Louis Weinert-Wilton

Der Skorpion

(1939)

 

 

 

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5

Inspektor Sharp war kaum in den Empfangsraum geleitet worden, als auch schon die beiden Damen in erwartungsvoller Eile erschienen.

Die Frau des Hauses gab diesen Erwartungen sofort in lebhafter Weise Ausdruck. „Ich hoffe, daß Sie die gefährliche Diebsbande endlich gefaßt haben und uns unsern Schmuck bringen“, sagte sie noch im Hereinrauschen mit einem Organ, das ebenso voll und dunkel war wie ihre ganze Erscheinung. Sie sprach mit einem starken fremdländischen Akzent, war aber dafür bemüht, ein vornehm gespreiztes Englisch zum besten zu geben.

„So weit ist es leider noch nicht ...“, setzte der Inspektor vorsichtig an, und Mrs. Ellis war über diese Einleitung so enttäuscht, daß sie ihm bereits ins Wort fiel.

„Was? – Noch immer nicht?? – Das kann ich nicht verstehen. Nachdem nun schon so viele Wochen verstrichen sind, hätte die Polizei doch bereits etwas ausrichten müssen, wenn sie sich, wirklich ernstlich bemüht hätte. Im Hause meines Vaters, des Gouverneurs, wurde sehr oft von Scotland Yard gesprochen, und nach allem, was ich damals gehört hatte, nahm ich an, daß ich meine Juwelen schon nach wenigen Tagen wieder zurückbekommen würde. Aber nun sieht es fast so aus, als ob ich mich mit dem Verlust abfinden müßte. – Das werde ich jedoch nicht tun. Ich werde den Polizeipräsidenten aufsuchen und mich beschweren, daß die Untersuchung offenbar nicht energisch und geschickt genug geführt wird ...“

Mrs. Ellis hatte ihrem Unmut und ihrer Sorge mit solchem Eifer Ausdruck gegeben, daß sie etwas Atem schöpfen mußte, und Mrs. Reed, ihre Leidensgefährtin, benützte diese Pause, um ihre Anteilnahme am Gespräch durch ein leises Kichern zu bekunden. Es war zwar kein Grund dazu vorhanden, aber die nicht mehr ganz junge, jedoch immer noch sehr hübsch aussehende hochblonde Witwe war stets und ausschließlich auf gute Laune eingestellt. In ihrem nichtssagenden Puppengesicht stand ewig ein Lächeln, mit dem sie ihre etwas schwerfällige Unterhaltungsgabe wettzumachen suchte. Sie sprach nämlich sehr wenig, und wenn sie sich doch einmal zu einer Bemerkung aufschwang, fiel diese meist erschreckend einfältig aus.

Inspektor Sharp wurde durch die fatale Bemerkung der temperamentvollen Mrs. Ellis und den ganz unverständlichen Heiterkeitsausbruch der schweigsamen Mrs. Reed noch nervöser, als er ohnehin schon war. So eine Beschwerde beim Polizeipräsidenten fehlte ihm gerade noch, wo der Chefkonstabler ohnehin bereits so gut auf ihn zu sprechen war. Da konnte er sehr leicht kaltgestellt werden, bevor er noch dazu kam, sich für seinen plötzlich aufgetauchten Verdacht, der ihn vielleicht mit einem Schlage ans Ziel brachte, die Beweise zu beschaffen. Dieser Gedanke und noch ein anderer Umstand ließen ihn die gebotene Vorsicht vergessen, und er wurde auffallend barsch.

„Diese Bemühung können Sie sich ersparen, Mrs. Ellis. Die Geschichte wird nun nicht mehr lange dauern. Ich möchte nur noch einige Fragen an Sie und Mrs. Reed richten.“

Mrs. Reed bekundete durch ein verstärktes liebenswürdiges Lächeln, daß ihr dies ein besonderes Vergnügen bereiten werde, die Frau des Hauses aber zeigte sich darüber gar nicht erfreut.

„Noch einige Fragen ...“, echote sie, und schon der Tonfall allein verriet, was sie davon hielt. „Als ob man uns mit diesen unnützen Fragereien nicht schon genug gequält hätte. Statt daß Sie uns arme Opfer fortwährend aufregen, sollten Sie lieber energischer hinter den Dieben her sein.“

Die heitere Witwe kicherte wiederum zustimmend, und Inspektor Sharp würgte, als ob ihm etwas in den langen, dünnen Hals geraten wäre.

