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Stefan Majetschak

Ästhetik zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Frankfurt a.M. †

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

Im Internet: www.junius-verlag.de

© 2007 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelbild: Banksy, Crude Oils ›Tomato Soup‹

E-Book-Ausgabe September 2018

ISBN 978-3-96060-050-3

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-634-7

4., vollständig überarbeitete Auflage 2016

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zur Einführung …

hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1978 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Von Zeit zu Zeit müssen im ausufernden Gebiet der Wissenschaften neue Wegweiser aufgestellt werden. Teile der Geisteswissenschaften haben sich als Kulturwissenschaften reformiert und neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervorgebracht; auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind die traditionellen Kernfächer der Geistes- und Sozialwissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Veränderungen sind nicht bloß Rochaden auf dem Schachbrett der akademischen Disziplinen. Sie tragen vielmehr grundlegenden Transformationen in der Genealogie, Anordnung und Geltung des Wissens Rechnung. Angesichts dieser Prozesse besteht die Aufgabe der Einführungsreihe darin, regelmäßig, kompetent und anschaulich Inventur zu halten.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in verstärktem Maß ein Ort für Themen, die unter dem weiten Mantel der Kulturwissenschaften Platz haben und exemplarisch zeigen, was das Denken heute jenseits der Naturwissenschaften zu leisten vermag.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Dieter Thomä
Cornelia Vismann

Inhalt

1.Einleitung

Ästhetik als philosophische Disziplin

Die Perspektive dieser Einführung

I.GRUNDFIGUREN PHILOSOPHISCHER ÄSTHETIK

2.Baumgartens Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis

Der rationalismuskritische Impuls

Psychologie der Sinnesvermögen

Das Ziel der Aesthetica

Dimensionen des Schönheitsbegriffs

Schönes, vernunftanaloges Denken und ästhetische Wahrheit

Ästhetische Lehre und Theorie der freien Künste

3.Kants Theorie der ästhetischen Urteilskraft

Fragestellung und Ausgangspunkt der dritten Kritik

Die Analyse des Geschmacksurteils

Vorrang der Natur- vor der Kunstschönheit

Kunst und Genie

Das Erhabene

4.Hegels Philosophie der schönen Kunst

Schönheit: Das sinnliche Scheinen der Idee

Kunst als Darstellung des Absoluten

Die so genannte These vom Ende der Kunst

Spekulative Kunstphilosophie zwischen abstrakter Philosophie des Schönen und Kunstgeschichte

Symbolische, klassische und romantische Kunst

II.ÄSTHETIK IM ZEITALTER DER MODERNEN KUNST

5.Selbstverständlichkeitsverluste in Kunst und Kunsttheorie

Schönheit

Das Erhabene und die moderne Kunst (Lyotard, Newman)

Nachahmung der Natur

Kunst über Kunst (Greenberg)

Kommentarbedürftigkeit (Gehlen, Kosuth)

Genie

6.Kunst, Erkenntnis, Wahrheit

Kunst als Erkenntnisarbeit an Sichtbarkeit (Fiedler)

Das Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit im Kunstwerk (Heidegger)

Die mimetische Rationalität der Kunst (Adorno)

7.Ästhetik nach dem »linguistic turn«

»Richtigkeit« statt »Schönheit« (Wittgenstein)

Sprachanalytische Kunsttheorie

Symptome des Ästhetischen (Goodman)

Kunstwerke als Interpretationskonstrukte (Danto)

8.Kunst, Wahrnehmung und Verstehen

An-Blicke

Sinnebenen von Kunstwerken (Panofsky, Imdahl)

Kunsterklärung und Kunstverständnis (Nochmals Wittgenstein)

