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Der Autor

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Dr. Hermann Schöler war Professor für Entwicklungspsychologie und für Psychologie in sonderpädagogischen Handlungsfeldern an der PH Heidelberg

Hermann Schöler

Entwicklung und Bildung im Kindesalter

Eine Kritik pädagogischer Begriffe und Konzepte

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-035367-1

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-035368-8

epub:   ISBN 978-3-17-035369-5

mobi:   ISBN 978-3-17-035370-1

Vorwort der Herausgeberin und des Herausgebers

 

 

 

Die Lehrbuchreihe »Entwicklung und Bildung in der Frühen Kindheit« will Studierenden und Fachkräften das notwendige Grundlagenwissen vermitteln, wie die Bildungsarbeit im Krippen und Elementarbereich gestaltet werden kann. Die Lehrbücher schlagen eine Brücke zwischen dem aktuellen Stand der einschlägigen wissenschaftlichen Forschungen zu diesem Bereich und ihrer Anwendung in der pädagogischen Arbeit mit Kindern.

Die einzelnen Bände legen zum einen ihren Fokus auf einen ausgewählten Bildungsbereich, wie Kinder ihre sozio-emotionalen, sprachlichen, kognitiven, mathematischen oder motorischen Kompetenzen entwickeln. Hierbei ist der Leitgedanke darzustellen, wie die einzelnen Entwicklungsniveaus der Kinder und Bildungsimpulse der pädagogischen Einrichtungen ineinandergreifen und welche Bedeutung dabei den pädagogischen Fachkräften zukommt. Die Reihe enthält zum anderen Bände, die zentrale bereichsübergreifende Probleme der Bildungsarbeit behandeln, deren angemessene Bewältigung maßgeblich zum Gelingen beiträgt.

Dazu zählen Fragen, wie pädagogische Fachkräfte ihre professionelle Responsivität den Kindern gegenüber entwickeln, wie sie Gruppen von Kindern stressfrei managen oder mit Multikulturalität, Integration und Inklusion umgehen können. Die einzelnen Bände bündeln fachübergreifend aktuelle Erkenntnisse aus den Bildungswissenschaften wie der Entwicklungspsychologie, Diagnostik sowie Früh- und Sonderpädagogik und bereiten für den Einsatz in der Aus- und Weiterbildung, aber ebenso für die pädagogische Arbeit vor Ort vor. Die Lehrbuchreihe richtet sich sowohl an Studierende, die sich in ihrem Studium mit der Entwicklung und institutionellen Erziehung von Kindern befassen, als auch an die pädagogischen Fachkräfte des Elementar- und Krippenbereichs.

Der vorliegende Band von Hermann Schöler, einem der Herausgeber dieser Reihe und langjähriger Mitgestalter und kritischer Begleiter der Elementarbildung in Deutschland, fällt etwas aus der Reihe der Lehrbücher. Denn das Buch versteht sich als kritisches und streitbares Resümee der elementarpädagogischen Konzepte, die mit dem bildungspolitischen Boom der Elementarbildung ins Kraut geschossen sind und die pädagogische Diskussion bestimmen. Viele davon stellen eher »eminenzbasierte« Heilsversprechen als evidenzbasierte wissenschaftliche Konzepte dar. Hermann Schöler nimmt sich in seinem provokant geschriebenen Buch dieser boomenden Konzepte an, als da sind: Selbstbildung, Ganzheitlichkeit, Haltung, Förderdiagnostik, wahrnehmendes Beobachten, Stärkenorientierung, Inklusion, qualitative Forschung. Und er entlarvt sie als das, was sie sind: pädagogische Seifenblasen, die einer kritischen wissenschaftlichen Analyse nicht standhalten, aber das pädagogische Gewissen beruhigen, das Beste für die Kinder zu wollen. Das schadet der pädagogischen Arbeit vor Ort!

Dabei bleibt Hermann Schöler nicht einfach bei einer süffisant bis zornig geschriebenen Kritik stehen. Vielmehr präsentiert er unter Rückgriff auf eine sorgfältige und fundierte Analyse der evidenzbasierten Forschung die empirisch validierten Konzepte hinter den Modebegriffen. Er zeigt, welche Konzepte für eine erfolgreiche Elementarbildung tragfähig sind – und welche nicht. Er gibt damit auch denen eine Stimme, die ein Unbehagen an des »Kaisers neuen Kleidern« verspüren und auf der Suche nach diesen tragfähigen Konzepten sind. Ein solches Buch ist längst überfällig in der Diskussion um die Elementarbildung. Wir hoffen sehr, dass es Anstoß gibt, sich stärker auf die wissenschaftliche Fundierung elementarer Bildungsarbeit zu konzentrieren, statt auf wolkige Heilsversprechen.

 

Münster, Freiburg im September 2018
Manfred Holodynski und Dorothee Gutknecht

Inhalt

 

 

 

