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Helmut Burtscher-Schaden

DIE AKTE
GLYPHOSAT

Wie Konzerne die Schwächen des Systems nutzen
und damit unsere Gesundheit gefährden

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Für Laurin und Livia

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde, sofern es sich nicht um Zitate handelt, auf die Schreibweise „-er/Innen“ verzichtet. Generell wurden stattdessen die Begriffe stets in der männlichen Schreibweise verwendet.

www.kremayr-scheriau.at

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

PROLOG Die falsche WHO

ERSTER TEIL USA 1973 bis 1991

1. Kapitel Betrugsverdacht

2. Kapitel Krebsalarm

3. Kapitel Wundersame Reinwaschung

4. Kapitel Lizenz zum Töten

ZWEITER TEIL Europa 2012 bis 2017

1. Kapitel Systemversagen

2. Kapitel Mobilisierung

3. Kapitel Nebelkerzen

4. Kapitel Verstrickungen

5. Kapitel Risse im System

EPILOG Zukunft

ANHANG

Glossar

Endnoten

Dank

Vorwort

Wer einen sogenannten Google-Alert mit dem Stichwort „Glyphosat“ eingerichtet hat und so täglich eine Medienübersicht per E-Mail erhält, weiß um die seit zwei Jahren anhaltende Dominanz des Themas. Ein solcher Google-Alert präsentiert alles, die Stimmen der Kritiker ebenso wie die der Befürworter. Für den Alltagskonsumenten von Nachrichten und Informationen, der kein Hintergrundwissen zu Glyphosat hat, stellt der Umgang mit dem Thema eine Herausforderung dar: Die Vielfalt der Nachrichten ist verwirrend, die Aussagen sind widersprüchlich, den angebotenen „einfachen Wahrheiten“ kann man nicht unbedingt trauen und die wissenschaftlichen Texte sind für den Laien schwer verständlich.

In Situationen wie diesen kann es hilfreich sein „einmal ganz von vorn anzufangen“, d. h. nachzuschauen, wie alles begann und wie es sich entwickelt hat. Eine solche Zeitreise ermöglicht es, die aktuelle Diskussion besser zu verstehen. Genau so beginnt das vorliegende Buch. Seine Reise in die Urzeit von Glyphosat zeigt uns, wie der Patentinhaber und ursprüngliche Alleinproduzent von Glyphosat, Monsanto, schon vor Jahrzehnten mit unlauteren Mitteln nachgeholfen hat, um das Ackergift auf den Markt zu bringen, das noch heute sein Verkaufsschlager ist.

In diesen Tagen, im Sommer 2017, lese ich das Buchmanuskript mit gemischten Gefühlen. Einerseits macht der Text Mut. Er verdeutlicht: Eine Mauschelei wie vor 30 Jahren bleibt heute nicht mehr unbemerkt. Die Umweltbewegung, deren Ursprung sich auf den „Stummen Frühling“, Rachel Carsons berühmtes Buch aus dem Jahr 1962, datieren lässt, bildet heute einen Grundpfeiler der Zivilgesellschaft.

Seit über zwei Jahren wird um die Frage gerungen, ob Glyphosat in Europa zu verbieten ist. Dass es trotz des großen Drucks von Seiten der chemischen Industrie bislang noch nicht wiedergenehmigt wurde, ist der Kombination zweier Faktoren zu verdanken, einerseits der unüberhörbaren Stimme der Umweltbewegung und andererseits der auf wissenschaftlichen Fakten basierenden Einschätzung der Internationalen Krebsforschungsagentur (IARC) der Weltgesundheitsorganisation. Ich wage zu behaupten, dass jeder für sich allein nicht ausgereicht hätte. Die Glyphosat-Monographie der IARC, in der Glyphosat als „wahrscheinlich krebserregend beim Menschen“ eingestuft wurde, wäre zur Kenntnis genommen worden, um anschließend in einer Schublade zu landen. Umgekehrt hätten die Behörden die Proteste der Umweltorganisationen ohne wissenschaftliche Unterfütterung vermutlich ausgesessen und wären zur Tagesordnung übergegangen. Erst durch das Zusammenwirken beider Akteure wurde jene „kritische Masse“ erreicht, mit der ein „Durchmarsch“ von Glyphosat beim Genehmigungsverfahren aufgehalten werden konnte. Wie das Ringen letztendlich ausgehen wird, ist zum Zeitpunkt des Schreibens dieser Zeilen schwer abzuschätzen.

Doch während das Buch zugleich aufklärt und einmal mehr bewusstmacht, dass es heute eine starke Umweltbewegung gibt und wie nötig sie ist, erleben wir zugleich einen zweiten „stummen Frühling“. Glyphosat verkörpert das DDT des 21. Jahrhunderts – meines Erachtens eine keineswegs übertriebene Feststellung. Umweltverbände, Ökologen und Mitarbeiter von Umweltministerien beklagen den drastischen Schwund an biologischer Vielfalt – verursacht durch Herbizide, insbesondere durch Glyphosat, und zwar nicht nur in Südamerikas Sojawüsten, sondern auch hier in Europa. Inzwischen ist erwiesen, dass Glyphosat und andere Herbizide dafür die Verantwortung tragen. Ein trivialer Gradmesser sind die Windschutzscheiben nach sommerlichen Autofahrten, die vor zwanzig, dreißig Jahren mit Insekten verklebt waren, heute aber nicht mehr. Glyphosat ist kein Insektengift, aber es ist der wesentliche Grund für leer geräumte Agrarlandschaften. Mit dem Verschwinden einer Wildkrautart verschwinden zugleich 10 bis 15 Insektenarten, so die Faustzahl der Entomologen. Das wirkt sich inzwischen auch auf die Vogelwelt aus. Doch dieser „Kollateralschaden“ ist nicht der einzige.

Wie im vorliegenden Buch nachzulesen ist, kam die IARC zu der Schlussfolgerung, dass es „ausreichende Beweise“ dafür gibt, dass Glyphosat in Tierversuchen Krebs verursacht. Zugleich spricht die IARC von „begrenzten Beweisen“ für eine krebserzeugende Wirkung beim Menschen: Bewohner ländlicher Regionen in Kanada und Schweden wiesen nach Glyphosatkontakt ein erhöhtes Krebsrisiko auf. Wie viel höher muss da das Krebsrisiko für die Landbevölkerung in Argentinien, Brasilien und Paraguay sein, wo pro Hektar jährlich acht- bis zehnmal mehr Glyphosat versprüht wird? Aus diesem Teil der Welt gibt es bislang leider keine Untersuchungen, die den strengen wissenschaftlichen Maßstäben der epidemiologischen Forschung standhalten – ein Mangel, der bisher viel zu wenig zur Sprache kam. Warum wird eine solche Untersuchung nicht aus Mitteln jener Länder finanziert, deren Ernährung unter anderem auf dem Import von Millionen Tonnen Soja basiert?