Literatur

Über den Autor

1. Einleitung

Ästhetik als philosophische Disziplin

Als »Philosophische Ästhetik« im weiten und vagen Sinne lässt sich jegliche Form des philosophischen Nachdenkens über das Schöne und die Kunst bezeichnen. In einem engeren Sinne versteht man darunter jene Art des systematischen Philosophierens über die ästhetischen Kompetenzen des Menschen und über die Kunst, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts als eine eigenständige Teildisziplin der Philosophie entstand. Ihr Geburtsdatum im engen Sinne lässt sich genau bestimmen. Exakt in der Mitte des Jahrhunderts, im Jahre 1750, veröffentlicht Alexander Gottlieb Baumgarten den ersten Band seiner Aesthetica, deren zweiter 1758 erscheint. Bereits zwei Jahre zuvor hatte ein Schüler Baumgartens, Georg Friedrich Meier, die Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (Bd. 1, Halle 1748) zu veröffentlichen begonnen. Doch berief er sich zur Begründung seines philosophischen Ansatzes auf seinen Lehrer, dessen Aesthetica der neuen Wissenschaft den Namen gab und der man deshalb zu Recht nachsagt, die Geburtsurkunde aller künftigen Ästhetik darzustellen. Obgleich Baumgarten – damals wie heute – wenig gelesen wurde, traf der Titel seines Buches offenbar den Nerv des Zeitalters. Denn kaum mehr als ein halbes Jahrhundert später konnte Jean Paul am Anfang der Vorrede zur ersten Ausgabe seiner Vorschule der Ästhetik (1804) bereits konstatieren: »Von nichts wimmelt unsere Zeit so sehr als von Ästhetikern.«

Im vagen und weiten Sinne der obigen Namenserklärung, sie sei die philosophische Erörterung des Schönen und der Kunst, hat es »Ästhetik« natürlich auch schon vor Baumgarten – im Grunde seit den antiken Anfängen der Philosophie – gegeben. Der Begriff »Ästhetik« stammt dem Wortsinn nach von dem griechischen Wort aisthesis ab, das sich als »Sinneswahrnehmung« übersetzen lässt, und über diese im Allgemeinen sowie über die Wahrnehmung des Schönen und der Künste im Besonderen wurde zu allen Zeiten philosophisch nachgedacht, wenn auch zumeist nicht hauptthematisch, sondern im Kontext übergeordneter metaphysischer Fragestellungen, und auch nicht unter dem expliziten, modernen Titel einer »Ästhetik«. In diesem weiten Sinne hätte dann schon Platon »Ästhetik« betrieben, wenn er Sokrates und seinen Gesprächspartner Hippias im Dialog Hippias Maior »über das Schöne selbst, was es ist« (286d), debattieren und nach einer Definition des Wesens jenes Schönen suchen lässt, das »alles« besondere »Schöne« »schön« (287c) mache. Und in diesem vagen Sinne könnte man natürlich auch sagen, dass seine Überlegungen zum ontologischen Status der Künste im zehnten Buch der Politeia, die ihn veranlassen, den Künstlern in einem idealen Staatsgebilde eine Heimstatt zu verweigern, als ein – wenn auch kritischer – Beitrag zur Kunstphilosophie zu werten seien. Ebenso ließen sich die dichtungstheoretischen Überlegungen der Poetik des Aristoteles als ein früher Beitrag zur »Ästhetik« verstehen. Und tatsächlich sind solche und andere Gedankenmotive, die in klassischen Texten der Antike formuliert wurden, oftmals wichtig geworden für das, was Ästhetik im 18. Jahrhundert schließlich werden sollte, weil man auf solche Texte immer wieder als Quellen zurückgriff.

