Schatten

über

Wangerooge


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Malte Goosmann



Copyright: © 2015 Malte Goosmann

Umschlaggestaltung: Monika Goosmann

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-5637-8

Donnerstag



Das Schiff begann zu vibrieren. Man hörte das Brummen der Motoren. Langsam schob sich das Heck der MS „Wangerooge“ in das Hafenbecken. Die Schraube quirlte den Hafenschlick auf. Möwen umkreisten das Schiff in der Hoffnung, dass Touristen ihnen Brot zuwarfen. Es kam auch vor, dass sie sich in direktem Sturzflug ihre Beute direkt aus den Händen der verdutzten Feriengäste holten. Der Schreck war dann immer groß und vor allem Kinder konnten kaum von ihren Eltern ob dieses Schocks beruhigt werden. Diese Gefahr bestand heute nicht. Es waren an diesem grauen Novembertag nur ca. zwanzig Fahrgäste an Bord. Die Saison 2013 war vorbei und es sah so aus, als wollten nur einige Handwerker die Überfahrt von Harlesiel nach Wangerooge machen. Sie hatten ihre Blaumänner an und Werkzeugkoffer und Rucksäcke dabei. Einige spielten Skat, andere hatten schon die erste Flasche Jever in der Hand.

Es war ein grauer nebelverhangener Tag. Das Wasser lief seit etwa einer Stunde auf und die „Wangerooge“ quälte sich den Leitdamm entlang. Der Wattenmeerboden war noch kaum mit Wasser bedeckt. Der Nebel verband sich mit dem schlammigen Grau des Watts. Man sah eigentlich nur eine düstere Wand, auf die das Schiff zufuhr. Die Geschwindigkeit des Schiffes wurde verringert. Der „Wangerooge“ kam das Bestattungsschiff „Horizont“ entgegen. Man konnte durch die großen Fenster des Schiffes eine kleine Gruppe schwarz gekleideter Menschen erkennen, die schon bei Bier, Schnaps und Butterkuchen angelangt waren. Seebestattungen erfreuten sich seit einiger Zeit großer Beliebtheit. Zwischen den Inseln Spiekeroog und Wangerooge werden die Urnen zu Wasser gebracht. Der Kapitän sagt ein paar Worte, es werden acht Glasen, das sind vier Doppelschläge, auf der Schiffsglocke geschlagen Als Zeichen der Ehrerweisung umrundet das Schiff den Blumenkranz und meist wird dann ein Lieblingslied des Verstorbenen gespielt. Aktueller Hit, in der vom Reeder geführten Liste, war Hans Albers Weiße Möwe flieg nach Helgoland. Danach ist dann kein Halten mehr und der Schmerz muss mit Jever und Köm betäubt werden. Als Grundlage wird vorher, nach norddeutschem Brauch, Butterkuchen gereicht. Genau diese Trauerzutaten konnte man durch die leicht beschlagenen Scheiben des Bestattungsschiffs erkennen. Die Badegäste der beiden Inseln, zwischen denen die Zeremonien stattfinden, werden in der Hauptsaison häufig mit den Spuren dieser Bestattungsart konfrontiert. Verwelkte Kränze und Trauerschleifen werden, bei ungünstigen Wind- und Strömungsverhältnissen, an die Strände der Urlauber getrieben. In Wangerooge soll, an einer Strandburg mit Deutschlandfahne, eine Trauerschleife mit der Aufschrift: „Ich werde dich nie vergessen! Deine dich ewig liebende Anke“ gesichtet worden sein.

Die Begegnung beider Schiffe war abgeschlossen und die Geschwindigkeit wurde wieder erhöht. Unter Deck wurde die nächste Runde Jever am bordeigenen Kiosk geordert. Das Oberdeck war leer, was bei dieser Witterung nicht ungewöhnlich war. Nur ein Mann lehnte sich an die Reling zwischen Niedergang und Hauptreling. Er war mit einer Segeljacke der Marke Helly-Hansen bekleidet und trug eine Basecap mit der Aufschrift Rubymax, eine Kappe, die ihm ein alter Kumpel, der eine Motorradwerkstatt in Wuppertal betrieb, geschenkt hatte. Ein Teil seiner aschblonden und stark angegrauten Haare wurde nicht von der Mütze bedeckt. Mit einer Hand umfasste er die Reling, mit der anderen einen Gitarrenkoffer, der den Schriftzug Fender trug. Der Mann war groß gewachsen, hatte einen 3 Tage Bart. Sein Gesicht war mit Falten übersät, was ihn durchaus interessant machte. Seine strahlend blauen Augen waren ein markantes Merkmal. Die Melancholie in seinem Gesicht passte zu der allgemeinen Stimmung, die durch diesen bleiernen Nebel erzeugt wurde. Petersen war mit dieser Schiffsfahrt an seinem Tiefpunkt angekommen. Vor anderthalb Jahren war er noch erfolgreicher Ermittler des Zivilen Einsatzdienstes(ZED) Süd der Bremer Polizei und jetzt befand er sich auf der Überfahrt nach Wangerooge, wo er den kranken Polizeioberkommissar der Polizeistation Wangerooge unterstützen sollte. In einem aufsehenerregenden Strafprozess wurde Petersen zu einer Geldstrafe von 300 Tagessätzen zu je 60Euro verurteilt. Dieses Strafmaß ließ es zu, dass er im Polizeidienst verbleiben konnte. Seine Suspendierung wurde aufgehoben. In einem Disziplinarverfahren wurden seine Bezüge gekürzt und die Versetzung in eine andere Dienststelle verfügt. Hiermit hatte die Bremer Polizeiführung aber nun ein großes Problem. Der viel beachtete Prozess hatte nicht nur die öffentliche Meinung gespalten, sondern auch die Bremer Polizei. Das Gericht hatte auch mit seinem Urteilsspruch die Polizeiführung kritisiert, die nun ein Problem damit hatte, Petersen weiter beschäftigen zu müssen. In dem Prozess hatten Polizeibeamte gegen Polizeibeamte ausgesagt. Neid und Missgunst spielten hier eine große Rolle. Die internen Ermittlungen der Innenrevision wurden abgeschlossen, ohne die Staatsanwaltschaft zu informieren. Bei einem erneuten Vorwurf gegen Petersen und seine Ermittler schaltete die Polizeiführung das LKA Niedersachsen ein, um die Vorwürfe zu klären, dabei wurde sogar gegen die Bremer Innenrevision ermittelt. Höhepunkt der Ermittlungen gegen Petersen und seine Männer war die Öffnung der Spinde der Kollegen durch das LKA Niedersachsen. Der Betriebsfrieden bei der Bremer Polizei war empfindlich gestört. Was sollte aber nun mit Petersen geschehen, an dem sich der interne Konflikt kristallisierte? Diese Problemlage war nun Ausgangspunkt für einen Deal zwischen den Ländern Bremen und Niedersachsen. Laut Spruch der Disziplinarkammer des Verwaltungsgerichts musste Petersen innerhalb Bremens in eine andere Dienststelle versetzt werden, eine solche Versetzung barg sehr viel Sprengstoff für die Bremer Polizeiführung. So bot man Petersen folgenden Deal an: er verblieb im Bremer Polizeidienst, behielt auch seinen Rang, sollte aber in Niedersachsen Dienst tun, mit der Option irgendwann nach Bremen zurückkehren zu können. Hier kam nun die Polizeistation Wangerooge ins Spiel. Der dortige Beamte Onno Siebelts, ein Urgestein der Insel, stand zwei Jahre vor dem Ruhestand und beabsichtigte in Kur zu gehen. Er brauchte dringend Unterstützung. Petersen stimmte diesem Deal zu, auch wenn seine Freunde, als auch sein Rechtsbeistand, ihm abrieten. Die Enttäuschung über das, was ihm widerfahren war, saß so tief, dass er rationalen Argumenten nicht zugänglich war. Er wollte nur weg, kostete es, was es wolle. Als geborener Bremer hätte er sich einen solchen Schritt vorher nie vorstellen können. Die Verzweiflung und Verbitterung trieben ihn dazu, seine Heimatstadt zu verlassen.

