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Über dieses Buch:

Sie können so süß sein – aber machen Rachefantasien wirklich glücklich? Am liebsten würde Louisa ihren untreuen Exfreund mit einem unschuldigen kleinen Schubs vor den nächsten Bus befördern. Stattdessen nimmt sie sich eine Auszeit und fliegt zu ihrem Vater nach Irland: Schließlich ist Liebeskummer in einem gemütlichen Cottage, umgeben vom saftigen Grün der irischen Hügel, schon nach kurzer Zeit nur noch halb so schlimm ... besonders natürlich, weil die Gegend so viele Rätsel birgt: Das Geheimnis um einen alten Liebesbrief beispielsweise, und die Frage, ob der attraktive Bad Boy Colin seinen schlechten Ruf zurecht trägt – oder vielleicht doch der Traummann ist, nach dem er aussieht!

Über die Autorin:

Jana Seidel, geboren 1977, war schon immer von zu vielen unterschiedlichen Dingen fasziniert, um sich für einen ›ordentlichen‹ Beruf zu entscheiden. Im Schreiben fand sie daher den idealen Ausweg aus diesem Dilemma. Nach ihrem Magisterabschluss in Spanischer Literaturwissenschaft und Öffentlichem Recht arbeitete sie einige Jahre als Redakteurin. Heute lebt sie als freie Journalistin und Autorin glücklich zwischen Fiktion und Wirklichkeit – und als echte Lokalpatriotin mit Mann und Sohn im schönen Hamburg.

Jana Seidel veröffentlichte bei dotbooks »Das Café der süßen Wunder « und »Das Restaurant der süßen Träume«

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Überarbeitete eBook-Neuausgabe Mai 2020

Dieses Buch erschien bereits 2011 unter dem Titel »Über den grünen Klee geküsst« beim Goldmann Verlag.

Copyright © der Originalausgabe 2011 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von

© shutterstock / mubus7 / Sternstunden / Eric Isselee / Paulo Miguel Costa / Estrella 127 / suns07butterfly / watin

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-96148-875-9

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Jana Seidel

Ein Cottage zum Verlieben

Roman

dotbooks.

Für Laura, eine wahre Freundin

Kapitel 1

Jeder vernünftige Mensch weiß, dass Klischees nur deswegen zu Klischees werden konnten, weil es einem schon beinahe unheimlich vorkommt, dass sie so dermaßen zutreffend sind. Und es hat mich deswegen auch nur einen halben Tag gekostet, ein halbes Dutzend Beweise dafür zu sammeln:

1. Die Iren sind ein heiteres Volk, das gerne singt; immer und überall.

Schon im Flieger nach Dublin umringte mich ein angeheitertes Damengrüppchen, das schmissige Balladen vortrug. Ich habe kein Wort davon verstanden – keine Ahnung, ob es sich um alkoholisiertes Englisch oder Gälisch gehandelt hat. Auf jeden Fall konnte ich nur die Augen schließen und so tun, als ob ich schlafe – dabei hätte ich so gerne etwas Gutes gelesen, um mich von meinem Elend abzulenken. Zum Beispiel das Buch »Die vier Phasen des Liebeskummers«, das Juli mir aus gegebenem Anlass geschenkt hat.

2. Männer stehen auf ihre Sekretärinnen.

Ein Duo wie Sherlock Holmes und der Koks – ohne Sekretärin funktionieren die Typen einfach nicht. Zuhause nimmt die Frau ihnen die Alltagsaufgaben ab, im Büro betätigt die Sekretärin für sie das Telefon. Und im idealen Fall bekommen sie auch noch von beiden Sex. Ich kann es immer noch nicht fassen. Ich wurde tatsächlich für die Sekretärin verlassen – mit gerade mal 32 Jahren! Es gibt nur eine klitzekleine Abweichung von der üblichen Geschichte: Das Luder ist nicht jünger, sondern 15 Jahre älter als ich, außerdem fünf Jahre älter als Martin und gefühlte 20 Kilo schwerer als wir beide zusammen. Auch wenn sich das Drama in so nüchternen Zahlen zusammenfassen lässt, ist doch wohl ziemlich offensichtlich, dass die Geschichte dahinter brutal und widerlich ist. Und hätte ich die beiden nicht auf frischer Tat ertappt, würde ich immer noch denken, ich hätte meinen Traummann gefunden. Der Mistkerl war ja sogar zu feige, zu seiner wahren Vorliebe zu stehen. Dachte wohl, dass passe nicht zu seinen schicken Anzügen und seiner Design-Eigentumswohnung. Wenigstens habe ich ihn verlassen! Ha! Aber was für eine Wahl hatte ich denn, wenn ich nicht jede Selbstachtung verlieren wollte? Oh, ich glaube, ich bin nach über einem Monat endlich in Phase drei angekommen: Zorn! Sehr gut, dann habe ich es fast hinter mir. Das sind auch nur Wuttränen auf meinen Wangen. Wirklich!

3. Frauen treffen nach Trennungen radikale Entscheidungen.

Sie färben sich ihre Haare platinblond – oder, wenn ihre Haare schon blond sind (wie meine), packen sie ihre Sachen und suchen das Weite. Und sitzen dann plötzlich in einem Taxi mitten in der irischen Pampa.

4. Männer flüchten gerne vor Problemen.

Dass ich überhaupt hier in einem Taxi auf einer irischen Weide sitze, ist eigentlich die Schuld meines Vaters. Mein Erzeuger und derzeitiger Schicksalsgenosse wurde von seiner Frau – ja, genau, meiner Mutter, aber das würde ich vorerst gerne vergessen – für einen anderen Mann verlassen. Betrachtet man unser beider Schicksal genauer, könnten wir stellvertretend für eine Welt im Umbruch stehen, vielleicht wird nach uns sogar ein Phänomen benannt, das der Nachwelt als kulturhistorisch wichtigstes Kennzeichen unserer Zeit erscheinen wird: Die älteren, warmherzigen Gutverdiener werden von ihren Frauen für brotlose Jungs verlassen, die noch selbst den Töchtern dieser Frauen wie unreife Teenager erscheinen. Und die knackigen jungen Blondinen mit Grips werden mit älteren Damen mit viel zu langen roten Fingernägeln betrogen. Anything goes! Nun, mein Vater hat dann aber den Slogan, man solle die Krise als Chance begreifen, vorbildlich umgesetzt: Er hat ratzfatz seine Arztpraxis in Deutschland aufgegeben, um ein Cottage in Irland zu kaufen und in Zukunft dort zu praktizieren. »Ein alter Lebenstraum«, hat er ganz dreist behauptet, obwohl ich mir sicher bin, dass er den noch nie zuvor erwähnt hatte. Das Haus, das er fand, wurde für einen Spottpreis verscherbelt. Und er bekam den Zuschlag, weil er die einzige Kaufbedingung erfüllte: Der Zuziehende sollte Arzt sein. Wenn ich es richtig verstanden habe, sind die Einwohner wohl hoffnungslos überaltert und brauchen dringend jemanden, der sich um Gicht, Rheuma und Herzbeschwerden kümmert. Ich bin also in ein todgeweihtes Dorf gereist. Aber ich will ja auch meine Ruhe haben. Totenstille quasi.