„Haben Sie keine Sorge, das geht alles in einem“, brachte er endlich hervor, und in seinem gelben Geiergesicht malte sich so etwas wie ein giftiges Lächeln. „Sie sind erst ungefähr anderthalb Jahre in London, nicht wahr, Mrs. Ellis?“

Die Frau des Hauses fand, daß diese unvermittelte Frage absolut nicht zur Sache gehörte, und zeigte wenig Lust, mit diesem Besucher gewöhnliche Konversation zu machen.

„Ja“, sagte sie kurz, aber der Inspektor verstand den Tonfall offenbar nicht, denn er setzte neugierig fort:

„Und woher kamen Sie?“

„Wir waren fast ununterbrochen auf Reisen“, erklärte Mrs. Elvira noch um einen Grad befremdeter und abweisender. „Ellis hat geschäftliche Beziehungen in aller Welt, die das notwendig machten. Dazwischen verbrachte ich immer einige Monate bei den Verwandten meines verstorbenen ersten Gatten, der Familie de Aguiar y Conde Montenor“ – die dunkle Stimme ließ den vornehmen Namen noch ehrfurchtgebietender klingen – „und im Hause meines Vaters, des Gouverneurs.“

Sharp war von dieser Auskunft sichtlich beeindruckt, denn er brachte sekundenlang kein Wort hervor, sondern knöpfte unschlüssig seinen engen Überrock auf und dann wieder zu.

„Eines englischen Gouverneurs?“ fragte er endlich.

„Eines portugiesischen“, erwiderte Mrs. Ellis mit Nachdruck und einer Handbewegung, die für England nicht gerade schmeichelhaft war. „In unseren afrikanischen Gebieten. – Don Pedro de Aguiar, mein erster Gatte, war sein Adjutant. Er ist vor einigen Jahren in einem Kampfe mit wilden Eingeborenen gefallen ...“

Nachdem er in seiner Wißbegierde einen so schmerzlichen Punkt berührt hatte, war der Inspektor so rücksichtsvoll, die erschütterte Frau sich etwas fassen zu lassen.

„Und Sie, Mrs. Reed?“ fragte er. „Wo lebten Sie früher, und wann kamen Sie nach London?“

„Oh, wir lebten sehr weit“, sprudelte die Witwe vergnügt los. „In Queensland – das ist ein Teil von Australien. Mein Mann hatte dort eine große Farm mit einer Menge von Schafen wegen der Wolle. Er ist jedoch auch schon tot, aber er wurde nicht von wilden Eingeborenen erschossen, sondern es war Typhus. Und dann bin ich im Herbst sofort nach England gereist, weil mir Bekannte sagten, daß es hier viel schöner wäre. Es gefällt mir auch wirklich viel besser hier.“

Mrs. Reed bekräftigte dies noch durch ein wohliges Auflachen, Sharp aber saß mit schiefem Kopfe und sah drein wie ein nachdenklicher Kakadu. Mit den dürftigen Auskünften, die er erhalten hatte, war wenig anzufangen, und er überlegte, ob er nicht noch etwas neugieriger werden sollte. Aber er kam davon ab. Er hatte das Gefühl, daß diese angriffslustige Mrs. Ellis und auch diese Mrs. Reed mit ihrer albernen Heiterkeit ganz besonders vorsichtig behandelt sein wollten – wenn er mit seinem Verdachte auf der richtigen Spur war. Weder die eine, noch die andere schien ihm geheuer, denn sowohl der portugiesische Gouverneur und sein Adjutant, wie der australische Viehzüchter waren etwas dunkle Persönlichkeiten. Da war es vielleicht gut, zunächst bei den betreffenden Konsulaten einige Erkundigungen einzuziehen.

Diese Sache eilte dem Inspektor so, daß er der Unterredung, bei der es bisher noch nicht um eine einzige Frage von Wichtigkeit gegangen war, ein recht sonderbares Ende bereitete.