Mittlerweile hatte die MS „Wangerooge“ die offene Fahrrinne erreicht und erhöhte seine Geschwindigkeit. Das Schiff fing langsam an zu schaukeln. Der offene Zugang zur Nordsee war spürbar. In der grauen Nebelwand zeichneten sich langsam die Umrisse des Westturms der Insel ab. Petersen kannte den Turm. Während seiner Schulzeit hatte er eine Klassenfahrt nach Wangerooge gemacht. Im Westturm befand sich damals die Jugendherberge. Er würde nachschauen, ob das immer noch so war. Ihr Lehrer hatte ihnen erzählt, dass der Turm ein Nachbau war, der während der Nazizeit vom Reichs-arbeitsdienst errichtet wurde. Der eigentliche Westturm wurde von den Deutschen vor dem 1. Weltkrieg zerstört. Man wollte den Engländern, so kurz vor dem Krieg, keine Landmarke liefern. Petersen fand es merkwürdig, dass ihm das jetzt einfiel. Damals hatte er sich dafür wenig interessiert. Sollte doch etwas vom Geschichtsunterricht hängen geblieben sein? Es schien so.

Langsam verspürte er das Bedürfnis auch ein Bier zu sich zu nehmen. Die Handwerkerrunde unter Deck war schon beim vierten Bier angelangt. Er hätte jetzt durchaus Lust gehabt, sich dazu zu setzen und sich vollzuschütten, aber er konnte unmöglich Onno Siebelts auf dem Bahnhof Wangerooge mit einer Fahne gegenübertreten. Er hatte nur kurz mit dem Kollegen telefoniert, um die Modalitäten der Anreise zu klären. Dass dieser Mann durch und durch Ostfriese war, konnte man schon am Telefon spüren. Er musste mit einer gehörigen Portion Skepsis rechnen, wenn ein Beamter aus einer Großstadt mit einem „Diszi“ an den Hacken, auf die Insel versetzt wurde. Man stelle sich die Szene vor, er würde, zugedröhnt mit einigen Flaschen Bier, auf den Bahnsteig torkeln. Nein, diese Szenerie sprach eindeutig gegen das Bier. Das Schiff verlangsamte jetzt sehr auffällig seine Geschwindigkeit, obwohl es noch mindestens 2 Seemeilen bis zum Hafen waren. Petersen starrte zum Heck raus aufs Wasser. Tatsächlich, das Schiff bewegte sich nicht mehr. Sie waren aufgelaufen. Mit einem Blick voraus und achterraus über das Heck vergewisserte er sich, dass die „Wangerooge“ sich mitten im Fahrwasser befand. Er erinnerte sich an einen Artikel im Weser-Kurier, in dem von der Forderung des Wangerooger Bürgermeisters nach einer Vertiefung der Fahrrinne die Rede war. Anlass zur Sorge bestand nicht. Petersen beobachtete am Lauf des Wassers im Verhältnis zur roten Backbordfahrwassertonne, dass auflaufend Wasser war. Eine Übernachtung im Wattenmeer war nicht zu befürchten. Das sich selbst auferlegte Bierverbot hätte sonst auch nicht durchgehalten werden können. Ersatzweise entschloss er sich vom Schiffskiosk auf dem Hauptdeck einen Kaffee zu holen. Nach etwa zehn Minuten setzte sich das Schiff wieder in Bewegung. Die Hafeneinfahrt war jetzt klar zu erkennen, auch die Waggons der Inselbahn mir ihrer blauen Bemalung waren auszumachen. Das Schiff drehte im Hafenbecken und legte am vorgesehenen Platz an. Nachdem die Gangway herunter-gelassen war, verließen, leicht schwankend, die Handwerker als erstes das Schiff. Es folgte Petersen in gebührendem Abstand. Er hatte keine Lust auf Unterhaltung, deshalb stieg er auch in den letzten Waggon der Inselbahn ein. Hier war er für sich. Die Verladung der Gepäckcontainer dauerte nur sehr kurz, so dass die Inselbahn relativ schnell ihren Weg durch die Salzwiesen des Deichvorlandes suchen konnte. Der Westturm war nun deutlich zu erkennen. Sofort bemerkte Petersen den modernen Vorbau, dieser war während seines Klassen-ausfluges noch nicht da gewesen. Da es langsam dunkel wurde, kreiste auch schon das rote Licht des neuen Leuchtturms über die Landschaft, ein wichtiges Seezeichen für den Großschifffahrtsweg in der Deutschen Bucht. Mit einem Pfeifen der Lokomotive fuhr der Zug durch den Deichschart zum Bahnhof Wangerooge. Normalerweise standen bei der Ankunft des Zuges in der Saison viele Pensionswirte mit ihren Bollerwagen auf dem Bahnsteig, um ihre Feriengäste in Empfang zu nehmen. Heute Abend war es anders, gähnende Leere. Niemand wurde anscheinend erwartet. Petersen nahm seinen Gitarrenkoffer vom Sitz und stieg aus dem Waggon und bewegte sich in Richtung Gepäckcontainer, um seine Koffer abzuholen. Aus der Dunkelheit des Durchgangs zum Bahnhofsvorplatz löste sich jetzt ein kleiner untersetzter Mann mit deutlichem Bauchansatz und ging auf Petersen zu. Er trug eine Wollmütze, ähnlich einer Skimütze, mit der Aufschrift Polizei. Petersen hatte solche Mützen, die er absolut albern fand, auch schon in Bremen bei einigen Kollegen gesehen.

Kollege Petersen?" sprach ihn der Mann an. Er nickte. „Onno Siebelts, herzlich willkommen auf Wangerooge!“ Sie schüttelten sich die Hände.