Ein Verbot von Glyphosat in der EU wäre ein wichtiger Beitrag zum Schutz der Gesundheit seiner mehr als 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger, aber es wäre – wie mir in Gesprächen mit Menschen aus Argentinien mehrfach bestätigt wurde – auch ein starkes Signal für die Bewohnerinnen und Bewohner der südamerikanischen Sojawüsten, die heftig unter den Folgen des dortigen Glyphosateinsatzes zu leiden haben.

Peter Clausing

Wilhelmshorst im Juli 2017

Prolog

Die falsche WHO

16. Mai 2016. Der Auftrag war, einmal keinen Auftrag zu haben. Bloß einen entspannten Nachmittag mit meiner Tochter am Spielplatz zu verbringen. Nichts Ungewöhnliches für einen Feiertag im Frühling, doch es kam anders. Während meine Tochter an diesem Pfingstmontag am Klettergerüst turnte, tippte ich am Handy bei Google News den Begriff „Glyphosat“ ein.

Die Macht der Gewohnheit. Denn ich arbeite als Biochemiker für die österreichische Umweltschutzorganisation GLOBAL 2000. Das zentrale Thema meiner Arbeit sind problematische Alltagschemikalien und die Frage, wie Mensch und Umwelt vor ihren Gefahren und Risiken geschützt werden können. Mit einer Gruppe von Umweltschützern, Konsumentenschützern und Wissenschaftlern aus verschiedenen europäischen Ländern hatte ich im vergangenen Jahr an einem gemeinsamen Ziel gearbeitet: zu verhindern, dass die Europäische Union ein krebserregendes Pestizid erneut zuließe. In nur zwei Tagen würden die 28 EU-Mitgliedsstaaten in Brüssel über jene Frage abstimmen, die meine europäischen Kollegen und mich seit Monaten auf Trab hielt: Wird Glyphosat trotz WHO-Klassifizierung als „wahrscheinlich krebserregend für den Menschen“ erneut eine Zulassung in der Europäischen Union erhalten?

Was mir Google News auf meine Abfrage am Spielplatz präsentierte, waren unerwartete Bad News: „WHO hebt den Daumen für Glyphosat“, war da zu lesen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb, „Neue Risikoeinschätzung: WHO hält Glyphosat für nicht krebserregend“1. Sogar Die Zeit titelte mit: „WHO-Forscher stufen Glyphosat als nicht krebserregend ein“2.

Ich war geschockt. Diese Kehrtwende würde unsere Arbeit der letzten Monate mit einem Mal obsolet machen. Wie konnte das sein? Und vor allem: Warum hätte die WHO-Krebsforschungsagentur (IARC) ihre Bewertung plötzlich revidieren sollen?

Dann die Offenbarung: Hinter dem Widerruf steckte jemand anderer. Das Joint FAO/WHO Meeting on Pesticide Residues (JMPR). Dieser kaum auszusprechende Name beschreibt ein internationales Pestizid-Fachgremium von eher zweifelhaftem Ruf. Doch im Moment drohte der „Widerruf“ des JMPR bei der bevorstehenden EU-Abstimmung zum Zünglein an der Waage zu werden: Schon übermorgen könnte Glyphosat erneut zugelassen werden. Bei Monsanto & Co. würden die Korken knallen. Was nur wenige wussten: Das JMPR hatte schon einmal, in den 1980er Jahren, bezüglich Monsantos Glyphosat eine höchst zweifelhafte Entwarnung ausgesprochen. Schon damals widersprach das JMPR einem anderen Gremium, das ein Jahr zuvor Glyphosat als „möglicherweise beim Menschen krebserregend“ eingestuft hatte.

Damals, in den 1980er Jahren, war es die amerikanische Umweltbehörde U.S. EPA, heute ist es die WHO-Krebsforschungsagentur IARC. Aber wer oder was ist dieses JMPR?

Während die WHO-Krebsforschungsagentur IARC für ihre Krebseinstufung ausschließlich öffentlich einsehbare Studien heranzieht, verlässt sich das JMPR überwiegend auf die unter Verschluss gehaltenen Studien der Pestizidhersteller. Während die Krebsforschungsagentur IARC bei ihren Entscheidungen auf Unabhängigkeit und Transparenz bedacht ist, gilt das JMPR vielen als industriedominiert und undurchsichtig. Während die WHO-Krebsforschungsagentur bewertet, ob eine Chemikalie die grundsätzliche Eigenschaft besitzt, Krebs auszulösen – und zwar unabhängig von Dosis und Art der Aufnahme –, betrachtet das JMPR nur das Risiko, das von Pestizidrückständen in Lebensmitteln ausgeht.

Einer der ersten, der sich auf Twitter über die positive Bewertung des JMPR freute, war der Vizepräsident von Monsanto, Robb Fraley. Erst ein Jahr zuvor hatte Fraley die IARC wüst attackiert. Nun zwitscherte er vergnügt: „WHO/FAO widerlegt WHO/IARC: Sicherheit von Glyphosat erneut bestätigt!“ Doch es gab noch einen anderen Tweet zum selben Thema. Der französische Journalist Stéphane Foucart von Le Monde offenbarte eine Verflechtung, die das Urteil des JMPR in ein anderes Licht rückte: „Alan Boobis und Angelo Moretto (ILSI-Angehörige) waren nicht nur Mitglieder des JMPR zu Glyphosat. Sie waren Vorsitzender und Vize.“ Da hatte jemand sorgfältig recherchiert: Denn Alan Boobis und Angelo Moretto sind zwei Wissenschaftler, deren Namen häufig auftauchen, wenn industriefreundliche Vorschläge in Regulative gegossen werden sollen. Beide haben hohe Funktionen beim „International Life Science Institute“ (ILSI), das von den großen Lebensmittel- und Chemiekonzernen dieser Welt, darunter auch Monsanto, Bayer, Nestle, BASF u.v.m. finanziert wird3.

Dennoch würden viele Zeitungen am nächsten Tag mit einer Ente erscheinen: „WHO gibt Entwarnung bei Glyphosat.“ Und der Zeitpunkt dieser vermeintlichen Reinwaschung des Pestizids, einen Tag vor der entscheidenden Abstimmung, war für jene, die Glyphosat verhindern wollten, für uns, natürlich verheerend.

Der Ausflug auf den Spielplatz wurde von dieser Nachricht jäh beendet. Meine Zuversicht, unsere Arbeit würde bei der Entscheidung der EU zum Thema entsprechende Früchte tragen, war stark getrübt. Jetzt galt es mit einer Aussendung an die Presse Grundsätzliches richtigzustellen. Erstens: Dass die WHO keinen „Rückzieher“ gemacht hatte. Zweitens: Dass es im JMPR noch immer ungelöste Interessenkonflikte gibt. Drittens: Dass das JMPR sich einzig mit Pestizidrückständen in Lebensmitteln beschäftigt. Zu viele Themen, um sie auf einer Seite einer Presseaussendung unterzubringen. Schließlich war das nur die neueste Entwicklung einer Geschichte, die bereits in den 1970er Jahren in den USA ihren Ursprung hatte. Die zu erzählen würde aber ein ganzes Buch füllen. Dieses Buch.