  1. Vorwort: Warum ein solches Buch?
  2. Danksagung
  3. 1 Zur Notwendigkeit von Früher Bildung und Erziehung
  4. 1.1 Wertigkeit der Frühen Bildung und Gesellschaftssystem
  5. 1.2 Frühe Bildung, Chancen- und Bildungsgerechtigkeit
  6. 1.3 Sputnik, PISA und die Frühe Bildung
  7. 1.4 Demokratie und (Frühe) Bildung
  8. 1.5 Was sich eine demokratische Gesellschaft nicht erlauben sollte
  9. 1.6 Fazit
  10. 2 Hinderliche Überzeugungen
  11. 2.1 Kompetenzen, Wissen, Fertigkeiten, Fähigkeiten
  12. 2.2 »Lesen durch Schreiben«. Oder: Wie erschwere ich Kindern das Lesen- und Schreibenlernen
  13. 2.3 Ist Variation wirklich motivationsfördernd? Übung macht doch den Meister!
  14. 2.4 »Das kannst Du besser!« – Anreize statt »leeres Lob«
  15. 2.5 »Haltung« oder Professionalität? Genügen Liebe und Begeisterung?
  16. 3 »Ganzheitlichkeit«: Unüberlegte Begriffsnutzung oder gezielter Angriff auf wissenschaftliche Analyse?
  17. 3.1 »Ganzheitlichkeit« in der Frühen Bildung
  18. 3.2 »Ganzheitlichkeit« – Dogma für oder gegen Diagnostik, Lernen, Bildung?
  19. 3.3 »Ganzheitlichkeit« und das »gesunde Volksempfinden«
  20. 3.4 Fazit
  21. 4 »Selbstbildung«? Wer oder was steuert die Entwicklung, Erziehung und Bildung eines Kindes?
  22. 4.1 Entwicklung und Erziehung: Notwendige sozialisationsbedingte Begrenzungen
  23. 4.2 Bilder vom Kind
  24. 4.2.1 Ko-Konstruktion
  25. 4.2.2 »Selbstbildung«
  26. 4.3 Fazit
  27. 5 »Aktiv entdeckendes Lernen«? Was ist eigentlich Lernen?
  28. 5.1 Lernen als Prozess
  29. 5.2 Bildung und Lernen – Begriffliche Verwirrungen zwischen Lehren und Lernen: Lehren ist nicht Lernen!
  30. 5.3 Fazit
  31. 5.4 Zur Rolle der Lehrenden für die Lernenden
  32. 6 Warum akademische und kognitive Fähigkeiten für die Demokratie wichtig sind!
  33. 6.1 Kognitive Fähigkeiten
  34. 6.2 Intelligenz und Hochbegabung – beliebige Konstrukte?
  35. 6.3 Ist die Förderung hochbegabter Kinder politisch unerwünscht?
  36. 6.4 Fazit
  37. 7 »Förderdiagnostik«? Von der Notwendigkeit, Diagnostik und Intervention zu differenzieren
  38. 7.1 Unterschiede zwischen einer Selektions- und einer Platzierungsdiagnostik
  39. 7.2 Beispiele für die Gefährlichkeit einer »Förderdiagnostik«
  40. 7.3 Zur »Unnatürlichkeit« einer diagnostischen Situation
  41. 7.4 Fazit
  42. 8 »Norm oder nicht Norm?« – Das ist keine Frage!
  43. 8.1 Arten von Normen
  44. 8.2 Normen im Kontext diagnostischer Urteilsbildungen
  45. 8.3 Falsche Anwendung von Normen
  46. 8.4 Auch ein »inklusionsdiagnostischer Service« setzt einen Vergleich voraus
  47. 8.5 Fazit
  48. 9 Beobachtung – die schwierigste diagnostische Tätigkeit erfordert hohe Professionalität und Wissen
  49. 9.1 Vorbemerkung: Die Wirksamkeit von Wörtern
  50. 9.2 Ist eine »ungerichtete Beobachtung« möglich?
  51. 9.3 Fazit
  52. 10 Kann man ein Loch erkennen, wenn das Loch keine Ränder hat?
  53. 10.1 Defizit- »versus« Stärkenorientierung?
  54. 10.2 Gleiche Phänomene implizieren nicht notwendig gleiche kognitive Prozesse oder Strukturen
  55. 10.3 Fazit
  56. 11 »Inklusion« im deutschen Bildungssystem: Ein Bärendienst für alle!
  57. 11.1 Was wird unter »Inklusion« verstanden?
  58. Exklusion → Segregation → Integration → »Inklusion« – Eine sachlogische Entwicklung?
  59. 11.2 »Chancengleichheit«? »Allen das Gleiche!« oder »Jedem das Seine!«
  60. 11.3 »Dass Förderschulen abgeschafft werden, beruht auf Übersetzungs- und Denkfehlern«
  61. 11.4 Chancengerechtigkeit für alle Kinder
  62. 11.5 Exkurs: Keine Satire: Menschen mit einer geistigen Behinderung als Hochschullehrer
  63. 11.6 Fazit
  64. 12 »Qualitative Forschung«: Unüberlegtes Attribut oder ein Kampfbegriff?
  65. 12.1 Wissenschaft bedeutet immer Reduktion – egal, ob mit qualitativen oder quantitativen Methoden
  66. 12.2 Forschung verlangt Methodenkompetenz
  67. 12.3 Fazit
  68. 13 Früherkennung von Entwicklungsrisiken und frühe Interventionen – Schaden oder Nutzen?
  69. 13.1 Legasthenie – eine Erfindung geschäftstüchtiger therapeutischer Praxen?
  70. 13.2 Ist jede Transition eine Entwicklungsaufgabe?
  71. 13.3 Bietet Zusatzförderung Chancen zur Minderung von Risiken für die Schulbereitschaft?
  72. 14 Warum eine ausreichende Kenntnis früherer Erkenntnisse sinnvoll ist
  73. 14.1 Die »kognitive Wende« – Wechsel von einem Paradigma zu einem »Paradogma« durch Falschzitieren?
  74. 14.2 Wieso wechseln die Bezeichnungen von Phänomenen oder Konstrukten ständig?
  75. 14.3 Fazit
  76. 15 »Kritisches Nachdenken« über »weiße Schimmel« – nur eine Marginalie
  77. »Kritische Reflexion«
  78. 16 Epilog
  79. Literatur

Vorwort: Warum ein solches Buch?

 

 

 

Wer NACHdenkt hat vielleicht nur verpasst, VORher zu denken.
Helga Schäferling (2017)

Mit Sorge verfolge ich seit Jahrzehnten die immer wieder neuen pädagogischen Moden und damit einhergehenden Begrifflichkeiten, mit denen Konzepte der Erziehung und Bildung als notwendige Innovationen vorgestellt, Guru-mäßig verbreitet und leider auch umgesetzt werden, deren logischer, meist ideologischer, auf jeden Fall semantischer Unsinn gar nicht mehr wahrgenommen und analysiert werden. Sie sind eher als »eminenzbasiert«, denn als evidenzbasiert zu charakterisieren. Man gewinnt den Eindruck, dass je abstruser die »Theorie« und je lauter sie mit Attributen wie »richtig«, »gut« und »kindgemäß«1 als Idealnormen vertreten werden, desto größer wird die Anhängerschaft – leider insbesondere auch seitens der Politik. Da sich Wirksamkeiten von Bildungsmaßnahmen nicht innerhalb eines so kurzen Zeitraumes wie einer Wahlperiode beobachten und evaluieren lassen, ist Bildung in der Politik eigentlich kein Schwerpunkt der politischen Arbeit. Bildung eignet sich aber als Wahlkampfthema, wenn einfache und vermeintlich innovative, schlagwortartig vorgetragene Positionen zum Besten gegeben werden. Und dafür sind Konzepte, die als »richtig« und vermeintlich »kindgemäß« zum Wohle des Kindes propagiert werden, besser geeignet, als wenn man wissenschaftlich redlich auf die Problematik der verschiedenen zur Verfügung stehenden Maßnahmen eingeht und Empfehlungen differenzierte Analysen erfordern und berücksichtigen müssen, die nicht einfältig sind, sondern meist vielfältige Möglichkeiten eröffnen. Und hier scheint es wichtig, die richtigen Worte zu finden. Dafür stellen dann Vertreter/-innen aktueller pädagogischer Richtungen bzw. Moden, ob bewusst oder zufällig, wohlklingende Wörter und Konzepte zur Verfügung. Allzu oft werden diese leider weder dem Gegenstandsbereich noch den betroffenen zu erziehenden und zu bildenden Kindern gerecht. Es gibt sogar pädagogische Konzepte, die nicht nur wissenschaftlich unhaltbar sind, sondern auch empirisch als schädlich erkannt wurden – sie werden dennoch, sehr zum Schaden der betroffenen Kinder, eingesetzt und lassen sich wohl ob der Wörter und Begrifflichkeiten »gut verkaufen«.

