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Max Lill, geboren 1981 in Berlin, schloss 2010 sein Lehramtsstudium in den Fächern Sozialkunde und Geographie an der Freien Universität Berlin ab. Seit 2011 arbeitet er als Redaktionsmitarbeiter bei der Mitgliederzeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Hamburg und ist parallel als freier Autor sowie in der politischen Bildungsarbeit tätig. In den Jahren 2012 und 2013 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie der Arbeit und der Geschlechterverhältnisse am sozialwissenschaftlichen Institut der Humboldt Universität Berlin. Er forschte dort zum Wandel von Arbeits- und Geschlechterverhältnissen im Bankensektor im Kontext der Finanzmarktkrise. Er hat jahrelang als Gitarrenlehrer für Kinder und Jugendliche gearbeitet.

Dieses Buch entstand auf der Grundlage einer überarbeiteten und stark erweiterte Studienabschlussarbeit, eingereicht 2009 am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin unter dem Titel: Rockmusik als Utopie „authentischer Öffentlichkeit“ in den 1960er Jahren – Eine exemplarisch politisch-soziologische Untersuchung zum Verhältnis von individuellem Selbstausdruck und kollektivem Protest in modernen Gesellschaften

Erstkorrektor:Hajo Funke

Zweitkorrektor:Peter Massing

MAX LILL

THE WHOLE WIDE WORLD IS WATCHIN’

MUSIK UND JUGENDPROTEST IN DEN 1960er JAHREN
BOB DYLAN UND THE GRATEFUL DEAD

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Wissenschaftliche Reihe, Band 9, 1. Auflage November 2013

Die Wissenschaftliche Reihe im Archiv der Jugendkulturen
Alljährlich entstehen an Universitäten und Fachhochschulen Hunderte von wissenschaftlichen Arbeiten, die zumeist nur von zwei GutachterInnen gelesen werden und dann in den Asservatenkammern der Hochschulen verschwinden. Dabei enthalten viele dieser Arbeiten durchaus neues Wissen, interessante Denkmodelle, genaue Feldstudien. Das Archiv der Jugendkulturen, Fachbibliothek und Forschungsinstitut zugleich zu allen Fragen rund um Jugendkulturen, hat deshalb damit begonnen, wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Jugend zu sammeln. Mehr als 700 solcher Arbeiten enthält die Präsenzbibliothek des Archivs inzwischen – für jedermann kostenlos und frei zugänglich.

INHALT

Vorwort

1Einleitung

2Eingrenzungen

2.1Anknüpfungspunkte in der Forschung

2.2Transnationalität der Revolte und US-Hegemonie

2.3Begriffsklärungen: Rock- und Folkmusik und der Anspruch auf „Authentizität“

3Kulturtheoretische Ausgangspunkte

3.1Kulturelle Aneignungsweisen und die Darstellung von Subjektivität

3.2Musikalischer Sinn zwischen Reflektion und Intuition

3.3Kritik einer Fixierung auf „kognitive Praxisformen“

3.4Ideologische Frontenbildung: Pauschalurteile zur Populärmusik

4Thesen und Perspektiven zu „1968“ und Rockmusik: Eine kritische Rekapitulation

4.1„1968“ als Projektionsfläche und diskursiver Reverenzpunkt

4.2Heterogenität der Bewegungen um 1968 und Rockmusik als „Ensemble der Devianz“

5Subjektivität und Öffentlichkeit: Historische Entwicklungslinien

5.1Erinnerung eines enteigneten Erbes

5.1.1Die Vereinnahmung der Künstlerkritik als Vorgeschichte des „emotionalen Kapitalismus“

5.1.2Die Utopie „authentischer Öffentlichkeit“ und die Neuen Sozialen Bewegungen

5.2Strukturwandel der Öffentlichkeit

5.2.1Vergesellschaftung und Subjektivierung und der „Kampf um Anerkennung“

5.2.2Verselbstständigung von Öffentlichkeit und Intimität im Kapitalismus

5.3Historische Konkretisierung im Feld der Musik

5.3.1„Reine“ Gefühlsinnerlichkeit und bürgerliche Kunstmusik im 19. Jahrhundert

5.3.2Volks- und populärmusikalische Vorläufer des Rock

5.3.2.1Folkmusik zwischen Tradition, Arbeiterbewegung und Humanismus

5.3.2.2Zur Herausbildung der modernen Populärmusik

5.3.2.3Spontaner Gefühlsausdruck im Rhythm and Blues

5.4Widersprüche fordistischer Vergesellschaftung als Treibsatz der Revolte

5.4.1Zwischen Subjektivitätsentwicklung und Rollenanpassung

5.4.2Zu den Trägergruppen der sozialen Bewegungen in den 1960er Jahren

6Rock- und Folkmusik als Gegenöffentlichkeit in den 1960er Jahren: Kontroverse Annäherungen

6.1Rockmusik als Ausdruck von radikalem Subjektivismus

6.1.1Individualistischer Hedonismus und öffentlicher Selbstgenuss

6.1.2Rockmusik als Form der Mystifizierung sinnlich-emotionaler Expressivität

6.2Folk- und Rockmusik als radikal-demokratische Praxis

6.2.1Verbalisierung individueller Erfahrung und Gesellschaftskritik im Folk-Revival

6.2.2Rockmusik als kollektive Aneignung sinnlicher Ausdrucksformen

6.3Ein Exkurs zu Jimi Hendrix und der Faszination des „schwarzen“ Blues

7The Grateful Dead: „…allowing us to meld our consciousnesses together“

7.1Die Hippies: Facetten einer Gegenkultur

7.2Das Konzerterlebnis als Schwellenzustand

8Bob Dylan und das authentische Spiel mit Masken

8.1Sichtungen, Ausgangsfragen und Thesen

8.1.1Paradoxien einer Ikone

8.1.2Im Labyrinth der Dylan-Exegese

8.2Chronologie einer Verwandlung

8.2.1Der Geruch von Geburt

8.2.2Hinter den Mauern einer unterirdischen Welt

8.2.3Reflect it from the mountain so all souls can see it

8.2.4There’s a battle outside and it’s ragin’

