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Band 195

 

Tuire

 

Rüdiger Schäfer

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

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14.

15.

16.

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Damit öffnet er den Weg zu den Sternen – der Menschheit werden kosmische Wunder offenbart, sie gerät aber auch häufig in höchste Gefahr.

2058 sind die Menschen nach schwerer Zeit mit dem Wiederaufbau ihrer Heimat beschäftigt, wobei sie immer mehr zu einer Gemeinschaft zusammenfinden. Nur vereint können sie den Bedrohungen aus den Tiefen des Alls trotzen.

Nachdem Rhodan einen Angriff der sogenannten Bestien abgewehrt hat, haben diese sich zurückgezogen. Aber noch hat ihr Befehlshaber ANDROS nicht aufgegeben. Er will im Solsystem einen Durchgang in eine fremde Dimension schaffen.

Um dies ein für alle Mal zu verhindern, begibt sich Perry Rhodan auf eine gefahrvolle Reise. Währenddessen gelingt es seinen Gefährten in der Heimat, ANDROS vorerst zu vertreiben. Da taucht auf der Erde ein mysteriöser Besucher auf, der ein einzigartiges Geheimnis offenbart: die Lebensgeschichte von TUIRE ...

1.

 

Hinaus. Die Hitze trifft mich wie eine Faust. Diese Stadt muss in einer Wüste liegen.

Tuire Sitareh

 

 

Als Araya den großen Platz vor dem Taran Suq überquerte, kam eine leichte Brise auf. Dankbar blieb sie einen Moment stehen, schloss die Augen und ließ den warmen Wind über ihr erhitztes Gesicht streichen. Die Nacht im Sabah Alkhyr war wie so oft lang und anstrengend gewesen. Dass der 23. September 2058 ein Montag gewesen war, spielte dabei keine Rolle. In den meisten Außenbezirken von Terrania kam das Partyleben auch an normalen Wochentagen so gut wie niemals zum Erliegen.

Araya lebte erst seit eineinhalb Jahren in der Metropole der Terranischen Union, die sich binnen zweier Jahrzehnte zur größten Stadt der Welt entwickelt und sogar selbst globale Schmelztiegel wie Tokio, Jakarta, Delhi oder Seoul längst weit hinter sich gelassen hatte. Die junge Frau stammte aus Jabalpur, der drittgrößten Ansiedlung im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh, nur etwa dreihundert Kilometer von Bhopal entfernt.

Sie hatte eine Weile gebraucht, um sich an die deutlich höheren Temperaturen Terranias zu gewöhnen, doch inzwischen liebte sie die warmen Nächte und die heißen Tage. In Desert High, dem Viertel am Südrand der Stadt, in dem sie ein kleines Apartment bewohnte, ließ es sich gut leben. Touristen verirrten sich nur selten dorthin, und der im Zentrum des Areals gelegene Desert High Botanical Garden mit seinen Springbrunnen und immergrünen Palmenhainen war nur wenige Gehminuten von ihrer Wohnung und ihrem Lieblingscafé entfernt.

Sie bog in die Toloa Road ein, die den kleinen Basar von drei Seiten wie ein Hufeisen umschloss, und warf einen schnellen Blick auf ihr Multifunktionsarmband. Vier Uhr morgens. Nach einer Doppelschicht, also vierzehn Stunden hinter einem der Tresen des Sabah Alkhyr, sehnte sie sich nach einer Dusche und ihrem Bett. Die Arbeit im Club, der aktuell zu den angesagtesten in ganz Terrania gehörte, war anstrengend, wurde allerdings gut bezahlt. Carlos, der Besitzer, ein bulliger Endvierziger mit starkem spanischem Akzent, führte den Laden mit eiserner Hand, sorgte aber gleichzeitig dafür, dass seine meist weiblichen Angestellten sicher waren.

In einem Etablissement wie dem Sabah Alkhyr wurden junge Frauen wie Araya immer wieder belästigt. Der Alkohol, die laute Musik, die von Carlos geforderte leichte Bekleidung – all das sorgte für eine aufgeheizte, manchmal geradezu enthemmte Atmosphäre. Dass dann der ein oder andere männliche Gast über die Stränge schlug, sich im Ton vergriff oder seine Finger nicht bei sich behalten konnte, war zwar nicht in Ordnung, gehörte aber praktisch zum Alltag.