Einige dieser wohlklingenden und allzu häufig verwendeten Wörter sowie damit verbundene Konzepte stehen in diesem Buch auf dem Prüfstand. Meist werden solche Wörter achtlos, also ohne über sie nachgedacht zu haben, verwendet. Bei einigen liegt der Ursprung aber ideologisch begründet – und dies hat allzu oft fatale Auswirkungen – leider nicht für die Erzeuger solch problematischer Wörter und Begriffe, sondern für die Kinder, die von allen immer im Fokus sind: Es geht immer um das Kind – koste es, was es wolle – für das Kind!

Da – wie von vielen proklamiert (image Kap. 1) – eine angemessene Erziehung und Bildung der Kinder aber eine notwendige Voraussetzung für sog. demokratische und aufgeklärte Gesellschaften sind und deren Weiterbestehen wesentlich nur durch »mündige Bürger/-innen« gesichert werden kann, sollte man sich neu entstehende Begriffe und Konzepte auf ihre Aussage in Bezug auf diese notwendigen Voraussetzungen genau anschauen: Dienen sie einer angemessenen Bildung der Kinder, oder können sie letztlich dafür sogar Bärendienste leisten? Ein Beispiel möge dies erläutern: Der in der (Früh-)Pädagogik weit verbreitete Begriff der »Ganzheitlichkeit« (image Kap. 3) eignet sich m. E. sehr gut, der Beliebigkeit Tür und Tor zu öffnen und konkrete Hilfen für die Kinder zu verhindern, ganz abgesehen von seiner wissenschaftlich und politisch problematischen Vergangenheit (image Kap. 3.3).

Oft entspringen solche und andere pädagogische Konzepte »gutem Willen« und Motiven, für die Kinder etwas Gutes zu tun, was leider allzu oft mit naiven Vorstellungen gepaart ist. Des Öfteren sind die Begrifflichkeiten auch Ausdruck von Karrierismus2 oder aber einer gezielten Diffamierung bestehender Erkenntnisse (s. z. B. »Förderdiagnostik«; image Kap. 7) oder beidem. Dabei werden empirische Befunde und Erkenntnisse, aus welchen Gründen auch immer, nicht zur Kenntnis genommen. Nicht zuletzt basieren sie schlicht auf unzureichendem Nachdenken (Reflexion). Erinnert sei hier nur an die flächendeckende Einführung der Mengenlehre in der Grundschule3 (Der SPIEGEL, 1974; Kline, 1974) oder die Erstlese- und Erstschreibmethode »Lesen durch Schreiben« (image Kap. 2.2) oder beim Fremdsprachenunterricht die Methode der totalen Immersion4, die zwar durchaus sinnvoll und effektiv in den ersten Lebensjahren sein kann5, wenn das Kind kommunikationsorientiert seine Muttersprache(n) lernt (s. z. B. Lamendella, 1978; Schöler, 1981, 1987). Im Jugend- oder Erwachsenenalter wird eine Fremdsprache aber eher kognitionsorientiert gelernt, zum Beispiel wird eine Fremdsprache automatisch mit der Muttersprache verglichen. Daher ist die Immersion in aller Regel und gerade in einem größeren Gruppenkontext, wie einem Klassenverband, allein nicht zielführend. Diese Diskussion kann hier aber ebenso wenig wie die Differenzierung von Deutsch als Fremdsprache (DaF) und Deutsch als Zweitsprache (DaZ) vertieft werden.6

In diesem Buch wird über eine Reihe solcher, die Entwicklung, Erziehung und Bildung teilweise gefährdende Moden bzw. Ideologien und Begrifflichkeiten diskutiert oder, wie es heute allzu oft heißt, »kritisch reflektiert«. Übrigens ein »weißer Schimmel«, denn kann ein Nachdenken auch unkritisch erfolgen? Oder anders gefragt: Wird durch das Attribut »kritisch« eine besondere Qualität des Nachdenkens nahegelegt? Um ähnliche »weiße Schimmel« geht es am Rande auch in diesem Buch (image Kap. 15).

Es geht um Grundsätzliches hinsichtlich der Erziehung und Bildung unserer Kinder7 (z. B. »Selbstbildung«, image Kap. 4; oder »Inklusion«, image Kap. 11) und um Begriffe, bei deren Erzeugung bzw. bei ihrer Nutzung nicht ausreichend nachgedacht wurde (wie z. B. »Ganzheitlichkeit«, image Kap. 3; oder »Haltung«, image Kap. 5). Oder wurden sie doch bewusst als neue, vermeintlich wissenschaftliche Begriffe und als politisch korrekt etabliert (z. B. »Förderdiagnostik«, image Kap. 7; oder »Qualitative Forschung«, image Kap. 12), um sie zur Diskriminierung bestehender Konzepte zu nutzen? Und es geht um eher Randständiges und Konzepte, deren Bezeichnungen und Definitionen Unmögliches von den Beteiligten verlangen und damit mehr Schaden anrichten, als dass sie effektive Hilfen darstellen können (z. B. »Erziehungspartnerschaft«, Textor, 2011; oder »Inklusion«, image Kap. 11).

»Inklusion« ist im vorigen Abschnitt zweimal angeführt worden, denn zum einen soll jegliche Erziehung und Bildung »inklusiv« erfolgen, zum anderen ist »Inklusion« ein Konzept, bei dem eigentlich Unmögliches vorausgesetzt wird. Solange sich Menschen unterscheiden und solange gesellschaftliche Systeme Bildungssysteme entwickeln und bereitstellen, wird es nicht umsetzbar sein können. Dies wird Thema eines der Diskussionskapitel sein (image Kap. 11).

Dieses Buch ist kein wissenschaftliches Lehrbuch (s. dazu die Lehrbuchreihe »Entwicklung und Bildung in der Frühen Kindheit«, herausgegeben von Manfred Holodynski, Dorothee Gutknecht & Hermann Schöler im Kohlhammer-Verlag). Mit dem Buch möchte ich auf die problematischen Wörter und Begriffe und – wo möglich – bereits empirisch fundierte Erkenntnisse hinweisen, die in bestimmten Bildungsbereichen nicht recht zur Kenntnis genommen werden, sei es aus Unkenntnis oder auch Unverstand. Die Diskussion – so hoffe ich – erfolgt aber unter Beibehaltung wissenschaftlicher Redlichkeit. Zu den angesprochenen Themen gebe ich jeweils wissenschaftliche Literatur zur Vertiefung an.

Viele dieser Themen habe ich bereits im Zusammenhang mit Darstellungen wissenschaftlicher Befunde vorgetragen oder in Form von satirischen Beiträgen auch schon schriftlich verfasst (z. B. Schöler, 2004, 2011b). Die Satire bietet eine hervorragende Möglichkeit, den »Knackpunkt« einer bestimmten Position oder Begrifflichkeit hervorzuheben und damit deren Unhaltbarkeit zu verdeutlichen.8 Die Satireform habe ich hier nicht gewählt, damit meine Ausführungen die Ernsthaftigkeit und meine Sorge um Erziehung und Bildung zum Ausdruck bringen.9 Denn teilweise geht es bei den zur Diskussion stehenden Positionen und Begriffen um Realsatire – und die lässt sich bekanntlich satirisch nicht toppen.

