi: »Fremdheit hat nur mit der Einstellung zu tun. Und mit Angst«

Klaus Oppitz: »Ich kann die Abstraktion nicht verstehen, dass da die anderen sind und mia san mia«

Marsela Pscheider: »Fremd ist mir, wenn sich Menschen nicht aufeinander einlassen können«

Sumaya Saghy-Abou-Harb: »Fremd fühlt man sich, wenn jemand einen ganz anders sieht, als man ist«

Liese Scheiderbauer: »Manches kann ich heute wiedererkennen, was mir aus meiner Kindheit nur zu bekannt ist«

Erich Schmid: »Ich fremdle mit dem Begriff ›fremd‹«

Christian Ultsch: »Was ist schon fremd? Es kann einem auch fremd sein, wie jemand nebenan lebt«

Lojze Wieser: »Ich war immer fremd, überall«

Johannes Voggenhuber: »Das Fremde wird benutzt, um die eigene verunsicherte Identität zu behaupten«

Ja, es stimmt. Eine rasante Zuwanderung führt zu kulturellem Untergang. Das beste Beispiel hierfür ist New York. Zwischen 1830 und 1890 verzehnfachte sich die Einwohnerzahl aufgrund der immensen Zuwanderung. Die Folgen waren verheerend. Die Stadt brach zusammen. Heute ist New York ein unbedeutendes Fischerdorf an der Ostküste der USA. Keine Sau kennt heutzutage dieses vermaledeite Kaff, das man getrost auch als Wüstung bezeichnen kann.

Ganz anders hierbei die blühende Metropole Dippoldiswalde im Osterzgebirge. Diese Stadt hat der Völkerwanderung erfolgreich widerstanden und verdient den Ehrentitel Kreisstadt zu Recht. Sie haben mit »DW« sogar ein eigenes KFZ-Kennzeichen. Daran sollten sich die rückständigen Fischer aus New York ein Beispiel nehmen.

Thomas Kunz

Einander fremd

»Lauter Fremde«, »nur noch fremde Gesichter«, »alles so fremd hier!«, »wie die sich benehmen«, »wie die ausschauen«, »schau dir die an!« …

Sätze aus der Wiener U-Bahn, vom Markt, aufgeschnappt auf der Straße. Zehntausendmal geflüstert, gezischt, laut hinausgeschimpft. Nicht nur in der Großstadt Wien, wo ja tatsächlich jede und jeder Zweite so genannten Migrationshintergrund hat, womit bereits sprachlich in einer Trenn-Form festgehalten wird, dass jemand anderswo als in Österreich geboren ist, oder zumindest seine Eltern. Diese Ausrufe, oft gestöhnt in hörbarer Überforderung mit den neuen Gegebenheiten im Alltag, oft auch in herabwürdigender Abwehr hinausposaunt, hört man auch in den Landeshauptstädten, wo nicht wenige Menschen im öffentlichen Raum, in den Geschäften, an den Universitäten unterwegs sind, die »von woanders« kamen. Man hört sie sogar in Orten, in denen es kaum Zuzug gibt und wo weit mehr Zuzug hochnotwendig wäre, weil die Jungen mangels Zukunftsperspektiven längst abgewandert sind, die gewohnten Geschäfte schließen, das Leben verarmt, verlassene Häuser in Ortszentren verfallen, aber trotz der Tristesse kaum jemand bereit ist, sich mit neuem, jungem Leben aus andernorts anzufreunden. Man bleibt lieber unter sich, in der irrigen Annahme, die anderen im eigenen Umfeld zu kennen und sich vor denen niemals schrecken zu müssen. Dabei ist Xenophobie nichts anderes als ein Verdacht und keine Gewissheit über anderer Leute kriminelles Potenzial. Und alle Formen der Kriminalität gab es auch, ehe die Fremden zu uns gekommen sind. Damals, in der von vielen glorifizierten »guten, alten Zeit«, wurde man als Kind von den Erwachsenen auch vor »den Fremden« gewarnt, und für weibliche Jugendliche waren gewisse Viertel sowie Parks des Nachts Tabu-Zonen. Es waren die eigenen unbekannten Leute, vor denen man sich nicht sicher fühlte und meinte, sie könnten Böses im Schilde führen.