5. /6. Fallen mir gerade nicht ein. Aber ich werde darüber nachdenken.

»Wollen Sie nun aussteigen oder soll ich Sie vielleicht irgendwo anders hinfahren?« Der Taxifahrer räuspert sich ein wenig genervt.

Eigentlich möchte ich sitzenbleiben, es scheint draußen ziemlich kalt zu sein. Und ich habe überhaupt keine warmen Sachen dabei. In Hamburg reicht es, wenn ich mir morgens ein Mäntelchen übers Kleid werfe. Da lasse ich mich nämlich direkt vor der Haustür in die S-Bahn fallen, die direkt an meinem Arbeitsplatz hält – wo der von mir einst besonders geschätzte Kollege aus der Politikredaktion des also der Mann den ich verlassen musste, sicher genau in diesem Moment mit seinen gut manikürten Händen den Nacken der üppigen Sekretärin massiert. Es war so quälend, noch einen ganzen Monat in diesem Sodom, das sich Tageszeitung schimpft, auszuharren. Die letzte Herausforderung an dieser Front: bloß nichts anmerken lassen, nur den Aasgeiern, sprich: Kollegen, kein Futter geben. Irgendwie habe ich es überstanden. Aber zum Glück hatte ich so viel Resturlaub angesammelt, dass ich nach dem schrecklichen Monat bis zum Ende der Kündigungsfrist Urlaub einreichen konnte. Tja – und nun bin ich hier. Und hier werde ich mit meinen netten schwarzen Retro-Etui-Kleidern und den hübschen Jäckchen im 50er Jahre-Stil, auf die Martin so abfuhr, wohl nicht besonders weit kommen. Aber das ist nun wirklich kein Grund schon wieder loszuheulen. Das bisschen Kälte ... Ich werde einfach in den nächsten Tagen einen Abstecher nach Dublin machen und dort wärmere Klamotten kaufen. Die Stadt ist kaum mehr als eine Autostunde von diesem Ort entfernt. Ich leihe mir Papas Wagen und los geht's! Das ist nun wirklich alles gar kein Problem.

»Aussteigen«, stammele ich also. Gerne würde ich noch etwas Gefälliges über den angenehmen Tag und das milde Klima sagen, aber mein Englisch ist etwas eingerostet und so zahle ich klaglos den horrenden Betrag. Aber was sollte ich machen? In diese Gegend fährt nun einmal kein Bus. Die nächsten Nachbarn sind wild wuchernde Ginsterbüsche und bizarr geformte Felsen.

Der Fahrer reicht mir den Koffer und ich stehe mutterseelenallein vor einem abgelegenen Cottage mitten in den Wicklow Mountains.

In einem Punkt hatte mein Vater allerdings Recht. Das Häuschen ist wirklich hübsch – ganz genauso, wie man es sich vorstellt, wenn man noch nie in Irland war: ein verwilderter Garten mit kahlen Rosensträuchern, bemoostes Reetdach über weißem Stein. Im Sommer, wenn alles blüht, muss es ein Traum sein. Und es gibt noch einen Bonuspunkt, den mein Vater offenbar vergessen hat, zu erwähnen: Gar nicht weit hinter dem Häuschen steht ein echtes Anwesen – fast ein Schloss. Nicht so ein finsteres mittelalterliches Gemäuer, sondern ein schmuckes Herrenhaus wie aus einer Jane-Austen-Verfilmung. Schuldbewusst nehme ich zur Kenntnis, dass mein Vater auch nicht besonders viel Gelegenheit hatte, dieses Schmankerl zu erwähnen. Zwischen seiner und meiner Trennung habe ich den Kontakt nicht so optimal gepflegt, wie man es tun sollte. Zu viel Stress. Und als ich mich dann endlich gemeldet hatte, hat mich ohnehin nur eines interessiert: »Darf ich kommen und eine Weile bei dir wohnen?«

»Aber sicher doch. Das wird lustig!«, hat mein Vater begeistert erwidert.

Daran, dass es lustig würde, hatte ich so meine Zweifel, aber egal. Ich wollte nur noch weg aus Hamburg.

Das Häuschen hat gar keine Türklingel. Ich hämmere also mit dem Türklopfer im Löwenmaul gegen die blau gestrichene Holztür. Nichts rührt sich. Ich drücke die Türklinke. Es ist nicht abgeschlossen. Von einem kleinen Vorraum gehen zwei Türen ab: Eine führt zu einer behaglichen Wohnküche, in der mindestens zehn Leute Platz fänden. Ein kleiner Holztresen teilt den Herd ab, davor steht ein langer Esstisch aus robustem, unbehandeltem Holz. Die andere Tür führt in ein großes Zimmer mit dunkelgrün gestrichenen Wänden. Man möchte juchzen vor Vergnügen! Ich schmeiße mein Gepäck in eine Ecke und sehe mir alles genauer an: Vor dem Kamin steht ein leicht abgewetzter Ohrensessel aus ehemals sicher sehr teurem, altrosa Brokatstoff, davor steht ein Fußschemel, der mit dem gleichen Stoff bezogen wurde. An der zerknüllten Zeitung und der kuscheligen, nur zur Seite geschobenen Decke, erkenne ich, dass mein Vater hier seinen Lieblingsplatz gefunden hat. Hinter einem Sofa und einem weiteren Ohrensessel mit dem gleichen Bezug stehen jede Menge prall gefüllte Bücherregale. Wunderbar! Eine kleine Wendeltreppe führt nach oben auf die Galerie. Von hier gehen noch mal zwei kleine Schlafzimmer und ein Raum ab, in dem eine unzählige Menge Kisten stehen, die mein Vater noch nicht ausgepackt hat. Die kleinen Schlafzimmer sind ganz reizend – mit Blumentapeten und schmalen Ehebetten im Landhausstil mit geschnitzten Verzierungen an Rahmen und Stangen, in denen wirklich nur Frischverliebte Platz finden. Zurück im Erdgeschoss finde ich hinter dem Wohnzimmer auch das Schlafzimmer meines Vaters. Ich hätte ihm vielleicht doch die genaue Uhrzeit meiner Ankunft mitteilen sollen. Wie schön wäre es, wenn er jetzt bei mir wäre. Ich bin so erschöpft, und ich fröstele am ganzen Körper. Holz habe ich allerdings nirgendwo gesehen. Und selbst wenn, ich wüsste auch gar nicht, wie man einen Kamin anfeuert. Resigniert sinke ich in den Ohrensessel meines Vaters vor der kalten Asche, wickle mich in die Wolldecke, die den vertrauten Duft von Papas Aftershave angenommen hat, und heule erst mal eine Runde.