»Was ich schon immer mal sagen wollte«, so hätte ich das Buch auch überschreiben können, »Nachgedacht! Eine ›kritische Reflexion‹ eminenzbasierter Annahmen und Begriffe der Elementar- und Primarbildung zum Schaden der Kinder«, so lautete lange Zeit der Arbeitstitel, der aber für viele mögliche Leserinnen und Leser wohl nicht direkt verständlich gewesen wäre, wie dies die Rückmeldungen nahelegten. Vielleicht wird auch der eine Leser oder die andere Leserin sagen: »Das hat doch schon die oder der bereits ausführlich und wissenschaftlicher argumentierend gesagt, nur H. S. hats noch nicht«. Das ist korrekt, aber es ist doch eine persönliche Zusammenstellung von Themen und Aussagen, über die es sich m. E. lohnt, immer mal wieder nachzudenken. Einige der Themen und Aussagen werden vielleicht als Randbemerkungen eines sprachsophistizierten Hermann Schöler abgetan (wie schon geschehen: »Ach, Herr Schöler!«) – oder sind auch ebensolche, wie die Anmerkungen zu den »weißen Schimmeln« (image Kap. 15).

Die folgende meiner »Verdichtungen« (Schöler, 1984) – so hoffe ich – wird die hier diskutierten Themen nicht zutreffend beschreiben.

 

Die Chance

Gesagt
Vertan.

Danksagung

Obwohl mir Hans-Peter Langfeldt dringend von diesem Buch abgeraten hat, habe ich es in Angriff genommen. Durch diese fundamentale Kritik gab er mir aber viele Anregungen, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Die fast tägliche einstündige »Spaziergangsrunde« mit meiner Frau Barbara Methfessel hat dazu geführt, dass ich viele der angesprochenen Probleme mit ihr hin- und herdiskutieren konnte, sie hat auch die Entwürfe der einzelnen Kapitel kritisch gelesen, sodass ich Ergänzungen zur besseren Verständlichkeit einfügen und Modifikationen vornehmen musste.

Dies gilt in besonderem Maße auch für Dorothee Gutknecht, Manfred Holodynski und Anke Treutlein, die mir sehr deutlich durch ihre sehr konstruktive Kritik vor Augen geführt haben, dass so ein Buch nicht allein für Insider, sondern vielleicht auch genau für solche Leserinnen und Leser sinnvoll sein kann, die bei vielen der von mir in Frage gestellten oder in früheren Versionen als nicht sehr sinnvollen (»unsinnig«) bewerteten Begriffe und Positionen ein komisches Bauchgefühl haben und ein solches Buch als Argumentationshilfe nutzen könnten – falls sie nicht bereits beim Titel, den Kapitelüberschriften oder solchen abwertenden Attributen abgeschreckt werden würden. Ihre Kritik hat mich nicht nur das Inhaltsverzeichnis entscheidend ändern lassen, sondern zu einer Ergänzung und Modifikation sehr vieler Textstellen geführt. Durch die Kritik wurde erst ermöglicht, dass dieses Buch, das von mir als ein »Nachdenken«-Buch für die professoralen Kolleginnen und Kollegen geschrieben wurde, nicht nur Lehrenden, sondern auch Studierenden als Diskussionsgrundlage dienen kann. Das hat allen dreien in der Herausgeberschaft eine Reihe von Kompromissen abverlangt.

Sehr dankbar bin ich Herrn Detlef Böhme, dem Initiator der Kinderakademie Heidelberg, die im Februar 2017 ihr zehnjähriges Jubiläum feiern konnte. Er hat eine frühere Version des Manuskripts kritisch gelesen und konnte mir bei der Geschichte der Hector-Kinderakademien wichtige Hinweise geben.

Leider hat sich in den Wissenschaften eine eher Anti-Diskussionskultur entwickelt. Von Beginn meines Studiums an wurde ich erfreulicherweise in einer anderen Diskussionskultur bei Prof. Heinrich Düker und später Prof. Theo Herrmann sozialisiert. Den vielen Kolleginnen und Kollegen, die meine, meist scharfen Diskussionsbeiträge ertragen mussten, danke ich ebenfalls, ohne die Namen aller nennen zu können. Als Politiker wäre ich ungeeignet, er muss vermutlich ständig das Machbare im Auge behalten und Kompromisse schließen. Im Wissenschaftsbetrieb musste ich solche Kompromisse nicht schließen, nur durch gute Argumente und wissenschaftliche Erkenntnisse konnten meine Positionen fallen. Wie meine Frau vermutlich zu Recht kritisiert, konnte ich durch solches Verhalten aber wenig ändern und allzu selten andere Personen von meinen Positionen überzeugen. Hier habe ich Marcus Hasselhorn immer bewundert, der zur Zielerreichung tatsächlich die relevanten Personen meist »dort abholen konnte, wo sie standen«. Die Zusammenarbeit mit ihm und mit Wolfgang Schneider, der mir wichtige Literaturhinweise gegeben hat, im Rahmen des Projektes »Schulreifes Kind« war für mich am Ende meines Berufslebens und darüber hinaus noch ein wichtiges »Highlight«, wie man heute wohl sagen könnte.

Hermann Schöler
Heidelberg, im April 2018

Eine Lesehilfe

Abschließend möchte ich noch eine Lese- und Interpretationshilfe geben: Die Farbgestaltung der Kästen ist so gewählt, dass ein blauer Rand und eine blaue Rasterung signalisieren, dass der entsprechende Inhalt von mir mitgetragen wird.

Bei nur blauem Rand und weißem Hintergrund ist Vorsicht geboten, diese Inhalte entsprechen nach meinem Wissen nicht dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis und werden von mir kritisiert.

1     In der Pädagogik wird oft davon gesprochen, die Kinder dort abzuholen, wo sie stehen. Dazu ist allerdings erforderlich, dass man die »Position« des Kindes auch wahrnehmen kann (image Kap. 2.2).

2     Will man in der Pädagogik eine Professur besetzen, scheint man »eine neue Sau durchs Dorf treiben« zu müssen (s. dazu Auer & Dölle, 2000).

3     »New Math«, eine Welle aus den USA, die nach dem »Sputnik-Schock« auch die BRD überrollte.

4     Als Immersion (auch Sprachbad) wird das Eintauchen in eine fremdsprachige Umgebung bezeichnet. Der Erwerb der fremden Sprache soll ohne jegliche Instruktion über die fremde Sprache erfolgen.

5     Gerade mittels des sog. OPOL-Prinzips (one person – one language) wird ermöglicht, dass ein Kind gleichzeitig zwei Sprachen leicht lernt: Spricht beispielsweise die Mutter in allen Situationen nur Deutsch, der Vater nur Türkisch mit dem Kind, wird das Kind in aller Regel bilingual werden und sowohl Deutsch als auch Türkisch wie zwei Muttersprachen lernen können. Allerdings müssen auch bei OPOL verschiedene Rahmenbedingungen ausreichend gegeben sein: Ist z. B. der Vater selten zu Hause, wird das Angebot für die Sprache des Vaters möglicherweise unzureichend sein – ein umfassendes Angebot ist aber ein zentraler Gelingensfaktor.