Damals, in der »guten, alten Zeit«, galt die Fremde als exotische Wunsch-Destination. Ohne das ausreichende Geld begnügte man sich mit 1001 Märchen aus dem Morgenland oder Goethes »Westöstlichem Diwan«. Die Fremde und die Fremden, sie wurden über die Jahrzehnte umdefiniert von »interessant« und »spannend« auf »unzivilisiert« und »bedrohlich«.

Und schon jahrelang sind sie als Kollektiv Projektionsfläche für viele Verschlechterungen im Land. Heute sind sie die Trennlinie schlechthin innerhalb der Ursprungsgesellschaft, die keineswegs, wie gern von Rechten insinuiert, eine homogene, sondern vielmehr eine knapp neun Millionen zählende höchst heterogene Menschenmasse ist. Die Stimmung im einen Teil der Bevölkerung, der alteingesessenen ebenso wie der vor wenigen Jahrzehnten zugezogenen, war wohl noch nie so von Sorge, Angst, Abwehr getrieben wie in der Jetzt-Zeit, während der andere Teil nach weiterer Weltoffenheit und Humanität lechzt.

Geschürte Ängste

Hochgekommen ist diese Verunsicherung gewisser Teile der Gesellschaft im Zuge der Fluchtbewegung des Jahres 2015, der größten seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber das Unwohlbefinden gab es bereits davor, übertüncht von einer Schicht Zivilisation, an der rechte Parteien in ganz Europa erfolgreich kratzten, ob es in den jeweiligen Ländern Flüchtlinge in relevanter Zahl gab oder nicht. Und die anderen, die vormaligen Mitte-Parteien, folgten, zeitverzögert, den rechten Forderungen – und gaben im Falle von Österreich den Rechten durch ihr Nachgeben bei Grenzschließung, Obergrenze und Schlechterstellung von Asylwerbern scheinbar erst recht recht.

Wenn die traditionellen Parteien machen, was die Rechten fordern, dann kann es nicht so falsch sein, lautet der Trugschluss, der rechte Bürger aber noch nicht einmal befriedigt. Warum erst jetzt die Grenzschließung, die Obergrenze?, fragen sie, warum nicht schon viel früher? Statt mit dem Nachgeben gegenüber Abschottungsforderungen die rechte Konkurrenz in Schach zu halten, wird sie bestätigt, was wiederum dazu führt, dass die so Bestätigten sich immer stärker in ihrer Angst bestätigt fühlen und immer dreistere Forderungen stellen, sich immer weniger um nationale und internationale Gesetze scheren, ja, dass die Bevölkerung immer perfider auseinanderdividiert wird und sich jene, die ohnehin keine Ausbildung in Humanismus genossen haben, zu immer mehr Gemeinheiten angestachelt fühlen.

Rechtspopulisten würden unzivilisierte Lösungen anbieten, schrieb die Psychiaterin und Psychoanalytikerin Elisabeth Skale im Magazin der NGO »SOS Mitmensch«. Sie gingen dabei zweistufig vor. Zuerst würden Gruppen geformt und Ängste geschürt und dann würden zivilisatorische, ethische und moralische Grundsätze aufgeweicht und ausgehebelt. Populisten setzten sich an die Stelle dessen, was die Psychologie Über-Ich nennt, »und nützen diese Position aus, um dem Einzelnen vieles zu erlauben, was er sich üblicherweise verbietet, oder was man Kindern verbietet, wie aggressiv und missgünstig zu sein oder Schwächere schlecht zu behandeln, auszuschließen und auszugrenzen oder gar zu verletzen und im Extremfall zu töten«.

Wir mögen von Mord und Totschlag aus politischen Motiven weit entfernt sein, aber in den Köpfen herrscht eine Art Bürgerkrieg, ebenso wie in den Debatten in den so genannten sozialen Medien. Seit mehr als einem Jahr verläuft die Frontlinie entlang der Frage »bist du für oder gegen Flüchtlinge?«, aber gleich dahinter stehen viele andere Themen. Insgesamt gebe es zu viele Fremde im Land, meinen so viele und sind zugleich den weltoffenen, den mitfühlenden, den angstfreien Landsleuten fremd. Zu viel Toleranz gebe es im Land, meinen so viele, grundsätzlich und insbesondere gegenüber Minderheiten wie Schwulen und Lesben. Ein erklecklicher Teil der riesigen Mehrheitsbevölkerung fühlt sich als »weiß und hetero« an den gesellschaftlichen Rand gedrängt, nur weil Gay Parade und Verpartnerung erlaubt sind. So viele haben Angst vor einer »Islamisierung«, wiewohl die 500.000 bis 600.000 Muslime, die in Österreich in größter Zahl friedlich und unauffällig leben, nicht schuld sind am Schwund der Christen. Von den derzeit fast 80 Prozent Christen kehren immer mehr ganz ohne Einfluss von Imamen oder sonstigen religiösen, gar islamistischen Seelenfängern der Kirche den Rücken und werden Agnostiker und Atheisten.