Was seit der Antike über das Schöne und die Kunst gedacht und geschrieben wurde, hat man deshalb gelegentlich unter dem Namen einer antiken oder mittelalterlichen »Ästhetik« zu rekonstruieren versucht (vgl. z.B. Perpeet 1977 u. 1988). Und solche Darstellungen können durchaus sehr erhellend sein; jedenfalls dann, wenn bewusst bleibt, dass es sich um Rekonstruktionen aus einer post-baumgartenschen Perspektive handelt, die eine spätere Denkfigur in die Vergangenheit rückprojizieren. Denn – dies zu betonen, ist wichtig – der Antike und dem Mittelalter, ja noch der Frühen Neuzeit sind »eine separate Kunstphilosophie, etwa im Sinne einer Regionaldisziplin ›Ästhetik‹« im heutigen Sinne, an sich »fremd« (Kreuzer 2005, 37). Wohl gibt es – neben der Thematisierung der Schönheit des göttlichen Einen oder der Schöpfungsordnung im Rahmen spätantiker und christlicher Metaphysikentwürfe (vgl. ebd.) – seit der Antike ein reiches, bis zur Gegenwart oft neuediertes Schrifttum zu Rhetorik und Dichtungstheorie (vgl. z.B. [Pseudo-]Longinus 1988; Quintilian 1995) sowie eine umfangreiche Fachliteratur für Architekten und Maler (vgl. Schneider 1996, 10f.; Heinemann 2005, 20f.), für die z.B. Vitruvs Architekturtraktat (1. Jh. n.u.Z., Vitruv 1996) als ein antikes oder Albertis Schrift über die Malkunst von 1435/36 (Alberti 2000) als ein frühneuzeitliches Beispiel dienen können. Zudem sind aus der Zeit vor dem 18. Jahrhundert einige Schriften überkommen, die mit enzyklopädischem (Plinius d.Ä. 1997) oder biographischem (Vasari 2004) Zugriff auf ihren Gegenstand das jeweilige zeitgenössische Wissen über einzelne Künste zusammenzutragen versuchen. Diese Schriften hat noch heute zu konsultieren, wer Verständigung über deren je zeitgenössische Deutung sucht. Doch ein systematisches philosophisches Nachdenken über die ästhetischen Urteilskompetenzen des Menschen und über die Kunst, wie wir es seit Baumgarten kennen und in einem engeren Sinne als »Ästhetik« bezeichnen, findet sich vor Mitte des 18. Jahrhunderts nicht.

In diesem engeren Sinne entsteht »Ästhetik« erst in dem Moment, in dem man die menschlichen Sinnesvermögen sowie die Kunst auf eine neue Weise zu sehen beginnt, die in der Tradition der europäischen Philosophie vor Baumgarten so kein Vorbild hat: als etwas, in dem eine je eigene, gleichsam »vernunftanaloge« Art von Gesetzlichkeit herrscht, die mit den begriffs- und aussagenlogisch verfassten Vernunft- und Verstandesgesetzen, welche dasjenige definieren, was wir traditionellerweise als »Rationalität« bezeichnen, nicht gleichgesetzt werden kann. Diese Eigengesetzlichkeit der sinnlichen Anschauung und der Kunst zu analysieren, zu beschreiben und in ihrer von diskursiver Rationalität unabhängigen Relevanz für die menschliche Weltorientierung herauszustellen, dies ist das Programm, dem sich philosophische Ästhetik seither verschreibt. Über die geschichtlich späte Etablierung einer unter diesem Gesichtspunkt antretenden philosophischen Disziplin mag man überrascht sein. Die Gründe dafür lassen sich hier, im Rahmen einer Einführung in Denkfiguren philosophischer Ästhetik, freilich kaum mehr als andeuten, nicht zuletzt, weil sie das philosophisch Begründbare aufs Soziologische und Kunsthistorische hin überschreiten.