Araya hatte irgendwann aufgehört zu zählen, wie oft sich eine fremde Hand auf ihren Hintern gelegt, nach ihren Brüsten gegrapscht oder sich unter den Saum ihres Kleids geschoben hatte. Sie hatte nie begriffen, warum einige Männer offenbar der befremdlichen Ansicht waren, dass Frauen solcherlei Verhalten schätzten oder es gar als wünschenswert erachteten. Egal. Wenn ein Gast zu aufdringlich wurde, genügte eine kurze Geste, und binnen Sekunden war jemand von Carlos' Sicherheitspersonal zur Stelle, der sich um die Sache kümmerte.

In der vergangenen Schicht hatte Renayo sie vor drei besonders hartnäckigen »Verehrern« retten müssen. Meistens gaben die Betreffenden schnell klein bei und zogen sich zurück, wenn der über zwei Meter große und mehr als halb so breite Riese auftauchte und ihnen höflich, aber bestimmt die Hausregeln erklärte. Im vorliegenden Fall aber war das anders gewesen. Araya hatte sofort gewusst, dass die drei Asiaten Ärger bedeuteten. Auch in Jabalpur hatte sie in einem Tanzlokal gearbeitet – nicht so exklusiv wie das Sabah Alkhyr, aber durchaus vergleichbar. Mit der Zeit entwickelte man in diesem Job einen Blick für Menschen.

Das Trio war laut und lärmend an den Tresen gestürmt und hatte den teuersten Cocktail bestellt, den man dort für Geld kaufen konnte – einen Stardust Hightower, der aus einigen der erlesensten Vintage-Champagnern gemixt wurde und 195 Dollar pro Glas kostete. Araya war sofort klar gewesen, dass das nicht der erste Drink war, den die Männer an diesem Abend orderten. Ihre teuren und unverkennbar maßgefertigten Seidenanzüge, der schwere Goldschmuck an Hals und Handgelenken sowie ihr aufschneiderisches Gebaren verrieten zudem, dass sie nicht zu den Leuten gehörten, die ein Nein als Antwort akzeptierten – egal in welchem Kontext.

Wortführer der kleinen Gruppe war ein schlanker Bursche mit glatten, pechschwarzen Haaren, spitzer Nase und vollen Lippen gewesen, den Araya unter anderen Umständen womöglich sogar attraktiv gefunden hätte. In diesem Moment hatten sie seine offen zur Schau gestellte Arroganz und das anzügliche Grinsen jedoch nur abgestoßen. Als er sich urplötzlich über den Tresen gebeugt, ihren Arm gepackt und sie zu sich herangezogen hatte, war sie so überrascht gewesen, dass sie zunächst gar nicht reagierte. Derart dreist und direkt gingen die wenigsten vor.

Glücklicherweise hatte Svenja, ihre Kollegin, mit der Araya die Bar im Hauptsaal des Clubs bis Schichtende um sechs Uhr morgens führen sollte, wesentlich schneller geschaltet. Die aus Schweden stammende Frau studierte an der Akademia Terrania Astrophysik und Ingenieurwesen und hatte sofort erkannt, dass Ärger bevorstand.

Renayo war wie gewohnt blitzschnell zur Stelle gewann. Trotz seiner hünenhaften Statur erschien er wie aus dem Nichts, legte dem asiatischen Gast eine seiner Pranken auf die Schulter und forderte ihn in ruhigem Ton auf, Araya sofort freizugeben und das Sabah Alkhyr mit seinen Freunden umgehend zu verlassen.

Der Angesprochene hatte den Kopf gedreht, Araya aber nicht losgelassen. Seine Miene hatte sich zu einem abfälligen Grinsen verzogen, das eindeutig ausdrückte, was er von Renayo hielt. Er hatte irgendetwas gesagt, was die junge Frau nicht verstanden hatte. Sie hatte lediglich registriert, dass der Kerl mit der spitzen Nase Chinesisch sprach. Seine beiden Begleiter hatten ebenso schmutzig wie pflichtschuldig gelacht.

Renayos Bewegung war so schnell gekommen, dass alles vorbei war, bevor Araya auch nur Zeit gehabt hatte, etwas wie Erschrecken zu empfinden. Seine rechte Hand hatte sich wie eine Stahlklammer um den Unterarm des Chinesen geschlossen. Mit der Linken hatte er ihn an der Schulter gepackt. Araya hatte gesehen, wie sich Renayos Daumen tief in die weiche Stelle zwischen Nacken und Hinterkopf des Chinesen gedrückt hatte. Mit einem Stöhnen hatte der Asiate Araya losgelassen und war in die Knie gegangen.