Verunsichert und an den Rand gedrängt

Wie aber sollen die so genannten kleinen Leute erkennen und verstehen, dass nicht die vielen Fremden, sondern ganz andere Einflüsse wie etwa die Globalisierung und ihre schwer zu durchschauenden Mechanismen zu viel Unsicherheit führen, wenn die Aufmerksamkeit der Politik, und in ihrem Schlepptau der Medien, permanent und penetrant auf diese Ein-Prozent-Bevölkerungsgruppe der Geflüchteten gelenkt wird und das in den seltensten Fällen in Form von Positivbeispielen für gelungene Integration, sondern meist in Form eines »Problems« statt vieler durchaus zu meisternder Herausforderungen?

Nicht von allen, aber von vielen werden die »Neuen« hartnäckig verantwortlich gemacht für die schleichende Verarmung des unteren Bevölkerungsdrittels, die aber nicht mit den Flüchtlingen, sondern mit der Globalisierung und dem Neoliberalismus auch im wohlhabenden Österreich Einzug hielt sowie mit dem Umstand, dass Einheimische gewisse schlechter bezahlte Jobs nicht mehr machen wollen, bessere aber nicht vorhanden oder die Anwärter nicht ausreichend ausgebildet sind.

An ihnen, den Fremden, reiben sich jene tagtäglich aufs Neue, die diese kompliziert gewordene Welt nicht mehr verstehen, die nicht begreifen, dass eine »Subprime«-Krise in den USA, also die Folgen von ungerechtfertigten Kreditvergaben für Einfamilienhäuser in US-Bundesstaaten, von denen man kaum je hörte, schon vor Jahren ihre Zusatzpension schmelzen ließ. Und die dann nach dem Schrumpfen oder gar dem Verlust ihrer kleinen Ersparnisse über Jahre mit Artikeln und Politiker-Statements gefüttert wurden, dass sie für »die Griechen« in der Solidargemeinschaft EU ein Vermögen zahlen müssen, sich aber wegen der recht aggressiv eingeforderten politischen Korrektheit nicht einmal mehr in eine abwertende Verallgemeinerung à la »faule Griechen« retten dürfen.

Egal, wie wenig Übersicht das gern als »sozial schwach« bezeichnete, de facto finanziell schwache untere Drittel der Gesellschaft über die Finessen der Staatenrettung hat, die im Falle Griechenlands in Wahrheit eine Rettung deutscher und französischer Banken war, eines bemerken auch die Schlichtesten: dass ihr Alltag zum Teil teurer, jedenfalls unübersichtlicher, unverständlicher und somit bedrohlicher geworden ist, dass sie abgehängt wurden. Und dass die österreichische Realverfassung, die da lautete, deinen Kindern wird es einmal besser gehen als dir, aufgekündigt worden ist, still, heimlich und schleichend. Und dass sie nicht einmal mehr reden dürfen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, dass sie keinen Mohr im Hemd mehr bestellen dürfen, obwohl kein Menschen einen Schwarzen mehr abschätzig als »Mohr« bezeichnen würde. Ja, dass sie, »die da unten«, von »denen da oben« überhaupt nur noch gegängelt und bevormundet und unterbuttert werden. Dass sie abgekanzelt, gar verachtet werden, wenn sie sich nicht nach der angeblichen Korrektheit und Modernität richten, die wohl von einem Teil der Elite in der Sprache gefordert wird, aber längst nicht mehr so laut wie früher in den tatsächlichen Lebensgegebenheiten.