6     Mit Deutsch als Fremdsprache (DaF) und Deutsch als Zweitsprache (DaZ) werden zwei unterschiedliche Kontexte für das Deutschlernen gekennzeichnet: DaF bezeichnet einen nicht-deutschsprachlichen Kontext (z. B. ein türkisches Kind lernt Deutsch in der Schule in der Türkei), DaZ einen Kontext mit Deutsch als Verkehrssprache (ein Kind mit türkischem Migrationshintergrund lernt Deutsch in Deutschland). Einen Überblick über Lehren und Lernen bei DaZ geben u. a. Kniffka und Siebert-Ott (2012).

7     Ich begrenze den Altersbereich auf das Kindesalter (Geburt bis zur Pubertät), wiewohl klar ist, dass Erziehung und Bildung auch danach und bis ins hohe Alter stattfinden, getreu dem Volksmund »Man wird so alt wie eine Kuh und lernt doch immer noch dazu«. Klein- und Vorschulkinder sind darüber hinaus deutlich aufnahmefähiger und effektiver beim Lernen (s. z. B. Pauen, 2012).

8     Sehr lesenswerte Beispiele bieten die Arbeiten von Gottlob Kleine-Moritz aus dem Institut für Angewandte Zweckforschung (1985, 1992, 2004), von August Gloi-Hänsle (2003, 2008, 2016), das von Theo Herrmann herausgegebene Werk »Dichotomie und Duplizität« (1974) oder das 1990 von Gunthard Weber und Fritz Simon herausgegebene Werk »Carl Auer: Geist oder Ghost: Merkwürdige Begegnungen / Strange Encounters«.

9     »Manchmal, ja manchmal könnte es sogar passieren, dass uns Ironie oder gar Humor zwischen die Zeilen gerät. Seien Sie also gewarnt« (Breitenbach & Stiehler, 2016).

1          Zur Notwendigkeit von Früher Bildung und Erziehung

 

 

Die frühkindliche Bildung ist eine, wenn nicht die wichtigste und beste Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft. Heidelberger Erklärung zur Frühkindlichen und Elementarbildung (2008)

Die Relevanz von Erziehung und Bildung sowohl für die individuelle als auch für die gesellschaftliche Entwicklung ist unstrittig (image Kasten 1; s. auch Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina e. V. et al., 2014).

Kasten 1: Frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung: Grundpfeiler für den Aufbau besserer und gerechterer Bildungssysteme

In einer Zeit nie dagewesener Herausforderungen ist es von entscheidender Bedeutung, allen unseren Kindern durch die Gewährleistung einer hochwertigen frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) einen guten Start zu ermöglichen. Die umfassenden Vorzüge einer frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung werden zunehmend anerkannt und reichen von wirtschaftlichen Vorteilen für die Gesellschaft insgesamt bis hin zu besseren schulischen Leistungen des Einzelnen. Die Ergebnisse internationaler Schülerleistungsstudien (PISA (OECD) und IGLU (IEA)) belegen, dass Kinder und Jugendliche in den Bereichen Leseverständnis und Mathematik bessere Leistungen erzielen, wenn sie eine FBBE-Einrichtung besucht haben. Die Forschungsarbeiten legen zudem den Schluss nahe, dass das Angebot einer hochwertigen FBBE die öffentlichen Ausgaben des Sozial-, Gesundheits- und auch des Justizsystems verringern kann. Eine hochwertige FBBE bildet ein starkes Fundament für ein erfolgreiches lebenslanges Lernen und kommt daher insbesondere benachteiligten Kindern zugute. Die FBBE bildet somit einen Grundpfeiler für den Aufbau besserer und gerechterer Bildungssysteme. (Europäische Kommission, 2014, S. 3)

Gerade vor dem Hintergrund des aktuellen Populismus, den damit verbundenen Simplifizierungen und Lügen (dem Zeitalter des »Postfaktischen« bzw. der »alternativen Fakten«) erscheint es dringlicher denn je, »auf die Karte Bildung zu setzen«. Nur viele mündige, d. h. zur Reflexion fähige Bürgerinnen und Bürger können der aktuellen Gefahr einer Abschaffung demokratischer Strukturen am ehesten begegnen – und »wählen nicht ihre eigenen Schlächter«10.

Zu Recht hört man daher seit Jahrzehnten »Kinder sind unsere Zukunft«, insbesondere verstärkt nach dem »PISA-Schock« (s. u.) – und wenn es um den Wirtschaftsstandort Deutschland geht, der auch in Zukunft erhalten bleiben soll. Eine »Investition in die Zukunft« bringt die größte Rendite, wenn diese in der Frühen Bildung geschieht: Ein dort investierter Euro hätte eine Rendite von 1 : 12, ein Euro in den tertiären Bildungsbereich nur von 1 : 3, so Jürgen Kluge11 2008 in Heidelberg12. Unter der Zukunftsperspektive für eine Gesellschaft ist es demnach lohnenswert, sich mit Früher Bildung intensiver zu beschäftigen und sie tatsächlich nicht nur zu einem relevanten Thema, sondern zu einem festen Bestandteil im politischen Handlungsfeld zu machen.

Neben dem quantitativen Ausbau der zur Verfügung stehenden Plätze für Kinder sind allerdings auch qualitativ Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Wert der Frühen Bildung auch für die dort beschäftigten Fachkräfte mit der wohl anspruchsvollsten und komplexesten Bildungsarbeit sichtbar macht. Eine Wertsteigerung könnte dazu beitragen, dass möglichst viele der Besten eines Jahrganges, die sich für einen pädagogischen Beruf entscheiden, die Frühe Bildung wählen (Schöler, 2009).

Für eine bessere Bewertung der Arbeit in der Frühen Bildung wäre eine Akademisierung eine der notwendigen Voraussetzungen – und zwar eine Akademisierung aller pädagogischen Berufe in frühkindlicher Bildung und Erziehung. In nahezu13 allen anderen pädagogischen Lehrberufen (von der Grundschule bis zum Gymnasium) ist in Deutschland eine Hochschulausbildung erforderlich und wird auch bereits am Beginn des 21. Jahrhunderts von der OECD (2004) dringend für Deutschland empfohlen – übrigens ein Standard in anderen europäischen Ländern:

189. Gemessen an europäischen Standards findet die Ausbildung der deutschen Beschäftigten in der FBBE auf niedrigem Niveau statt. Deutschland und Österreich sind die einzigen Länder Westeuropas, in denen keine nennenswerte Präsenz von Beschäftigten in der Kindertagesbetreuung mit einer grundlegenden Hochschulausbildung zu verzeichnen ist. Über die Unangemessenheit der derzeitigen Ausbildung besteht allgemein Einigkeit, was daran ersichtlich ist, dass vermehrt gefordert wird, die Ausbildung auf eine höhere Ausbildungsebene zu verlagern, und dass in mehreren Ländern Reformen beschlossen wurden, die allerdings eine Anhebung der Ausbildungsebene nicht vorsehen.