***

Wo mein Vater wohl bleibt? Nach über einer Stunde ist er immer noch nicht zurück. Vielleicht sollte ich etwas lesen, die Auswahl in den Regalen ist ja mehr als üppig. Dafür müsste ich aber aufstehen und daran hindert mich meine weinerliche Bequemlichkeit. Ich wühle lieber in der Handtasche neben mir, um mir den Liebeskummer-Selbsthilfe-Ratgeber von Juli zu schnappen. Als Erstes fällt mir aber das alte Buch mit Ledereinband und leicht vergilbten Seiten in die Hände, das ich außerdem mitgeschleppt habe. Das ist zwar nicht der Ratgeber, aber einer der Gründe, aus denen ich hier bin – neben der peinlichen Flucht vor dem Martin-Desaster samt plötzlicher Arbeitslosigkeit. Es ist ein Gedichtband von Hermann Zuckermann. Darin werde ich blättern und mich auf meine selbst auferlegte Mission, die Geheimnisse des Dichters zu enträtseln, vorbereiten. Der Ratgeber ist im Grunde ohnehin überflüssig. Nach dem Gejammere von gerade eben weiß ich ganz genau, dass ich noch zwischen Phase zwei oder drei gefangen bin – also zwischen Verzweiflung und Zorn. Ich will aber nicht mehr heulen, immerhin ist das Ganze schon über einen Monat her. Es muss mir doch irgendwie gelingen, mich endlich in die nächste Phase zu katapultieren! Ich konzentriere mich auf meinen Lieblingstagtraum und male mir genussvoll aus, wie Martin vom Bus überfahren wird. Er wird dabei aber nicht zermatscht oder so. Er liegt hinterher nur leicht verrenkt mit unnatürlich abgewinkelten Beinen auf dem Asphalt. Sein hübsches Gesicht wirkt – falls das bei der ganzen Sonnenstudiobräune, die er mit sich rumträgt, überhaupt geht – ein wenig blass. Nur ein ganz zarter Blutfaden läuft aus seinem Mundwinkel, als er einer Passantin zuhaucht: »Hätte ich doch nur Louisa nicht gegen die dicke Sekretärin eingetauscht!«

Mich packt das schlechte Gewissen. Nicht wegen der Busfantasie an sich, aber Martin würde noch jeweils einen minderjährigen Sohn aus erster Ehe und zweiter Ehe zurücklassen. Wir haben uns kurz nach der Scheidung von seiner dritten Ehefrau kennengelernt und getrennt, bevor ich Nummer vier werden konnte. Aber seine arglosen Jungs können ja nichts dafür, dass ihr Vater ein Schwein ist. Sie haben es sicher nicht verdient, Waisen zu werden. Ich heule schon wieder.