»Erlauben Sie, dass ich Sie und Ihre Freunde zum Ausgang begleite?« Die Stimme des Sicherheitsmanns hatte nicht einmal im Ansatz zufrieden oder gar triumphierend geklungen. Man hätte meinen können, dass der Chinese nach dem Weg gefragt und Renayo sich nun geradezu unterwürfig angeboten hatte, ihm diesen persönlich zu zeigen. Einen Atemzug später waren das Trio und der bullige Mann verschwunden gewesen.

Renayo hatte Araya später gefragt, ob er sie nach Hause fahren solle. Obwohl sie wusste, dass der Riese mit seiner Offerte keinerlei Hintergedanken verband – er lebte mit seinem männlichen Partner nicht weit von ihrer eigenen Wohnung entfernt –, hatte sie dankend abgelehnt. Zu Fuß brauchte sie nur gut zwanzig Minuten bis zu ihrem Apartment, und nach der hektischen und lauten Nacht würde ihr ein kleiner Spaziergang guttun.

Desert Gardens war ein eher ruhiges Viertel. Zwar konnte man auch von da den Stardust Tower sehen, das Wahrzeichen von Terrania, doch das Stadtzentrum war so weit entfernt, dass er nur eine schlanke Silhouette bildete: tagsüber wie eine Fata Morgana in der flirrenden Wüstenluft, nachts angeleuchtet von Scheinwerfern, die in allen Regenbogenfarben strahlten. Als Araya eingezogen war, hatte sie vom Balkon ihrer Wohnung aus noch den Rand der Gobi erkennen können. Inzwischen hatte sich hinter Desert Gardens ein weiteres Stadtviertel – Sandy Hills – etabliert und expandierte mit unglaublichem Tempo.

»Na, wen haben wir denn da ...?«

Die Stimme ließ Araya heftig zusammenzucken. Sie war den Weg vom Club nach Hause schon so oft gegangen, dass sie gar nicht mehr auf die Umgebung geachtet hatte. Vor ihr lag die Kreuzung, an der sich die Toloa Road mit dem Karinga Boulevard schnitt. Die sonst so belebte Straße war um diese frühe Stunde menschenleer – mit Ausnahme der drei Chinesen, welche die junge Frau natürlich sofort wiedererkannte. Ihr spitznasiger Anführer hatte die Worte zwar in grammatikalisch perfektem, jedoch stark akzentbehaftetem Englisch hervorgestoßen. In überdeutlicher Klarheit registrierte Araya den roten Fleck an seinem Hals, genau dort, wo Renayo wenige Stunden zuvor seinen Daumen angesetzt hatte.

Sie wich nach rechts aus, wollte so schnell wie möglich an dem Trio vorbei, doch einer der beiden Kumpane des Chinesen trat ihr geschmeidig in den Weg.

»Lassen Sie mich in Ruhe!«, rief Araya mit der autoritärsten Stimme, die sie nach dem Überwinden ihres ersten Schrecks zustande brachte. »Sonst schreie ich! Und glauben Sie mir: Ich kann sehr laut schreien!«

Wie alle Servicekräfte des Sabah Alkhyr hatte sie an den vorgeschriebenen Seminaren für Deeskalation, Konfliktvermeidung und Verhalten in Notsituationen teilgenommen, doch wie so häufig waren Theorie und Praxis auch diesmal zwei unvereinbare Gegensätze. Körperlich hatte sie gegen die drei Männer nicht den Hauch einer Chance, und die Angst, die diese Erkenntnis in ihr auslöste, ließ sich durch kein Seminar dieser Welt kontrollieren.

Sie spürte, wie sich ein kräftiger Arm um ihren Brustkorb schlang und sie wie der Tentakel eines Oktopus umklammerte. Den dritten Chinesen hatte sie für ein paar Sekunden völlig aus den Augen verloren, und er hatte die Zeit genutzt, um sich ihr von hinten zu nähern. Bevor sie auch nur einen Laut ausstoßen konnte, legte sich eine schwere Hand auf ihren Mund. Sie roch ein teures Männerparfüm und die Andeutung von saurem Schweiß. Die Finger des Manns verschlossen auch ihre Nase. Sie bekam keine Luft mehr, geriet in Panik, weil sie zu ersticken glaubte. Der Chinese interpretierte ihre Gegenwehr stattdessen wohl als reine Halsstarrigkeit und drückte nur noch fester zu.