8.2.5Life’s an open window an’ I must jump back out thru it now

8.2.6Darkness at the break of noon

8.2.7Something is happening here, but you don’t know what it is

8.2.8„Judas!“ – Kollision der Authentizitätsideale

8.2.9Watching the river flow

8.3Schlussfolgerungen

9Fazit

Literatur- und Quellenverzeichnis

VORWORT

Ein Buch zu schreiben, das lässt sich vielleicht mit dem Einspielen eines Albums vergleichen. Entscheidend sind die Produktionsbedingungen: Im etablierten Wissenschaftsbetrieb dominiert heute, unter dem Druck von Hochschulrankings, Drittmittel-Akquise und prekärer Beschäftigung, eine Arbeitsweise, die derjenigen der Major-Labels nicht unähnlich ist: Ein routinierter Ablauf, in dem das Feld beobachtet und Personal rekrutiert wird, in dem auf effiziente Weise und in kurzer Taktung Stücke geschrieben, arrangiert und abgemischt werden, um schließlich ein leicht zu bewerbendes Produkt auf den (tendenziell übersättigten) Märkten anbieten zu können – mit viel Wiedererkennungswert für eine spezifische Zielgruppe, aber auch mit einem leicht einprägsamen Alleinstellungsmerkmal, das möglichst schon aus dem Klappentext ersichtlich wird. Gemacht für Menschen, die unter Bedingungen von chronischem Zeitmangel und Angebotsüberfluss leben und arbeiten. Es sind Erzeugnisse eines professionellen Hochleistungsbetriebs, technisch oft von beeindruckender Kunstfertigkeit, auf Dauer aber vor allem eines: langweilig.

Ich erlaube mir diese kleine Polemik, wohl wissend, dass das damit angestimmte Klagelied inzwischen zum guten Ton bei jenen gehört, die selbst im Glashaus sitzen, denen aber die Steine fehlen, mit denen sich werfen ließe. Mir geht es an dieser Stelle weniger um Protest als um eine Kontrastierung von Arbeitsweisen. Ich gehöre inzwischen selbst zum wissenschaftlichen Prekariat. Und auch wenn ich mich glücklich schätzen kann, nicht zu den „Malochern“ der Branche zu zählen, so wird mir doch im Rückblick auf den Entstehungsprozess dieses Buches bewusst, wie engmaschig das Netz der Anforderungen gewebt ist, das einen umgibt, sobald man die Schwelle zum Wissenschaftsberuf überschritten hat. Ich hätte diese Arbeit unter solchen Bedingungen niemals schreiben können. Sie ist keine charttaugliche Hitsammlung und auch keine klassische Komposition mit Orchesterbegleitung. Eher eine Meditation, ein überwiegend in einsamer Versenkung eingespieltes Konzeptalbum mit einem übergreifenden Thema, aber stark wechselnder Instrumentierung. Es enthält einige komplex aufgebaute und experimentelle Stücke, die den Intellekt herausfordern sollen, aber – so hoffe ich wenigstens – auch einige Ohrwürmer, die sich für Coverversionen eignen.

Zwar fußen die einzelnen Teile aufeinander, sodass sich das Buch am besten als Ganzes lesen lässt. Das Abstraktionsniveau wechselt in den einzelnen Kapiteln aber sehr stark. An einigen Stellen klettert es in so luftige Höhen, dass ich befürchte, dort oben manche Leser_innen zu verlieren. Daher vorab ein Gebrauchshinweis: Vor allem wissenschaftlich und theoretisch weniger interessierte Leser_innen möchte ich ermutigen, selektiv vorzugehen. Die empirischen Fallstudien der Kapitel 7 und 8, insbesondere das historisch-biographisch gehaltene und deutlich eingängiger geschriebene Kapitel 8.2 über Bob Dylans Rolle und Entwicklung in den 1960er Jahren, lassen sich ohne Weiteres auch als eigenständige Passagen lesen. Leser_innen, die sich vor allem mit den historischen Debatten rund um das Schlüsseljahr 1968 auseinandersetzen möchten, können direkt mit den Kapiteln 2.2 und 4 beginnen. Diejenigen, die eher an historischen Linien der Musikentwicklung interessiert sind, seien auf die Kapitel 2.3, 5.3 und 6 verwiesen. Stärker mit theoretischen Fragen beschäftigte Leser_innen dürften in den Kapiteln 3, 5.2 und 5.4 fündig werden. Neben der Einleitung und dem Fazit hat auch das Kapitel 5.1 einen programmatisch übergreifenden Charakter und erläutert die geschichtspolitischen Intentionen dieser Arbeit.

Ich habe mich zwar bemüht, den Gütekriterien der Wissenschaft zu entsprechen. Dennoch war die Arbeit an diesem Buch für mich auch ein Selbstvergewisserungsprozess, in dem persönliche und wissenschaftliche Erkenntnisinteressen sowie politisches und ästhetisches Engagement sehr eng ineinandergriffen. Die Verschränkung von Öffentlichkeit und Intimität ist insofern nicht nur auf inhaltlicher Ebene das übergreifende Thema dieses „Lesealbums“. Sie war ebenso für dessen Entstehungsgeschichte charakteristisch. Die subjektive Seite dieser Geschichte kurz anzudeuten, mag daher ein schärferes Licht auf den Gegenstand selbst werfen – auch wenn dies den üblichen Konventionen der Wissenschaft widerspricht und womöglich sogar für Irritation sorgt.