ERSTER TEIL

USA 1973 bis 1991

1. Kapitel

Betrugsverdacht

Zu schön, um wahr zu sein

Am 4. April 1983 beginnt am US-Bundesgericht von Chicago ein Prozess, der zu einem der umfangreichsten in der Geschichte des Staates Illinois werden soll und bis zum Urteilsspruch im Oktober 1983 mehr als 16.000 Seiten Verhandlungsprotokolle füllen wird.1 Sechs Jahre haben die Justizbehörden ermittelt. Zeitungskommentatoren sprechen vom größten Fall wissenschaftlichen Betrugs in der Geschichte der USA, vielleicht sogar weltweit. Im Verdacht stehen die Industrial Biotest Laboratories (IBT-Laboratories), das ehemals größte private Prüfinstitut für Industriechemikalien in den Vereinigten Staaten. Auf der Anklagebank sitzt Joseph C. Calandra, der Gründer und einstige Eigentümer der IBT-Laboratories, sowie drei seiner ehemals führenden Wissenschaftler. Ihnen wird vorgeworfen, routinemäßig Untersuchungsberichte über Inhaltsstoffe von Medikamenten, Körperpflegeprodukten und Pestiziden gefälscht und so vorsätzlich die US-amerikanischen Zulassungsbehörden getäuscht zu haben.

Aufgeflogen war dieser Schwindel bereits 1976. Adrian Gross, ein aufmerksamer Prüfer der US-Food and Drug Administration (FDA), der für die Zulassung von Medikamenten und Lebensmittelzusatzstoffen zuständigen Behörde, war bei der Prüfung einer Schmerzmittel-Studie der IBT-Laboratorien stutzig geworden: Die Versuchsdaten schienen ihm „zu schön, um wahr zu sein“2: Keine der Ratten hatte Tumoren entwickelt, erklärte Adrian Gross später. Dabei weiß jeder Pathologe, dass Ratten und Mäuse in diesen Langzeit-Studien auch spontan Tumoren entwickeln und ein gewisses Maß an Sterblichkeit eintritt. Doch laut IBT-Studie waren alle Tiere sauber.

Gross stieß bei einer genaueren Prüfung der Rohdaten dieses „Naproxyn-Berichts“ auf Merkwürdigkeiten in den Datentabellen: Ratten, die in einem früheren Abschnitt der Studie als tot gelistet waren, tauchten in einem späteren Studienabschnitt plötzlich wieder auf. „Wir glauben nicht wirklich daran, dass verstorbene Tiere von den Toten auferstehen“, notierte Adrian Gross in seinem Bericht. Tatsächlich hatten die IBT-Laboratorien aufgrund katastrophaler sanitärer und hygienischer Bedingungen in den Tierställen mit einer Sterblichkeitsrate bei den Versuchstieren zu kämpfen, die eine ordnungsgemäße Durchführung der Versuche in vielen Fällen unmöglich machte. Um dies zu vertuschen, wurden IBT-Techniker angewiesen, verendete Tiere durch gesunde „nachzubesetzen“. Das Rätsel um die fehlenden Tumoren war damit wohl gelöst.3

Die Naproxyn-Schmerzmittelstudie war nur eine von 22.000 Studien, die IBT in den drei Jahrzehnten seines Bestehens für Hersteller und Behörden durchgeführt hatte. Hunderte Chemikalien, die nun in Abertausenden Alltagsprodukten zu finden sind, waren aufgrund dieser Untersuchungsergebnisse als sicher eingestuft worden. Eine dieser Chemikalien erhält in dem nun beginnenden Gerichtsverfahren besondere Aufmerksamkeit: der Monsanto-Bakterienkiller Triclocarban (TCC). Was die Zeugenbefragungen über die Sicherheitsprüfung von TCC und die Rolle, die Monsanto dabei spielte, ans Licht bringen werden, vermittelt einen Eindruck, wie weit der Konzern zu gehen bereit war, um seine Interessen durchzusetzen.

TCC, ein antibakterieller Zusatzstoff für Seifen, war Anfang der 1970er Jahre ins Visier der FDA geraten. Es waren Hinweise aufgetaucht, wonach TCC bei männlichen Ratten, denen der Bakterienkiller verfüttert wurde, zu einer Deformation der Hoden führte. Das stellte Monsanto vor ein Problem. Denn der Chemiekonzern hatte etwa zu dieser Zeit eine Anhebung des zulässigen Anteils von TCC in Seifen und Flüssigwaschprodukten beantragt. Deshalb beauftragte Monsanto die privaten IBT-Laboratorien mit der Durchführung einer Fütterungsstudie an Ratten. Die Studie sollte die Behörde davon überzeugen, dass TCC sicher ist. Interessanterweise tauschte zur selben Zeit der Monsanto-Toxikologe Paul Wright seinen Job bei Monsanto gegen eine Anstellung bei den IBT-Laboratorien ein. Dort überwachte er als Leiter der Abteilung für Rattentoxikologie unter anderem jene Studie, die die Sicherheit von TCC beweisen sollte. Doch schon zur Halbzeit der 24-Monate-Fütterungsstudie zeigte sich, dass die Laborratten sich diesem (mutmaßlichen) Plan widersetzten. Im Juni 1972 entdeckte der Pathologe Donovan L. Gordon bei den männlichen Tieren Schädigungen der Hoden. Er schrieb seine Beobachtungen in einem Zwischenbericht nieder und löste damit ungeahnte Reaktionen aus.

Die zahlreichen Versuche, die Gordons Vorgesetzte und Vertreter von Monsanto zwischen 1972 und 1976 unternahmen, um den Pathologen zu überzeugen, dass die von ihm festgestellten Schäden nicht durch TCC verursacht wurden, sondern andere Gründe haben müssten, erhalten im Gerichtsprozess viel Raum. Die Details schildert der US-amerikanische Journalist Keith Schneider in einer ebenso lesenswerten wie verstörenden Reportage, die in der „Spring Edition 1983“ des Amicus Journal der Umweltorganisation Natural Resources Defense Council erschien, und in zahlreichen US-amerikanischen Medien Niederschlag fand. Hier folgt nun eine Übersicht über die wichtigsten Ereignisse in Bezug auf Monsantos TCC:4

imageAm 11. Oktober 1972 schärfen zwei Monsanto-Wissenschaftler Gordon vor der Zwischenpräsentation der Studie vor einem FDA-Gremium ein, wie wichtig eine gute Darstellung von TCC sei. Offenbar mit Erfolg, denn im Protokoll des Meetings sind Schädigungen der Hoden nicht erwähnt. Doch Gordon hält die Hodenveränderungen weiterhin für TCC-verursacht.