190. Welchen Kurs man auch einschlägt, eine Erhöhung der Personalkosten könnte langfristig unvermeidlich sein, um einer Höherstufung der Ausbildung Rechnung zu tragen und eine ausreichende Personalbeschaffung zu sichern. Der Einwand, dass eine verbesserte Rekrutierung und Ausbildung zu hohe Kosten nach sich ziehen, ist langfristig nicht haltbar. In anderen OECD-Ländern hat man Kosten-Szenarios entwickelt, die im Wesentlichen ergaben, dass, wenn hohe Qualität gewünscht wird, eine Aufwertung der Beschäftigten erforderlich ist, um verbesserte Entwicklungs- und Lernergebnisse für die Kinder über das ganze System hinweg zu erzielen. (…) Dies hätte weitere Vorteile: es käme einer gleichberechtigten Beziehung zwischen FBBE-Einrichtungen und Schulen zugute; würde die Beschäftigten für weitere Ausbildungen qualifizieren sowie eine akademische Präsenz und Forschungspräsenz für die FBBE im Hochschulsektor sichern. Uns ist klar: Die Verantwortung für die Ausbildung liegt ausschließlich bei den Ländern. Trotzdem ist dies wiederum ein Bereich, der sich als Gegenstand einer vom Bund angeführten Initiative anbietet, wobei verschiedene Modellprojekte gefördert und bewertet werden könnten, um den besten Weg oder die besten Wege in die Zukunft zu finden. (OECD, 2004, S. 72)

Die im letzten Jahrzehnt entwickelten Bachelor-Studiengänge an Fachhochschulen und Universitäten sind zwar eine erste Grundlage, genügen aber nicht, um diese Wertsteigerung tatsächlich erreichen zu können.14 Denn eine Gleichstellung mit anderen pädagogischen Fachkräften im Bildungssystem (z. B. den Gymnasiallehrkräften) kann damit wohl kaum erreicht werden. Eine Akademisierung könnte auch dazu beitragen, dass Wertschätzung für die Frühe Bildung und die in diesem Bereich beschäftigten Lehrkräfte nicht nur ein Lippenbekenntnis bleibt, sondern sich sowohl auf deren Konto als auch in deren Interaktion mit anderen Fachkräften bemerkbar macht, »mit denen dann – wie es so schön heißt – auch eher eine »Kommunikation auf Augenhöhe« gelingt« (Schöler, 2009).15,16

Warum wird in der deutschen Bildungspolitik nun schon so lange darüber diskutiert, ohne aber wirklich nennenswerte Veränderungen in Gang zu setzen? Alleine der für Bildung unvorteilhaften Länderhoheit (image Kap. 13.1) kann dies doch nicht alleine angelastet werden.

1.1       Wertigkeit der Frühen Bildung und Gesellschaftssystem

Unterschiedliche Gesellschaftssysteme zeichnen sich dadurch aus, dass der Erziehung und Frühen Bildung sehr unterschiedliche Bedeutung beigemessen wird und diese mehr oder weniger gezielt durch entsprechende staatliche Erziehungs- und Bildungsinstitutionen fördern – oder eben nicht. So hatten Erziehung und Bildung in der DDR einen deutlich höheren Stellenwert.17 Die Frühe Bildung wurde staatlich reguliert, und die Fachwissenschaften waren in die Vorstellungen und Überlegungen zur Erziehung und Bildung eingebunden.18 Die in der DDR erschienenen Entwicklungspsychologie-Lehrbücher waren allerdings – sofern man die Verlautbarungen der SED-Parteitage, die in jedem Buch am Anfang standen, überblätterte – für westdeutsche Studierende nicht nur billiger, sondern durchaus lesens- und bedenkenswert. Nach der Wende haben einige der führenden Vertreterinnen und Vertreter aus Entwicklungspsychologie und Erziehungswissenschaft ein Buch mit dem Titel »Dem Kinde zugewandt – Überlegungen und Vorschläge zur Erneuerung des Bildungswesens« (1991) publiziert, das nach meinen Recherchen kaum wahrgenommen wurde. Durch den Zusammenbruch des Systems versuchten diese Fachvertreter/-innen »ehrlich, offen und glaubwürdig« ihre Rolle in der DDR aufzuarbeiten und zu dokumentieren:

Jeder Beitrag ist ein Stück individueller Aufarbeitung von DDR-Vergangenheit. Denn wir alle waren verstrickt in die komplizierte Dialektik von Mittäterschaft, Mitläufertum und Opferposition – mit individuell unterschiedlichen Gewichten dieser drei Komponenten. Diese Verstrickung ist eine Quelle von Antrieben und Motiven, zur Erneuerung in uns und außerhalb von uns zu gelangen, Schuld und Scham, latenter Groll und abgestreifte Unterdrückung haben das ihrige bewirkt. (Schmidt, Schaarschmidt & Volkhard, 1991, S. V)

Warum erwähne ich dieses Buch an dieser Stelle? Die Fachvertreterinnen und -vertreter der DDR waren gezwungen, inne zu halten und über ihre bisherigen Theorien, über Bildung und Erziehung nachzudenken, denn das Gesellschaftssystem war gescheitert und damit konnte auch die staatlich regulierte Erziehung und Bildung wohl nicht erfolgreich gewesen sein. In der ehemaligen DDR wurde z. B. flächendeckend ein Netz frühkindlicher Institutionen wie Krippen etabliert, um zum einen die Kinder früh im Sinne der gesetzten gesellschaftlichen Werte zu erziehen und zu bilden nach dem Motto »Wem die Kinder gehören, dem gehört die Zukunft«, zum anderen, um die Frauen nach der Geburt eines Kindes wieder schnell in den Arbeitsprozess integrieren zu können.

In der christlich geprägten Bundesrepublik galt ein anderes Familienbild: Dementsprechend stand die Frau »am Herd«, zog die Kinder auf und sorgte dafür, dass es dem Mann wohl ergeht, damit seine Arbeitskraft als Familienernährer erhalten blieb.19 Bis 1977 konnte daher auch der Mann darüber entscheiden, ob seine Frau »arbeiten gehen«20 durfte oder nicht.