Meine persönliche Leidenschaft für Bob Dylan stand, so unglaubwürdig das klingen mag, nicht am Anfang, sondern erst am Ende des Forschungsprozesses. Ich mochte seine Musik, spielte und sang auch regelmäßig einige seiner Songs, wählte ihn aber eher aus pragmatischen Gründen als Hauptbeispiel für meine Ausführungen. Ursprünglich wollte ich meine theoretischen und historischen Argumente mehr illustrieren und exemplarisch überprüfen, als mich in den endlos verwinkelten Gängen von Dylans Lyrik und den Bergen an Literatur, die darüber verfasst worden sind, zu verlieren. Mir war diese wuchernde Kultur des Schreibens über Dylan mit all ihren Huldigungen und Verweisungsspielchen anfangs sogar ziemlich suspekt. Das meiste wirkte auf mich entweder wie Heiligenverehrung oder wie eine (sehr männliche) Mischung aus Sentimentalität und popintellektueller Schlaumeierei. Dylan selbst schien all dem, wie ich fand aus verständlichen Gründen, geradezu feindselig gesonnen. Bestenfalls spielte er Versteck mit jenen, die auf seine Texte und Auftritte starrten wie auf die Lichtspiegelungen in der Glaskugel einer uralten Wahrsagerin. Erst als ich anfing, den historischen Kontext, in dem diese Musik entstanden war und der bis heute in Dylans Performances nachklingt, en détail zu rekonstruieren, begann ich zu begreifen, dass hinter dem Geniekult viel mehr steht als ein besonderes songschreiberisches Talent. In der ersten Fassung des Manuskripts, die ich 2009 als Prüfungsarbeit bei der Freien Universität Berlin einreichte, ist meine frisch erwachte Faszination für Dylan zwar schon spürbar. Der entsprechende Abschnitt ist aber vergleichsweise knapp gehalten und die biographische Perspektive fehlt nahezu völlig.

Zwischen der Abgabe der ersten Version dieser Arbeit und ihrer in mehreren Etappen erfolgten Überarbeitung und Erweiterung lagen einige für mich persönlich schwere Monate. Nach dem Workaholic-Trip der Schreibarbeit und angesichts zahlreicher Prüfungen sowie der Ungewissheit der weiteren beruflichen Perspektive löste ein akuter Trennungsschmerz das aus, was in der Medizin als „depressive Episode“ bezeichnet wird. Zum Glück ist die Gesellschaft inzwischen so weit, Depressionen als Volkskrankheit unserer Zeit zu thematisieren und sie damit wenigstens ein Stück weit zu entstigmatisieren. Aber wenn man mittendrin steckt, fühlt es sich an, als würde einem der Himmel über dem Kopf zusammenfallen.

Überwindet man eine solche Krise, sieht die Welt danach anders aus, vielleicht klarer, wie nach einem reinigenden Gewitter. Bei mir war Musik ein wichtiger Teil dieser Überwindung. Der Vorgang selbst ist allerdings schwer zu beschreiben. Ich behelfe mir mit einer alten Metapher, die aus den Mythologien des Blues bekannt ist: dem Bild der „Crossroads“. Der Ort des größten Schmerzes ist demnach zugleich eine Wegscheide. An dieser Kreuzung am Ende eines langen Leidensweges begegnet man zwar nicht dem Teufel persönlich, aber doch einer großen Leere, in der es keine lebenstaugliche Form mehr zu geben scheint, etwas Bedeutsames auszudrücken – wäre da nicht die Musik, die so etwas wie eine Gegenwelt symbolisiert und in die sich alles hineinlegen lässt. Die Metaphorik des Blues behauptet, man tausche an diesem „Nicht-Ort“, an dem alles sinnlos erscheint, seine Seele ein, um sich rückhaltlos der Musik zu überantworten. Damit könnte die Wahrnehmung beschrieben sein, dass die psychische Ordnung unserer gewöhnlichen sozialen Identität, das, was uns an das Alltagsleben bindet und was wir üblicherweise mit dem Wörtchen „Ich“ assoziieren, – wenigstens eine Zeit lang – abgestreift wird. Gerade dadurch sind wir in die Lage versetzt, ganz in die Musik und ihre verborgenen kollektiven Bedeutungen einzutauchen. Das ist natürlich ein Spiel mit dem Feuer, respektive dem Teufel: Wer sich der Freiheit der Kunst vollständig verschreibt, bezahlt einen hohen Preis. Die vorübergehende Erfahrung dieser Freiheit kann aber auch den Wendepunkt bilden, an dem das Leben mit aller Kraft zurückkehrt, gerade weil wir uns (wenigstens innerlich) von der Borniertheit dessen gelöst haben, was die herrschende Gesellschaft uns als „Leben“ anbietet.

Viele Künstler_innen haben diese existenzielle Grenzerfahrung in ihren Werken verarbeitet. Ich denke, Dylan ist einer von ihnen. Allerdings hat er in seiner Musik und in seinen Texten nicht nur eine persönliche Erfahrung von Entfremdung, Aufbruch und Krise reflektiert, sondern auch eine kollektive. Eine Form des Ausdrucks zu finden, ist immer ein erster entscheidender Schritt zur Bewältigung eines Traumas – das gilt für Einzelne, aber auch für Gesellschaften als Ganze. Deswegen kann Kunst, gerade in der retrospektiven Betrachtung, eine heilende und Erkenntnis stiftende Wirkung haben, nicht so sehr indem sie die Menschen sanft einhüllt und in ein fernes Paradies entführt, sondern indem sie dem, was ist – und sei es die schiere Verzweiflung – eine Form abringt. Insbesondere Musik kann jene Tiefenschichten des Erlebens greifbar machen, für welche die Sprache allein ein zu stumpfes Mittel der Darstellung ist. Das gilt vor allem für die Stimme, dem elementarsten und zugleich subtilsten aller Instrumente.

Auch wenn ich befürchte, dass es esoterisch klingen könnte: Während ich mich erholte, hatte ich das Gefühl, endlich zu meiner Stimme zu finden, einer Stimme, die vielschichtiger war, als ich gedacht hatte. Ich fand sie, indem ich Dylans Lieder sang. Mir ist erst später, als ich mich noch einmal mit nüchternem Kopf in die Materie vertiefte, klar geworden, wie viele Menschen vor mir bereits diese Erfahrung gemacht haben müssen, nicht nur, aber insbesondere mit Dylan-Songs. Das ist vielleicht die beste Erklärung für den sagenhaften Ruhm dieses Künstlers. Ich glaube, er wusste nur zu gut um die Macht und die mitunter Leben rettende Wirkung von Musik. Und er schrieb mehr von solcher Musik, als ein großer Songschreiber realistischerweise erhoffen kann.