image6. Oktober 1973: Drei Monate nach Beendigung der Fütterungsstudie trifft sich Paul Wright, der zwischenzeitlich bei IBT gekündigt hat und nun wieder für Monsanto arbeitet, mit IBT-Chef Joseph C. Calandra. Ihm bereitet Sorge, dass in Gordons Zwischenbericht nach wie vor Hodenschädigungen beschrieben werden, die bei großen und kleinen TCC-Dosierungen aufgetreten sind. Er drängt Calandra, Gordon zu überzeugen, seine Schlussfolgerungen zu ändern, da auch Faktoren wie Stress, Geschlecht, Alter und Ernährung für die Schäden der Tiere verantwortlich sein könnten.

imageAm 22. Januar und 21. Februar 1975 werden Gordons Befunde der TCC-Studie bei zwei weiteren Meetings bei IBT kritisiert.

image25. August 1975: Gordon, der sich nicht von seiner Schlussfolgerung abbringen lässt, muss mit dem von Monsanto angeheuerten Pathologen Dr. William Ribelin die Gewebeproben nochmals begutachten und diskutieren. Gordon kann den Monsanto-Pathologen Ribelin überzeugen, dass seine Beobachtungen tatsächlich einen behandlungsbedingten Effekt in allen drei Dosisgruppen5 belegen. Später sagt er vor Gericht aus, dass Ribelin ihm auch eine handschriftliche Kopie seines Berichts aushändigte, in dem Monsanto informiert wurde, dass auch Ribelin zu der Auffassung gelangt war, dass TCC in allen drei Dosisgruppen Hoden-Läsionen verursacht hatte.

imageIm Jänner 1976 erfolgt ein letzter erfolgloser Versuch, Gordon von seinem Befund abzubringen. Dann stellt Calandra eine unerwartete Frage: Gab es bei den Ratten vielleicht signifikante Verwesungserscheinungen? Gordon bestätigt, dass dies bei einigen Tieren so war, bei anderen aber nicht. Daraufhin informiert Calandra Donovan L. Gordon, dass er dessen Befunde aus dem Bericht entfernen und durch die Formulierung, dass die Zersetzung eine aussagekräftige Bewertung der Hodengewebe ausschließt, ersetzen werde.

image10. Mai 1976: Der finale TCC-Report, in dem die Ratten in der Niedrigdosisgruppe keine Deformationen der Hoden mehr aufweisen, wird von Monsanto an die FDA übergeben. Diese sieht ihre Bedenken wegen Hodenatrophie durch TCC ausgeräumt und empfiehlt die Anhebung der zulässigen Höchstmengen von TCC in Seifen und Flüssigwaschprodukten.

imageApril bis Juli 1976: IBT unter Betrugsverdacht. Die TCC-Studie gerät als eine der ersten ins Visier der Ermittler. Monsanto muss die Studie wiederholen und beauftragt das private Prüfinstitut Bio/dynamics. IBT vernichtet indes Hunderte von Briefen zwischen IBT und seinen Auftraggebern, die – wie die Ermittler vermuten – das Mitwissen großer Chemiefirmen am IBT-Betrug belegen hätten können.

imageJuni 1982: Ein Monsanto-Sprecher erklärt gegenüber dem Magazin Mother Jones6, dass die hoffnungslos fehlerhafte IBT-Studie durch eine Studie von Bio/dynamics ersetzt worden sei. Letztere würde zeigen, dass ein Mensch ein Leben lang täglich rund 26 Stück Seife essen müsste, um jene Menge an TCC aufzunehmen, die bei den Testtieren zu erheblichen toxischen Effekten führte. Monsantos Bakterienkiller TCC gilt als rehabilitiert.

image21. Oktober 1983: Paul Wright und zwei seiner Mitangeklagten werden von den Geschworenen in wesentlichen Anklagepunkten für schuldig befunden (IBT-Gründer Joseph C. Calandra konnte sich dem Prozess aufgrund gesundheitlicher Probleme entziehen). Wright muss eine sechsmonatige Gefängnisstrafe antreten und verliert seine Anstellung bei Monsanto.

Jener Mann, der den Skandal aufgedeckt hatte, Adrian Gross, war bereits ein Jahr vor Prozessbeginn in einem Interview gefragt worden, weshalb Konzerne es denn zulassen sollten, dass ihre Produkte mit unbrauchbaren oder gefälschten Tests untersucht werden. Wollen die Firmen denn gar nicht wissen, ob ihr Produkt Krebs erzeugt, die Fortpflanzung beeinträchtigt oder die DNA schädigt? Und riskieren sie nicht, geklagt und wirtschaftlich zerstört zu werden, wenn sie gefährliche Produkte verkaufen? Gross antwortete mit einer Gegenfrage: „Wie wollen Sie beweisen, dass ein bestimmtes Pestizid bei jemandem Krebs erzeugt hat? Der Mensch ist im Gegensatz zur Labormaus Hunderten, wenn nicht Tausenden von Chemikalien ausgesetzt. Die Konzerne wissen, dass sie von individuellen Produkthaftungsklagen nicht viel zu fürchten haben. Sollten sie dennoch mal einen Fall verlieren, ist der entstehende Schaden verglichen mit dem Gewinn, den sie mit ihrem Produkt lukrieren können, klein.“7

Der weitere Verlauf der Geschichte von TCC gibt ihm Recht: Monsanto blieb von weiteren Ermittlungen verschont. Dass das neue Vertragslabor von Monsanto, das mit seiner Wiederholungsstudie TCC letztlich rehabilitierte, laut dem US-Magazin Mother Jones kurz darauf ebenfalls wegen unzulässiger Praktiken und Defizite ins Visier einer U.S. EPA/FDA-Inspektion geriet, änderte daran auch nichts mehr. TCC konnte sich erfolgreich am US-Markt behaupten. Zur Jahrtausendwende enthielten laut einer Erhebung der amerikanischen Umweltbehörde U.S. EPA über 80 Prozent der Deodorant-Seifen in den USA TCC. 2008 fand ein Forscherteam der Universität von Kalifornien allerdings heraus, dass TCC hormonschädigend wirkt (siehe Kasten Seite 22) und im Rattenversuch zu Veränderungen der männlichen Geschlechtsorgane führt8. Ein besorgniserregendes Ergebnis. Denn 2014 zeigte eine vom National Institute of Health geförderte Studie, dass 80 Prozent der untersuchten schwangeren Frauen TCC im Urin ausschieden und jedes fünfte Neugeborene zum Zeitpunkt seiner Geburt den Bakterienkiller im Blut hatte9. Die Autoren dieser Studie äußerten Besorgnis bezüglich des hormonschädigenden Potenzials von TCC. Am 6. September 2016 beschloss die FDA schließlich ein Verbot der Verwendung von TCC in Seifen und Flüssigwaschprodukten außer für medizinische Zwecke. Mehr als vier Jahrzehnte, nachdem der Pathologe Donovan L. Gordon die ersten deutlichen Hinweise darauf in seinem Studienbericht notiert hatte, stellte die FDA also fest, dass TCC „aufgrund hormoneller Effekte ein Gesundheitsrisiko darstellen könnte“.10