Mist! Schnell zurück zu meiner wichtigen Mission. Ich kralle mir den Gedichtband. Das Fesselnde daran sind weniger die Gedichte als das nahezu zerfallene Stück Papier, das beim ersten Blättern aus den Seiten geflattert ist. Es entpuppt sich als Brief, in altmodischer, schnörkeliger Handschrift verfasst und von Zuckermann höchstpersönlich unterzeichnet. Ich habe also allen Grund zu der Annahme, einen Originalbrief des Dichters an eine Frau aus Irland gefunden zu haben. Das käme einer literaturwissenschaftlichen Sensation gleich, und ich, Louisa Wolff, hätte sie entdeckt! Nun ja, es wäre nur beinahe eine Sensation. Blöderweise wird Hermann Zuckermann den eher unbedeutenden Dichtern zugeordnet. Seine Zeitgenossen nahmen ihn nicht sonderlich ernst, die Nachwelt noch weniger. Er hatte nämlich irgendwann angefangen, ausschließlich Gedichte über Elfen zu verfassen. Damit wäre er im 19. Jahrhundert ganz vorne mit dabei gewesen, aber in den 60er Jahren des darauffolgenden Jahrhunderts war romantische Fantasterei so richtig out. Da wollte jeder ernstzunehmende Dichter nur die reine Wahrheit produzieren. Zuerst hatte Zuckermann diese Strömung ja noch mitgemacht: bemühte politische Prosa voller Sendungsbewusstsein, die zur Revolution anstacheln sollte. Ich habe ein bisschen davon gelesen und es schnell wieder aufgegeben. Der Kram war stinklangweilig. Eines Tages brach der zu dem Zeitpunkt recht erfolgreiche und geschätzte junge Zuckermann nach Irland auf. Über seinen Aufenthalt selbst weiß man wenig. Aber die neuen Gedichte, die er dort schrieb, wurden von Anfang an verrissen. Er weigerte sich, seinen Wandel zu erklären oder sich überhaupt noch in irgendeiner Form zu äußern. Man dachte daher, er wäre durchgedreht und tatsächlich einem mystischen Glauben verfallen. War ja auch nicht unwahrscheinlich, nichtige Anlässe können bei sensiblen Künstlernaturen offenbar extreme Wandlungen hervorrufen. Cat Stevens wird Yusuf Islam, Paul McCartney wird bei einem Angelausflug zum Extremvegetarier, »Conan, der Babar« wird kalifornischer Gouverneur. Vielleicht war aber auch bloß Irland schuld: Ich habe mal gelesen, dass der irische Dichter William Butler Yeats ähnlich wie Zuckermann geschmäht wurde, als er plötzlich über Elfen und Drachen geschrieben hat. Na ja, vielleicht hätte der auch einfach nicht versuchen sollen, mit diesen Fabelwesen auch noch in spiritistischen Sitzungen Kontakt aufzunehmen. Zuckermann jedenfalls zog sich ganz und gar zurück, schrieb nichts mehr, entwickelte ein massives Alkoholproblem und starb schließlich Ende der 70er Jahre so vereinsamt und verarmt, wie es sich für einen romantischen deutschen Dichter gehört. Sein Brief ist eindeutig an eine Frau gerichtet, an eine echte und zumindest zu dem Zeitpunkt noch lebende. Es ist ein Liebesbrief – auf Englisch verfasst. Vieles ist unleserlich, aber er scheint sie zu bitten, auf ihn zu warten, er müsse für eine Weile nach Deutschland zurück. Leider nennt er den Namen der Empfängerin nicht. Er schreibt an seine »Liebste«. Nun mein Verdacht: Über ein Liebesleben Zuckermanns weiß man rein gar nichts – aber offenbar hatte er eines. Was, wenn er überhaupt nie an Elfen geglaubt hat? Wenn er nicht einmal an Elfen interessiert gewesen ist, sondern nur eine bildhafte Umschreibung für seine »Liebste« gesucht hat? Wenn die Liebe ihn hat durchknallen lassen – und nicht etwa irgendwelcher esoterischer Kram –, könnte das seinen Ruf durchaus wieder herstellen. Wenngleich ich sowieso finde, die Kritiker hätten sich nicht so anstellen sollen. Die späten Elfengedichte finde ich viel anrührender als den bemüht intellektuellen, politischen Kram. Wie auch immer: Ich bin einem sehr großen und sehr faszinierenden Geheimnis auf der Spur. Und ich bin wild entschlossen, dieser heißen Fährte zu folgen, die mich von dem anderen Elend wegführen soll und mich immerhin schon hierhergebracht hat. Wenn doch nur mein Vater endlich käme. Und wenn ich doch meine Freunde nicht jetzt schon so vermissen würde. Leider sind die alle in Hamburg – einer Stadt, die mir im Moment einfach zu sehr auf die Nerven geht. Aber wozu gibt es Handys? Ich wühle wieder in meiner Tasche. Und ich habe sogar Empfang! Das ist sehr hilfreich. Dann kann ich zumindest mit Juli die ganze Geschichte noch mal durchkauen. Und zwar die Martin-Geschichte, nicht die Zuckermann-Geschichte. Ich selbst finde es ja furchtbar nervig, wenn Liebeskummerpatienten immer wieder dieselbe Geschichte runterleiern und dabei ständig ihre Sichtweise wechseln. Mal überwiegt der blanke Hass, dann wieder die Hoffnung, alles sei vielleicht doch nur ein Missverständnis gewesen.

Juli versteht das zum Glück und kichert:

»Und ich dachte immer, du wärst die Vernünftige von uns. Hier meine Meinung: Die Dinge sind leider manchmal einfach ganz genau so, wie sie scheinen. Und nein, es gibt keine harmlose Erklärung für Martins Verhalten.«

Die Vernünftigste von uns allen? Dass ich nicht lache! Alles nur Tarnung. So, wie ich mich vorhin über den Anblick der Bücherregale gefreut habe, fürchte ich, dass in mir immer noch das Mädchen steckt, das sich ihr halbes Schülerleben in der Bibliothek verschanzt hat. Wo sonst hatte man eine so riesige Auswahl an Fantasiewelten? Die hat unsere ach-so-vernünftige Louisa nämlich jedem Schulbuch über Fotosynthese, pythagoreische Dreiecke und 1000jährige Kriege eindeutig vorgezogen. Gelegentlich habe ich darüber sogar vergessen, zur Schule zu gehen. Stattdessen habe ich aufregende archäologische Expeditionen zu Pharaonengräbern unternommen, die Welt umsegelt und – zugegeben – auch die eine oder andere Liebesgeschichte nacherlebt. Während die anderen pubertären Langweiler sich nachmittags mit anderen pickeligen Volltrotteln trafen, bin ich zu den Figuren aus meinen Büchern zurückgekehrt. Die fand ich viel aufregender und interessanter. Man hätte mich zu dem Zeitpunkt mit voller Berechtigung »unsozial« nennen können. Aber woher sollte ich das wissen? Vermisst habe ich zumindest nichts. Erst zum Ende der Schulzeit änderte sich das. Da entdeckte ich einen der grundlegenden Mechanismen des Lebens: Die von mir bis dahin ignorierten Schulkameraden fanden mich nicht mehr merkwürdig, sondern »cool«. Weil nach den unsicheren Teenagerjahren der Anpassung an die Gruppe urplötzlich gnadenlose Individualität gefragt war. Und als Schulschwänzerin, die sich mit allen Lehrern anlegte und sich von niemandem in die Karten blicken ließ, konnte ich die Anforderung mehr als erfüllen. Leider war das aber nur ein Missverständnis. Ich war einfach so dämlich zu glauben, die Typen an der Tafel könnten mir nichts anhaben. Zuhause in meinem Bett erfroren zwischen den Papphüllen unter meinem Kopfkissen hundert tapfere Männer bei einer Antarktis-Expedition. Das war dramatisch! Ein bisschen hat es mir aber gefallen, plötzlich »cool« zu sein. Ich habe verstanden, dass es eine phänomenale Taktik ist, sich rar zu machen. Und am besten funktioniert sie, wenn es gar keine Taktik ist. Schnell eignete ich mir auch noch alles andere an, was ein »cooles« Mädchen beherrschen muss. Ich tauschte die Jeans gegen Röcke und die Brille gegen Kontaktlinsen ein. Mit meiner blonden Mähne wuchs auch meine Gabe zu flirten. Und ich hörte – zumindest nach außen hin – auf, andere Menschen als unverständliche Forschungsobjekte zu betrachten, und fing stattdessen an, ihre Anwesenheit zu genießen. Mit ihnen zu lachen und auch ordentlich rumzualbern. Sprich: Ich bin mit der Zeit wirklich vernünftig und sozial verträglich geworden. Und es gefällt mir durchaus immer noch, für erfahren und abgeklärt gehalten zu werden. Aber offen gestanden ist Martin das Aufregendste, was in meinem 32-jährigen Leben bislang passiert ist. Ganz schön traurig eigentlich. Ich meine, natürlich hatte ich davor schon andere Beziehungen. Aber ich glaube eher deswegen, weil man ab einem bestimmten Alter eben Beziehungen haben muss. Ich bin da irgendwie immer so reingeschlittert und dann nicht so bald wieder rausgekommen. Man will ja auch niemanden vor den Kopf stoßen. Ich wollte aber nie mit jemandem zusammenziehen, und habe mich schnell aus dem Staub gemacht, wenn es zu ernst wurde. Dahinter steckte nicht pure Gemeinheit, sondern Todesangst. Es gab da diesen kleinen Film, der sich in solchen Momenten vor meinem inneren Auge abspielte. Darin sah ich mich in der Rolle der geplagten Hausfrau mit zwei Kindern, die sich an der Kasse unter kreischendem Wutgeheul zu Boden werfen, weil sie die Hello-Kitty-Kaugummis wollen, während ich mir die fettigen Haare raufe, weil für mich und die Schönheitspflege schlicht keine Zeit mehr bleibt. Natürlich gab es in diesem Alptraum auch ein nettes Häuschen mit Spitzengardinen in der Küche, eine Wohnzimmerschrankwand und Wanderurlaube im Harz.