Geben Sie mir mal Ihre Gepäckscheine. Ich lasse das Gepäck gleich von Bodo in die Charlottenstraße bringen.“ Onno Siebelts gab die Scheine auf dem Bahnhofsvorplatz einem bärtigen Mann, der vor einem lilafarbenen E-Karren stand. Seine Schirmmütze war mit Abzeichen übersät. An dem E-Karren war ein HSV-Aufkleber zu erkennen.

Das fängt ja gut an“, murmelte Petersen.

Nachdem die Gepäckfrage geklärt war, nahm Onno Siebelts seinen Kollegen zur Seite.

Ich heiße Onno! Als Kollege duzt man sich hier.“

Lars, einverstanden“, entgegnete Lars Petersen mit einem Gefühl der Erleichterung. Sie gingen jetzt erst einmal schweigend die Zedeliusstraße hinauf, am alten Leuchtturm vorbei, in Richtung Ortsmitte. Nach einigen Minuten durchbrach Onno Siebelts das Schweigen:

Ich wohne nicht mit meiner Frau auf dem Revier. Wir haben ein kleines Haus in der Friedrich-August-Str. Du hast also in deiner Dienstwohnung über dem Revier sturmfreie Bude.“ Petersen grinste und Onno Siebelts konnte sein schelmisches Lachen nicht unterdrücken.

So, jetzt kommst du aber erst einmal mit zu uns nach Hause, meine Frau hat für uns gekocht.“ Ohne dass Petersen etwas sagen konnte, bogen sie in die besagte Friedrich-August-Str. ein. An der Straßenecke befand sich eine Kneipe, die auch schon geöffnet war. Das grüne Jever Schild war erleuchtet und über der Eingangstür war der rotbeleuchtete Schriftzug „Zum Störtebeker“ erkennbar. Ungefähr vier bis fünf Männer saßen an der Theke. Durch das geöffnete Oberlicht der Eingangstür konnte man Hey Joe von Jimi Hendrix hören.

Nicht schlecht“, dachte sich Petersen.

Lars“, Onno Siebelts unterbrach das Schweigen, „du musst mir nicht erzählen, warum du hierher versetzt worden bist. Für mich bist du einfach nur ein Kollege, sonst nichts. Mein Vorgesetzter hat nur wenig erzählt.“

Petersen war auf diese Situation vorbereitet. Er hatte sich immer wieder überlegt, wie er mit etwaigen Fragen nach seinem Vorleben umgehen sollte. Nach seinem Selbstverständnis hatte er nichts Unrechtes getan und wollte auch so auf die Fragen reagieren. Ihm war schon klar, dass dies der sympathische Versuch war, ihm etwas zu entlocken. Er konnte Onno Siebelts versteckte Frage nachvollziehen, denn sein Kollege hatte ein Recht darauf zu wissen, mit wem er es zu tun hatte. Für Polizeibeamte war das Vertrauen in Kollegen eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit. Das Fehlen dieses Vertrauens hatte er in Bremen schmerzvoll erfahren müssen.

Onno, ich werde dir alles erzählen und all deine Fragen beantworten. Ich habe damit kein Problem. Es gibt nichts zu verschweigen.“ Onno sah ihn erschrocken an.

Ich wollte dich nicht nötigen, schon gar nicht so kurz nach deiner Ankunft.“

So ist das bei mir auch nicht angekommen. Lass mir etwas Zeit! Ich glaube die Sache sollten wir bei einem schönen Bier besprechen, wenn die Gelegenheit günstig ist.“ Onno war erleichtert:

Jau, so machen wir es!“

Sie waren vor einem kleinen gepflegten Haus mit rotem Klinker angekommen. Der Vorgarten machte einen sehr akkuraten Eindruck. Onno Siebelts öffnete die Haustür.

Komm rein in die gute Stube!“

Eine Tür zum Flur öffnete sich und eine große schlanke Frau mit etwas strengem Gesicht kam zum Vorschein.

Moin Herr Petersen, ich bin Frieda Siebelts!“ Sie streckte Petersen ihre Hand entgegen.

Moin, Moin“, entgegnete dieser. Dieses norddeutsche Moin, Moin war ihm auch aus Bremen geläufig. Die meisten Kollegen begrüßten sich so.

Ich bin heilfroh, dass mein Mann jetzt Unterstützung bekommt. Letztlich ist das ein 24 Stunden Job auf der Insel, vor allem in den Monaten, wo Onno allein ist“, fuhr Frieda Siebelts fort. Onno unterbrach sie:

Nun hör auf Frieda, sonst läuft uns Lars noch wieder weg. Der denkt doch, dass er hier ‘nen schönen Urlaub machen kann. Außerdem solltet ihr euch auch duzen. Das macht vieles einfacher!“

Petersen und Frieda schüttelten sich noch mal die Hände und dann wurde gegessen. Frieda hatte ein rustikales norddeutsches Essen vorbereitet, Labskaus mit roter Bete, Spiegelei, sauren Gurken und Matjes. Petersen verschlang das Essen. Er hatte seit heute Morgen nichts mehr gegessen. Frieda Siebelts interpretierte den Appetit von Petersen zu Recht als Kompliment für ihr Essen. Das Eis war gebrochen. Nach dem Essen gab es Bier und Schluck. Langsam spürte Petersen auch die Wirkung des Alkohols. In ihm drängte sich die Frage auf, was wohl passieren würde, wenn jetzt jemand 110 auf Wangerooge wählen würde. Er behielt diese Frage aber für sich, obwohl er befürchtete, dass diese Situation sich nicht vermeiden ließe. Pappsatt und ziemlich abgefüllt, verließen Onno und Petersen das Haus Siebelts, nicht ohne, dass Petersen sich herzlich bei Frieda Siebelts für die Bewirtung bedankte.

Durch die Kapitän-Wittenberg-Str. gelangten sie zur Polizeistation Wangerooge, Charlottenstraße 9, ein rotge-klinkertes zweigeschossiges Haus. Das Polizeischild leuchtete in die Nacht. Eine orangefarbene Notrufsprechanlage hing links neben der Eingangstür. Vor der Eingangstür standen Petersens Koffer. Onno Siebelts schloss den Eingang auf. Sie brachten die Koffer ins Obergeschoss. Hier befand sich eine möblierte 2 Zimmer Wohnung mit Küche und Bad, die jetzt erst einmal die Wohnstatt von Petersen sein würde. Auf dem Flur befanden sich noch 2 Einzimmerappartements für Kollegen, welche die Wache in der Saison verstärkten, so erklärte Onno Siebelts die Raumaufteilung.

So Lars, ich lass dich jetzt alleine. Wir treffen uns morgen um 9 Uhr unten in der Dienststelle. Dort bereden wir alles weitere. Gode Nacht, slop god!“ Der gute Nachtgruß auf Plattdeutsch kam Petersen sehr bekannt vor. Seine Großeltern sprachen häufig platt, so dass er die meisten Redewendungen verstehen konnte.