»Pass auf, du Idiot!«, sagte der Spitznasige und trat direkt vor sie. »Du bringst sie noch um. Sie kann nicht atmen.«

»Sorry, Tan«, entschuldigte sich der Kerl, der sie gepackt hatte.

Im nächsten Moment strömte die warme Stadtluft wieder in ihre Lungen, und sie stöhnte vor Erleichterung auf. »Sieh an, sieh an«, stieß der Anführer – sein Name war offenbar Tan – hervor und grinste breit. Er drängte sich dicht an Araya. Seine rechte Hand fand den Weg unter ihre Bluse, kroch wie eine Schlange ihren Rücken hinauf und machte sich am Verschluss Ihres BHs zu schaffen.

»Du freust dich wohl schon auf all den Spaß, den wir zusammen haben werden, oder?« Tans Mund war direkt neben ihrem Ohr. Sein Atem roch nach Alkohol und Pfefferminz.

Als er sich noch enger an sie presste, konnte sie seine Erektion spüren. Einige Sekunden lang glaubte sie, sich übergeben zu müssen, doch das ging vorbei. Zurück blieb nur die Angst. Pure, alles auffressende Angst!

»Ich denke, das genügt, meine Herren.«

Die neue Stimme hatte Araya noch nie zuvor gehört. Sie klang alt ... krächzend, geradezu gebrechlich. Andererseits wohnte ihr eine schwer zu definierende Schärfe inne, eine fast hypnotische Strenge, die ihrem kränklichen Tonfall Hohn sprach. Der Griff des Manns, der sie gepackt hielt, lockerte sich für einen Moment. Araya versuchte sofort, sich zu befreien, doch ihre Kraft reichte nicht aus.

»Was zum Teufel ...?« Tan ließ von ihr ab.

Die Erleichterung, die sie darüber empfand, entlud sich in einem beinahe hysterischen Schluchzen. Sie hasste sich selbst für ihre Schwäche, für ihre Emotionalität und für das, was die Angst aus ihr machte.

Sie blinzelte mehrfach, und nachdem sich ihr tränenverschleierter Blick klärte, sah sie den alten Mann. Das faltige Gesicht mit der schmalen Nase und den dünnen Lippen wirkte eingefallen. Sein langes, weißes Haar stand wahllos in alle Richtungen ab und verschmolz mit einem nicht weniger ungepflegt wirkenden Bart, der fast bis zum Boden reichte.

Der Greis stand einfach nur da, nach vorn gebeugt und beide Hände auf den dicken Knauf eines knorrigen Gehstocks gelegt. Seine Finger erinnerten die junge Frau an die Zweige eines ausgedörrten Baums; die Arme, die vom Ellbogengelenk an unter einem grauen, fallenden Gewand aus grobem Stoff hervorschauten, hätte sie mit Daumen und Zeigefinger umfassen können.

»Hau ab, Opa!«, schnauzte Tan. »Wenn du deinen nächsten Geburtstag noch feiern willst, solltest du so schnell wie möglich von hier verschwinden. Andererseits ...« Der Chinese machte eine süffisante Pause. »... selbst wenn du das tust, könnte es knapp werden ...«

Die beiden anderen Männer lachten wie auf Kommando, als hätte ihr Anführer einen brüllend komischen Witz gerissen.

Der Alte lächelte – und entblößte dabei zwei einsame Schneidezähne in seinem Oberkiefer. Fast hätte Araya hysterisch gekichert, denn der Anblick erinnerte sie frappierend an ein Kaninchen. An ein Kaninchen mit weißen Haaren und weißem Bart.

»Ich bin sicher«, sagte der Greis, »dass das alles nur ein bedauerliches Missverständnis ist. In Ihrem jugendlichen Eifer haben Sie vermutlich überhört, dass die Dame kein Interesse daran hat, mit Ihnen ... Spaß zu haben. Warum suchen Sie und Ihre Freunde also nicht einfach nach einer Alternative? Sie können es sich doch leisten, oder?«

Araya meinte, Tans Wut geradezu sehen zu können. Sie umgab seinen Körper als dampfende Glocke, von der sich ständig lange Schwaden lösten und in den frühen Morgen hinauswehten wie die Sandschleier, die der Wind den Dünen der Gobi entriss.