Das hätte das Ende aller Kindheitsträume von aufregenden Reisen und Abenteuern bedeutet, die ich in irgendeinem Trotzwinkel immer noch versteckt hatte. Ja, und dann kam Martin, Rächer aller Männer, die ich jemals nicht zu schätzen gewusst hatte. Unsere Affäre hat mich hinterrücks überrumpelt. Es ging alles sehr schnell. Anfangs umwarb er mich so stürmisch, dass zum Nachdenken keine Zeit blieb. Bis es zu spät war. Da konnte ich mir dummerweise schon ALLES, ALLES, ALLES, was ich bis dahin nicht gewollt hatte, mit genau diesem Mann vorstellen. Gemeinsame Eigentumswohnung? Au ja! Großfamilie? Na klar! Blöd nur, dass sich nach der leidenschaftlichen Phase der Werbung zeigte, dass Martin noch viel mehr Angst vor heimeliger Gemütlichkeit und partnerschaftlichen Verpflichtungen empfand als ich in der gesamten Zeit davor. Ich habe mir noch eine ganze Weile eingeredet, es könne trotzdem funktionieren. Bis zu dem Tag, als ich das Zimmer besagter Sekretärin betrat. Er massierte ihr gerade den Nacken, und sie seufzte wohlig: »Mehr davon.« Statt ihr zu antworten, biss Martin der ruchlosen Schlampe mit den Pornonägeln sanft in den Hals, als wäre er ein vampirischer Verführer.

O Gott, mir wird schon wieder übel, wenn ich an diese doppelte Demütigung denke. Nicht genug, dass er mich betrog, er musste es auch noch ganz öffentlich an unserem gemeinsamen Arbeitsplatz tun, wo uns gerade mal ein Stockwerk trennt. Ich sitze nämlich in der Lokalredaktion direkt unter der Politik. Deutlicher kann man einem Menschen nicht zeigen, dass er einem total egal ist, oder? Danach wurde es richtig schlimm. Als kleine Jungs, die sie bis zu ihrem Lebensende bleiben, geben Männer ja immer nur so viel zu, wie man ihnen hieb- und stichfest nachweisen kann. Aber so dreist wie Martin ist dabei wohl kaum jemand gewesen. »Quatsch. Das war ich gar nicht. Keine Ahnung, was du dir da einbildest, gesehen zu haben.«

Ich wollte ihm so sehr glauben, dass ich kurz davor war, mir selbst einzureden, dass ich tatsächlich nicht gesehen hätte, was ich gesehen habe. Ich glaube aber nicht, dass man aus diesem schwachsinnigen Verhalten unbedingt ableiten kann, dass mit mir etwas nicht stimmt.

Es ist doch erwiesenermaßen so, dass sich die Erinnerung eines Menschen ziemlich leicht manipulieren lässt – ganz ohne dass ein Gehirnchirurg mit Skalpell ans Werk gehen muss. Ein Forscher hat ein paar Studenten ziemlich eindringlich Kindheitserinnerungen wildfremder Menschen geschildert. Eine Woche später wurden die Studenten nach ihren eigenen Kindheitserinnerungen gefragt – und sie hatten ohne es zu merken die Schilderungen der anderen aus der Vorwoche eingebaut. Sogar an so unwahrscheinliche und seltene Ereignisse wie Erdbeben oder. Überfälle konnten sie sich »erinnern«. Einfach nur, weil sie es sich beim Zuhören so intensiv vorstellten, dass diese Bilder sich zwischen die eigenen Erinnerungen geschummelt hatten. Alles klar? Das Gleiche ist bei mir abgelaufen. Und wie ich mir gerade so schön intensiv vorstellte, rein gar nichts gesehen zu haben, musste dieser blöde Martin sich doch urplötzlich dafür entscheiden, klein beizugeben: »Es war doch nur Sex. Was regst du dich so auf?« Gelangweilt blickte er dabei aus dem Fenster und nippte noch mal an seinem Rotwein. Ich war außer mir. Und dann begriff ich, dass er mich wirklich nicht verstand und meinen Zorn für eine Art PMS hielt. Er konnte an seinem Verhalten gar nichts Verwerfliches erkennen. Dieser Mann sah sich absolut im Recht. Dieser Mann würde dort genauso unbeweglich stehen bleiben, wenn ich einfach ginge. Dort würde er einfach warten, bis ihn die Nächste aufliest – genügend Bewerberinnen gab es ja. Also ging ich und schrieb einen Haufen Bewerbungen.

***

Ich muss eingeschlafen sein. Als ich meine Augen öffne, ist mir ganz warm. Ein Feuer brennt im Kamin. Mein Vater sitzt im Sessel neben mir und liest in einem Buch. Ich richte mich auf, torkele auf ihn zu und küsse ihn auf die Wange.

»Hallo, Papa.«

»Schön, dass du da bist, Liebes«, sagt er. Dann verschwindet er wortlos.