Das Bürgerliche Gesetzbuch schrieb es vor: Wollte eine Frau arbeiten, musste das ihr Ehemann erlauben. Erst 1977 wurde das Gesetz geändert. Bis 1. Juli 1958 hatte der Mann, wenn es ihm beliebte, den Anstellungsvertrag der Frau nach eigenem Ermessen und ohne deren Zustimmung fristlos kündigen können. In Bayern mussten Lehrerinnen zölibatär leben wie Priester – heirateten sie, mussten sie ihren Beruf aufgeben. Denn sie sollten entweder voll und ganz für die Erziehung fremder Kinder zur Verfügung stehen. Oder alle Zeit der Welt haben, um den eigenen Nachwuchs zu hegen. (Riedel, 2012)

1.2       Frühe Bildung, Chancen- und Bildungsgerechtigkeit

Die Erziehung und Bildung der Kinder bis zum Schuleintrittsalter war in der BRD also Privatsache, was im Übrigen leider auch dazu führte, dass die Bildungschancen in Abhängigkeit vom Sozialmilieu21 erheblich variierten – übrigens auch heute noch (z. B. Solga & Dombrowski, 2009; image Kasten 2 u. 6).22

Bildung ist in unserer Gesellschaft eine wichtige Determinante für individuelle Lebenschancen, Selbstverwirklichung, beruflichen Erfolg sowie soziale, politische und kulturelle Teilhabe. Bildungsarmut verwehrt einem diese Partizipationschancen. Gering Qualifizierte sind besonders häufig von Arbeitslosigkeit betroffen – und wenn sie erwerbstätig sind, dann zumeist in prekären Arbeitsverhältnissen mit geringer Arbeitsplatzsicherheit, niedrigem Lohn, mangelndem Kündigungsschutz und hohen gesundheitlichen Belastungen. Bildung bzw. Bildungs(miss)erfolg ist damit eine der zentralen Determinanten der intragenerationalen Kumulation sozialer Ungleichheiten im Lebensverlauf.

Zugleich wird mit jeder Veröffentlichung von PISA- oder IGLU-Ergebnissen immer wieder gezeigt, dass der Lernerfolg in Deutschland – ausgeprägter als in vielen anderen Ländern – sehr stark von der sozialen Herkunft abhängt. Gering Qualifizierte werden damit bereits früh im Lebensverlauf – d. h. bereits im Bildungssystem – aufgrund ihrer Herkunft benachteiligt. Als gering qualifizierte Eltern sind sie selbst wiederum Ausgangspunkt (nicht Ursache!) sozialer Benachteiligungen für ihre Kinder. Letzteres stellt die intergenerationale Reproduktion sozialer Ungleichheit dar.

Dieser Teufelskreis von intra- und intergenerationaler Reproduktion von sozialen Ungleichheiten und Bildungsungleichheiten ist in den letzten Jahrzehnten nicht einmal ansatzweise aufgebrochen worden. (Solga & Dombrowski, 2009, S. 7)

Kasten 2: Bildung »un« Gerechtigkeit

Bildung und Gerechtigkeit. Diese beiden Aspekte gehören zu jeder demokratisch-sozialen Gesellschaft. Schiebt sich »un« dazwischen, droht ein Auseinanderbrechen eben dieser Gesellschaft. (Yilmaz, 2016, S. 66)

Das Recht auf Teilhabe an Bildung steht in einem skandalösen Zusammenhang mit dem Milieu, dem kulturellen und finanziellen Kapital der Eltern, mit der Herkunft. Wo bleibt da die Menschenwürde? Wo bleibt das Verfassungsprinzip der Gleichberechtigung? (Yilmaz, 2016, S. 12)

Und dieser Trend bleibt bestehen, wie auch wieder jüngste Daten des Statistischen Bundesamtes (2016a) bestätigen: Danach besuchen z. B. 62,5 % der Kinder von Eltern mit Fachhochschul- oder Hochschulreife ebenfalls ein Gymnasium, aber nur 7,2 % der Kinder von Eltern mit einem Haupt-/Volksschulabschluss (s. auch Geuer, 2017; Statistisches Bundesamt, 2016b).

In ihrer Untersuchung gingen die Statistiker auch der Frage nach, wie gut die Chancen von Generation zu Generation sind, eine bessere Bildung zu erlangen. Das Ergebnis für Deutschland ist ernüchternd: »Bildungsmobilität ist kaum gegeben«, sagt der Präsident der Behörde, Dieter Sarreither. So hatten im Jahr 2011 42 Prozent der 25- bis 59-Jährigen mit niedrigem Bildungsabschluss auch Eltern mit entsprechenden geringen Qualifikationen. Bei den Hochgebildeten kamen nur sechs Prozent aus einem niedrig gebildeten Elternhaus. (Öchsner in Süddeutsche Zeitung vom 29. Juli 2016, S. 6)

Erst ab 1998 gehörte Bildung auch zum Aufgabenbereich einer Kindertageseinrichtung, bis dahin waren lediglich Betreuung und Erziehung Aufgabenfelder im Elementarbereich. Auch heute ist es weiterhin in der BRD, und nun auch in den neuen Bundesländern, Privatsache, ob man sein Kind in einer Kindertageseinrichtung (KiTa) anmeldet oder nicht. Zwar gibt es mittlerweile in allen Bundesländern Curricula (Bildungs- oder Orientierungspläne), aber zum einen sind diese für die Träger nicht verpflichtend, und zum anderen kann jeder eine KiTa aufmachen, der die Erfordernisse für eine Betriebserlaubnis erfüllt (gemäß § 45 SGB VIII). Eine hoheitliche und damit vereinheitlichte Trägerschaft, wie sie ansonsten im Bildungssystem – zumindest für die Mehrzahl der Einrichtungen – besteht, gibt es nicht.23 Bei vielen Trägern müssen sich die Eltern durch Unterschrift verpflichten, nicht nur die Regeln und Werte des jeweiligen Trägers anzuerkennen, sondern auch zulassen, dass ihre Kinder nach diesen Regeln, Werten und Dogmen erzogen und gebildet werden. So unterliegen die KiTas von Religionsgemeinschaften als Tendenzbetriebe24 nicht den üblichen gesellschaftlichen Regularitäten und Auflagen: »Dieses Gesetz findet keine Anwendung auf Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen unbeschadet deren Rechtsform« (§ 118 Abs. 2 BetrVG). Ist – wie immer in »Sonntagsreden« behauptet wird – Frühe Bildung ein integraler Bestandteil des Bildungssystems, dann wird diese hoheitliche Aufgabe von unseren zuständigen staatlichen Institutionen nicht angenommen.

Was wäre, wenn … in einem Dorf nur eine islamische KiTa existieren würde?

In dem 2.000-Einwohner-Dorf, in dem ich viele Jahre wohnte, gab es nur eine einzige KiTa. Meine Kinder haben diese katholische Einrichtung besucht und zwar aus verschiedenen Gründen: Unter anderem hätten sie ihre Klassenkameradinnen und -kameraden erst in der Schule kennengelernt, denn das Dorf besaß eine einzügige Grundschule; Stigmatisierungen wären wahrscheinlich gewesen; alleine die Fahrt in einen anderen Ort ohne öffentliche Verkehrsmittel wäre ein täglicher, nicht zu organisierender Aufwand gewesen. Als Elternteil musste ich unterschreiben, dass meine Kinder im katholischen Glauben erzogen werden, und akzeptieren, dass dies auch intensiv versucht wurde.25 Würde eine solche Situation akzeptiert, wenn in einem Dorf nur eine (gar fundamentalistisch orientierte) muslimische KiTa existieren würde?