Dabei gaukelt diese politisch korrekte Sprache inklusive dem unaussprechlichen Binnen-I nur eine faire Welt vor, von gleicher Behandlung und gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit kann in vielen Bereichen der Arbeitswelt weiterhin keine Rede sein. Es ist aber nicht die Arbeitswelt mit ihrer Ungleichbehandlung Schlachtplatz, sondern die »korrekte« Sprache bei jenen, die sich selber als fortschrittlich bezeichnen würden, und auch bei denen, die traditionell, vielleicht auch hinterwäldlerisch sind. Ausgefochten wird die Schlacht, eben weil sie die Sprache betrifft, ausschließlich unter Österreichern, nicht zwischen Österreichern und Fremden. Es ist nur einer der vielen Belege für die Fraktionierung der alteingesessenen Bevölkerung, der »Bio-Österreicher«, in wortgewaltig Dozierende und bockig Beharrende, eifrig befeuert von den herkömmlichen Medien.

Die große Entsolidarisierung

Vielleicht begann die Frontstellung in einer Gesellschaft, die über keine relevante Zukunftsfrage mehr einen Konsens zustande bekommt, genau bei der political correctness und fand alsbald das noch viel geeignetere Schlachtfeld für die große Entsolidarisierung, die Fremden. Heute verläuft die Frontlinie in den Debatten entlang der Flüchtlingsfrage, wiewohl die ihrerseits ethnisch wie intellektuell inhomogene Gruppe der Flüchtlinge lediglich ein Prozent der Bevölkerung stellt, aber seit vielen, vielen Monaten den öffentlichen Diskurs dominiert, wie sonst keine andere Kleingruppe es je getan hat. Oder erinnert sich jemand an eine mehrjährige schlagzeilenträchtige Auseinandersetzung über Kinder im Krabbelalter, über Rollstuhlfahrer, über gipfelstürmende Senioren oder sonst irgendeine winzige Minderheit von einem Prozent?

Eine indifferente Stellung zu den Fragen der Flüchtlingsbewegung ist fast nicht mehr möglich, Grautöne fehlen vollkommen im Diskurs, ebenso wie Fachwissen, aber jede und jeder hat zu »den Flüchtlingen« eine Meinung. Die ehemals breite Mitte der Gesellschaft wurde zermahlen oder hat sich zermahlen lassen zwischen den beiden Lagern der »Gutmenschen« und der »Patrioten«, der »Bahnhofsklatscher« und der »Retter des christlichen Abendlandes« und niemand in diesem Land bräuchte auch nur einen einzigen Fremden, um sich mit Seinesgleichen zu streiten wie die Kesselflicker. Mit der Umkehrung des »guten Menschen« in einen von Rechten als eine Art »Volksverräter« verunglimpften »Gutmenschen« hat sich auch der Rechtfertigungsdruck gedreht. Heute muss sich erklären, wer hilft, und nicht, wer Hilfe verhindert.

Diese Polarisierung, massiv betrieben von einer Allianz aus Politikern und Medien, hat zum einen zu einer fast schon pathologischen Hysterisierung der Gesellschaft geführt und zum anderen zu einer vielleicht von der Politik durchaus erwünschten Überlagerung aller anderen für ein gedeihliches Zusammenleben von Menschen relevanten Themen und Problemstellungen, wie Chancen für die Jungen durch bestmögliche Ausbildung, ein gerechtes Steuersystem, eine Durchforstung des Regulierungsdschungels und die Frage der Überalterung der Gesellschaft.

Besonders evident wurde das Wegbrechen der Mitte im ersten Durchgang der Präsidentenwahlen, wo die beiden Kandidaten der traditionellen Mitte-Parteien SPÖ und ÖVP gleich gar nicht in die Stichwahl kamen und die Wähler in späteren Durchgängen zwischen einem Rechten und einem Grünen, beides Vertreter von ehemals kleinen Randparteien, zu entscheiden hatten.