Aber zu dieser kathartischen Wirkung gehören immer auch die, die zuhören und über das Erlebte nachdenken. Ich glaube, Dylan konnte das, was er tat, nur tun, weil er wusste, dass in einer historischen Ausnahmesituation die konzentrierte Aufmerksamkeit eines breiten Bewegungsspektrums (aber auch die der Nachwelt) auf ihn gerichtet war. Er fand eine sehr besondere Öffentlichkeit in den Gegenkulturen der frühen 1960er Jahre vor. In dieser Öffentlichkeit liefen die widerständigen Erfahrungen und das Wissen mehrerer Generationen und Traditionslinien zusammen. Sie forderte nicht nur „Authentizität“, sondern machte diese in ihren guten Momenten überhaupt erst möglich.

Diese Art der Aufmerksamkeit ist selten. Ich selbst habe sie in Menschen gefunden, die mir nahestehen. Die größere Öffentlichkeit erscheint mir dagegen noch immer mehr oder weniger vergiftet. Dennoch wage ich mit diesem Buch einen kleinen Schritt ins Scheinwerferlicht, in der Hoffnung, einige Leser_innen so zu inspirieren, wie ich inspiriert wurde. Ein Wagnis ist das vor allem auch deshalb, weil mir einige der früh geschriebenen Textpassagen inzwischen ein wenig fremd geworden sind, wie ein altes Bild, auf dem man sich selbst nur noch entfernt ähnlich sieht. Ich würde heute ein etwas anderes Buch schreiben. Aber vielleicht passt es ja gut, das sagen zu können, nachdem man eine Arbeit über Bob Dylan verfasst hat. In jedem Fall hoffe ich, dass gerade die im Zeitverlauf gewandelten Perspektiven, die unterschiedlichen Pfade, auf denen ich mich meinem Gegenstand genähert habe, sich gegenseitig informieren und ergänzen. Daher habe ich auch die älteren Passagen nur relativ wenig verändert. Ich übergebe sie und den Rest dieses Buches hiermit dem Spiel der Assoziationen – Ihrer Assoziationen, liebe Leser_innen – in der Hoffnung, dass es auch in Ihnen ein paar Funken schlagen möge.

Der erste Dank gebührt meinen drei besten Zuhörerinnen der letzten Jahre: Julia Dupont, Luise Strothmann und ganz besonders Yanira Wolf. Alle drei haben die Songs, die ich spielte, in wechselnden Gestalten bevölkert.

Yanira Wolf verdanke ich darüber hinaus wichtige Hinweise zum Manuskript. Sie hat meinem Verständnis von Dylans Kunst und insbesondere der Art und Weise, wie darin Geschlechterverhältnisse und Liebesbeziehungen thematisiert werden, zahlreiche Facetten hinzugefügt.

Ein weiterer Dank geht an Hasko Hüning, der mit seiner engagierten Lehrtätigkeit am Otto-Suhr-Institut wesentliche theoretische Anregungen zu dieser Arbeit geliefert hat und der die ersten, noch sehr vagen Ideenskizzen so sensibel kommentierte, dass ich meine eigene Spur fand. Ohne ihn hätte ich wahrscheinlich nicht den Mut gefunden, ein solches Buch zu schreiben.

Danken möchte ich auch den Teilnehmer_innen eines Colloquiums bei Hajo Funke, der die Arbeit als Prüfer betreut hat und mir dabei die nötige Beinfreiheit ließ. Für anerkennende und kritische Anmerkungen danke ich zudem Rainer Bohn und dem Verlag Edition Sigma sowie natürlich den Mitarbeiter_innen des Archivs der Jugendkulturen und dabei insbesondere Gabi Vogel, Klaus Farin und Daniel Schneider, die das Lektorat übernommen haben sowie Conny Agel, die für das Layout verantwortlich zeichnet.

Ein letzter Dank gilt meinen Eltern, Michael Tapper und Gerlinde Lill, deren eigene Geschichte sich auf mancherlei Weise in dieser Arbeit spiegelt.

 

Das Bild auf der Buchrückseite zeigt Mario Savio, Sprecher der protestierenden Student_innen in Berkeley, am 1. Oktober 1964 auf dem Dach eines Polizeiwagens, in dem der Student Jack Weinberg sitzt. Dieser war festgenommen worden, als er vor der Sproul Hall für die Bürgerrechtsorganisation CORE geworben hatte. Auf dem Campus waren politische Aktivitäten grundsätzlich verboten. Der Wagen wurde für 32 Stunden festgesetzt und als Bühne für spontane Reden genutzt (die Vortragenden zogen dazu die Schuhe aus, um den Lack des Fahrzeugs nicht zu zerkratzen). Die Szene gilt als Initialzündung für das Free Speech Movement und Beginn der Studentenrevolte, die 1968 ihren Höhepunkt erreichte. (Bancroft Library, University of California, Berkeley)

1 EINLEITUNG

There’s a time when the operation of the machine becomes so odious, makes you so sick at heart, that you can’t take part. You can’t even passively take part. And you’ve got to put your bodies upon the gears and upon the wheels, upon the levers, upon all the apparatus, and you’ve got to make it stop. And you’ve got to indicate to the people who run it, to the people who own it, that unless you’re free, the machine will be prevented from working at all! Mario Savio (Berkeley 1964)1