Hormonschädigende Chemikalien (Endocrine Disrupting Chemicals, EDC) Hormonell wirksame bzw. hormonschädigende Chemikalien werden von der Weltgesundheitsorganisation mit dem weltweiten Ansteigen von Fruchtbarkeitsstörungen wie verminderter Spermienqualität oder Missbildungen der männlichen Geschlechtsorgane, einer Zunahme von hormonassoziierten Formen von Krebs wie Brust-, Prostata-, oder Hodenkrebs sowie einer Reihe weiterer Zivilisationskrankheiten, etwa Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen u.a.m., in Zusammenhang gebracht. Ihre schädliche Wirkung rührt daher, dass sie aufgrund ihrer (zufälligen) strukturellen Ähnlichkeit mit Hormonen sensible hormonelle Steuerungsprozesse im Organismus stören können. Ähnlich wie Hormone können sie ihre Wirkung mitunter in sehr niedriger Dosierung entfalten. Am empfindlichsten gegenüber Störungen durch hormonschädigende Chemikalien ist der Organismus während sogenannter entwicklungskritischer Zeitfenster: Deshalb reagieren Föten, Kleinkinder und Pubertierende besonders empfindlich auf solche Stoffe. Zwischen dem Einwirken hormonschädigender Chemikalien und der Manifestation einer Erkrankung infolge dieser Einwirkung können Jahrzehnte liegen.11

Die Laborratten sind wir!

In den US-Medien rief der IBT-Betrugsfall teilweise bitterböse und heftige Reaktionen hervor. Der Tallahassee Democrat stellt in seiner Ausgabe vom 4. Juli 1982 die Frage:

Fühlst du dich sicher? … und ergänzt: Tu’s nicht! Sie testen Produkte an dir aus.12

Eine der umfassendsten, radikalsten und zugleich treffsichersten Analysen bietet die Monatszeitschrift Mother Jones13 in ihrer Juni- und der darauffolgenden Juli-Ausgabe von 1982. Dem Teil 1 ihrer Analyse14 stellen die Herausgeber einen Brief voran, in dem es heißt:

Nach einem Jahr gemeinsamer Recherche müssen wir feststellen, dass unser gesamtes Regulierungssystem derart industriedominiert, derart von Inkompetenz und Korruption durchsetzt ist, dass es den Schutz der Menschen in Amerika beinahe zur Gänze verfehlt.

Das Blatt enthüllt schonungslos die inhärenten Interessenkonflikte, denen Auftragslabors wie IBT ausgesetzt sind:

Gedeih und Verderb von privaten Testlabors hängen davon ab, ob sie bei den Produkten, deren Sicherheit sie prüfen, günstige Ergebnisse erzielen. Ihr Überleben als Eigentümer oder Geschäftsführer eines solchen Labors ist in ernster Gefahr, sobald sie zu viele Produkte als unsicher beurteilen.

Doch am härtesten geht das Blatt mit den Regulierungsbehörden ins Gericht:

Die Illusion von Sicherheit wird nicht immer von korrupten Prüfinstituten oder betrügerischen Konzernen erzeugt. Zu oft schauen Regulierungsbehörden entweder weg oder akzeptieren blind die Schlussfolgerungen einer eigennützigen Forschung.

Das Totalversagen des Kontrollsystems ist eng mit der Sorge um die Gesundheit verknüpft: Die Autoren von Mother Jones präsentieren konkrete Zahlen über die Häufigkeit von Missbildungen bei Neugeborenen und von jährlichen Krebserkrankungen und stellen diese in einen Zusammenhang mit dem katastrophalen Versagen der Sicherheitsprüfung durch Behörden.

Mehr als 800.000 Neuerkrankungen an Krebs werden dieses Jahr erwartet und laut dem „Center for Disease Control“ werden 1982 nahezu drei von hundert Babys mit schwerwiegenden Geburtsschäden zur Welt kommen. Manches ist unvermeidbar, eine Kombination aus menschlichem Versagen, höherer Gewalt oder einfach Pech. Aber viel zu viel wird durch Produkte verursacht, denen wir vertrauen, weil sie als sicher eingestuft sind.

Eine Frage, die jahrelang niemanden interessiert hat, wird mit einem Mal in den Zeitungen des Landes diskutiert: Ist es klug, die Untersuchung heikler Chemikalien denen zu überlassen, die diese Chemikalien herstellen und verkaufen? Und warum werden die Untersuchungsberichte geheim gehalten?

Lessons learned?

Werden die Verantwortlichen die naheliegenden und notwendigen Konsequenzen aus dem Skandal ziehen? Wird das Zulassungssystem grundlegend reformiert werden?

Die Antwort lautet leider Nein. Das Zulassungssystem bleibt in seinem Wesen unangetastet. Dies obwohl fehlende Transparenz, inhärente Interessenkonflikte und mangelnde Kontrolle als inakzeptable Schwachstellen identifiziert wurden. Der Hersteller darf die Prüfung der gesundheitlichen Risiken seines Produkts weiterhin selbst durchführen oder an ein Labor seiner Wahl auslagern. Er beteiligt sich an der Erstellung des Prüfberichts, verfasst das dazugehörige Dossier und schlägt der Behörde vor, wie sie die Studienergebnisse interpretieren soll. Das Einzige, was sich wirklich in Folge des IBT-Betrugs änderte, sind die gesetzlichen Anforderungen an (private) Prüfinstitute. Der 1978 vom amerikanischen Kongress verabschiedete „Good Laboratory Practice-Act“ (GLP) schreibt einen verbindlichen Rahmen für die Durchführung von toxikologischen Studien vor, wenn diese für die behördliche Produktregistrierung bestimmt sind. GLP beinhaltet klare Vorgaben für die Haltung und Versorgung von Versuchstieren, die Aufbewahrung von Chemikalien und die lückenlose, tagesaktuelle Dokumentation von Ergebnissen und Versuchsdetails. Die Einhaltung dieses Standards sollte durch ein eigens zu diesem Zweck gegründetes Inspektoren-Team gewährleistet werden. Die grobe Fälschung von Studien, das Erfinden von Daten – Zustände, die in den IBT-Laboratorien an der Tagesordnung waren – würde es mit dem neuen Laborstandard nicht mehr geben. Die Zeiten, als die Studien „zu schön waren, um wahr zu sein“ (Adrian Gross), waren nun vorbei. Die korrekte Einschätzung von Risiken und Gefahren würde zukünftig weit weniger durch die Fälschung der Versuchsdaten gefährdet sein als durch ihre fehlerhafte (statistische) Auswertung und die unzulässige Interpretation der Ergebnisse durch Prüfinstitute, Hersteller und Behörden.