Ich hatte ganz vergessen, dass er so wenig spricht. Wenn ich mal meine Eltern angerufen habe und zufällig er derjenige war, der den Hörer abgenommen hatte, sagte er immer das Gleiche: »Ich hole mal deine Mutter.«

Na ja, so wird es zumindest keine peinlich-emotionalen Vater-Tochter-Gespräche geben. Als er zurückkommt, hat er zwei Gläser mit einer klaren Flüssigkeit und Eiswürfeln in der Hand. Ich muss gar nicht daran nippen, um zu wissen, dass es sich dabei um einen Gin Tonic handelt. Auch wenn er nicht ein Mann der großen Worte ist: Er macht einfach immer das Richtige. Mir schießen schon wieder Tränen in die Augen – so gerührt bin ich. Er hüstelt verlegen, setzt sich wieder in seinen Sessel und starrt in das Feuer. Ich wische mir schnell die Tränen weg und tue es ihm gleich. Nach einer gefühlten halben Stunde seufzt er: »Was für ein Mist, oder, Häschen?«

Das kann man wohl sagen.

***

Mein Zimmer ist so wunderschön, dass das Erwachen am nächsten Morgen eine Offenbarung ist. Ich habe eines der beiden winzigen Extra-Schlafzimmer mit Rosentapeten bezogen. Wer hier wohl mal geschlafen hat? Die Töchter der Pächter vielleicht. Durch das Fenster kann ich das Anwesen sehen. Herrlich – und so unwirklich, dass ich das erste Mal seit langem tief und fest durchgeschlafen habe. Echter, tiefer Schlaf ist etwas Großartiges. Man wacht auf, und die Welt ist wie neu. Bis dahin dachte ich ja, die Phase vier des Liebeskummers sei nur die Erfindung der Ratgeber-Trulla, die dachte, ein Ratgeber mit Happy End würde sich besser verkaufen. Aber nein. Irgendwo da draußen gibt es ihn wirklich, den »Neuanfang«. Ich brauche nur ein bisschen Geduld. Wenn ich daran denke, wie ich einen ganzen Monat lang wie ein Roboter über die Flure geschlafwandelt bin und mit mechanischem Lächeln und viel Make-up in meinem Gesicht meine Arbeit erledigt und die Nächte durchgeheult habe – da bin ich jetzt doch wirklich schon einen riesigen Schritt weiter. Als ich runter in die Küche wanke, entdecke ich dort meinen Vater, der vor dem Fenster steht und begeistert von einem Bein aufs andere hüpft. »Lu, komm schnell und schau mal!«

Ja, richtig gehört! Wenn er mich nicht gerade »Häschen« nennt, bin ich für ihn »Lu«. Ich folge seiner Aufforderung und erwarte zumindest ein rosafarbenes Kaninchen zu sehen, das vor unserem Haus einen dreifachen Salto schlägt, und entdecke ... absolut gar nichts. Besorgt schaue ich meinen Vater an, aber der lacht nur vergnügt: »Schnee! In Irland schneit es fast nie, das ist ja wie ein Wunder.«

Tatsächlich: Ein winziges Flöckchen hat sich auf dem Fenster niedergelassen, um dort sofort zu schmelzen. Ich teile seine anrührende Begeisterung nicht sofort. Muss ich mich jetzt über Kälte und Schnee freuen, nur weil es auf dieser Insel offenbar die Ausnahme von der Regel ist? Erstens ist es fast zwei Monate zu spät für die weiße Weihnacht, die ich mir gewünscht hätte, zweitens fällt mir wieder ein, dass ich gar keine warmen Klamotten dabeihabe. An dieser Stelle merke ich, dass ich gar nicht friere – obwohl im Kamin kein Feuer brennt.

»Heizung«, erklärt mein Vater kichernd.

Oh, na klar, so etwas gibt es in Irland natürlich auch. Sogar in einem verwunschenen kleinen Cottage wie diesem. Wir trinken in stiller Eintracht unseren heißen Kaffee und schauen, wie das Schneetreiben stärker wird. »Das wird morgen bestimmt das Thema!« Mein Vater hat sich also schon voll und ganz eingelebt und redet längst in den hiesigen Zungen. Ich verstehe kein Wort.

»Na, in der Zeitung, Häschen.«

»Was denn genau?«

»Na, der Schnee«, er deutet auf das Außenthermometer, »und die fünf Grad.«

Es ist wohl so, dass der Golfstrom hier irgendwo vorbeifließt, so dass es auch im Winter noch lau und grün ist und an manchen Orten sogar Palmen wachsen. Hm, ich hatte mir Irland immer ganzjährig nasskalt vorgestellt – und dass Wachsjacken über dicken naturfarbenen Schurwollpullovern mit Stehkragen und Zopfmuster hier wirklich eine sinnvolle Erfindung sind. Damit hätte ich zumindest meinen Koffer vollgepackt, wenn ich so etwas besäße – oder vorher noch Zeit und Muße zum Einkaufen gehabt hätte.

»Nimm dir etwas zu essen. Kaffee habe ich schon gekocht. Leider habe ich keine großen Vorräte im Haus.«

Ich schenke mir einen Kaffee ein und schiebe zwei Scheiben Brot in den Toaster. Dazu gibt es Leberwurst und Johannisbeermarmelade. Ich schmiere beides übereinander und empfinde das als ultimativ-kreatives kulinarisches Highlight. Essen konnte ich in letzter Zeit nämlich auch nicht. Ich schaue aus dem Fenster. Eigentlich ist es doch ganz hübsch, so ein bisschen Schnee. Und mit etwas Verspätung komme ich doch tatsächlich noch in Weihnachtsstimmung. Klingt vielleicht seltsam, aber Weihnachtsstimmung ist für mich nicht die Freude an Tannenbäumen, roten Kugeln, Adventskränzen und Krippenspielen, sondern die Lust auf Märchenfilme und -bücher, die man im Sommer bei dem ganzen gleißend hellen Tageslicht nicht anrühren würde. Aber wenn die Tage kürzer werden und sich dann noch ein weißer Schleier über die Landschaft legt, ist alles etwas diffuser – auch mein Verstand. Dann will ich mich nur noch einigeln, »Drei Nüsse für Aschenbrödel« gucken und auch eine Nuss knacken, aus der dann – unter dem strengen Blick einer geheimnisvollen Schleiereule – ein silbriges Ballkleid hüpft. Außerdem ist bei mir das letzte Weihnachten komplett ausgefallen, da darf man schon etwas gefühlsduselig werden. Martin und ich hatten uns frisch getrennt, mein Vater war schon in Irland und meine Mutter mit ihrem neuen Lover in Griechenland. Dass es Grund zu feiern gab, habe ich nur daran gemerkt, dass ich drei Tage lang keine Lebensmittel einkaufen konnte, weil alle Läden geschlossen hatten – und ich so endlich mal alle Dosen in meinem Vorratsschrank aufgebraucht habe. Das Fest an sich fand ich immer albern. Zumindest dachte ich das, solange stets irgendjemand da war, mit dem man bei Kerzenschein zusammensitzen, etwas Leckeres essen und sich angetrunken zanken konnte. In meinem Fall waren das bislang immer noch meine Eltern. Diesmal habe ich zum ersten Mal verstanden, was es mit der »Weihnachtsdepression« auf sich hat. Laut Weltgesundheitsorganisation steigt die Rate der Selbstmordversuche an den Tagen nach Weihnachten um fast 40 Prozent an – zumindest in Ländern, in denen an diesen Tagen nicht gearbeitet wird. Da ist es doch schon fast eine Frage der Menschlichkeit, die Weihnachtsfeiertage abzuschaffen und den Leuten wenigstens eine Beschäftigung zu geben.