»Ich glaub das nicht«, höhnte Tan. »Dieser Tattergreis ist offenbar lebensmüde.« Er machte zwei Schritte auf den Alten zu. »Okay, du seniler Trottel. Du bist ganz offenbar nicht ganz richtig im Kopf, und ich habe heute meinen barmherzigen Tag. Verpiss dich! Jetzt! Das ist deine letzte Chance!«

Verschwinden Sie!, wollte Araya rufen. Ich komme schon zurecht. Retten Sie sich selbst! Der Typ bringt sie sonst um!

Doch nach wie vor lag die Hand eines der drei Chinesen über ihrem Mund – und der alte Mann blieb einfach stehen und lächelte unentwegt weiter.

»Okay! Wie du willst, du Spinner!«

Mit wenigen Schritten hatte Tan den Greis erreicht. Araya wollte schreien, brachte jedoch nur ein dumpfes Keuchen heraus. Der Mann, der sie gepackt hielt, lachte und ließ seine zweite Hand ein Stück tiefer gleiten, sodass sie auf ihrer linken Brust zu liegen kam.

Tan schlug zu ... Doch seine Faust schoss einfach am Gesicht des Alten vorbei. Dabei war Araya sicher, dass sich der Greis keinen Millimeter bewegt hatte. Tan stolperte nach vorn, ruderte mit den Armen und stürzte auf die Straße. Mit einem unterdrückten Wutschrei federte er sofort wieder auf die Beine.

Der alte Mann drehte sich nicht mal um. Seelenruhig, als sei nichts geschehen, erwartete er den nächsten Vorstoß seines Gegners – und der kam!

Tan schäumte. Sein mit brutaler Wucht erfolgter Tritt zielte in den Rücken des Greises ... und ging erneut fehl. Araya hätte schwören können, dass der Alte kein Glied rührte. Trotzdem glitt er fließend zur Seite und entging so auch dem zweiten Angriff. Einen dritten Versuch gewährte er dem jungen Chinesen nicht mehr.

Der Stock zuckte wie eine Peitschenschnur nach vorn. Sein Knauf krachte mitten auf Tans Stirn, ließ diesen taumeln. Ungläubig griff er sich an den Kopf, betrachtete entgeistert das Blut auf seiner Handfläche.

Der dritte Chinese, der nicht mit Araya beschäftigt war, sondern das Geschehen bislang stumm beobachtet hatte, sagte etwas in seiner Heimatsprache und wurde daraufhin von Tan zornig angefahren. Vielleicht hatte er Tan seine Hilfe angeboten.

»Das hättest du nicht tun sollen, gǒuzǎizi!«, brüllte Tan. Sein Gesicht sah furchtbar aus. Blut lief aus einer Platzwunde von der Stirn über die Nasenwurzel bis zum Kinn hinab und tropfte von dort auf seinen Seidenanzug. Die dunklen Flecken bildeten ein wirres Muster auf Revers und Knopfleiste.

»Gehen Sie!«, entgegnete der Greis ruhig. »Vergessen Sie Ihren verletzten Stolz, und treffen Sie die richtige Entscheidung. Solange Sie es noch können.«

Das tat Tan natürlich nicht. Vor seinen Freunden das Gesicht zu verlieren, sich von einem uralten Mann demütigen und verjagen zu lassen, kam für einen Menschen wie ihn nicht infrage. Araya hatte ein solches Verhalten schon unzählige Male mit ansehen müssen. Im Duell Ego gegen Vernunft stand der Sieger in den allermeisten Fällen schon vorher fest.

Immerhin: Tan war nicht dumm. Diesmal stürmte er nicht blind nach vorn und vertraute auf seine natürliche Stärke, sondern ging behutsamer vor. Er hob beide Arme und umtänzelte seinen Gegner, doch der stand wieder wie unbeteiligt da, stützte sich auf seinen Stock und machte rein gar nichts. Araya fragte sich, wer dieser merkwürdige Fremde war. Er sah aus wie das Oberhaupt irgendeiner obskuren Sekte oder das Mitglied eines Mönchsordens. Beherrschten solche Leute nicht üblicherweise allerlei fernöstliche Kampftechniken?