„Danke“, sagte er, indem er unvermittelt auf schnellte und an seinem zu engen Überrock zerrte. „Ich glaube, daß wir über den Verbleib Ihres Schmuckes nun bald im klaren sein werden.“

2

Mr. William Ellis machte sich nach dem zweiten Frühstück auf den Weg, um sich mit seinem Vertrauten und Teilhaber Iwan Karenowitsch in einer sehr dringlichen und heiklen Angelegenheit zu beraten. Er hatte heute einen Brief erhalten, dessen Inhalt höchst bedenklich lautete und einen raschen Entschluß forderte; und überhaupt sahen die Dinge so verdammt übel aus, daß man sich darüber wieder einmal gründlich aussprechen mußte.

Mr. Iwan Karenowitsch führte auf seinen gediegenen Besuchskarten vor seinem Namen ganz bescheiden den Titel „Konsul“, und der Aufschlag seines vollendet sitzenden Fracks war bei größeren gesellschaftlichen Anlässen immer mit einer ansehnlichen Ordenskette geziert. Das erhöhte den vornehmen Eindruck, den der schlanke, kaum vierzigjährige Mann mit dem exotischen Gesicht machte, und man munkelte, daß der elegante Konsul auf die Herzen und die Tugend der Frauen geradezu verheerend wirkte.

Diese Gefahr bestand bei seinem Freunde Ellis nicht, denn man konnte diesem weder äußere Vorzüge, noch ein gewinnendes Wesen nachsagen. Seine grobschlächtige Erscheinung erinnerte stark an einen Menschenaffen, und auch die plattgedrückte Nase, der breite wulstige Mund und die abstehenden fleischigen Ohren paßten ganz zu diesem Bild.

Er hatte nicht weit zu gehen, denn Karenowitsch bewohnte in unmittelbarer Nähe ein kleines Haus, das den Vorteil ziemlicher Abgeschiedenheit hatte. Da der lebenslustige Junggeselle nach seinen vergnügten Nächten immer erst sehr spät aufzustehen pflegte, traf ihn Ellis noch im Morgenanzug und beim ersten Frühstück an.

Der Konsul war über den Besuch weiter nicht überrascht, denn sein Teilhaber pflegte sich häufig bei ihm einzustellen, weil man hier völlig ungestört war. Auch als der Mann sofort ein Blatt Papier aus der Tasche zerrte und grimmig auf den Tisch klappte, machte dies auf den Konsul keinen sonderlichen Eindruck. Er strich sich in aller Ruhe noch ein geröstetes Brötchen, und erst, als er einen Bissen in den Mund geschoben und einige Schlucke Tee nachgespült hatte, nahm er das Briefblatt auf und faltete es ohne sonderliche Eile auseinander.

Er las die wenigen Zeilen, ohne eine Miene zu verziehen, aber als er damit fertig war, standen seine dichten, schwarzen Brauen plötzlich hoch in der Stirn.

„Wesley???“ fragte er mit vorsichtig gedämpfter Stimme, und aus seinem Blick sprach außerordentliche Spannung.

Ellis unterbrach seinen aufgeregten Marsch durch das Zimmer und ließ sich krachend in einen der Klubsessel fallen. „Was könnte es denn sonst sein?“ krächzte er ebenso gedämpft zurück. „Der Bursche schreibt, daß er unterwegs zu dem Ding gekommen wäre – und er ist Seemann. Auch die Zeit könnte stimmen, denn wahrscheinlich ist er noch irgendwo herumgegondelt, bevor ihn der Teufel hierher gelotst hat.“ Er hieb mit der Hand abermals so heftig auf den Tisch, daß das Frühstücksgeschirr ins Wanken geriet. „Eine verdammte Schweinerei“, stieß er zwischen den schütteren Zahnstummeln hervor. „Da sitzen wir nun seit Monaten und lauern von Tag zu Tag, daß einem schier schon die Nerven reißen, und können uns nicht rühren, weil wir nicht wissen, woran wir sind – und dabei ist vielleicht alles schon längst erledigt. Wenn diese schmierige Wasserratte das Buch bloß gefunden oder gestohlen hätte, würde sie sich nicht getrauen, daraus Geld machen zu wollen. Sie muß ganz sicher sein, daß der Mann, dem es gehörte, ihr nicht mehr in die Quere kommen kann. – Aber was, zum Teufel, steht drin? Geht es um die Geschichten von drüben, von denen der gerissene Wesley trotz seiner ewigen Besoffenheit sicher manches aufgeschnappt hat, oder geht es um die Sache, die wir mit ihm hatten?“

Diese Frage war so schwerwiegend, daß sie Ellis alle Farbe aus dem Gesicht trieb, und auch Karenowitsch nagte eine lange Weile sehr nachdenklich an der Unterlippe.