Zum einen dürften die in diesem Zusammenhang in Frage stehenden Gründe mit der spezifischen philosophischen Situation im 18. Jahrhundert zu tun haben, genauer gesagt: mit dem seinerzeit dominanten philosophischen Rationalismus, der ausschließlich begriffliches Wissen als wahres Wissen anerkannte und gegen dessen damit einhergehende Verkennung der in den Sinnesvermögen gelegenen vernunftanalogen Kompetenzen des Menschen Baumgartens Aesthetica rebellierte. Diese Rebellion gegen den aus seiner Sicht verengten Erkenntnisbegriff des Rationalismus führte Baumgarten – philosophiehistorisch gesehen erstmals – dazu, die Eigengesetzlichkeit und Erkenntnisfähigkeit der Sinnesvermögen des Menschen explizit zu thematisieren. Über Baumgartens Entdeckung der Gesetze der menschlichen Sinnesvermögen hinaus dürfte die späte Erfindung der Ästhetik zum anderen aber auch damit zu erklären sein, dass im Zuge der – wie der Kunsthistoriker Oskar Bätschmann es nannte – »Revolution des sozialen Systems Kunst« (Bätschmann 1997, 11) in der Mitte des 18. Jahrhunderts so etwas wie eine wirklich freie Kunst, die das Interesse der Philosophie auf sich ziehen kann, überhaupt erst entsteht. Erst eine autonome, nicht mehr wie ehedem auf ein vorgegebenes, seitens kirchlicher oder höfischer Auftraggeber bestimmtes und im Blick auf akzeptierte Gattungen, Gehalte usw. weithin kanonisiertes Sinnsystem verpflichtete, sondern ihre eigenen Sinnkonzepte verfolgende Kunst konnte ja hinsichtlich ihres Sinns, ihrer Funktion sowie ihrer Gehalte und Formstrukturen allererst philosophisch fragwürdig, ja einer philosophischen Interpretation gar bedürftig werden. Denn jetzt, da sie nicht mehr an einen übergeordneten Logos gebunden erscheint, musste sich die Frage nach ihren autonomen Sinnpotenzialen, die die philosophische Ästhetik im engeren Sinne auszeichnet, nachdrücklich stellen.

Die Perspektive dieser Einführung

Was immer aber philosophische Ästhetik im modernen Sinne auf den Weg gebracht haben mag: Seit ihrer Entstehung im 18. Jahrhundert lässt sie sich als das Projekt kennzeichnen, die einer autonomen Kunst, der ästhetischen Anschauung und dem ästhetischen Urteil einwohnende, nicht begriffs- und aussagenlogisch verfasste Eigengesetzlichkeit mit begrifflichen Mitteln aufzuklären und – soweit es geht – einsichtig zu machen. Das vorliegende Buch verfolgt das Ziel, in grundlegende und prominente Denkfiguren und -motive, die im Rahmen dieses Projekts ausgebildet worden sind, einzuführen, indem es sie – wie es in der Philosophie kaum anders möglich ist – an ihrem historischen Ursprung aufsucht, um sie mit jeweils wenigen, vielleicht in der hier gebotenen Knappheit der Darstellung gelegentlich holzschnittartig anmutenden Zügen zu charakterisieren. Gerade unter der Maßgabe der Umfangsbeschränkungen, denen der vorliegende Band ebenso wie alle anderen der bewährten Reihe »zur Einführung« unterliegt, wird es dabei weder um einen vollständigen Überblick über die seit Baumgarten entwickelten Positionen in ihrer historischen Chronologie noch auch nur um eine jeweils vollständige Vergegenwärtigung der aus heutiger Sicht einflussreichsten Ansätze gehen können. Darstellungen philosophischer Ästhetik in solchen Perspektiven liegen freilich bereits an anderen Orten vor (vgl. Schneider 1996; Scheer 1997; Majetschak 2005a). Und darum kann sich die Darstellung des vorliegenden Buchs auf die Herausarbeitung solcher Grundfiguren und -motive der ästhetisch-kunstphilosophischen Reflexion konzentrieren, von denen der Verfasser (in seiner unvermeidlicherweise subjektiven Sicht auf die Geschichte der Ästhetik) meint, dass sie auch in heutigen kunstphilosophischen Debatten nicht vernachlässigt werden können.