FOLK- UND ROCKMUSIK: KRISTALLISATIONSPUNKT DER „GROSSEN WEIGERUNG“

Versetzen wir uns zu Beginn einen Moment zurück ins Jahr 1967: Das Monterey-Festival nahe San Francisco hat soeben den „Summer of Love“ eingeläutet. Die Studentenbewegung gewinnt seit mindestens drei Jahren kontinuierlich an Kraft – nicht nur im nahe gelegenen Berkeley, wo sie mit den „Freedom Rides“ gegen die „Rassensegregation“ im Süden und dem „Free Speech Movement“ ihren Anfang genommen hatte. Ein großer Teil der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung schließt sich unter Martin Luther King den Vietnamkriegs-Protesten an und kämpft im Bündnis mit Gewerkschafter_innen nun auch für höhere Löhne und eine grundlegende Umwälzung der Eigentumsverhältnisse. Nachdem die meisten Kolonialregime bereits unter dem Druck der Befreiungsbewegungen gefallen sind, attackiert eine jüngere Generation schwarzer Aktivist_innen unter dem Slogan „Black is beautiful!“ und der Forderung nach „Black Power“ die rassistischen Imaginationen der Mehrheitsgesellschaft und schüttelt so, wenigstens für einen historischen Augenblick, die kollektive Erfahrung Jahrhunderte währender Erniedrigungen ab. Der Funke der Revolte springt nach Europa über. In Berlin löst der tödliche Schuss auf den Studenten Benno Ohnesorg eine rasche Ausweitung und Radikalisierung der Proteste aus. Auch jenseits des „eisernen Vorhangs“ gärt es: In der Tschechoslowakei brechen Studentenproteste los, erste Vorboten des „Prager Frühlings“. Noch sind die Hoffnungen auf fundamentalen Wandel lebendig. Erst im darauf folgenden Jahr, dem für den Westen turbulentesten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, werden die sozialen Bewegungen schwere Rückschläge erleiden – u. a. durch politische Morde, Repression und wachsende Militanz, in den USA auch durch einen politischen Rechtsruck infolge der Wahl von Richard Nixon. Die von Nationalgarden blutig niedergeschlagenen Unruhen in den vorwiegend von Schwarzen bewohnten Ghettos der US-Metropolen lassen diese Perspektive eines neokonservativen und schließlich neoliberalen Rollbacks nur erahnen. Erst im Verlauf der 1970er Jahre wird sich dieser Entwicklungspfad, über zahlreiche Kämpfe und alternative Suchbewegungen hinweg, allmählich verfestigen.

In jenem Jahr 1967, auf dem Höhe- und Umschlagspunkt der sozialen Bewegungen in den USA, erscheint die erste Ausgabe des Rolling Stone – damals noch ein gemäßigtes Organ der Alternativöffentlichkeit der Gegenkulturen. In dessen programmatischem Editorial schreibt Jann S. Wenner:

Die Rockmusik ist das Energiezentrum aller Arten von Veränderung, die sich rapide um uns entfalten: sozial, politisch, kulturell und wie immer man es beschreiben will. Tatsache ist, dass für viele von uns, die nach dem zweiten Weltkrieg aufwuchsen, der Rock den ersten revolutionären Einblick in uns selbst lieferte. (Zitiert nach Wicke 2004, S. 129)

Man mag den euphorischen Überschwang und das Pathos dieser Huldigung des Rock heute, wo dieses leicht angestaubte Genre zum Mainstream gehört und nicht selten mit narzisstischem, männlichem Potenzgehabe assoziiert wird, belächeln. Und doch fängt das Zitat die enorme symbolische Aufladung dieser damals noch sehr jungen Musik treffend ein. Rockmusik erscheint nicht nur als markantester Ausdruck des kollektiven Bedürfnisses nach radikaler Veränderung sowohl der Gesellschaft als auch der eigenen Person. Sie vermittelt vielmehr „Einblick“, gilt als elementare Form der Erkenntnis und Kristallisationspunkt der „großen Weigerung“ (Marcuse).

Auch innerhalb der Bewegungsforschung wird mit Blick auf die, vor allem von jungen Menschen getragenen, Proteste der 1960er Jahre die zentrale Funktion der Musik für die Repräsentation geteilter Erfahrungen und damit die Konstruktion „kollektiver Protestidentitäten“ betont.2 So lautet etwa die, in diesem Falle allerdings vor allem auf das Folk-Revival3 bezogene, These von Ron Eyerman und Andrew Jamison:

During the early to mid-1960s the collective identity of what was later called The Movement was articulated not merely through organisations or even mass demonstrations, although there were plenty of both, but perhaps even more significantly through popular music. (Eyerman/Jamison 1995, S. 452)

Das Ausmaß, in dem in den 1960er Jahren Musik ins Zentrum einer gesellschaftlichen Umbruchkonstellation rückte, dürfte für die westlichen Gesellschaften historisch beispiellos sein. Norbert Frei stellt in seiner zum Jubiläumsjahr 2008 erschienen Studie über „1968“ sogar fest: Musik war „die ohne jeden Zweifel wichtigste kulturelle Artikulationsform und Antriebskraft des Jahrzehnts“ (Frei 2008, S. 63).

Dies wirft weit reichende Fragen zum Charakter und historischen Stellenwert der Jugendrevolten der 1960er Jahre und der sie repräsentierenden Musik auf. Einigen dieser Fragen geht die vorliegende Arbeit nach.

Parallelen und Verknüpfungen zwischen der Entstehung des Folk-Revivals und der Rockmusik einerseits und politisch-kulturellen Orientierungen und Aktionen der sozialen Bewegungen andererseits sind vielfach herausgearbeitet worden – vor allem durch den Nachweis inhaltlicher und personeller Überschneidungen.4 Dabei wird immer wieder auf die Rolle der Musik als Verbreitungsmedium der „kognitiven Praxisformen“ der sozialen Bewegungen hingewiesen. Zunächst der sozialkritische Folk und ab Mitte des Jahrzehnts vor allem die Rockmusik wirkten demnach als Katalysatoren der Proteste, akustische „Brandbeschleuniger“, welche die verbindenden Leitideen und Erzählungen der sozialen Bewegungen in eine hoch emotionalisierte musikalische Form übersetzten und sie damit weit über den harten Kern der politisch Aktiven hinaus popularisierten. Entsprechende Analysen konzentrieren sich in der Regel auf die explizite Artikulation von normativ gehaltvollen Deutungsweisen und Forderungen der sozialen Bewegungen durch Musiker_innen. Zugleich zeigen sie, inwieweit letztere in- und außerhalb der Bewegungsöffentlichkeiten als herausragende Repräsentant_innen etwa des Kampfes gegen Rassismus und den Vietnamkrieg oder als Personifikation von Ausstiegsphantasien wahrgenommen wurden. Songtexte, Aufführungs- und Rezeptionskontexte oder verbalisierte Deutungsweisen in der Alternativ- oder Mainstreamöffentlichkeit geraten damit ins Blickfeld der Forschung. Auf diese Weise lässt sich empirisch nachweisen, dass die Musik der aufbegehrenden Jugendlichen damals als unmittelbar politisch empfunden wurde und zentral war für die Ausgestaltung kollektiver Protestidentitäten.