Aber es gibt noch ein zweites drängendes Problem, das gelöst werden muss. Da sind die 22.000 IBT-Studien, die möglicherweise nicht einmal das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben wurden. Behörden gehen davon aus, dass rund die Hälfte davon zur Registrierung von Produkten für den amerikanischen Markt diente. Davon entfiel wiederum ein erheblicher Teil auf die Registrierung von Pestiziden.15 Der U.S. EPA bleibt nichts anderes übrig als zumindest die wichtigsten dieser zahllosen Pestizid-Studien − eine nach der anderen − auf ihre Plausibilität zu prüfen. Studien, die sich als unzuverlässig erweisen, müssen von den Herstellern wiederholt werden. Zu den 200 Pestizidwirkstoffen, deren Registrierung überwiegend auf IBT-Studien basiert, zählt auch ein Unkrautvernichter, den Monsanto erst vor wenigen Jahren, 1974, auf dem US-Markt einführte: Glyphosat.

Glyphosat — vom Rohrreiniger zum Rekordpestizid

N-(Phosphonomethyl)glycin, besser bekannt als Glyphosat, ist ein Breitbandherbizid. Es tötet unselektiv sämtliche Pflanzen, indem es einen zentralen Stoffwechselweg hemmt, der allen Pflanzen gemeinsam ist, ebenso wie Bakterien und Pilzen.16 Dass dieser Stoffwechselweg bei Mensch und Tier nicht vorkommt, wurde vielfach als Argument für die angebliche gesundheitliche Unbedenklichkeit von Glyphosat angeführt. Glyphosat ist der weltweit meist verkaufte und eingesetzte Pestizidwirkstoff. Im Jahr 2012 produzierten rund 90 Chemieunternehmen in 20 Ländern 720.000 Tonnen Glyphosat17. Monsantos Roundup war das erste Unkrautvernichtungsmittel mit Glyphosat als Wirkstoff.

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Ursprünglich wurden glyphosathaltige Herbizide nur dazu verwendet, um die Felder vor der neuen Aussaat von Unkräutern zu befreien. In den 1980ern ging man auch dazu über, erntereifes Getreide mit Glyphosat abzutöten, um die Trocknung zu beschleunigen und den Erntezeitpunkt zu steuern. In den 1990er Jahren gelang es dem US-Konzern Monsanto, Pflanzen gentechnisch gegen Glyphosat resistent zu machen und diese zu patentieren.

Das ermöglichte den Einsatz von Monsantos Roundup auch nach der Aussaat und während des gesamten Pflanzenwachstums. Monsantos Patent auf Glyphosat lief im Jahr 2000 aus.

Heute sind Dutzende anderer glyphosathaltiger Herbizide auf dem Markt. Neben der Anwendung in der Landwirtschaft finden sie auch Einsatz auf öffentlichen Plätzen, rund um Bahngeleise und im privaten Hausgarten.

Entdeckt wurde Glyphosat vom Schweizer Chemiker Henri Martin, der 1950 als erster die Chemikalie systhetisierte. Glyphosat fand zunächst wenig Beachtung. 1964 patentierte die Stauffer Chemical Company Glyphosat als „Chelator“, da es Mineralien wie Kalzium, Magnesium, Mangan, Kupfer und Zink bindet. Erstmalige Anwendung fand Glyphosat als Rohrreiniger zur Entfernung von Kalkablagerungen aus Rohrleitungen in Heißwassersystemen18. Auch der US-Konzern Monsanto hatte in den 1960er Jahren Glyphosat als potenziellen Wasserenthärter untersucht. Dabei stieß er auf seine herbizide Wirkung, und patentierte Glyphosat im Jahr 1969 als Herbizid. 1974 führte Monsato das glyphosathaltige Unkrautvernichtungsmittel „Roundup“ auf dem US-Markt ein.

Jene zwei Krebsstudien − eine mit Ratten und eine mit Mäusen −, die Monsanto Anfang der 1970er Jahre der U.S. EPA zum Nachweis, dass Glyphosat nicht krebserregend ist, vorlegte, waren in den IBT-Laboratorien entstanden. Nun stehen sie im Verdacht, unbrauchbar oder möglicherweise sogar manipuliert zu sein.

Am 21. August 1978 – zwei Jahre nach Auffliegen des IBT-Skandals und fünf Jahre nach der Markteinführung von Glyphosat – muss daher der U.S.-EPA-Toxikologe William Dykstra prüfen, ob die beiden Studien zuverlässig belegen, dass Glyphosat bei Nagetieren keine Tumoren erzeugt. Dykstra macht mit den alten Monsanto- Studien das, was der Aufdecker Adrian Gross gut zwei Jahre zuvor mit der IBT-Schmerzmittelstudie gemacht hat: Er schaut sich die Datentabellen genauer an. In seinem Bericht19 hält Dykstra fest, dass er wegen des Verlustes von 70 Tieren in den Kontroll- und Testgruppen und der geringen Zahl an histopathologisch* untersuchten Tieren „nicht feststellen kann, ob Glyphosat ein krebserregendes Potenzial hat oder nicht“. Insgesamt gäbe es 66 Tiere, deren Todesdatum nur anhand des Zeitpunkts ihres Verschwindens aus den individuellen Gewichtstabellen abgeschätzt werden könne. Ein ähnliches Bild liefert auch die Krebsstudie mit Mäusen: „Too many animals are missing“, gibt William Dykstra zu Protokoll. Noch am selben Abend beschließt die U.S. EPA, dass Monsanto die Ratten- und die Mauskrebsstudie wiederholen muss.20

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William Dykstra, U.S.-EPA-Memorandum vom 21. August 197821

Eine der Konsequenzen aus dem IBT-Skandal ist also, dass die EPA fünf Jahre nach der erstmaligen Registrierung von Glyphosat erkennen muss, dass die beiden von Monsanto eingereichten Krebsstudien unbrauchbar waren. Aber warum erst jetzt, wenn es so offensichtlich war, dass nicht einmal alle Tiere auf Tumoren untersucht wurden? Auf welcher Basis hatte die U.S. EPA diese beiden Studien denn einst akzeptiert? Hatte sie jene Originalstudien, die aufgrund des Firmengeheimnisses einer Überprüfung von unabhängiger Seite nicht zugänglich waren und die einzig von der Behörde geprüft werden konnten, nicht einmal angeschaut?

Rund dreißig Jahre später wird eine europäische Zulassungsbehörde genau das eingestehen müssen. Aber bleiben wir vorerst in den USA der späten 1970er Jahre.

* Eine histopathologische Untersuchung ist die mikroskopische Untersuchung von Gewebeproben.

2. Kapitel

Krebsalarm

Monsanto muss seine beiden Krebsstudien mit Ratten und Mäusen wiederholen. Das ist keine gute Nachricht. Zum einen kostet so eine Fütterungsstudie viel Geld, doch das ist möglicherweise das kleinere Problem. Viel schlimmer wäre es, wenn das Ergebnis nicht passt. Mit anderen Worten: Wenn die Ratten in den Testgruppen – also jene Tiere, denen Glyphosat im Futter verabreicht wird – signifikant häufiger Tumoren entwickeln als ihre Artgenossen in der Kontrollgruppe. In diesem Fall hätte Monsanto ein echtes Problem, denn dann drohte Glyphosat die Einstufung als krebserregend und es käme die Delaney Rule zur Anwendung.