Im ersten Teil des Buches werden in diesem Sinne die ästhetisch-kunstphilosophischen Ansätze Alexander Gottlieb Baumgartens, Immanuel Kants und Georg Wilhelm Friedrich Hegels in Grundzügen vorgestellt. Die kunstphilosophischen Gedanken, die bei diesen drei Autoren niedergelegt wurden, werden hier als Grundfiguren philosophischer Ästhetik bezeichnet, weil alle späteren Theorieansätze in aestheticis auch unter Bedingungen der Kunst der Moderne – sei es affirmativ, sei es kritisch – an sie anschließen. Wegen des grundlegenden Charakters der hier jeweils entfalteten Denkfiguren wurde bei der Darstellung darauf Wert gelegt, dass die entsprechenden Kapitel von Lesern, die nur Auskunft über eine dieser Positionen suchen, unabhängig voneinander gelesen werden können. Im zweiten Teil des Buches wird dagegen versucht, wichtige ästhetisch-kunstphilosophische Positionen – teils ausschnittartig und entsprechend ohne den Anspruch, die jeweilige Position vollständig zu präsentieren – in eine tendenziell zusammenhängende Argumentation einzubauen. Diese zielt darauf, einsichtig zu machen, dass sich Haupttendenzen der ästhetischen Theoriebildung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als Versuche interpretieren lassen, jenen in der Entwicklung der Kunst der Moderne immer deutlicher werdenden Selbstverständlichkeitsverlusten hinsichtlich dessen, was Kunst sei oder sein solle, auch theoretisch gerecht zu werden.

Für die vierte Auflage wurden die Kapitel dieses Buches an einigen Stellen überarbeitet und ergänzt. Im Zuge der Überarbeitung wurde auch die Rechtschreibung in Zitaten behutsam an die neue deutsche Rechtschreibung angepasst. Im zweiten Teil des Buches sind einige Textpassagen und Unterkapitel hinzugefügt worden.

I. Grundfiguren philosophischer Ästhetik

2. Baumgartens Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis

Wenn es gilt, Grundfiguren philosophischer Ästhetik herauszuarbeiten, lässt sich die Theorie von Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) zweifellos nicht übergehen; nicht nur, weil seine Aesthetica – wie bereits einleitend erwähnt wurde – der gesamten Disziplin den Namen gab, sondern vor allem auch darum, weil sie zahlreiche, in ästhetisch-kunstphilosophischen Diskursen bis heute wirkungsmächtige Theoriemotive zuerst formulierte. Im ersten Paragraphen des Buchs definierte Baumgarten »Ästhetik« als »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis«, die zugleich »als Theorie der freien Künste, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denkens und als Kunst des der Vernunft analogen Denkens (ars analogi rationis)« (Baumgarten 1988, §1) zu betreiben sei. Was Ästhetik für Baumgarten ist, lässt sich aus dem Zusammenhang der die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis konstituierenden Teilgebiete verständlich machen.

Der rationalismuskritische Impuls

Am Anfang von Baumgartens Projekt steht – auch historisch-werkgenetisch gesehen – zweifellos seine Überzeugung, dass die neue Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis »untere Erkenntnislehre« sein müsse, d.h. Theorie der sinnlichen Vermögen des Menschen: seiner anschaulichen Wahrnehmung der Welt, seines Gedächtnisses, seiner Phantasie usw. Diese sinnlichen Vermögen hatte man in der Schulsprache der rationalistischen, auf Descartes und Leibniz zurückgehenden Philosophie jener Zeit – im Unterschied zu den oberen Erkenntnisvermögen »Verstand« und »Vernunft« – als »untere Erkenntnisvermögen« bezeichnet, was einerseits zwar ihren fundamentalen, andererseits aber auch ihren niederrangigen Charakter betonte. Denn man meinte, diesen sinnlichen Vermögen keinen hohen Stellenwert im menschlichen Erkenntnishaushalt beimessen zu müssen. Vielmehr waren die meisten rationalistischen Philosophen der Zeit überzeugt, dass dasjenige, was die Sinne dem Menschen präsentieren, primär als »die Mutter des Irrtums« (§7), nicht aber als eine eigene, vertrauens- und untersuchungswürdige Form von Welterkenntnis zu betrachten sei. Als solche sollte nur »deutliche Erkenntnis« in Begriffen gelten, die allein wahrheitsfähig sei und darum »den Vorzug« (§8) vor den sinnesbasierten Vorstellungen des Menschen verdiene, wie Baumgarten in den einleitenden Paragraphen seiner Aesthetica die rationalistische Grundüberzeugung wiedergibt. Baumgarten, der dem zeitgenössisch herrschenden Rationalismus in zentralen Grundannahmen und vor allem hinsichtlich der philosophischen Schulsprache, in der er schrieb, stets verpflichtet blieb, hatte dagegen zweierlei entdeckt, was ihn zumindest auf dem Gebiet der unteren Erkenntnislehre zu rationalismuskritischen Thesen führte: erstens, dass den sinnlichen Erkenntnisvermögen des Menschen durchaus eine eigene, interne Gesetzlichkeit einwohne, die sich im Rahmen einer »unteren Erkenntnislehre« teils philosophisch, teils empirisch erhellen lasse, und zweitens, dass ihnen gemäß dieser Gesetzlichkeit zudem ein von Verstand und Vernunft unabhängiges Erkenntnispotenzial zukomme, das der Rationalismus nicht zureichend beachtet hatte. Und so trat Baumgartens neue Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis an, die rationalistische Missachtung der Eigengesetzlichkeit und des Erkenntnispotenzials der Sinne nachdrücklich zu kritisieren.