Schließlich wurde es Tan doch zu dumm. Er sprang nach vorn und schlug zu. Der Alte drehte sich spielerisch zur Seite. Erneut huschte sein Stock durch die Luft. Araya konnte nicht erkennen, wo der Chinese getroffen wurde, aber ganz offenbar bekam er mehrere Schläge ab. Tan schrie, versuchte die Attacke des Greises abzublocken – und steckte weitere Treffer ein. Er zuckte und zappelte, als würde er von einer Maschinengewehrgarbe durchsiebt. Am Ende ging er wimmernd in die Knie, die Arme schützend über dem Kopf verschränkt.

Diesmal war der Mann, der Araya festhielt, so überrascht, dass sie sich mit einem kräftigen Ruck von ihm losreißen konnte. Es war ihr tatsächlich gelungen, die lähmende Angst weitgehend zu überwinden und die Kontrolle über ihren Körper zurückzuerlangen. Dazu hatte zweifellos auch der imponierende Auftritt des alten Manns beigetragen. Nun wirbelte sie herum. Die Augen ihres Peinigers waren weit aufgerissen und starrten sie ungläubig an. Araya stieß ihr Knie mit aller Kraft nach oben, spürte Widerstand. Sie wich hastig zurück, doch ihre Befürchtung, dass ihr Gegenüber noch zu einer kontrollierten Gegenwehr in der Lage wäre und sie wieder packte, erwies sich als unbegründet.

Der Chinese hatte den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet und beide Hände in den Schritt gepresst. Er schnappte nach Luft, schien jedoch nicht genug davon zu bekommen. Tränen schossen aus seinen Augen. Dann brach er mit einem qualvollen Quieken zusammen.

Nun gab es nur noch einen aus dem Trio, der aufrecht stand, und dessen Blick irrlichterte hektisch zwischen seinen Kameraden, die sich vor Schmerzen stöhnend am Boden wälzten, und dem Greis hin und her.

»Helfen Sie Ihren Freunden auf, junger Mann«, sagte der Alte freundlich. »Und dann gehen Sie nach Hause. Heute Nacht wird in dieser Stadt niemandem etwas Böses geschehen. Das ist mein Geschenk.«

Der Angesprochene zögerte kurz, tat dann aber, wie ihm geheißen. Als Erstes zog er Tan auf die Beine. Gemeinsam halfen sie ihrem Kumpan auf, bei dessen Anblick Araya unwillkürlich Mitleid empfand, doch dann erinnerte sie sich an die Worte, die ihre Trainerin auf einem der Seminare gesagt hatte.

Suchen Sie die Schuld für einen sexuellen Übergriff niemals bei sich selbst. Sie sind das Opfer. Aber Sie sind nicht wehrlos. Sagen Sie klar und deutlich »Nein«. Wenn das nicht hilft, bleiben Sie gelassen – so schwer es Ihnen auch fällt. Warten Sie auf Ihre Chance. Ihr Peiniger rechnet nicht damit, dass Sie Widerstand leisten. Er fühlt sich grenzenlos überlegen. Sein Blut ist voller Adrenalin und Testosteron. Das ist Ihre Chance!

Nein. An diesen Dreckskerl war jedes Mitleid verschwendet. Er hatte genau das bekommen, was er verdiente!

Das Trio beeilte sich, das Weite zu suchen. Tan humpelte und hielt sich die rechte Schulter. Der Typ, dem sie ihr Knie zwischen die Beine gerammt hatte, ging tief gebeugt und stieß immer wieder hohe Klagelaute aus, die alles andere als männlich klangen. Als die Männer die nächste Straßenecke erreicht hatten, drehte Tan noch einmal den Kopf. Araya erwartete, dass er eine letzte Drohung ausstoßen würde, sich den Frust wütend von der Seele schrie, doch in seinem Gesichtsausdruck lag kein Zorn, nicht der Wunsch nach Vergeltung, sondern nichts als panische Angst.

Araya sah den drei Chinesen nach, bis sie hinter einer Häuserfassade verschwunden waren. Dann drehte sie sich um, um sich bei dem alten Mann zu bedanken. Doch die Straße war leer. Ihr unbekannter Retter war verschwunden, als hätte er nie existiert.

2.

 

Ein weißer Turm ragt in den Himmel wie eine Nadel, die in Wolken sticht. Wer baut so etwas?