„Du mußt dir den Burschen natürlich noch heute beibiegen“, unterbrach er endlich das Schweigen. „Wir können ihn mit dem Buch und dem, was er vielleicht sonst weiß, nicht noch länger herumlaufen lassen, ob es sich nun um das eine oder das andere handelt. Geht es aber wirklich um Wesley, müssen wir natürlich alle Einzelheiten genauestens erfahren. Wo und wie es geschehen ist – und was das Ende war. Du verstehst mich? Quetsche also diesen Paddy zunächst gründlich aus, und dann muß ihm der Mund gestopft werden. Wende dich an die Stelle, die uns der Mann in Soho empfohlen hat. Diese Leute sind geschickt, und wegen eines Matrosen wird es nicht viel Lärm geben. Und falls unser Plan wirklich geklappt hat, rücken wir sofort mit den Papieren heraus. Meine Leute warten schon darauf, und diese gefräßigen Engländer, die einfach alles schlucken möchten, können sich den Mund wischen.“

„Ich wünschte, es wäre schon so weit“, knurrte Ellis, indem er in eine dicke schwarze Zigarre biß und die Spitze kurzerhand auf den Tisch spuckte. „Die Dinge wollen mir nämlich gar nicht gefallen. Wir haben zwar schon ein paarmal den Kopf riskiert, aber dabei ist es immer rasch und glatt gegangen. Nicht so wie diesmal, wo wir seit mehr als einem Vierteljahr den Hals in der Schlinge haben und bis heute nicht wissen, ob wir nicht vielleicht drin hängenbleiben ...“

Der vierschrötige Mann ließ diesem bekümmerten Stoßseufzer noch einen saftigen Fluch folgen, der Konsul aber gähnte und schlug gelassen ein Bein über das andere.

„Du siehst aus, als ob du es mit der ganzen Hölle aufnehmen würdest“, sagte er mit einem wenig schmeichelhaften Blick, „hast aber das Herz immer gleich in den Hosen. – Damals mit dem Sternenschreck war es genau so.“

„Hör schon mit diesen alten Geschichten auf“, fauchte Ellis zurück. „Wir haben andere Sorgen. Wenn aus dem großen Geschäft nicht bald was wird, sitzen wir in ein paar Wochen auf dem Trockenen. Von den Blumen allein können wir nicht leben, und vielleicht wird das überhaupt bald aus sein. Die Leute drüben sind jetzt verdammt scharf dahinter her, und auch im Yard möchte man sich die feine Prämie gerne verdienen. Ich weiß das von dem Gentleman, den ich kennengelernt habe. Er schwatzt fortwährend davon und ist überhaupt“ – trotz seiner düsteren Stimmung brachte Ellis ein belustigtes Grinsen zustande – „ein sehr netter und unterhaltsamer Junge. Man braucht nur leicht anzutippen und kann aus ihm herausholen, was man will. Besonders wenn man ihn ein paar Pfund gewinnen läßt. Ich muß mich jetzt, wo die nächste Sendung bald fällig ist, wieder ein bißchen mehr um ihn kümmern.“

„Vor allem kümmere dich um den unbequemen Seemann“, sagte Karenowitsch bereits etwas ungeduldig, „und ich werde die Sache mit dem Mann im Pool nun in Schwung bringen. Wenn Wesley wirklich tot ist, können wir den andern endlich energischer anfassen. Weiß der Kuckuck, wie er das in der Eile angestellt hat. Er muß rein im letzten Augenblick irgendwie Lunte gerochen haben ...“

„Das Gute für uns ist, daß die Polizei glaubt, er wäre durchgegangen und säße schon längst irgendwo drüben“, bemerkte Ellis und fand dies so belustigend, daß er wiederum über das ganze Gesicht feixte, was ihn nicht hübscher machte.