Die weitergehende Frage, wieso gerade Musik (und wieso gerade diese Musik) vor vierzig Jahren eine symbolische Bedeutung erlangen konnte, die heutzutage selbst hoch politisierte Liebhaber_innen der Rock- und Folkmusik zu irritieren vermag, kann auf diesem Wege jedoch nicht wirklich geklärt werden. Genauso wenig lässt sich bestimmen, in welcher Weise die Fokussierung auf spezifische musikvermittelte Vergemeinschaftungsformen die sozialen Bewegungen und Gegenkulturen prägte und damit den Lauf der Geschichte nachhaltig beeinflusste. Der Nachweis, dass die Songs populärer Bands faktisch als Mittel des Aufbegehrens eingesetzt und wahrgenommen wurden, müsste ergänzt werden durch den Versuch einer historisch und theoretisch weiter ausgreifenden und zugleich exemplarisch in die Tiefe gehenden Deutung des Verhältnisses von Musik und politisch-kulturellem Protest. Hierzu einen Beitrag zu leisten, ist eine Hauptintention der vorliegenden Arbeit.

ZEITENWENDE DAMALS UND HEUTE: DAS GEGENWÄRTIGE IM ERINNERTEN UND DER „TRAUM VON EINER SACHE“

Meine Untersuchung zielt zugleich auf eine, als dezidiert politisch verstandene, Erinnerungsarbeit. Das im kollektiven Gedächtnis tradierte Bild der Gegenkulturen der 1960er Jahre ist Gegenstand anhaltender Deutungskämpfe. Nachträgliche Entwicklungen, Konflikte und Ideologien der Gegenwart filtern unseren Blick auf das Vergangene, geben ihm eine je spezifische, meist unreflektierte Tönung. Das ist immer so. Aber nur selten tritt das Gegenwärtige im Erinnerten so scharf hervor, macht sich in so hitzigen Kontroversen geltend, wie in diesem Fall. Die 1960er Jahre und ihre Musik sind uns auf eigentümliche Weise nah – vielleicht zu nah, um sie nüchtern zu betrachten. Das gilt auch für Nachgeborene wie mich, zumindest dann, wenn sie im Umfeld der Neuen Sozialen Bewegungen und der aus ihnen hervorgegangenen Milieus sozialisiert wurden, wenn sie die Klänge der Revolte schon als Kind aus der Stereoanlage der Eltern gehört haben.

Mit diesem Hinweis soll mein wissenschaftlicher Anspruch nicht relativiert werden. Vielmehr denke ich, dass die Suche nach einer quasi unparteiischen Diagnose, mit der die vergangenen Kämpfe „zu den Akten gelegt“ werden könnten, eine falsche Zielstellung wäre. Die Arbeit des Verstandes muss das eigene emotionale involviert Sein und den unauflöslichen Konfliktcharakter der Geschichtsschreibung transparent machen, ihre normativen Maßstäbe hinterfragen und ggf. neu justieren, statt sie zu verwerfen bzw. schlechterdings zu leugnen. Für mich heißt das vor allem: Der emanzipatorische Gehalt der damaligen Bewegungen soll ein Stück weit freigelegt und zugleich in seinen historischen Grenzen reflektiert werden.

Das scheint mir heute, mitten in einer neuerlichen großen Krise und Transformation des Kapitalismus, in besonderem Maße geboten (vgl. hierzu insbesondere Kapitel 5.1). Die sozialen Bewegungen stellen wieder unüberhörbar die Systemfrage, sie fordern einen radikalen Bruch mit den etablierten Institutionen, um „echte Demokratie“ möglich zu machen. Sie beginnen, ihre Zeit wieder als eine zu begreifen, in der die Weichen neu gestellt werden. Als die Aktivist_innen von Occupy Wallstreet im Herbst 2011 die Brooklyn Bridge blockierten und ihre Massenverhaftung eine globale Welle der Solidarität auslöste, da riefen sie einen Slogan, der schon 1968 zu hören war. Damals ging er von den gewaltsam niedergeschlagenen Protesten anlässlich des Demokratischen Parteitages in Chicago aus. Nach der Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Robert Kennedy wurden dort die Hoffnungen auf politischen Wandel begraben. Seiter hat sich dieser Slogan in die Protestgeschichte eingeschrieben. Er war auch 1999, als die globalisierungskritische Bewegung mit der Blockade der WTO-Konferenz in Seattle ihren Durchbruch erreichte, zu hören. Er lautet: „The whole world is watching“.

Dieser Ausruf drückte in der Geschichte der sozialen Bewegungen immer wieder das Bewusstsein für einen historischen Moment aus, jenen Augenblick, in dem sich viele Menschen gemeinsam und zugleich als je Einzelne entschieden, ihre Körper in einem Akt des zivilen Ungehorsams der Gewalt der Herrschenden entgegenzustellen, eben weil sie wussten oder wenigstens hofften, dass die Blicke der Welt auf sie gerichtet waren und ihr Beispiel so etwas wie einen ethisch-moralischen Schock auszulösen vermochte. Den wenigsten jungen Aktivist_innen unserer Tage dürfte bewusst sein, dass es sich bei diesem Slogan um die Abwandlung der Zeile aus einem Folk-Song handelt, einem Lied, das ein junger, der größeren Öffentlichkeit noch kaum bekannter Sänger beim Marsch auf Washington 1963, dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung, vortrug, direkt neben Martin Luther King, der an selber Stelle seine historische Rede unter dem Titel I Have A Dream hielt. Der Name dieses Sängers war Bob Dylan.