Tuire Sitareh

 

 

Icho Tolots Hologramm hatte Originalgröße und war so perfekt, dass es wirkte, als stünde der Haluter tatsächlich vor Thoras Schreibtisch. Das Botschaftsbüro im 55. Obergeschoss des Stardust Towers war großzügig geschnitten, die Decke fast vier Meter hoch. Trotzdem schien der schwarzhäutige Riese mit seinen vier Armen, dem halbkugelförmigen Kopf und den drei tiefroten Augen den Raum fast vollständig auszufüllen.

Der Anblick eines Haluters war fraglos nichts für sensible Gemüter. Auch dann nicht, wenn man wusste, dass diese Wesen zu den friedfertigsten und gütigsten Vertretern intelligenten Lebens gehörten, die Menschen bislang in der Milchstraße angetroffen hatten. Als Arkonidin hatte Thora Rhodan da Zoltral oft mit den hünenhaften Naats zu tun gehabt. Sie war den ebenso wuchtigen wie grausamen Maahks begegnet, die das Große Imperium zweimal an den Rand des Untergangs gebracht hatten. Doch den Vergleich mit einem Haluter hielten all diese Erlebnisse nicht mal annähernd stand.

Erfahrene Flottenkommandantin hin oder her, dachte sie. Jedes Mal, wenn ich diesen Giganten vor mir sehe, schaltet mein rationaler Verstand kurzzeitig ab, und die Instinkte übernehmen die Kontrolle ...

»Mister Tolot«, sagte Thora reserviert. »Kann ich etwas für Sie tun?«

Der Anruf des Haluters hatte sie überrascht, vor allem, weil er so kurz nach den Vorfällen an Bord der MAGELLAN und der DOLAN erfolgte. Die Entführung von Sud und vor allem von Nathalie, Thoras Tochter, durch Icho Tolot lag kaum zwei Tage zurück. Die Arkonidin war sich keineswegs sicher, ob sie schon wieder bereit war, mit dem Giganten zu sprechen. Als ihre Assistentin den Kontaktwunsch des Haluters gemeldet hatte, waren Thoras Wut und ihr Unverständnis sofort wieder da gewesen. Auch wenn es gute Gründe für das gab, was Tolot getan hatte, war das keine Entschuldigung, die Thora ohne Weiteres akzeptieren konnte.

»Miss Thora ...« Die Stimme des Riesen ließ wie immer an ein heraufziehendes Gewitter oder eine niedergehende Gerölllawine denken. »Es tut mir leid, Sie zu stören, aber ... ich hoffe trotzdem, dass Sie ein paar Minuten erübrigen können, um sich anzuhören, was ich zu sagen habe.«

Die Arkonidin legte die Fingerspitzen aneinander und stützte sich mit den Ellbogen auf die Platte ihres Schreibtischs. Ihre Rolle als offizielle Botschafterin des arkonidischen Imperiums erforderte oft ein hohes Maß an Selbstbeherrschung und Zurückhaltung – zwei Eigenschaften, die früher nicht unbedingt zu ihren Stärken gehört hatten.

Ein guter Diplomat muss mit den Ohren sehen und mit den Augen schweigen können, dachte sie. Sie wusste nicht mehr, wo sie diesen Spruch aufgeschnappt hatte, aber er enthielt eine Menge Wahrheit. In den vergangenen Jahren hatte sie in dieser Hinsicht viel dazugelernt.

»Wenn mich nicht alles täuscht«, sagte sie langsam, »tue ich das gerade. Sie anhören, meine ich.« Ihrem Lächeln fehlte jegliche Wärme, doch immerhin brachte sie es zustande. Inwieweit der Haluter in der Lage war, es zu interpretieren, vermochte sie nicht einzuschätzen.

Für einen Moment schien Tolot verwirrt, wenngleich es fast unmöglich war, in seinem Gesicht zu lesen. Perry hatte einmal die grausame Laune der Natur bedauert, die einem so empfindsamen Geschöpf wie einem Haluter die Möglichkeit versagte, seine Gefühle mimisch auszudrücken. Thora sah die Sache weit nüchterner. Tolot und seine Artgenossen waren die Nachkommen von Zuchtprodukten einer skrupellosen Organisation namens Allianz. Obwohl die Haluter nichts dafür konnten, dass man ihre Vorfahren genetisch optimiert hatte, um eine unbesiegbare Soldatenkaste zu schaffen: Die Situation war nun einmal, wie sie war, und jeder musste mit den Karten spielen, die ihm das Schicksal austeilte.