Er schaute sich um. Die Wohnung machte einen tristen, aber sauberen Eindruck. 60-er Jahre Ambiente, schlichte Furnier-holzschränke, das Sofa durchgesessen. An den Wänden hingen Bilder mit maritimen Motiven. Er war zu müde, um jetzt Trübsal zu blasen und sein Schicksal zu bedauern. Er bezog sein Bett, streifte sich die Kopfhörer über und hörte ohrenbetäubend ACDC. Dabei schlief er ein.

Freitag



Als ihn sein Handy am nächsten Morgen mit dem Gitarrenriff von Smoke on the Water weckte, wurde sich Petersen angesichts der tristen möblierten Umgebung, seiner trostlosen Lage wieder bewusst. Er hatte noch nicht richtig ausgepackt, geschweige denn für das Frühstück eingekauft. In einer halben Stunde musste er unten in der Dienststelle antreten. Auf keinen Fall wollte er Onno Siebelts enttäuschen. Den Empfang gestern empfand er als äußerst kollegial, wenn nicht sogar als liebevoll. Beim Aufstehen sah er auf einem Kleiderbügel an diesem hässlichen Schrank seine neue Uniform hängen. Als Zivilfahnder hatte er seit Jahren keine Uniform mehr getragen. Zwischen Bremen und der Polizeidirektion Wilhelmshaven, die für den Polizeiposten Wangerooge zuständig war, musste erst einmal geklärt werden, in welcher Uniform er durch Wangerooge stolzieren sollte. Formal war er noch bremischer Beamter, sollte aber seinen Dienst in Niedersachsen ableisten. Wilhelmshaven bestand auf der niedersächsischen Uniform, die sich ja nur durch das Länderwappen von der bremischen unterschied. Widerwillig zog er die Uniform an, sie passte ganz gut, obwohl die Hose reichlich eng ausfiel, was sicherlich auf seinen Bauchansatz zurückzuführen war. Er hatte seine Maße vor einer Woche nach Wilhelmshaven durchgegeben. Das hatte schon mal geklappt!

Er musterte sich im Spiegel. Seine halblangen, etwas wirren Haare, wurden von der Uniformmütze nicht ganz bedeckt. Auch egal, dachte er. Auf keinen Fall wollte er die bereitliegende Wollmütze, die er schon bei Onno auf dem Bahnhof bewundern durfte, aufsetzen. Er empfand sie als irgendwie deppig.

Langsam ging er die Treppe zum Revier hinunter. Onno schien noch nicht da zu sein. Er schloss die Bürotür auf und sah in ein gemütliches Büro mit drei Schreibtischen und drei PCs. Wie man es aus vielen Fernsehserien kannte, war der Bürobereich mit einem Tresen aus hellem Holz abgetrennt, so dass der Publikumsverkehr von den Schreibtischen getrennt war. An den Wänden hingen ein großer Lageplan von der Insel und mehrere Nachdrucke von maritimen Motiven, die wohl von Ole West Bildern stammten. Neben dem Hauptbüro lag eine Art Besprechungszimmer, das nur mit Regalen und einem Besprechungstisch mit 4 Stühlen ausgestattet war. In diesem Moment ging die Tür auf und Onno kam mit einem kräftigen „Moin, Moin“ auf den Lippen in den Raum. Er hatte eine große Brötchentüte in der Hand.

So mien Jung, jetzt wird erst mal gefrühstückt“, brummte er in den Raum.

Während des sehr ausgiebigen Frühstücks, erläuterte Onno die groben dienstlichen Abläufe. Petersen erinnerte sich an die Worte von Frieda Siebelts am gestrigen Abend. Sie sprach von 24 stündiger Bereitschaft. Onno schien die Besorgnis im Gesicht von Petersen zu bemerken.

Wenn keine Saison ist, passiert hier kaum etwas. Die Insulaner hängen allerdings am Brett aufeinander und dann kann es schon mal in den Kneipen rumsen. Aber in der Regel holen sie uns nicht und wenn, dann wird die Anzeige am nächsten Morgen wieder zurückgezogen. So ist das hier! Manchmal kann es Ärger mit den Handwerkern vom Festland geben, aber auch das hält sich in Grenzen.“

Petersen schaute etwas beruhigter in Onnos Gesicht. Den Ausdruck Brett, der ja wohl ein anderes Wort für Theke sein sollte, kannte er aus Bremen nicht. Onno fuhr mit seinem Vortrag fort: „In der Saison kommen dann zwei bis drei zusätzliche Beamte vom Festland, um uns zu unterstützen. Da geht hier natürlich die Post ab. Randale in Kneipen, Drogendelikte, freilaufende Hunde, Fahrradunfälle und Schulklassen, die von ihren Lehrern nicht beherrscht werden. Also der ganze Kleinscheiß, wenn du verstehst, was ich meine.“

Na ja, Kleinscheiß ist das ja nicht alles“, warf Petersen ein, „über die Drogensachen musst du mir später mehr erzählen. Ich war nämlich lange Zeit in Bremen als Drogenfahnder eingesetzt.“ So jetzt ist es raus, dachte Petersen. Was wohl jetzt in Onno vorgeht? Drogenfahnder, Mafia, Korruption?

Aber Onno war nichts anzumerken.

Hier liegt das Reviertagebuch, schau dir das in Ruhe an“, fuhr er fort, „Diensthandy und zwei digitale Funkgeräte haben wir auch.“

Während er das sagte, ging er an einen Blechschrank, schloss ihn auf und händigte Petersen die Dienstwaffe aus.

Ich brauch dir dazu ja nichts zu sagen. Du bist ja lang genug im Geschäft.“

Petersen nickte. War das eine versteckte Warnung oder überinterpretierte er jetzt die letzte Äußerung von Onno. Der aber machte weiter im Text, indem er ihn auf die für die Polizei wichtigen Telefonnummern der Insel hinwies. Freiwillige Feuerwehr, Krankentransporte, Ärzte, Gemeinde usw.

So, ich habe dich jetzt genug vollgelabert. Ich würde vorschlagen, du gehst jetzt auf deine erste Streifenrunde, machst dich mit der Insel vertraut. Zwischendurch werde ich dich mal anfunken, damit wir wissen, ob alles funktioniert und ob du die Technik auch beherrscht. Einkaufen kannst du natürlich nebenbei auch.“

Bei den letzten Worten grinste Onno Petersen freundlich an.

Petersen verabschiedete sich und nahm Kurs auf die Zedeliusstraße, der Hauptstraße Wangerooges.