»Nicht so traurig gucken, Häschen«, sagt mein Vater unsicher. Dann hat er einen Einfall. »Los, wir machen einen Spaziergang.«

Er glaubt, körperliche Ertüchtigung sei ein Allheilmittel. Ich erinnere mich an grausame, ausgedehnte Wandertouren durch den Harz in meiner Kindheit und frage mich, ob es wirklich so eine gute Idee war, anzukündigen, dass ich mindestens einen Monat bleiben würde. Aber was sollte ich sonst tun? Meine Wohnung in Hamburg ist schon wieder vermietet – mitsamt meinen Möbeln. Ich hatte eine spontane Wahnsinnsattacke, in der ich mir ganz sicher war, ich müsste alles erneuern, um Martin zu vergessen – neue Wohnung, neue Möbel, neuer Job. Deswegen sollte man auch nie am Arbeitsplatz etwas mit jemandem anfangen. Geht es schief, brechen gleich alle Lebensbereiche zusammen. Nun hatte ich die Wahl: mich entweder bei Juli einquartieren, die Absagen, die dank meines umsichtigen Nachsendeantrags bei ihr eintreffen würden, selbst zu öffnen und trübsinnig aus dem Fenster starren. Und darauf warten, dass meine Freunde, die arbeitende Bevölkerung, abends für mich Zeit hätten, um sie dann vollheulen zu können. Oder aber die vorübergehende irische Isolation. Dann doch lieber Letzteres. Aber ob Wanderungen zwangsläufig dazugehören müssen?

»Ich habe leider gar nichts anzuziehen, schade«, entgegne ich und verziehe bedauernd mein Gesicht. Ich bin eine Heuchlerin.

Mein Vater sieht für einen kleinen Moment betrübt drein, dann erhellt dieses männliche Heimwerker-Strahlen sein Gesicht, das signalisiert, dass man eine geniale Lösung für den tropfenden Wasserhahn gefunden hat – die sich dann meist als noch größere Katastrophe entpuppt. »Kein Problem, es ist alles da, was du brauchst«, ruft er.

Sag ich doch! Katastrophe! Kurz darauf stehe ich in einer seiner uralten Wollhosen vor ihm, die ich mit meinem teuren, senfgelben Chiffon-Tuch festzurren muss, damit sie nicht runterrutscht. Wie angenehm, dass er auch noch die gute alte Lammfelljacke aus den Siebzigern hat, von der er sich nie trennen mochte. Na ja, wer wird uns in dieser einsamen Gegend schon über den Weg laufen?

Wir marschieren also los.

In meinen Wimpern hängt Schnee, und ich blicke immer wieder in Richtung des Anwesens.

»Ach, das habe ich dir noch gar nicht gesagt, Lu. Sir Henry hat uns für heute Nachmittag zum Tee eingeladen. Netter Kerl«, sagt mein Vater, der einen meiner neugierigen Blicke aufgefangen hat.

Sir Henry? Zum Tee? Soll das ein Scherz sein? Ich sehe meinen Vater genauer an, sehe aber kein Zucken in seinen Mundwinkeln. Dafür fällt mir zum ersten Mal auf, wie gut ihm seine neue Cordhose und das Tweedjackett unter dem beigefarbenen Wintermantel stehen. Er sieht ganz so aus, als gehöre er hierher. Nostalgische Wehmut überkommt mich. Früher hatte dieser Mann ganz eindeutig an die Seite meiner Mutter gehört. Reißt man beide auseinander, bleibt von dem Ort meiner Kindheit nicht mehr viel übrig. Unser Haus steht zum Verkauf, und meine Eltern sind seit ihrer Trennung im letzten Jahr ganz andere Menschen geworden. Nun ja, nicht ganz, mein Vater ist zum Glück immer noch der gleiche verschmitzte, schweigsame Bücherwurm, nur dass er eben Tweed und Cord in einem irischen Cottage trägt. Aber meine Mutter entdeckt gerade ihren zweiten Frühling. Also die Mutter, wegen der ich früher immer aufgezogen wurde, weil sie ausgerechnet an meiner Schule die strengste und verbiestertste Lehrerin sein musste, die man sich nur vorstellen kann. Was heißt eigentlich »zweiter Frühling«? Ich glaube nicht, dass sie einen ersten gehabt hat. Nun jettet sie als Frührentnerin mit einem jungen Künstler, den sie aushält, durch die ganze Welt. Es ist zum Würgen und aus der Haut fahren.

»Guten Morgen, Mr. Magpie! Wie geht es der Gattin?«, dröhnt es da plötzlich vor uns. Eine Elster flattert erschreckt direkt vor meiner Nase hoch. Ich muss mich ducken, damit sich keine Vogelkrallen in meiner ohnehin schon derangierten Frisur verfangen. Ich schaue durch die Schneeflocken auf meinen Wimpern hoch. Vor uns steht ein korpulenter, rotgesichtiger Mann. Die eine Seite seines ausgefransten Jackettkragens guckt unterm Mantel hervor, die andere steckt darunter. Der Mantel hängt auf einer Seite tiefer als auf der anderen, weil der Typ offenbar nicht für jeden Knopf das passende Knopfloch erwischt hat.

»Guten Morgen, Seamus«, ruft mein Vater fröhlich.

»Hallo«, donnert »Seamus« weiter. »Ist sie das?«, fragt er und macht, ohne die Antwort abzuwarten, einen Satz auf mich zu.

Es ist wohl eher eine rhetorische Frage, obwohl ich zu gerne wüsste, wofür sein »das« steht. Für gesammelte Anekdoten, die mein Vater über mich erzählt hat, vermutlich.