Wir leben nicht nur in einer polarisierten, sondern auch einer argumentativ sehr unlogischen Zeit. Dass das Christentum, auf das sich heutzutage so viele in ihrem Anti-Flüchtlingskampf berufen, einst genau aus jenem Nahen Osten eingewandert ist, aus dem heute aufgrund von Kriegen Araber einwandern, darauf wird geflissentlich vergessen. Und nicht wenige derer, die sich auf dieses christliche Abendland, wenn auch nicht auf seine tieferen philosophischen Werte, berufen, würden in ihrer Rage das Unterrichten von arabischen Ziffern in Schulen verbieten wollen, ehe sie darüber aufgeklärt werden, dass das »unsere« Ziffern sind, vielmehr geworden sind, weil die »autochtonen« lateinischen viel komplizierter waren. Zahlen und Ziffern sind nur ein winziger Beleg dafür, dass die Frage eines besseren Lebens in allen Jahrhunderten und allen Weltgegenden eine der Selbsterneuerungsfähigkeit einer Gesellschaft war, die sich gegenüber Neuem zu öffnen hatte, seit Menschen aus ihrem Dorf in die Fremde gingen, erst recht, seit sie Pferdekutschen und Schiffe erfunden hatten und von ihren Reisen mit nahezu all den Gütern zurückgekehrt sind, die heute unser Alltagsleben ausmachen. Und mit vielem, was wir als unsere Kultur bezeichnen, weil wir uns nicht nur Sachen, sondern auch Lebensweisen einverleibt haben.

Doch trotz dieser jahrhundertelangen bereichernden Erfahrung mit dem Handel, aber auch mit intellektuellem Austausch in Medizin, Wissenschaft und Forschung, lautet heute für gut die Hälfte der »Bio-Österreicher« die Devise Abschottung. Und die findet im EU-Europa einen Echoraum mit ausgezeichneter Akustik, egal, ob im jeweiligen Land viele oder gar keine Flüchtlinge leben und ob diese Länder Auswanderungsgesellschaften sind wie Ungarn oder deklarierte Einwanderungsgesellschaften wie etwa Deutschland. Drei Viertel der Österreicher sind unzufrieden mit der Richtung, in die sich das Land entwickelt. Da streiten »Ureinwohner« miteinander, nicht Österreicher mit Fremden. Da zerkriegen sich Freunde und Familienmitglieder, Kegelvereine und Kirchenchöre. Da stehen einander »Ureinwohner« feindlich gesinnt gegenüber und sind einander fremd, viel fremder als die Fremden. Denn nichts ist so fremd wie das eigene, das anders tickt als man selbst.

Dennoch müssen die Fremden herhalten als Sündenböcke für alles, was einem nicht passt, auch für das eigene, kleine, misslungene Dasein. Verwendet, vielmehr missbraucht als Neid und Hass nährende Gruppen-Objekte, denen abgesprochen wird, Individuen zu sein mit einer Seele, mit Schmerzen, Hoffnungen und Zukunftszielen. Das ist nicht nur der Reflex etwas einfacherer Gemüter, sondern längst auch der von namhaften Politikern, und nicht nur von stramm rechten, wobei sich die Rechten nicht mehr nur auf Flüchtlinge fokussieren, sondern auf Migranten ganz allgemein, auf alle, die nicht schon drei Generationen lang dawaren. Da der Mensch nun einmal ist, wie er ist, wird dies in drei Generationen wohl nicht anders sein. Dann werden vermutlich die heute so fremden Syrer, Iraker, Afghanen »unsere« sein und die Neuankömmlinge von wo auch immer das Fremde.

Nicht nur eine auf Meinungsumfragen schielende Politik, die aus Österreich eine Umfragerepublik macht statt eine, in der Politik gestaltet und das Vernünftige dann populär gemacht wird, auch professionelle Kommentatoren in den Gazetten und Amateure in den vielfach unsozialen Medien haben sich mit Verve in »die Fremden« verbissen. Diese Abwehrhaltung gab es wohl schon immer, nicht jedoch die Foren, wo jeder seine Ansicht äußern kann, wo sie sich lawinenartig ausbreitet, bis nur noch Verachtung und Hass übrig bleiben. Waren es früher die jeweils neu Zugewanderten wie Jugoslawen oder Türken, die als fremde Gruppen abgelehnt wurden, so hat sich eine Gesellschaft, die sich in großer Zahl so vor einer Re-Religionisierung durch den als rückschrittlich eingeschätzten Islam schreckt, ihrerseits ins Religiöse geflüchtet und hat den Diskurs vom Nationalen ins Religiöse verlagert. Der heutige Gottseibeiuns ist »der Moslem«, dem zwischen Unterdrückung der Frau und Nichtanpassungsfähigkeit an eine moderne Gesellschaft alles nachgesagt wird, was auch die Ursprungsbevölkerung an Attitüden durchaus aufweist, die aber lieber mit dem Finger auf »die anderen« zeigt, als sich selbst zu betrachten.