Es waren kaum Menschen zu sehen. Viele Lokale waren augenscheinlich geschlossen. Nur das „Café Treibsand“ hatte geöffnet. Auf einer Tafel stand: Hier immer Bundesliga-Live! Für Petersen eine wichtige Information. In Bremen war er regelmäßig ins Stadion gegangen. Das würde ihm fehlen. Nun hatte er das „Café Pudding“ erreicht, welches auch geschlossen hatte. Das Café war ein Rundbau, der auf einem alten Bunker aus dem 2. Weltkrieg stand. Auf diesem Bunker war einmal eine Funkmessantenne angebracht, einer Vorläufertechnik des heutigen Radarsystems. Beim Anblick des „Café Puddings“ kam ihm die Redewendung „einmal um den Pudding gehen“ in den Sinn. Der Wind pfiff mächtig kalt aus dem Durchgang zur Strandpromenade. Er musste seine Dienstmütze festhalten. Da war er nun, der freie Blick auf Strand und Nordsee. Die Wellen hatten Schaumkronen, was immer ein Zeichen für erhöhte Windstärken war. Bei seiner Sportbootführerscheinprüfung musste er eine Frage nach den Schaumkronen beantworten. Mit einigen Kumpels hatte er regelmäßig Segeltörns auf Charterbooten unternommen.

Lars, bitte kommen“, quäkte es aus seinem Funkgerät.

Ja, Onno, bin auf der Promenade“, antwortete Petersen. „Okay, das klappt ja gut. Hier ist gerade der Spediteur. Er will einen Gitarrenverstärker für dich bringen. Ist das okay?"

Ist okay, lass ihn bitte in meine Wohnung bringen! Over!“

Das klang professionell, dachte er sich. Er konnte das Grinsen von Onno förmlich erahnen.

Links neben dem Haus Monopol schien auch noch eine Kneipe geöffnet zu haben, der „Strandkorb." Mehrere Fahrräder standen im Eingangsbereich, neben einem eingepackten Strandkorb. Er drehte um und ging die Zedeliusstraße wieder hinunter und tätigte im Spar-Markt seine Einkäufe. Im Laden wurde er von mehreren Leuten mit einem freundlichen „Moin, Moin“ begrüßt.

Als er ins Revier zurückkam, hatte Onno Kundschaft. Ein hochgewachsener, bärtiger Mann stand vor dem Tresen und unterhielt sich mit Onno. Petersen betrat das Zimmer mit einem „Moin, Moin“ und stellte seine Einkäufe ab. Onno wies auf den Bärtigen:

Darf ich dir unseren Bürgermeister vorstellen, Günter Depken und das ist hier mein neuer Kollege Petersen.“

Beide gaben sich die Hand. Depken hatte gerade gegenüber Onno eine Einladung ausgesprochen:

Auf der nächsten Gemeinderatssitzung haben wir als Tagesordnungspunkt 2, Verkehrssicherheit auf der Zedelius-straße. Ihr seid hiermit eingeladen. Es wird wohl darum gehen, dass ihr eure Kontrollen in der Saison erhöht, weil zu viele Leute in der Fußgängerzone Fahrrad fahren."

Wir kommen“, antwortete Onno.

Der Bürgermeister dampfte ab.

Dieses Problem ist ein Dauerbrenner auf der Insel, so lang ich hier bin und das ist schon sehr lang. An dem Punkt kriegst du auch immer Ärger mit den Insulanern. Die halten sich nämlich auch nicht an das Fahrradverbot in der Saison. So, nun ist Mittagspause, wir treffen uns um 2 Uhr wieder hier.“

Petersen ging in seine Wohnung packte seine Einkäufe aus und überlegte, wo er seinen Marshall-Gitarrenverstärker hinstellen sollte. Er hatte mindestens zwanzig Jahre in verschiedenen Bands in Bremen gespielt, meistens im Rock-Oldie-Bereich. Sein ständiger Schichtdienst verhinderte leider eine feste Bandmitgliedschaft. Er half hier und da mal aus, wenn ein Gitarrist ausfiel. Es gab auch immer Komplimente, viele der verschiedenen Bandkollegen hielten ihn für einen sehr guten Gitarristen. Ob er diese Leidenschaft für die Musik ausgerechnet in Wangerooge ausleben könnte, bezweifelte er sehr.

Nach der Mittagspause trafen sich beide Beamte wieder im Revier. Petersen drückte Onno einen Schnellhefter mit Zeitungsausschnitten in die Hand:

Hier habe ich alle Presseartikel über meinen Fall gesammelt. Lies dir das mal durch, danach können wir darüber reden."

Onno schaute Petersen verdutzt an:

Du musst dich hier nicht rechtfertigen oder erklären, schon gar nicht vor mir!“

Das ist mir aber wichtig, Onno. Vielleicht brauche ich das auch für mich selbst,“ insistierte Petersen.

Okay, wenn ich alles durchgelesen habe, besprechen wir alles bei einem Bierabend."

Onno nahm die Mappe und steckte sie in seine Aktentasche. Plötzlich ging die Tür auf und eine kleine pummelige Frau mit Hund stürzte völlig außer Atem in die Dienststelle.

Onno, auf der Baustelle der neuen Feuerwehr spielen Kinder auf dem Mauerwerk in ziemlicher Höhe“, prustete die Frau heraus. Onno setzte sein Pokerface auf und wandte sich an Petersen:

Einsatz, Herr Kollege!“

Kurz erläutere er Petersen, wo sich die Baustelle befand. Petersen schwang sich auf sein Dienstfahrrad, für ihn eine völlig neue Art der polizeilichen Fortbewegung. Als Drogenfahnder war er meistens mit schnellen Zivilautos unterwegs. An der Baustelle angekommen, sah er auch schon die beiden Jungs, die auf den frisch gemauerten Wänden in ungefähr sieben bis acht Meter Höhe herumturnten. Die beiden etwa sieben bis achtjährigen Jungs erschraken beim Anblick des uniformierten Polizisten.

Sofort runterkommen!“ rief Petersen in durchaus scharfem Ton. Er half dann beiden beim Abstieg über die wacklige Gerüstleiter. Fieberhaft überlegte Petersen, was er jetzt machen sollte? Er, der prominente Drogenfahnder, der Drogenringe aushob und schon in Schusswechseln verwickelt war, wusste nicht weiter. Die Absurdität der Situation war ihm durchaus bewusst. „Mitkommen!" herrschte er die Jungs an. So trotteten nun die beiden Jungs und der fahrradschiebende Polizist in Richtung Wache. Dort angekommen, war von Onno nichts zu sehen. An der Pinnwand hing ein Zettel, bin auf der Gemeinde. „Ach, du Scheiße!“ dachte Petersen. Jetzt musste er hier auch noch den Pädagogen spielen.