Die Delaney Rule1, auch Delaney Clause genannt, ist ein Zusatz zum „Federal Food, Drug, and Cosmetic Act“ aus dem Jahr 1958, benannt nach dem US-Kongressabgeordneten James J. Delaney. Sie verbietet es, Chemikalien, die beim Menschen oder im Tierversuch Krebs erzeugen, in Lebensmittel einzubringen. Aus Konsumentensicht klingt das nach einer vernünftigen Idee, doch der Industrie war das Gesetz von Anbeginn ein Dorn im Auge. Sie kritisierte vor allem, dass die Delaney Rule nicht zwischen stark krebserregenden Stoffen und schwach krebserregenden Stoffen unterscheide. Noch immer lautet der Vorwurf der Industrie es sei „unwissenschaftlich“, wenn man das effektive Risiko bei sachgemäßer Anwendung außer Acht ließe.

Das Urteil der U.S. EPA, dass beide IBT-Krebsstudien unzuverlässig sind, stellte Monsantos Glyphosat also vor eine echte Bewährungsprobe. Sollte sich das Pestizid als krebserregend erweisen, wäre sein Einsatz in der Landwirtschaft (falls überhaupt) nur noch unter Einschränkungen möglich. Aber das große Geld lässt sich nicht mit Pestiziden verdienen, die nur entlang von Straßen und Bahngeleisen versprüht werden dürfen.

Gegen Ende des Jahres 1978 beauftragt Monsanto die erste von der EPA geforderte Wiederholungsstudie zur Ermittlung der Krebsgefahr von Glyphosat: eine 26-Monate-Fütterungsstudie mit Ratten.

Krebsalarm bei Ratten, doch die Behörde schaut weg

1981 ist es so weit. Die Rattenstudie ist fertig und trägt den eindrucksvollen Titel:

A Lifetime Feeding Study of Glyphosate (Roundup Technical) in Rats (Report by GR Lankas and GK Hogan from Bio/dynamics for Monsanto. Project #77-2062, 1981: MRID 00093879) – Including the study’s 4-volume Quality Control evaluation of the Bio/dynamic assessment performed by Experimental Pathology Laboratories, Inc. (2,914 pp).

Noch im selben Jahr wird Monsanto bei der U.S. EPA einen Antrag auf Geheimhaltung der Studie stellen. Der Konzern betrachtet die Studie als sein Eigentum und Geschäftsgeheimnis. Da die U.S. EPA die Sichtweise offenbar teilt, wird die Studie fortan unter Verschluss gehalten. Ab diesem Zeitpunkt ist die Kontrollbehörde die einzige Instanz weltweit mit der Möglichkeit, die Korrektheit und Plausibilität der in dieser Studie enthaltenen Daten und Schlussfolgerungen zu überprüfen. Doch genau das wird die U.S. EPA nicht tun.

Die Begutachtung der Studie erfolgt am 9. Februar 1982 durch den U.S.-EPA-Toxikologen Dykstra (jener Mann, der vier Jahre zuvor die IBT-Krebsstudien mit Glyphosat für unbrauchbar erklärt hatte). Der Begutachtungsbericht2, den Dykstra abliefert, wird nicht sein Meisterstück. Vielmehr bietet er einen Vorgeschmack auf die Verrenkungen und Verdrehungen, die auch die europäischen Behörden drei Jahrzehnte später anstellen werden, wenn sie Krebsbefunde aus Fütterungsstudien mit Glyphosat unter den Tisch kehren.

Ein gravierender Fehler bei der Bewertung dieser Studie unterläuft Dykstra gleich zu Beginn, indem er zwei der drei heute bekannten statistisch signifikanten Tumorbefunde (Bauchspeicheldrüse, Schilddrüse, Hoden)„übersieht“. Dykstra erklärt nämlich die Häufung von Hodentumoren bei den behandelten männlichen Tieren zum einzigen auffälligen Tumorbefund. Die Verteilung der Hodentumore ist im U.S.-EPA-Protokoll wie folgt dargestellt:

Group I (control) 0/50

Group II (low-dose) 3/50

Group III (mid-dose) 1/50

Group IV (high-dose) 6/50

William Dykstra, U.S.-EPA-Memorandum vom 18. Februar 19823

Das bedeutet: Keine der 50 Ratten in der unbehandelten Kontrollgruppe (control) hat Hodentumoren entwickelt. In der Niedrigdosisgruppe (low-dose) waren es hingegen drei, in der Mitteldosisgruppe (mid-dose) eine und in der Hochdosisgruppe (high-dose) waren es sechs Tiere.

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Die entscheidende Frage bei der Bewertung einer solchen Krebsstudie lautet: Ist die vorliegende Verteilung der Tumoren auf die Testsubstanz zurückzuführen (hier Glyphosat) oder ist sie zufällig entstanden? Mit anderen Worten: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die aufgetretene Tumorverteilung behandlungsbedingt („treatment related“) ist? Wir sprechen deshalb von „Wahrscheinlichkeit“, weil bei Krebsstudien der Zufall stets ein wichtiger Faktor bzw. möglicher Störfaktor ist. Denn Tumoren können auch spontan entstehen. Wenn also – wie in der vorliegenden Rattenstudie von Monsanto – jene Tiere, denen die Testsubstanz verabreicht wurde, augenscheinlich häufiger Tumoren entwickelt haben als die unbehandelten Tiere aus der Kontrollgruppe, wird mithilfe statistischer Tests abgefragt, wie wahrscheinlich das Zustandekommen eines solchen oder extremeren Ergebnisses wäre, wenn das Verabreichen von Glyphosat keinen Einfluss auf das Ergebnis hätte (also unter der Annahme, dass Glyphosat nicht krebserregend sei). Diese Wahrscheinlichkeit wird in der Statistik als Signifikanzniveau „p“, oder auch als Irrtumswahrscheinlichkeit bezeichnet. Als eine Konvention wurde festgelegt, dass bei solchen Krebsstudien ein Befund dann als statistisch signifikant gilt, wenn die Irrtumswahrscheinlichkeit kleiner als 5 Prozent ist (p<0,05)*. Weitere wertvolle Anhaltspunkte für die Bewertung eines Tumorbefundes kann auch der Vergleich mit Tumorbefunden aus den unbehandelten Kontrollgruppen anderer vergleichbarer Fütterungsstudien liefern, den sogenannten historischen Kontrollen.