»Trotzdem gibts vü gschäfdl de lauta kopftiachl einstöhn« – Einträge wie diesen findet man täglich in Online-Foren. Sie zeigen gleich zwei typische, bis vor Kurzem noch verpönte Verhaltensweisen. Zum einen die Kritik an Kopftuch tragenden Frauen, zum anderen die Versachlichung von Personengruppen. Sie sind keine Menschen mehr, sie sind Dinge. Und sind sie Dinge, kann man sie treten, auch physisch.

Meldungen von Übergriffen auf optisch erkennbare Fremde, insbesondere auf Kopftuch tragende Frauen, häufen sich. Ebenso wie Beschimpfungen in der Öffentlichkeit. »Islam-Nazis« schimpfen nun manche die am Äußeren erkennbaren Musliminnen. Die Schimpfer werden ihrerseits von anderen als »Nazis« beschimpft und so beschimpft und verachtet sich eine Gesellschaft, die ja grundsätzlich ein Mosaik aus zahlreichen kleinen Gruppen und Grüppchen ist, beständig gegenseitig in einem Schwarzweißschema ohne jeden Grauton.

Kulturkampf mit Kleidungsstücken

Ähnlich unsachlich wie die Kopftuchdebatte verläuft jene über die Gesichtsverschleierung der Frau, beginnend mit dem Umstand, dass Burka genannt wird, was ein Niqab ist. Die Burka ist das afghanisch-pakistanische Ganzkörpergewand mit einem Gitter vor dem Gesicht und in Österreich so gut wie nie gesichtet worden. Der Niqab ist eine Kopfbedeckung, die nur einen Augenschlitz frei lässt und zu einem meist schwarzen Mantel, der aus Saudi-Arabien stammenden Abaya, getragen wird. Hauptsächlich saudische und emiratische Touristinnen tragen dieses anonymisierende Kleidungsstück. In Deutschland gab es eine Schätzung, dass, abgesehen von Touristinnen, bestenfalls 900 Frauen Niqab tragen, auf Österreich übertragen wären es dann 90. Nimmt man die Intensität der Debatte über dieses in unseren Breiten in der Tat ungewohnte Kleidungsstück, könnte man glauben, das Auftreten komplett verhüllter Frauen hätte epidemische Ausmaße angenommen oder es würden über kurz oder lang auch Nicht-Musliminnen dazu übergehen, sich komplett zu verhüllen, als handle es sich bei Kleidung um eine ansteckende Krankheit. Solche Befürchtungen werden zwar auch in den Online-Foren geäußert, entbehren aber jeder Grundlage, und es stellt sich die Frage, wie wenig Vertrauen in den Staat und wie wenig Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit solche Posterinnen und Poster haben, wenn sie meinen, »wir« würden von »denen« kulturell und sozial umgepolt.

Im Sommer 2016 haben die Regierungsparteien die Führerschaft bei der Frage von Verboten für fremdartige Kleider, im Übrigen ausschließlich die von Frauen, übernommen, und aus einer Gesellschaft, die sich in den vergangenen Jahrzehnten vieler Verbote entledigt hat, wurde eine, die täglich ein engeres Korsett aus Reglementierungen und Verboten fordert. Nicht selten erfolgen derlei Kleidungsdebatten unter dem Deckmäntelchen der behaupteten Befreiung der Frau von vermeintlicher oder tatsächlicher Unterdrückung. Die Vollverschleierung sei ein Zeichen der Unfreiheit, deshalb gehöre sie verboten, sagte etwa der Klubobmann der SPÖ, Andreas Schieder, in nahezu unnachahmlicher Unlogik, sekundiert von Außen- und Integrationsminister Sebastian Kurz und akklamiert von zahllosen durchaus »linken Emanzen« in den sozialen Medien. Beim Niqab hat sich eine Allianz zwischen hiesigen Frauen, rechten, linken, schlichten und schlicht am Machterhalt interessierten Regierungsvertretern gebildet, wie sie vor einigen Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre. Dabei ist die vollverschleierte Frau in Österreich ein so seltenes Phänomen, dass sie eigentlich keiner Erwähnung wert sein würde. Auch gibt es Gesetze, die das Abnehmen des Schleiers bei Sicherheitskontrollen, vor Gericht und an anderen relevanten Plätzen verlangen.