Jungs, ihr wisst, warum ich euch da runter geholt habe?“ begann Petersen die Unterhaltung mit etwas milderem Ton. Beide Jungs nickten. „Die Mauer hätte einstürzen können oder ihr hättet abstürzen können. Dann wärt ihr jetzt tot!“ setzte Petersen seine Predigt fort. Bei den letzten Worten erschrak er selbst. Hier übertrieb er wohl. Einer der beiden Jungs hatte Tränen in den Augen. „Einsperren tue ich euch aber nicht!“ fuhr er fort. „Jetzt geht es ab nach Haus!“

Er ließ sich von beiden die Adresse sagen und lieferte beide bei ihren Eltern ab. Von der Polizei nach Hause gebracht zu werden, das reicht als Maßnahme fand er.

In der Wache traf er Onno, dem er kurz über den Vorfall berichtete. „Du hättest Lehrer werden sollen“, wurde er von

Onno angeflachst.

Niemals“, antwortete Petersen, „meine geschiedene Frau ist Lehrerin. Ich kenne die Lehrerszene in der Großstadt, das muss ich mir nicht antun.“

Er machte einen kurzen Eintrag ins Reviertagebuch. Onno instruierte ihn noch, dass er heute Abend das Diensthandy mitnehmen müsse, wenn er noch eine private Runde machen würde. Sie verabschiedeten sich und wünschten sich ein schönes Wochenende, denn es war Freitagnachmittag.

Den späten Nachmittag verbrachte Petersen mit dem Einräumen seiner Sachen. Wirklich gemütlich fand er diese Wohnung mit ihrem 60-er Jahren Charme ja nicht, aber irgendwie musste er damit klarkommen. Er stöpselte seine Gitarre in den Verstärker und fing an zu spielen. Rücksicht brauchte er nicht nehmen, denn er war allein im Haus. Er nahm sich den Gitarrenriff von Sweet Home Alabama vor, den er immer noch nicht fehlerfrei beherrschte. Nach dem Üben beschloss er, noch eine Runde zu drehen. Ihm fiel ein, dass er vergessen hatte, Onno zu fragen, wie es mit Alkohol in Kneipen aussah. Er war in Bremen passionierter Kneipengänger gewesen. Schon von Berufs wegen hatte er sich häufig in Kneipen aufgehalten, was ihm nicht unbedingt missfiel. So ganz wollte er aber davon nicht lassen. Ihm war schon klar, dass er in einem solchen kleinen Ort wie Wangerooge unter Beobachtung stand. Er erinnerte sich an seinen Freund Lothar, der drei Jahre lang Lehrer auf Helgoland gewesen war und es immer vorgezogen hatte, mit ihm in seiner Wohnung zu trinken. Petersen hatte das immer wieder bedauert, weil es in Helgoland so schöne Kneipen gab.

Ohne Uniform zog er gegen 20 Uhr los. Als er aus dem Revier trat, kam ihm eine zierliche, etwas blässliche Frau entgegen.

Waren Sie das eben?“ sprach sie ihn an.

Wie, was meinen Sie, “antwortete er.“

Na, ja, Lynyrd Skynyrd kennt man doch“, lachte sie ihn an.

Danke für das Kompliment“, murmelte er und schon war die Frau weiter gegangen. Vielleicht hätte ich doch mit Kopfhörer spielen sollen, ging es ihm durch den Kopf.

Im „Café Treibsand“ angekommen, setzte er sich an die Theke und bestellte ein Bier. Auf der Leinwand im hinteren Bereich lief das Freitagsspiel der Bundesliga. Eine Dartscheibe schien dort auch vorhanden zu sein. Die Kneipe war recht leer. Einige Fußballfans saßen direkt vor der Leinwand. Sie hatten blaue Schals um. Schalke spielte.

Zeigt ihr morgen Werder?“ sprach Petersen die junge Bedienung an, die gelangweilt auf einem Barhocker saß.

Nein, nur Konferenz!“

Was soll das denn?“ entfuhr es Petersen.

Wir müssen hier Rücksicht auf die Touris nehmen und auch nicht alle auf der Insel sind Werder-Fans“, flötete sie in Richtung Petersen. Es kam ihm vor, als hätte sie diesen Satz schon mehrfach gesagt.

„‘Iss ja gut“, beruhigte er die junge Frau. Aber irgendwie fühlte er sich provoziert und schoss zurück: „Ich glaube nicht, dass in Garmisch-Partenkirchen oder Oberstdorf aus Rücksicht auf Touris Bayern nicht gezeigt wird.“

Anweisung von der Wirtin“, zog sich die Bedienung jetzt auf die Order ihrer Chefin zurück.

Hier machte es jetzt keinen Sinn nachzuhaken. Die Diskussion war beendet. Petersen bestellte sich noch ein Bier und folgte gelangweilt dem Schalke Spiel. Ein Gast, der zwei Hocker neben ihm an der Theke saß, rückte jetzt näher an ihn ran. Der Typ schien kein Feriengast zu sein. Er war sehr vertraut mit der Bedienung und beide schienen auch über ihnen bekannte Personen auf der Insel zu sprechen.

Wenn du Werder sehen willst“, sprach der Kneipengast, der Schwede genannt wurde, „dann musst du zu „Schlocki" gehen. Das ist unten am Flugplatz, „Tower-Stübchen“ heißt das Lokal. Ich selbst bin Dortmund-Fan, aber ich kann dich verstehen. Diese Konferenz-Scheiße bringt nix, man will ja Fußball sehen.“

An diesem Punkt traf er auch die Meinung von Petersen, der mit der Konferenz im Fernsehen nichts anfangen konnte. Im Radio war das was anderes.

Manchmal macht auch der Magister früher auf, der ist auch Werder-Fan“, setzte der Kneipenkollege nach.

Als der Name Magister fiel, horchte Petersen auf. Diesen Namen hatte er schon einmal gehört und zwar aus Bremen. War das nun Zufall? „Wer und wo ist das denn?" fragte Petersen.“

Der hat hier die Kneipe „Zum Störtebeker“, unten am Brunnen. Da musst du mal hin. Der Typ ist ein Original, der bezeichnet sich selbst als Kult-Wirt und wenn der voll ist, kann der sehr witzig sein.“

Und warum nennt der sich Magister?" setzte Petersen nach.

Da macht der ja gerade so ‘n Tamtam drum. Wenn der gut drauf ist, erzählt der an jedem Abend die Geschichte. Über seinem Tresen hängt ein Ausschnitt aus einer alten Chronik über Störtebeker. Dort werden seine Gesellen aufgeführt, unter anderem auch Wigbold, „een mester an den seven kunsten." Ich kenn das schon auswendig. Dieser Magister Wigbold war also ein Studierter, der sich den Seeräubern um Störtebeker anschloss. Da macht der nun so ein Buhei drum, ein intellektueller Seeräuber. Manchmal glaub ich, er meint, er sei das selbst.“

Diese Geschichte kam Petersen sehr bekannt vor. Leichte Unruhe kroch in ihm hoch.

Er ist aber auf der Insel umstritten. So manchen Insulaner hat er schon mal blöd angemacht. Die gehen dann lieber oben in den Korb."

Strandkorb, da oben an der Promenade?“ fragte Petersen.