Anders als die damaligen Bewegungen, die die Zeit auf ihrer Seite wähnten, stehen die Aktivist_innen von heute (wenigstens in Europa und den USA) mehr oder weniger bewusst mit dem Rücken zur Wand – politisch, aber auch kulturell: Ihr revolutionäres Selbstverständnis wirkt nicht nur angesichts der faktischen Kräfteverhältnisse etwas tollkühn. Problematischer noch erscheint mir, dass diesem radikalen politischen Anspruch auf der Ebene des Alltagsbewusstseins oft nur ein schwacher Sinn für das entspricht, was einmal als „konkrete Utopie“ bezeichnet wurde: Die in Ansätzen schon gelebte, statt bloß abstrakt postulierte Überzeugung, dass eine ganz andere Art des Zusammenlebens, des Denkens und Fühlens, wirklich möglich ist – eine Gesellschaft, in der die je besonderen Handlungs- und Empfindungsweisen eines jeden Menschen bedeutsam sind und die nicht als fernes Paradies oder beschauliches Ökodorf erscheint, sondern als der „Traum von einer Sache“, die bei allem Irrsinn der kapitalistischen Moderne erstmals in der Menschheitsgeschichte zum Greifen nahe liegt und von der die Welt, wie der junge Marx einst schrieb, „nur das Bewusstsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen.“ (Marx 1976, S. 346)

Träumen heißt immer, sich erinnern. Oder genauer: Das Erlebte in der Phantasie neu zusammenfügen. Das geschieht oft scheinbar willkürlich, dient aber immer der Verarbeitung und Integration auseinanderstrebender Erfahrungen. Manchmal helfen Träume, Verdrängtes zu Bewusstsein zu bringen oder die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu klären. Sie können dazu beitragen, etwas in Zukunft vielleicht Mögliches vorzustellen. Um Erkenntnisse und Veränderungen in der Welt der Wirklichkeit zu bewirken, bedürfen Träume allerdings der nachträglichen Reflexion. Ohne die rückblickende Analyse des wachen Verstandes bleibt der erträumte Möglichkeitssinn diffus und irrational. Umgekehrt wird noch der klügste Geist, dem die Fähigkeit zu träumen verloren gegangen ist, krank und destruktiv. Den Schleier zwischen beiden Welten zu lüften, das Vergessen nach dem schweren Erwachen im Morgengrauen zu überbrücken bleibt ein schwieriges, aber gerade in der Krise heilend wirkendes Projekt – das gilt auch für die Träume und Reflexionen in der Geschichte sozialer Bewegungen.

In einer Zeit, die trotz neuer Massenproteste durch verbreitete Gefühle der Ohnmacht und Entfremdung geprägt ist, gilt es, sich eine verschüttete Erinnerung an vergangene Kämpfe neu anzueignen. Dazu müssen wir uns nicht nur historische Ereignisse, Strukturen und Ideen vergegenwärtigen, sondern vor allem eine spezifische kollektive Erfahrung. Und diese Erfahrung ist in der Musik der rebellischen Jugendkulturen vermutlich auf präzisere und subtilere Weise eingefangen als in jedem anderen Medium. Die damals überkochenden Gefühle und ihre historischen Gründe klingen im kollektiven Unterbewussten nach. Sie können durch gedankliche und emotionale Grabungsarbeiten wenigstens teilweise als noch heiße Glut unter den verhärteten Schichten der hegemonialen Erinnerungskultur freigelegt werden. Die nur partiell realisierte und (vorläufig) wieder verlorene Ahnung einer reicheren menschlichen Existenzform, die ganz wesentlich in der Musik kristallisiert ist, soll durch eine historische Deutung neu angeeignet werden. Das ist der politische – und wenn man so will auch ästhetische – Sinn dieses Buches.

Ein erster Schritt zur Erinnerung dieses Erbes besteht darin, dem eigenen wie dem kollektiven Gedächtnis zu misstrauen, sich also bewusst mit den klischeebehafteten Bildern, die heute in den hegemonialen Diskursen von den Gegenkulturen der 1960er Jahre kursieren, auseinanderzusetzen. Denn mit Blick auf die so genannte 68er-Bewegung und dabei im Speziellen die Rockmusik und andere kulturelle Artikulationsformen der Jugendrevolte dominiert in Sozialwissenschaften und Öffentlichkeit eine affirmative Perspektive: Demnach bildeten die Gegenkulturen letztlich nicht mehr als eine Art Stoßtrupp für die Durchsetzung individualistischer und hedonistischer Werte. Dies wurde in den 1980er und 1990er Jahren in der Soziologie zunächst überwiegend als Ausdruck einer schönen neuen „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze) begrüßt.5 In den massenmedialen und alltagskulturellen Sechziger-Jahre-Revivals findet sich diese Sicht häufig in Form einer banalisierenden Rekonstruktion von Fragmenten der Gegenkulturen, die als Lifestyle-Accessoires angeboten werden: Lange Haare, Batik-Klamotten, Drogen und sexuelle Befreiung, allgemein eine Liberalisierung der Umgangsformen und eine Ästhetisierung des Alltagslebens: Alles wird „schön bunt und irgendwie lockerer“. War da – abgesehen von K-Gruppen-Orthodoxie und natürlich den Gewaltexzessen der RAF – sonst noch etwas?