Dass diese Niqab tragenden Frauen zu Botschafterinnen ihrer Kultur würden und der Niqab auch bei hiesigen Frauen zum Massenphänomen werden könnte, wird wohl niemand annehmen. Dennoch wurde die auf dem Rücken von Frauen über das Aussehen von Frauen geführte Debatte über Wochen und Monate weiter betrieben, wiewohl in unserem Land die Freiheit des Menschen verfassungsrechtlich garantiert ist, die nun in Teilen in Zweifel gezogen wird.

Dass die Vollverschleierung noch dazu nichts mit Religion, sondern mit Tradition zu tun hat, ist den meisten Diskutanten nicht bekannt. In Mekka, dem größten Heiligtum sunnitischer Muslime, ist der Gesichtsschleier auf dem Hadsch, der Pilgerfahrt, verboten und auch die berühmte Al-Azhar-Universität in Kairo, die renommierteste sunnitische wissenschaftliche Einrichtung, lehnt die Vollverschleierung ab. Der Frage, ob ein Verbot dieses Randphänomens in unserer Gesellschaft die betroffenen Frauen befreien oder vielmehr dazu zwingen würde, gar nicht mehr aus dem Haus zu gehen, sie also statt integriert eingekerkert würden, wurde wenig Augenmerk geschenkt. Aus dem Diskurs wurde nicht einer über Sinnhaftigkeit und Verfassungsmäßigkeit, sondern eine Geschmacksdebatte.

Im laizistischen Frankreich wurde aus der Geschmacksdebatte bereits ein Geschmacksgesetz. In Frankreich gibt es dieses seit 2011, und jedes Jahr verzeichnen die Behörden die gleiche Anzahl an Anzeigen wegen Zuwiderhandelns. Angezeigt werden dieselben Frauen, die offenbar an ihrer sektiererischen Lebensweise trotzig festhalten. Die Strafen übernimmt, wie eine Recherche des »Spiegel« ergab, ein reicher Mann. Die verschleierten Frauen legten ihre die Mehrheit so irritierende Kleidung erst recht nicht ab, berichteten aber, sie würden vor allem nach den Terroranschlägen in Frankreich häufiger kontrolliert, mitunter nicht in Supermärkte oder Kinos gelassen und weit häufiger beschimpft als früher. Islamische Verbände dürften somit mit ihrer vor der Gesetzeswerdung geäußerten Befürchtung recht haben, ein so genanntes Burka-Gesetz würde einen legalen Deckmantel bieten, Frauen zu beflegeln.

Fremden-, insbesondere islamfeindliche Vorfälle hat es bei uns vereinzelt auch früher gegeben, aber die Häufigkeit, in der sie heute auftreten, und die Unverfrorenheit, mit der sie getätigt werden, haben eine neue Qualität. Und beschimpft werden nicht nur Muslime, sondern auch Vertreter der Ursprungsbevölkerung, wenn sie sich als muslimfreundlich zu erkennen geben. Immer wieder berichten Flüchtlingshelferinnen insbesondere in ländlichen Regionen, sie würden sich kaum noch auf die Straße trauen, weil sie rüde verbal attackiert würden. Manche berichten von Drohbriefen, einige wenige fühlen sich in ihrem eigenen Land nicht mehr zu Hause.

Hasspostings: Woher sie kommen, wohin sie führen

Nicht selten stehen gerade jene, die fordern, die Fremden, insbesondere die Flüchtlinge, müssten sich unserer Kultur anpassen, mit ihrer eigenen Kultur auf Kriegsfuß. Jedenfalls mit der jahrhundertealten Kulturform der Schriftsprache und mit Humanismus, Respekt und Toleranz, der Basis unserer Gesellschaft, wie folgendes Posting belegt: »das finde ich TOLL! den bei uns ist es Usus – den ins Gesicht zu sehen mit dem man redet!!!! Bei uns ist das – einem nicht anzuschauen oder sein Gesicht nicht zu sehn beim sprechen eine BELEIDIGUNG! Währen wir bei Euch müssen wir uns auch danach richten!!! ODER??? NUR BEI UNS WOLLT IHR ABER DAS WIR UNS NACH EUCH RICHTEN UND IHR NICHT!!!!!!!!!!!!!«