Ja, genau. An den Kneipen hier scheiden sich die Geister. Das ist fast so etwas wie eine Weltanschauung, eigentlich blöde."

Es entspann sich nun ein längeres Kneipengespräch, in dem Petersen einiges über die Insel erfuhr. Auch warum sein Kneipenkollege Schwede genannt wurde, war ihm klar geworden. Wenn Jürgen, so hieß der Gast wirklich, sein Erstaunen über etwas zum Ausdruck bringen wollte, kam „alter Schwede“ über seine Lippen. Man gab sich gegenseitig das eine oder andere Bier aus, bis Petersen zahlte und sich in sein Revier verzog, nicht ohne beim „Störtebeker“ vorbei zu gehen. Einkehren würde er dort morgen, hatte er sich vorgenommen, pünktlich zum Werder-Spiel.

Sonnabend



Am nächsten Morgen kam Petersen nur schwer aus dem Bett. Da er noch zwei Stunden offiziell Dienst hatte, streifte er seine Uniform über. Er entschloss sich frische Brötchen bei der Inselbäckerei Kunst zu holen.

Die freundliche Bedienung hinter dem Tresen lachte ihn an:

Da kommt ja unser Insel-Clapton.“

Petersen, noch nicht ganz wach, wurde leicht verlegen: „Wer hat da denn wieder geplaudert?“ fragte er.

Wir sind eben ein kleines Dorf, da bleibt nichts unbemerkt“, kicherte die junge Frau.

Zwar musste er auf dem Rückweg über diese Begebenheit grinsen, aber sie zeigte ihm auch, wie stark man hier unter Beobachtung stand.

Kaum im Revier angekommen, klingelte sein Diensthandy: „Polizei Wangerooge, Petersen“, meldete er sich.

Bahnhof Wangerooge, moin, wir haben Graffiti auf drei Waggons der Inselbahn. Könnt ihr mal kommen?“

Bin in einer Viertelstunde da“, antwortete Petersen.

Er musste wieder an Frieda Siebelts Worte vom ersten Abend denken, ein 24 Stunden Job. Er schmierte sich schnell zwei Brötchen, trank einen Pott Tee, nahm sich die digitale Dienstkamera und ging zum Bahnhof. Vor dem alten Leuchtturm sammelte sich eine Hochzeitsgesellschaft. Sie warteten augenscheinlich auf das Brautpaar, dass sich oben im Leuchtturm trauen lies. Diese Art der Trauung war immer beliebter geworden, in Bremen zum Beispiel konnte man sich auf einem Segelschiff trauen lassen. Auf dem Bahnhof angekommen, nahm er Kontakt zum Bahnhofsvorsteher auf. Dieser zeigte ihm die drei Waggons, die direkt auf dem Gleis am Bahnsteig standen. Petersen nahm die Anzeige auf, fotografierte die Tags (individuelle Graffitizeichen) und machte sich wieder auf den Rückweg. Im „Störtebeker“ wurde sauber gemacht. Die Jever-Kisten stapelten sich vor der Eingangstür. Er studierte das Schild mit den Öffnungszeiten. Erst ab 17 Uhr war die Kneipe geöffnet? Die Bundeliga begann aber schon um 15:30 Uhr. Ich werde es einfach versuchen, dachte Petersen und ging zurück ins Revier. Er trug den Graffiti-Vorfall ins Reviertagebuch ein, schickte die Bilddatei mit den Tags nach Wilhelmshaven.

Ohne Uniform, aber mit einem Werder-Schal bekleidet, ging er gegen 15:15 Uhr los, um zu sehen, was nun im „Störtebeker“ auf ihn wartete. Etwas komisch war ihm schon zumute. Die Außenbeleuchtung der Kneipe war nicht eingeschaltet, auch das Schild „open“ war nicht rot beleuchtet. Er sah aber vier Personen an der Theke sitzen. Mit etwas gemischten Gefühlen öffnete er die Kneipentür.

Geschlossene Gesellschaft! Hier wird nur Werder gezeigt“, donnerte es ihm entgegen.

Du wirst doch wohl unseren neuen Sheriff rein lassen“, tönte es von der Theke. Petersen erkannte den Mann. Es war der Bahnbeamte von heute Morgen. Petersen und der Magister fixierten sich jetzt. Es entstand eine kurze Pause. In beiden Gesichtern konnte man eine gewisse Ratlosigkeit beobachten. Der Magister unterbrach das Schweigen:

Gut okay, komm rein. Du hast ja auch den richtigen Schal um.“

Petersen setzte sich auf den freien Hocker neben den Bahnhofsvorstand. Er bestellte ein kleines Bier. Und nun stand es fest. Der Magister war der, den er aus Bremen kannte. Ein groß gewachsener Mann, ungefähr 1,90 m, mit großer schwarzer Brille und Kurzhaarfrisur. Man sah diesem Mann an, dass er gelebt hatte und das nicht zu wenig. Er trug eine verwaschene Jeans, die eigentlich mal in die Wäsche gehörte, darüber ein gelb schwarz geringeltes T-Shirt, das sehr stark an die Biene Maja erinnerte und nicht sehr vorteilhaft im Bauchbereich wirkte. Fieberhaft arbeitete es in Petersens Kopf. Sollte er hier quasi öffentlich bekennen, dass er diesen Mann kannte und einiges über ihn wusste. Auf der anderen Seite konnte auch der Magister, eine ganze Menge über ihn berichten. Er entschied sich nichts zu sagen und augenscheinlich hatte der Magister die gleiche Entscheidung getroffen.

Petersen musterte die Kneipe, während der Fernseher, der sich im Flaschenregal für die harten Getränke befand, angeschaltet wurde. An der Decke hingen Fischernetze, Aalreusen und ein Sack mit Kronkorken von unzähligen Bierflaschen. An den Wänden waren maritime Bilder angebracht und in den Ecken auf der Empore waren zwei große Gallionsfiguren mit sehr üppiger Oberweite aufgestellt. Am Eingang vor dem Tresen hing ein grünes Jever-Fahrrad unter der Decke. Über dem Tresen waren Bilder, wahrscheinlich von Stammgästen, zu sehen. Und es fehlte natürlich nicht das Schild mit dem Auszug aus der mittelalterlichen Chronik: „Magister Wygbold een mester an den seven kunsten." Daneben hing ein großes Ölbild, auf dem der Kopf von Klaus Störtebeker dargestellt war. Unter dem Bild standen die Worte “Claus Stürz den Becher.“

Dieses Bild tauchte zum ersten Mal im 17. Jhrdt. auf und es war höchst umstritten, ob hier tatsächlich das Konterfei von Klaus Störtebeker dargestellt wurde. Petersen hatte mal gelesen, dass es sich eher um die Darstellung des Kunz von Rosen, Hofnarr von Kaiser Maximilian, handele. Er hatte einmal in einer Bremer Kneipe, in der der Magister bediente, ihn mit dieser Erkenntnis aus einem Buch über Störtebeker konfrontiert. Der Magister fühlte sich provoziert und hielt wiederum Petersen einen Vortrag über die wahre Geschichte des Klaus Störtebeker. Das Leben dieses berühmtesten deutschen Seeräubers faszinierte beide.