»Hübsch«, sagt er und legt mir die schwammige Hand unters Kinn, »ich glaube, da lässt sich was machen.«

Hä? Wovon redet er bloß?

Ich werfe meinem Vater einen hilfesuchenden Blick zu. Der lacht nur. »Ich glaube, das bekommt sie ganz alleine hin, Seamus. Einen schönen Tag noch.«

Betreten sieht der feiste Mann zu Boden und lässt dabei sogar mein Kinn los: »Sicher doch, sicher doch. Ich kann eben nicht aus meiner Haut.«

»Seamus Peacock war früher Heiratsvermittler«, erklärt mein Vater.

»Und zwar der beste in ganz Irland! Und manchmal bringe ich immer noch zwei zusammen, wenn ich denke, dass sie zusammengehören«, behauptet er.

Automatisch schaue ich Herrn Peacock auf die dicken Finger. Kein Ring. Wohl doch nicht ganz so erfolgreich, denke ich hämisch.

»Was für eine schöne Aufgabe. Einen schönen Tag noch«, sage ich so freundlich wie möglich, um nicht gleich als verstockte Zicke aus diesem befremdlichen Land in Zentraleuropa dazustehen. Dann hake ich meinen Vater schnell unter und ziehe ihn weiter.

»Vielleicht komme ich morgen Abend mal auf einen Whiskey vorbei«, dröhnt es noch hinter uns. O Gott, bitte nicht! Ich habe gar nicht in Erwägung gezogen, dass mein Vater mittlerweile Freundschaften geschlossen haben könnte. Ich dachte, er würde einsam und verlassen in seinem Cottage sitzen und ich hätte meine Ruhe. Was, wenn es hier noch mehr solcher Typen gibt? Und die nun jeden Abend bei uns vorm Kamin rumhängen wollen? Ich stelle fest, dass ich rein gar nichts über das Leben meines Vaters hier weiß. Und ich habe ihn immer noch nicht gefragt, woher er den Gedichtband hat. Ich werde mit meinen Nachforschungen sofort am Nachmittag beginnen, nehme ich mir fest vor.

»Will er wirklich zu uns kommen? Und warum nennt er dich Mr. Magpie? Ist er verrückt oder ist das dein Spitzname hier?«, zische ich.

»Ganz und gar nicht. Er mag rau wirken, aber er ist ein netter Kerl, du wirst schon sehen. Ich habe ihm und Frederick Skatspielen beigebracht. Nachdem sie es endlich kapiert haben, bekommen Sie gar nicht genug davon. Und er hat auch nicht mich ›Mr. Magpie‹ genannt. Er meinte natürlich die Elster.«

Natürlich! »Also doch verrückt«, stelle ich zufrieden fest.

»Kann man so nicht sagen«, behauptet mein Vater fröhlich, »das ist hier so üblich, die Elstern zu grüßen. Das bringt Glück. Zumindest ab dem sechsten Vogel, den man trifft.«

Pf! Hier sind eben doch alle verrückt – und meinen Vater scheint es auch schon ein wenig erwischt zu haben. Nach einer Weile kommen wir auf eine lang gezogene Straße, an der sich die Häuser etwas dichter aneinanderreihen. Fast wie in einer kleinen Stadt. Ich entdecke einen mit jedem erdenklichen Plunder vollgestopften Krimskramsladen, in dem es auch ein paar Lebensmittel und Zeitungen zu geben scheint – und einen richtigen Pub mit dunkelgrün gestrichener Fassade.

»Wo kauft ihr denn alles andere ein, was ihr braucht?«

»Oh, nur eine Viertelstunde von hier ist ein größerer Ort. Da gibt es alles, sogar ein kleines Kino, falls dir mal langweilig wird«, sagt er.

»Bestimmt nicht.« Ich hake ihn unter. Eigentlich gefällt es mir hier doch ganz gut – nach romantischen Hollywood-Schmonzetten steht mir der Sinn überhaupt nicht.

***

Als wir wieder in meinem derzeit – großes Selbstmitleid ist an dieser Stelle angebracht – einzigen Zuhause angekommen sind, ziehe ich mir blitzschnell die kratzigen Sachen aus. Ich schlüpfe in meinen Seidenpyjama und ziehe mir zwei Paar Baumwollsocken an. Schurwolle juckt mich einfach zu sehr. Dann lasse ich mich wieder in den Sessel vor dem Kamin fallen. Ich könnte sofort erschöpft einschlafen – die frische Luft und die Kälte haben mich müde gemacht. Zumindest habe ich meine hübschen Sachen nicht ganz umsonst eingepackt. Zum »Tee« bei »Sir Henry« würde ich meinen bordeauxfarbenen Samtblazer und den grauen Bleistiftrock tragen. Und ganz sicher keine Lammfelljacke darüberwerfen. Die paar Meter würde ich schon zurücklegen können, ohne mir amputationswürdige Frostbeulen zu holen. Ein wenig komme ich mir bei dieser Aktion ja wie die Tochter des Leibarztes vor, die nun alt genug geworden ist, uni der Herrschaft vorgestellt zu werden, bevor sie ihren Dienst als Zofe oder Gouvernante antritt. Ich bin gespannt, aber – wie albern – auch ein klein wenig eingeschüchtert.

»Papa, woher hattest du eigentlich den Gedichtband, den du mir zu Weihnachten geschickt hast?«

Besagten Gedichtband, der mein einziger Begleiter an einem verheulten, einsamen Weihnachtsfest gewesen ist. Vielleicht hatte die hübsche Gabe sentimentale Gefühle und Sehnsucht nach meinem Vater geweckt – dem Mann, der immer irgendwie da sein würde, ob nun in Irland, Deutschland oder Timbuktu. Was man von meiner Mutter derzeit nicht behaupten konnte. Die Karte aus Zypern war mit den Floskeln aus dem Textbaukasten versehen, den i3 Jährige auf Klassenfahrten benutzen, wenn sie schnell wieder mit ihren Kumpanen heimlich verbotenen Alkohol im Etagenbett trinken möchten, statt sich ausführlich ihren alten, zurückgelassenen Eltern zu widmen: »Das Wetter ist schön, das Essen schmeckt gut. Gruß, Uschi.« Na bitte, aus der biederen Mama Ursula war im Handumdrehen eine waschechte »Uschi« geworden. Klasse!