Wenn ein und dieselbe Krebsstudie von unterschiedlichen Gremien widersprüchlich bewertet wird, dann liegt das nicht selten an der unkorrekten Anwendung statistischer Tests und/oder historischer Kontrollen – Glyphosat ist dafür ein Paradebeispiel. Daher zahlt es sich aus, im Folgenden einen genaueren Blick auf diese wichtigen Werkzeuge und das Regelwerk für ihre korrekte Anwendung zu werfen:

Statistik und historische Kontrollen

Die Herangehensweise bei der statistischen Auswertung von Krebsstudien mit Nagetieren blieb während der letzten 40 Jahre im Wesentlichen unverändert, und ist heute in verschiedenen Regelwerken der OECD4 im Detail beschrieben. Grundsätzlich kommen zwei sich ergänzende statistische Testmethoden zur Anwendung: der „Trendtest“ und der „paarweise Vergleich“. Ein Studienbefund gilt dann als statistisch signifikant, wenn einer der beiden statistischen Tests – also Trendtest oder paarweiser Vergleich – eine Irrtumswahrscheinlichkeit unter fünf Prozent (p<0,05) anzeigt.5

Der Trendtest berücksichtigt den gesamten Kurvenverlauf (im vorliegenden Fall z. B. 0/50, 3/50, 1/50, 6/50) und fragt ab, ob in der Gesamtheit der Ergebnisse ein signifikanter dosisabhängiger Trend einer Zunahme der Tumorhäufung erkennbar ist. Dass beim Trendtest alle vier Testgruppen (eine Kontrollgruppe plus drei Dosisgruppen) zusammen berücksichtigt werden, verleiht ihm eine größere „statistische Power“ und macht ihn zum empfindlicheren der beiden statistischen Tests – vorausgesetzt, der Effekt weist eine lineare (proportionale) Dosis-Wirkungsbeziehung auf. Da dies bei der vorliegenden Krebsstudie nicht der Fall ist, zeigt der Trendtest auch kein signifikantes Ergebnis an.

Der „paarweise Vergleich“ betrachtet im Gegensatz zum Trendtest immer nur zwei Gruppen zusammen und vergleicht diese: Im vorliegenden Fall wird die Tumorhäufigkeit in der Hochdosisgruppe (6/50) mit jener in der Kontrollgruppe (0/50) verglichen. Der Test fragt, ob dieser Unterschied statistisch signifikant ist und die Antwort lautet Ja: p=0,013. Die Irrtumswahrscheinlichkeit liegt also deutlich unter fünf Prozent.

Historische Kontrollen können weitere wertvolle Anhaltspunkte für die Bewertung eines Befundes liefern. Dabei handelt es sich um Tumorbefunde aus den Kontrollgruppen anderer vergleichbarer Fütterungsstudien.

Diese sollen in Ergänzung zur mitlaufenden Kontrolle (zumeist 50 Tiere) zusätzliche Information über eine „normale“ spontane Tumorhäufigkeit bieten. Damit das Heranziehen historischer Kontrollen zu sinnvollen und folgerichtigen Schlussfolgerungen führt, ist die Einhaltung von bestimmten Regeln, die auch in den geltenden OECD-Empfehlungen festgeschrieben sind, von essentieller Wichtigkeit. Damit eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse gegeben ist, müssen historische Kontrollen vom selben Ratten- oder Mäusestamm kommen und unter vergleichbaren Versuchsbedingungen zustande gekommen sein – also gleiche Versuchsdauer innerhalb eines vergleichbaren Zeitfensters (maximal fünf Jahre zurückliegend), idealerweise beim gleichen Pathologen und im gleichen Labor. Um Verzerrungen durch Ausreißer zu vermeiden, wird empfohlen, anstelle von Mittelwerten den Median aus allen Kontrollgruppen heranzuziehen. Grundsätzlich ist hervorzuheben, dass die mitlaufende Kontrollgruppe als erster und wichtigster Bezugspunkt für jede Auswertung verwendet werden sollte6. Die regelkonforme Anwendung statistischer Tests und (gegebenenfalls auch historischer Kontrollen) gemäß den OECD-Empfehlungen ist eine Voraussetzung für die korrekte Beurteilung der Beweiskraft von Tumorbefunden aus Fütterungsstudien mit Nagetieren.

Ausgestattet mit diesem Wissen wollen wir nun die Vorgehensweise von William Dykstra bei der Bewertung des obigen Tumorbefunds betrachten. Wir lernen dabei ein Muster kennen, das uns noch öfter begegnen wird. Und zwar immer dann, wenn Zulassungsbehörden – egal ob in den USA oder in Europa – signifikante Krebsbefunde mit Glyphosat in Bausch und Bogen als Zufallsergebnisse verwerfen. Fast scheint es, als hätten die Regulierungsbehörden eine eigene Methodik entwickelt, die ihnen das Ignorieren von Hinweisen und Beweisen innerhalb eines (scheinbar) geordneten und wissenschaftlich anmutenden Systems ermöglicht.

Schlussfolgerungen gegen die Fakten

Die Frage, die Dykstra nun beantworten muss, lautet: Ist der Tumorbefund aus der vorliegenden Fütterungsstudie behandlungsbedingt? Sehen wir uns nun an, wie Dykstra in vier Schritten zu einer faktenwidrigen Schlussfolgerung kommt:

imageSchritt 1: William Dykstra prüft ob die wichtigste Voraussetzung für einen behandlungsbedingten Effekt, nämlich die statistische Signifikanz des Befundes, erfüllt ist und stellt in seinem Bewertungsbericht vom 9. Februar 1982 fest, das dies der Fall ist:7 Sechs Ratten mit Tumoren in der Hochdosisgruppe (6/50) sind im paarweisen Vergleich mit der Kontrollgruppe (0/50) statistisch signifikant (p=0,013).

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imageSchritt 2: Dykstra vergleicht die Tumorhäufigkeit in der Hochdosisgruppe mit jener in den historischen Kontrollen. Dykstra stellt fest, dass die 12%-ige Häufigkeit von Hodentumoren in der Hochdosisgruppe höher ist als ihre Häufigkeit in Kontrollgruppen aus anderen vergleichbaren Fütterungsstudien (Durchschnitt: 4,5%, Maximum 7%) und schreibt:

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Also sprechen auch die historischen Kontrollen für einen behandlungsbedingten Effekt.

imageSchritt 3: Anstatt den naheliegenden Schluss aus den obigen Erkenntnissen zu ziehen, verweist Dykstra nun auf eine wissenschaftlich zweifelhafte „Interpretation“ aus dem Studienbericht des Monsanto-Vertragslabors:

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imageSchritt 4: In Anlehnung an diese zweifelhafte Argumentation (Was heißt, die Signifikanz der 12% Häufigkeit in der Hochdosisgruppe sei „nicht bekannt“? Was heißt, sie könnte eine „biologische Variation“ repräsentieren?), erklärt der Prüfer den vorliegenden Befund für nicht behandlungsbedingt:

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Das krebserregende Potenzial von Glyphosat ist laut William Dykstra also negativ. Monsantos Fütterungsstudie bekommt den Stempel „Top Secret“ und darf im Aktenschrank der U.S. EPA verschwinden. Dort bleibt sie ein Jahr liegen.

Die übersehenen Tumorbefunde