Was tippst du denn Sheriff?“ schreckte ihn der Bahnhofsvorsteher aus seinen Gedanken auf.

2:1 für Werder“, antwortete Petersen.

Jetzt mischte sich der Magister ein: „Wenn du mit tippen willst, zwei Euro auf den Tisch. Du kannst auch noch die anderen Spiele tippen, die da auf den ausgehängten Listen stehen."

Unter den aufgeführten Begegnungen standen die getippten Ergebnisse, da hinter standen Namen wie z. B. Schwede, Jens Strandwärter oder andere Spitznamen. Petersen trug seine Tipps ein und zeichnete diese mit „Sheriff“ ab.

Humor scheinst du ja zu haben“, lachte der Mann von der Bahn, auch die anderen vier Thekengäste lächelten Petersen freundlich an, selbst der Magister konnte sein Grinsen nicht verbergen. Das Eis schien gebrochen. Petersen zahlte seinen Wetteinsatz. Im Fernsehen lief das übliche Vorgeplänkel mit Robin Dutt, der nun auch mehr in die Kritik geriet. Er appellierte an die Geduld der Fans beim Neuaufbau der Mannschaft. Die Mannschaften betraten das Spielfeld. Von nun an konzentrierte sich die gesamte Thekenbesatzung auf das Spiel. Man ereiferte sich, schimpfte auf den Schiedsrichter, titulierte einige Spieler als Nullnummern und Fehleinkäufe, die noch Klaus Allofs zu verantworten hatte. Nach 80 Minuten torloser Magerkost wurde die Runde durch ein Tor für Werder erlöst. Dieses 1:0 hatte auch bis zum Schluss noch Bestand. Petersen hatte zwei Ergebnisse im Tippspiel richtig getippt. Er erhielt 18 € ausgezahlt und gab eine Runde davon aus, was bei der Thekenbesatzung sehr gut ankam. In diesem Moment klingelte sein Diensthandy. Onno, der Bereitschaft hatte, war dran:

Lars, wir haben eine Schlägerei im „Korb“ oben. Ich krieg die Kerle allein nicht gebändigt. Wo bist du?“

Ich bin beim Magister, ich komme rauf.“ Zu seinen neuen Tresen-Freunden gewandt, sagte er: „Es gibt Ärger im „Korb“, ich muss mal eben Onno helfen.“

Na, ja, das wundert mich nicht, was da alles so rumhängt“,schaltete sich der Mann von der Bahn ein. Petersen zahlte und eilte zügig zur Strandpromenade.

Vor der Kneipe auf der Promenade hatte sich ein Knäuel von Menschen gebildet. Jeweils drei hielten einen Kontrahenten fest und in der Mitte befand sich Onno mit hochrotem Kopf. Onno schilderte, dass beide sich wohl beim Fußballspiel derart in Rage geredet hatten, dass die Fäuste flogen. Weder Wirt noch Mitgästen sei es gelungen, die beiden zu bändigen. Petersen schnappte sich den ersten mit gekonntem Polizeigriff und herrschte ihn an: „Mitkommen!" Onno und der Wirt des Strandkorbs, der mittlerweile herbeigerufen wurde, nahmen den anderen mit.

Um kein Aufsehen in der Zedeliusstraße zu erwecken, gingen sie einen Umweg zur Polizeistation. Zum ersten Mal sah Petersen die drei Zellen im Erdgeschoss der Station. Sie sperrten die beiden Streithähne jeweils getrennt ein, bedankten sich bei dem Wirt und gingen dann in ihr Dienstzimmer. Onno schrieb ein kurzes Protokoll über den Vorfall.

Was machen wir jetzt?“ fragte Petersen Onno.

Wir warten jetzt erst einmal. Dann versuchen wir zu schlichten. Meistens geht so was ohne Anzeige aus. Ich kenn den einen. Das ist nicht das erste Mal, dass der beim Fußball Ärger macht. Der ist HSV-Fan und wenn der nur Werder Bremen hört, rastet der aus, aber nüchtern ist der ganz umgänglich“, antwortete Onno.

Nach ca. einer Stunde gingen Onno und Petersen in jeweils eine Zelle, redeten ruhig und sachlich auf die Männer ein. Danach wurden beide Kontrahenten ins Dienstzimmer gesetzt. Der eine saß dem anderen gegenüber.

So Männer, habt ihr euch beruhigt oder steht noch etwas zwischen euch? Dann raus damit." Beide schüttelten mit dem Kopf. „Auf eine Anzeige können wir wohl verzichten? Kommt sowieso nichts bei raus. Ihr gebt euch jetzt die Hand und geht schön nach Hause. Wenn ihr zu Hause seid, ruft ihr hier an und wehe unterwegs passiert was! In einer Viertelstunde läutet hier das Telefon und wenn nicht, dann suchen wir euch, und wir werden euch finden. Raus mit euch!“

Petersen war begeistert mit welcher Souveränität Onno diesen Vorfall händelte.

Hast du mal ´ne Mediatorenausbildung gemacht?“ fragte er.

Wat is dat denn?“ raunzte Onno.

So was machen in Bremen die Kontaktpolizisten, auf deutsch Streitschlichtung.“

Ich brauch das hier nicht“, konterte Onno, „meine Fortbildungen sind zwanzig Jahre Dienst auf Wangerooge, Fußball, Alkohol und die langen Novemberabende."

In diesem Moment läutete das Telefon. Der erste meldete sich bei Onno und nur eine Minute später rief auch der andere Streithahn an. Onno grinste:

Gode Nacht Lars!"

Nacht Onno.“

Eigentlich hatte Petersen das dringende Bedürfnis, noch ein Bier trinken zu gehen. Aber sein gesunder Menschenverstand riet ihm von diesem Vorhaben ab. Er ging nach oben in seine Wohnung, stöpselte die Gitarre ein, diesmal mit Kopfhörer, und spielte mindestens viermal hintereinander Rockin‘ all over the World.

Montag



Am Montagmorgen sorgte Onno wieder für das obligate Frühstück. Allerdings entpuppte sich das Frühstück eher als ein Arbeitsessen. In Vorbereitung der Gemeinderatssitzung am Dienstag, zu der sie ja offiziell durch den Bürgermeister eingeladen waren, versuchte Onno Petersen einen Überblick über die Inselpolitik zu geben. Im Gemeinderat hatten CDU, SPD, die Grünen und die Wählergemeinschaft Bürger für Wangerooge jeweils zwei Sitze. Der parteilose Bürgermeister hatte eine Stimme. Er war kommunaler Beamter und gleichzeitig Direktor der Kurverwaltung.