Im Lichte seiner Entdeckung erkannte Baumgarten nämlich – und diese Einsicht bezeichnet den rationalismuskritischen Impuls, aus dem sein Denken sich speist –, dass alles begriffliche Wissen von der Welt in Form von logisch korrekten, formal in sich widerspruchsfreien Theorien, wie es der Rationalismus favorisierte, um den Preis eines nicht unbedeutenden Verlusts erkauft ist. Die »Gegenstände methodischen Denkens und wissenschaftlicher Darstellung« sind einem solchen Wissen ja stets nur »in Form von Allgemeinbegriffen« gegeben, die von der materiellen Fülle und dem Reichtum dessen, was die Sinne dem Menschen präsentieren, zugunsten weniger in einem Begriff gedachter Begriffsmerkmale abstrahieren müssen, wie es im berühmten Paragraphen 560 von Baumgartens Aesthetica heißt. Abstrahieren freilich, so wie man diesen Begriff im 18. Jahrhundert gebraucht, heißt absehen von. Und solches Absehen von, solche Abstraktion liegt im Wesen begrifflichen Denkens, das den »unübersehbaren Reichtum« (§564) an individuellen Erscheinungen, der sich dem Menschen zeigt, wenn er die Welt offenen und klaren Sinnes betrachtet, in Begriffen überhaupt nicht fassen kann. Deshalb glaubte Baumgarten, »es müsste den Philosophen« eigentlich »völlig klar sein, dass nur mit einem großen und bedeutenden Verlust an materialer«, sinnlich wahrnehmbarer »Vollkommenheit« der Dinge »all das hat erkauft werden« können, was an weltorientierendem Wahrheitsgehalt in begrifflichem Denken liegt. »Denn was bedeutet die Abstraktion anderes als einen Verlust?« (§560) Der Philosophie seiner Zeit war dies indes noch keineswegs so klar, und so ist Baumgarten der Erste, der in seiner Aesthetica die Möglichkeit eines nicht-abstraktiven, wie er es nennen wird, schönen Denkens konzipiert, dessen Erkenntnishaltigkeit sich nicht in theoretischen Aussagesystemen, sondern in sinnlich wahrnehmbaren Gestalten, z.B. in Kunstwerken, niederschlägt.

Psychologie der Sinnesvermögen

Zu seiner grundlegenden Einsicht, dass den menschlichen Sinnesvermögen eine eigengesetzliche Erkenntnisfähigkeit zukomme, ist Baumgarten freilich nicht erst in der Aesthetica von 1750 gelangt. Bereits in einem »Psychologia Empirica« (Erfahrungspsychologie) betitelten Hauptabschnitt seines Werkes Metaphysica von 1739 hatte er sie ausgearbeitet und dabei »Ästhetik« – ganz ähnlich wie im ersten Paragraphen der Aesthetica – als eine »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis und Darstellung« bestimmt, die »als Logik des unteren Erkenntnisvermögens, als Philosophie der Grazien und der Musen, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denkens« und »als Kunst des der Vernunft analogen Denkens« (Baumgarten 1983, §533) zu entfalten sei. Wenn Baumgarten das »untere«, sinnliche »Erkenntnisvermögen« des Menschen hier als dessen »Fähigkeit« erläutert, »etwas dunkel und verworren oder undeutlich zu erkennen« (§520), zeigt sich eine grundsätzliche Schwierigkeit, mit der sein Projekt damals konfrontiert war. Denn er ist gezwungen, es mithilfe einer Theoriesprache zu charakterisieren, die Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) 1684 in seiner Schrift Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis (Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen [hg. Holz 1985]) in die Philosophie eingeführt hatte und die schon durch die Bezeichnung der sinnlichen Vorstellungen des Menschen als »verworren« und »undeutlich« nahelegte, diese als etwas zu verstehen, das im Zuge eines Prozesses vernünftigen Erkennens zugunsten »deutlicher«, d.h. begrifflicher Verstandeseinsicht zu überwinden sei.