»Bekommen Mehr geld wie wir kommen rüber zu uns gehen sozahlarmt bekommen 3000 euro in den arsch geschoben die Asylanden ich muß mit 200 euro leben im monat ist das nicht schweinerei«, ist ein weiteres, sehr häufig transportiertes Vorurteil, wonach Flüchtlinge finanziell bestens gestellt wären und man selber nichts habe. In Dutzenden seriösen Artikeln, Radio- und Fernsehberichten wurden falsche Zahlen widerlegt, aber viele Menschen sind schon lange für Fakten nicht mehr erreichbar, weswegen immer mehr Menschen vom Eintritt ins postfaktische Zeitalter sprechen und der deutsche Philosoph und Bestsellerautor Richard David Precht die »normative Kraft des Fiktionalen« als die derzeit gültige nennt.

»Stimmt ganz genau! Scheiß asylanten, ich würd alle abknallen, aber mich fragt ja niemand.« Ein Posting, wie es täglich Dutzende Male abgesondert und erst in jüngerer Zeit gerichtlich geahndet wird – sofern sich jemand findet, der Anzeige erstattet. »wie weit ist Europa gesunken. Besser wäre es gewesen wenn denen ihre Schiffe gesunken wären. Damit wäre in Europa Ruhe. Diese gehören nicht in unsere Welt. Eine wilde Spezies hat hier in Europa nichts zu suchen sie bringen nur Verderben und ihren Hass ihre Kultur zu uns. Tod und Verwüstungen kennen die. Sie kommen alle und machen diesen Terror mit Absciht weil sie weiße Europäer hassen und weil sie alle ausrotten wollen damit ihnen alles gehört. Doch die Schwarzen haben vergessen was der Rest von den anderen Kulturen sprich Islam dann mit ihnen machen wird.« Zu Zehntausenden wird diese Opfer-Täter-Umkehr inklusive Schreibfehlern von vorgeblich zivilisierten Weißen ins Internet gekotzt. »Sollens alle untergehen ist wenigstens wieder Geld fürs eigene Volk da!«, lautet ein mittlerweile gängiger Vorschlag zum Umgang mit Menschen, nicht zuletzt mit Babys und Minderjährigen, sind doch die Hälfte der weltweit mehr als 65 Millionen Flüchtlinge Kinder – dieser Umstand hat sich auch hierorts zumindest bis zu den Medien durchgesprochen.

Tausendfach wird die Abwehr gegen die Fremden täglich nicht nur in Zeitungsforen hinausgekotzt, sondern auch auf Facebook, wo zwar ein blanker Busen vom amerikanischen und entsprechend puritanischen Unternehmen prompt gelöscht wird, aber kaum je eine rechtsradikale Äußerung, auch nicht ein Aufruf zum Totschlag oder Mord.

Nicht zwingend dienen Absonderungen wie die zitierten als psychologisch betrachtet einfache Lösung, damit man sich mit den Schicksalen derer, die da kamen, nicht auseinandersetzen muss. Sie sind oft durchaus ernst gemeinte Forderungen nach Minderstellung von Menschen, einzig und allein aufgrund ihrer Herkunft und zur Erhöhung des eigenen Selbst.

Gesetze, wie sie von rechten Politikern und ihrer Gefolgschaft gefordert werden, widersprechen mitunter der auch von Österreich unterzeichneten Menschenrechtskonvention, aber kaum jemand denkt bis zum Ende, wo denn Schluss sein sollte mit menschenverachtenden Regeln. Diese rechten Politiker und ihre Unterstützer maßen sich auch an, »die Bevölkerung« zu sein und konstruieren eine Illusion, die da lautet, alle Ur-Österreicher wären »wir«, und »wir« stellen uns kollektiv gegen »die«.

Verkannt werden die tektonischen Linien, entlang derer unsere Gesellschaft auseinanderbricht. Sie tut es nicht an der Linie Alteingesessene versus neu Hinzugekommene, sondern eher entlang der städtischen und der ruralen Bevölkerung, zwischen jungen, wenig gebildeten Männern und gebildeteren Frauen, zwischen weltoffenen Menschen und Abschottungswilligen, zwischen Humanisten und Egoisten, Menschenfreunden und Fremdenfeinden.