»Natürlich«, grollte Tolot. »Entschuldigen Sie. Wissen Sie, ich hatte mir meine Worte sorgfältig zurechtgelegt; jedes einzelne von ihnen. Aber jetzt ... erscheinen sie mir plötzlich alle bedeutungslos. Dass mir das, was ich getan habe, leidtut, habe ich Ihnen bereits gesagt. Ich habe Nathalie und Sud in Gefahr gebracht. Sie hätten sterben können. All das ist mir bewusst, und ob Sie mir glauben oder nicht: Ich werde mir mein Handeln niemals verzeihen.«

Ein paar Sekunden lang herrschte eine unangenehme Stille. Vielleicht erwartete der Haluter, dass sie etwas erwiderte, doch Thora schwieg. Auf einer schwer zu definierenden Ebene hatte sie Mitleid mit ihrem Gegenüber. Sie nahm ihm seine Reue ab. Aber der Zorn und die Angst, die sie als Mutter empfunden hatte und zu einem Teil noch immer empfand, waren stärker. Und wenn schon Tolot sich selbst nicht vergeben konnte, warum sollte sie es tun?

»Ich habe deshalb einen Entschluss gefasst«, fuhr der Gigant schließlich fort. »Ich werde das Solsystem mit der DOLAN verlassen. Ob und wann ich zurückkehre, weiß ich nicht. Nennen Sie mich meinetwegen einen Feigling, aber ich habe derzeit weder die Kraft noch den Willen ...«

»Einen Moment!« Thora erhob sich ruckartig aus ihrem Sessel. »Ich höre offenbar nicht richtig! Sie wollen sich einfach aus dem Staub machen? Ja, Sie haben recht: Das ist feige – und zwar auf so vielen Ebenen, dass ich sie gar nicht alle aufzählen kann!«

»Miss Thora ...«, setzte der Haluter an.

Aber die Arkonidin unterbrach ihn. »Sparen Sie sich Ihr Miss Thora und hören Sie mir aufmerksam zu. Wenn Perry zurückkehrt, werde ganz bestimmt nicht ich es sein, die ihm erklärt, warum sich einer unserer wichtigsten Verbündeten und ein guter Freund sang- und klanglos verabschiedet hat. Also werden Sie gefälligst hierbleiben und persönlich mit ihm reden. Das schulden Sie ihm!«

Die schaufelgroßen Hände der Handlungsarme des Haluters schlossen sich zu Fäusten und öffneten sich wieder. Der Blick der roten Augen schien sich in Thora hineinbohren zu wollen.

»Was uns beide angeht ...« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. »... bin ich noch nicht bereit, Ihre Handlungen einfach so ad acta zu legen. Ich habe Ihnen vertraut, Mister Tolot. Bedingungslos. Dieses Vertrauen haben Sie zerstört, und ich habe keine Ahnung, ob es sich wieder reparieren lässt. Da die Natur Sie gleich mit zwei Gehirnen gesegnet hat, sollten Sie das nachvollziehen können.«

»Das kann ich, Miss Thora. Genau deshalb wollte ich ja ...«

»... davonlaufen?«, beendete die Arkonidin den Satz, bevor es der Haluter konnte. »Sich davor drücken, die Verantwortung für das zu übernehmen, was Sie getan haben? Ich kenne Perry; vielleicht sogar besser als er sich selbst. Er wird Ihnen vergeben. Er wird Ihnen verzeihen, dass Sie seine Tochter in Lebensgefahr gebracht haben, weil er von Ihrer beider Freundschaft überzeugt ist. Für ihn ist das kein Abwägen von Prioritäten. Für ihn stellt sich die Frage nicht, ob das Wohlergehen seiner Tochter wichtiger ist als sein Glaube an Ihre Integrität. Ich habe diesen Idealismus akzeptiert, auch wenn er jeglicher Logik widerspricht. Allerdings praktiziere ich ihn nicht. Seien Sie deshalb versichert: Wenn Sie so etwas noch einmal versuchen, werde ich Sie mit allen mir zugänglichen Mitteln zur Rechenschaft ziehen – die Götter Arkons seien meine Zeugen!«

Icho Tolot senkte den massigen Schädel. Es sah aus, als wolle der halbkugelförmige Kopf zwischen den breiten Schultern verschwinden. »Ich danke Ihnen, Miss Thora«, grollte der Haluter. »Für Ihre Zeit ... und für Ihre ehrlichen Worte.«

Die Arkonidin nickte knapp. Dann unterbrach sie die Verbindung.