»Deutlich« zu nennen ist eine Erkenntnis nach Leibniz nämlich erst dann, wenn man über einen Begriff von der je zu erkennenden Sache verfügt und sie durch die den Begriff bestimmenden »Merkmale und ausreichende Prüfung von allen anderen ähnlichen Körpern unterscheiden« (35) kann. In diesem Sinne haben, wie Leibniz meinte, beispielsweise die »Münzwardeine«, die über die Münzherstellung und die Echtheit von Münzsorten wachen, gewöhnlich einen »deutlichen« Begriff »vom Golde« (ebd.). Denn sie können, wenn man sie unter Umständen danach fragt, explizit ausweisen, anhand welcher Merkmale sie echte von falschen Goldmünzen zu unterscheiden vermögen. »Verworren« dagegen heißt eine Erkenntnis in Leibniz’ Sprache stets dann, wenn man eine Vorstellung der Sache hat, die zwar »klar« genug ist, um etwas mit ihrer Hilfe bei bestimmten Gelegenheiten mehr oder minder sicher wiederzuerkennen, nicht aber »genügend Kennzeichen gesondert aufzählen kann, um die Sache von anderen zu unterscheiden« (33). Dieser erkenntnistheoretischen Unterscheidung entsprechend müssen natürlich alle dem Menschen durch seine Sinnesvermögen gegebenen Vorstellungen als »verworren« oder »undeutlich« gelten. Denn es ist ihre Eigentümlichkeit, dass sie, so klar sie auch immer sein mögen, Merkmale der Sache nur enthalten, z.B. etwas Goldenes mit einigen seiner wahrnehmbaren Qualitäten anschaulich vor Augen stellen, diese Merkmale aber freilich nicht explizit so herausheben, dass man sie im Zweifelsfall zur begründeten Unterscheidung der Sache von anderem – etwa echten Golds von Goldimitat – verwenden kann. Auch Baumgarten schließt sich wie viele rationalistische Philosophen der Zeit dieser leibnizschen Unterscheidung an, wenn er das untere Erkenntnisvermögen des Menschen als Fähigkeit, etwas verworren oder undeutlich zu erkennen, bezeichnet. Doch heißt dies für ihn eben keineswegs, dass solche verworrenen, undeutlichen Vergegenwärtigungen der Sinne keine wirklichen Erkenntnisse und bloß etwas zugunsten begrifflich-deutlicher Erkenntnis zu Überwindendes seien. Wer nämlich etwas verworren, nicht deutlich oder – was für Baumgarten dasselbe bedeutet – »sinnlich« (§521) »denkt, unterscheidet dessen Merkmale« zwar »nicht voneinander, dennoch vergegenwärtigt er sie oder stellt sie sich vor« (§510). Im Sinne einer Vergegenwärtigung der mannigfaltigen, sinnlich wahrnehmbaren Merkmale der Welt leisten die sinnlichen Vermögen des Menschen insofern zur Erkenntnis durchaus einen wichtigen, positiven Beitrag, denn diese Vergegenwärtigung geschieht in ihnen auf eine Weise, deren interne, in der Metaphysica analysierte Gesetzlichkeit erkennen lässt, dass man auf die Erkenntnis- und Wahrheitsfähigkeit der Sinne sehr wohl vertrauen kann.