In der Soziologie, den Geschichtswissenschaften und der (vor allem biographisch-subjektiv geprägten) Publizistik erscheinen die mit „1968“ assoziierten Liberalisierungstendenzen des „Wertewandels“ heute – nach der exzessiven Ökonomisierung kreativer Entfaltungsbedürfnisse und im Angesicht einer Systemkrise des deregulierten Kapitalismus – nicht selten in einem anderen, weniger freundlichen Licht: Abgesehen von mystifizierten Vorstellungen einer freien Entfesselung von Subjektivität propagierten „die Achtundsechziger“ demnach hauptsächlich die schiere Negation alles Bestehenden: Protest als Selbstzweck, als eine Form der identitären Abgrenzung und Selbststilisierung, bei der Anlass und Inhalt der Auseinandersetzungen mehr oder weniger gleichgültig blieben.6

Diese These wird mitunter weiter zugespitzt und als Erklärung für die Misere der Gegenwart angeboten: Der illusionäre Drang nach unbegrenzter Selbstverwirklichung und individueller Autonomie, mit dem die Jugendbewegungen die Krise des Fordismus (noch vor der Verfestigung ökonomischer Stagnationstendenzen Anfang der 1970er Jahre) einleiteten, habe die kollektiven Sicherungssysteme und institutionalisierten Mechanismen der Konfliktaustragung zersetzt. Eine tiefe Krise der politischen Repräsentation, der (Selbst-)Disziplin und der sozialen Identitäten sei die Folge der Infragestellung aller Autoritäten und einer paradoxen Suche nach vormoderner Gemeinschaftlichkeit in affektiv aufgeladenen, persönlichen Beziehungen. Das hinterlassene Sinnvakuum werde gefüllt vom Konkurrenzindividualismus, der die Fundamente der Zivilisation untergrabe. Was schließlich bleibe, sei ein entgrenzter Markt, in dem alles zur Ware gemacht wird und Techniken der Selbstführung dominieren, in denen Lust und Verwertung, Freundschaft und Geschäft nicht mehr zu unterscheiden sind: Als Fluchtpunkt dieser Entwicklungen erscheint ein im schlechten Sinne „anarchischer“ Zustand der Anomie (vgl. hierzu Kapitel 4 und 6.1).

Diese, teils auch von linker Seite gestützten, Geschichtskonstruktionen hinken nicht nur, weil sie die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte auf ein Verfallsszenario reduzieren. In ihnen erscheinen auch kulturelle Prozesse tendenziell als autonome Triebfedern des sozialen Wandels. Ihre Verschränkung mit ökonomischen und politischen Konflikten bleibt unklar. Vor allem aber wird die Betrachtung der Jugendbewegungen auf ihre destruktiven Aspekte verkürzt und zugleich als der historische Moment vorgestellt, in dem die „Büchse der Pandora“ geöffnet wurde. Diese Sicht ist nicht nur sachlich höchst fragwürdig, sie behindert auch eine Anknüpfung aktueller sozialer Kämpfe an die damals gemachten Erfahrungen des Widerstandes und der (temporären) Befreiung. Der utopische Überschuss der Gegenkulturen – das, was bei der Überquerung einer geschichtlichen Passhöhe kurz als Möglichkeit einer emanzipierteren Gesellschaft aufschien – wird in der Rückbetrachtung als bloß romantische Verirrung mit fatalen Folgen entsorgt.7

BOB DYLAN: GENIEKULT, HISTORISCHE ZEUGENSCHAFT UND KOLLEKTIVE AMNESIE

Auch die Musik der 1960er Jahre klingt wie verwandelt, wenn wir sie aus dem desillusionierten Gegenwartsbewusstsein heraus hören. Es ist, als wären bestimmte Tiefenfrequenzen, Nebengeräusche und Spitzen der Lautstärkedynamik herausgefiltert – eine Art „symbolische Kompression“ scheint vorgegangen, ähnlich wie bei der Digitalisierung analog aufgezeichneter Musik: An der Oberfläche wirkt alles unverändert, aber wenn man mit dem Original vertraut ist, spürt man, dass etwas Wesentliches fehlt. Die Kopie klingt auf ungreifbare Weise dünner und steriler. Nur liegt die Ursache des Verlusts in diesem Fall nicht auf Seiten der Quelle, sondern beim Empfänger. Und das ist keine bloße Frage des guten Willens. Hören ist eine soziale Praxis, gesellschaftlich ebenso geformt und umkämpft wie die publizistische Debatte. Der Verlust an Erfahrungstiefe betrifft daher auch viele alt gewordene oder nachgewachsene Fans und er prägt oft sogar die nostalgisch verklärte Erinnerung der künstlerischen Heroen der Gegenkulturen. Es fällt uns aus historischen Gründen schwer, auf das zu hören, was einmal die Magie dieser Musik ausmachte. Was dagegen in den Vordergrund tritt, sind die Zeiten und Orte, wo sich, wie Hunter S. Thompson in Fear and Loathing in Las Vegas schreibt, „die Welle schließlich brach und zurück rollte“ (vgl. Thompson 1971).

Gerade mit Blick auf den bis heute mit fast religiöser Inbrunst verehrten Bob Dylan lassen sich hierfür viele Indizien finden. Ich will an dieser Stelle nur eines anführen, nämlich den Kultstatus und die vorherrschende Rezeption des Films Dont Look Back von D. A. Pennebaker (vgl. Pennebaker 1967 sowie zu den verschiedenen Strängen der Dylan-Rezeption ausführlicher Kapitel 8.1). Der gefeierte Streifen aus dem Jahr 1965 bildet heute eines der dominierenden Erinnerungsdokumente, fast so etwas wie eine klassische Form, in der Dylan nachwachsenden Generationen zuallererst begegnet. Dabei sind der musikalische Wert und der Informationsgehalt vergleichsweise begrenzt. Was Dont Look Back auszeichnet, ist seine dynamische Bildästhetik. Sie vermittelt dem Zuschauer das Gefühl, an den Ereignissen hinter den Kulissen der England-Tournee, die ein Medienspektakel und gesellschaftliches Großevent war, direkt teilzunehmen. Dieser Eindruck wird vor allem durch die schnelle Führung der Handkamera erzeugt, die den spontan entstehenden Impressionen in raschen Bewegungen folgt. Diese Art des Filmens, die uns im Zeitalter der Handy-Kameras selbstverständlich erscheint, war damals schon allein aus technischen Gründen etwas Neues, ein situationistisch anmutendes Experiment.

Durch diese dekontextualisierende Form des Beobachtens wirft Dont Look Back