Zusätzlich zur oben genannten Chancenungerechtigkeit wird damit einer weiteren Bildungsungerechtigkeit sozusagen Tür und Tor geöffnet. Die durch staatliche Institutionen nicht übernommene hoheitliche Aufgabe in der Frühen Bildung führt zu Bildungsungerechtigkeit, da nicht – wie in den anderen Bildungsbereichen – gewährleistet wird, dass das betreffende Curriculum für alle Einrichtungen verpflichtend ist und überprüft wird. Denn ein Curriculum entspricht dem gesellschaftlichen Konsens26 über die Bildungsziele in einem bestimmten Alter: Ein solches Curriculum bestimmt die vom Kind zu erwerbenden Kompetenzen und zu erreichenden Bildungsziele. Besteht keine Verbindlichkeit bzgl. dieser Bildungsziele, kann jeder KiTa-Träger seine Bildungs- und Erziehungsaufgaben so interpretieren, wie er es will.27 Damit ist in keiner Weise ausgeschlossen,28 dass man private Institutionen als »Surplus« (und damit als Alternative) einrichten kann. Dies geschieht auf allen Ebenen unseres Bildungssystems, aber eben als Surplus. Ein gesellschaftlich als notwendig erkanntes und bestimmtes Curriculum muss nämlich auch von einer privaten Einrichtung umgesetzt werden – und wird von staatlicher Seite überprüft. Soll beispielsweise ein Kind über die in staatlichen Institutionen gesetzten Bildungsziele hinausgehend differenziertere Angebote im musisch-ästhetischen Bereich wahrnehmen, können Eltern das Kind in eine private Institution einschulen lassen, in der solche Bildungsinhalte vermutlich intensiver angeboten werden, wie z. B. in einer Waldorfschule. Damit ist aber gleichzeitig gewährleistet, dass auch die staatlich gesetzten Bildungsziele erreicht werden müssen (z. B. beim Hauptschulabschluss oder beim Abitur).

Eine Verbindlichkeit der Bildungs- und Orientierungspläne für alle Einrichtungen im Elementarbereich ist bislang meist gescheitert, so auch in Baden-Württemberg, wo ich diese Diskussion über Jahre in Beratungsgremien mitverfolgen durfte. Bei den Diskussionen um eine verbindliche Umsetzung des Orientierungsplans habe ich einige Male die Vertreter/-innen der vier großen christlichen Kirchen in Baden-Württemberg (ev. und kath. Kirche jeweils in Baden und in Württemberg) dagegen argumentieren hören. Die Position, dass Bildungsgerechtigkeit nur durch Verbindlichkeit eines gesellschaftlich allgemein anerkannten Curriculums erreicht werden könnte und daher die Übernahme der hoheitlichen Aufgabe der Bildung im Interesse der Länder sein müsse, wurde meist simpel mit der Argumentation zurückgewiesen, es bedürfe der Vielfalt der Einrichtungen – wenn dies nicht mal eher einfältig war. Hier überlässt der Staat seine hoheitliche Aufgabe der Bildung und der Herstellung von Bildungsgerechtigkeit ohne Not29 privaten Trägern, wie vor allem den Religionsgemeinschaften.30 Meines Erachtens läuft der Staat dadurch zukünftig Gefahr, bei den immer zahlreicher werdenden Religionsgemeinschaften, die ähnliche Ansprüche stellen könnten, immer mehr die Bildungsziele einer demokratischen Gemeinschaft aufzugeben.31

Kasten 3: Warum ist die frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung (FBBE) in Deutschland meist keine öffentliche Dienstleistung?

Bei der Finanzierung der FBBE bestehen signifikante Unterschiede zwischen den europäischen Bildungssystemen. Viele Länder betrachten die FBBE als wesentliche öffentliche Dienstleistung und stellen staatliche Mittel in beträchtlicher Höhe bereit. Einige Länder überlassen das FBBE-Angebot für jüngere Kinder (unter drei Jahren) dem Privatsektor und erwarten, dass die Eltern sämtliche Kosten für diese Dienstleistungen tragen, während in anderen Ländern unter Umständen bereits sehr kleine Kinder kostenlos eine FBBE-Einrichtung besuchen können. (Europäische Kommission, 2014, S. 11)

Für mehr Bildungs- und Chancengerechtigkeit ist Frühe Bildung notwendig als hoheitliche öffentliche Aufgabe zu etablieren (image Kasten 3). Warum wird der tertiäre Bildungsbereich in hohem Maße staatlich subventioniert, der Zugang zu staatlichen Universitäten ist nahezu unentgeltlich, während der Zugang zum unstrittig hochrelevanten und als grundlegend bewerteten Bereich der Frühen Bildung teilweise enorme private Belastungen nach sich zieht? (image Kasten 4).

Kasten 4: Kinder sind unsere Zukunft

Kinder sind unsere Zukunft – dieser Satz wird durch die moderne Entwicklungspsychologie, durch Studien von Wirtschaftswissenschaftlern und Hirnforschern klar untermauert. In keiner Phase des Lebens ist der Mensch mehr auf andere Menschen angewiesen als in der frühen Kindheit. Weil frühe Erfahrungen nachhaltige Effekte auf die Gestaltung des weiteren Lebenswegs haben, liegt eine große Verantwortung in unseren Händen. Folglich muss die Politik sich um günstige Rahmenbedingungen für die Gestaltung der ersten Lebensjahre kümmern. Nutzt sie diesen Einfluss in positiver Weise, so kann sie höchst effizient für mehr Chancengleichheit, Produktivität, Gesundheit und sozialen Frieden in der Gesellschaft sorgen. (Pauen, 2012, S. 4)

1.3       Sputnik, PISA und die Frühe Bildung

Ein erstes Umdenken in den sog. westlichen, christlich geprägten Industrieländern (Westeuropa und USA) bzgl. der Relevanz einer Frühen Bildung erfolgte 1957 nach dem »Sputnik-Schock« (image Kasten 5). Man konnte es nicht ertragen, dass ein planwirtschaftliches System in der Technologie-Entwicklung überlegen war, anscheinend höhere Intelligenzleistungen hervorbrachte und zuerst einen Satelliten in eine Erdumlaufbahn schicken konnte. In der Folge wurden u. a. Bildungsprogramme fürs Vorschulalter aufgelegt, »Bildungsreserven« sollten besser ausgeschöpft werden. Ein Überbleibsel aus dieser Zeit ist z. B. die TV-Serie »Sesamstraße«, mit der man Bildung für Vorschulkinder auch ins private Wohnzimmer transportieren wollte. Auch in der BRD wurde das Erziehungs- und Bildungssystem massiv kritisiert, Georg Picht (1964) sprach von einer Bildungskatastrophe, durch die mangelhafte Bildung sah Ralf Dahrendorf (1965) sogar die Demokratie gefährdet. Im Rahmen eines von der Stiftung Volkswagenwerk finanzierten Forschungsprogramms CIEL (Curriculum institutionalisierte Elementarerziehung; Bennwitz & Weinert, 1974; Garlichs, Knab & Weinert, 1983) wurden Anfang der 1970er Jahre Vorschulprogramme beispielsweise zur kompensatorischen Sprachförderung, zum Frühlesen und Frühschreiben entwickelt.32