Diesen Gedanken, der eine gegenüber der rationalistischen Auffassung eminente Aufwertung der menschlichen Sinnesvermögen bedeutet, arbeitet Baumgarten erstmals in der Erfahrungspsychologie seiner Metaphysica heraus. Hier denkt er die menschliche »Seele« als »eine vorstellende Kraft« (§506), »welche die Welt entsprechend der Stellung ihres Körpers vergegenwärtigt« (§513). Das ist ihr möglich, weil die Seele nach Baumgarten über eine »Fähigkeit zu empfinden« verfügt, die er als »Sinn« bezeichnet. »Der Sinn vergegenwärtigt« – etwa im Falle einer Selbstwahrnehmung – »entweder den Zustand meiner Seele« und »heißt dann innerer Sinn, oder den Zustand meines Körpers, dann sprechen wir vom äußeren Sinn« (§535). Weil dessen »Empfindungen (Erscheinungen)« von Körperzuständen aber nun durch Einflüsse der äußeren Welt bedingt sind, kann man auch sagen, dass die Empfindungen bzw. Erscheinungen des äußeren Sinnes (z.B. in seinen konkreten Manifestationen als Gesichtssinn, Gehör oder Geschmackssinn) »Vorstellungen des gegenwärtigen Zustandes der Welt« (§534) darstellen. Denn das »Gesetz der Empfindung«, das die Bildung solcher Vorstellungen (mit ihren je nach der Stellung des Körpers im Raume unterschiedlichen Verworrenheits- und Intensitätsgraden) beherrscht und welches Baumgarten entdeckt zu haben glaubte, »lautet: So wie die Zustände der Welt und meine Zustände aufeinander folgen, ebenso folgen die Vorstellungen von ihnen, die« in der Seele »gegenwärtig sind, ihrerseits aufeinander« (§541). Es besagt also, dass die Ordnungen der Weltzustände, der von ihnen ausgelösten Körperzustände sowie der solche Körperzustände vergegenwärtigenden Sinnesvorstellungen stets parallel verlaufen, woraus sich – wenn dies richtig ist – natürlich die Konsequenz ergibt, dass man dem Realitätsgehalt der sinnlichen Vorstellungen des Menschen im Prinzip nicht zu misstrauen braucht.

Im Gegenteil muss man auf der Grundlage dieses Gesetzes mit Baumgarten sagen: »Da die Empfindungen«, die mittels des äußeren Sinnes gewahrt werden, »als solche den gegenwärtigen Zustand des Körpers […] vorstellen«, dieser aber auf Affektionen durch Weltzustände zurückgeht, so dass »äußere Empfindungen wirkliche, also auch mögliche Dinge, und zwar Dinge dieser Welt, erkennen, so sind sie die wahrsten Empfindungen der ganzen Welt, und keine unter ihnen ist eine Täuschung der Sinne« (§546).

Wer die Logik des unteren Erkenntnisvermögens durchschaut, hat also gar keinen Grund, die verworrenen Vorstellungen der menschlichen Sinnlichkeit primär als Mutter des Irrtums zu betrachten. Natürlich gibt es das, was man gewöhnlich »Blendwerk der Sinne« nennt. Dieses ist nach Baumgarten allerdings gar nicht auf vermeintliche Mangelhaftigkeiten der menschlichen Sinnesvermögen zurückzuführen, sondern – und für den Rationalismus muss diese Erklärung eine Provokation sein – auf Fehler des Verstandes, der aus den sinnlichen Gegebenheiten des äußeren Sinnes im Lichte von »Vorurteilen« falsche Schlüsse zieht, was z.B. dann der Fall ist, wenn wir dem Vorurteil erliegen, die Wahrnehmung einer schwarzen Fläche sei als Tür zu deuten und dann irrtümlich in eine Wand hineinlaufen. »Bei demjenigen, der von allen Vorurteilen und allen sich einschleichenden Fehlern frei wäre, könnte« freilich »alles Blendwerk der Sinne nichts ausrichten.« (§547)

Ähnliche Gesetze wie für den äußeren Sinn glaubte Baumgartens Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis in der Fassung der MetaphysicaMetaphysicaAesthetica