Der Konsul nickte. „Darauf war ja auch alles angelegt. Besonders die Depesche nach der Schweiz war eine gute Idee. Die betreffende Person ist wirklich verschwunden und wartet offenbar irgendwo geduldig auf das Wort. Und auch das ist gut, denn wir werden sie vielleicht brauchen, um den verstockten alten Geldsack zum Reden zu bringen. Ich habe bereits ein verläßliches Detektivbüro beauftragt, sie auszuforschen. Durch die ,Times‘ wäre das zwar einfacher und billiger gewesen, aber es kann sein, daß die Polizei von dem Telegramm Kenntnis hat und noch immer scharf aufpaßt.“

„Zum Teufel“, platzte Ellis gallig heraus, „die sollte sich jetzt wahrhaftig um andere Dinge sorgen. Da wird unseren auf getakelten Frauenzimmern einem nach dem andern der sündhaft teure Tand direkt vom Leibe gezogen, und das tüchtige Yard, von dem so viel Wesens gemacht wird, ist auf einmal mit allen seinen Künsten zu Ende. Die Sache ist einfach ein Skandal, und das alberne Weib“ – damit meinte der höfliche Mann Mrs. Elvira Ellis – „ist in einer Laune wie des Teufels Großmutter, wenn dieser etwas über die versengte Leber gelaufen ist ...“

Er zerdrückte wütend den arg zerkauten Zigarrenstummel, aber dann schnitt er plötzlich wieder eine seiner scheußlichen Grimassen.

„Daran bist übrigens auch du mit schuld“, fuhr er fort. „Seitdem du dich bei uns so rar machst und dafür fortwährend um Mrs. Reed herumscharwenzelst, kocht es in ihr gewaltig.“ Das Lächeln des robusten Gentleman wurde noch anzüglicher. „Ich weiß nicht, ob sie sich darüber mit dir schon ausgesprochen hat, aber auf jeden Fall würde ich mich an deiner Stelle vor ihr gehörig in acht nehmen. Ein wenig kennst du sie ja auch, wenn auch noch lange nicht so genau wie ich.“

Konsul Karenowitsch, der die letzten verfänglichen Anspielungen mit der kühlen, verschlossenen Miene eines Mannes von Welt hingenommen hatte, warf einen deutlichen Blick auf die Uhr.

„Mein Lieber, ich muß mich nun ankleiden“, sagte er. „Spätestens um eins bin ich im Klub und warte dort auf dich. Sieh zu, daß alles glatt abläuft.“ Er erinnerte sich plötzlich an die neben ihm liegende noch uneröffnete Post und begann diese hastig durchzublättern, Ellis aber stellte sich schwerfällig auf die massigen Beine und strampelte die hochgerutschten Hosen herunter.

„Verdammte Scherereien“, machte er sich noch einmal Luft. „Für alle Fälle werde ich natürlich nun auch an Wesley schreiben, und dabei will jedes Wort gut überlegt sein ...“

Er nickte kurz und verdrießlich und hielt Karenowitsch die knochige Hand hin, aber dieser war noch immer mit seinen Briefschaften beschäftigt.

„Warte noch einen Augenblick“, sagte er. „Vielleicht ist darunter bereits eine Nachricht wegen der gewissen Person ...“

4

Kaum fünf Minuten, nachdem Ellis den Gang zu Karenowitsch angetreten hatte, war in seinem Hause wieder einmal Inspektor Sharp vorn Scotland Yard mit seinem kleinen Stabe, dem Assistenten Guy Denby und dem Sergeanten Huggins, erschienen.

Der Pförtner, der die Besucher bereits kannte, öffnete mit großer Beflissenheit die Gartentür.

„Mr. Ellis ist eben ausgegangen“, meldete er, „und Mrs. Ellis noch nicht aus der Stadt zurück. Sie dürfte aber nun jeden Augenblick kommen, da Mrs. Reed bei uns lunchen wird.“

„Mrs. Reed auch? – Gut, das erspart mir einen Weg. Wir werden also warten“, sagte der Inspektor mit seiner hohlen Stimme, die aus dem langen, dürren Halse wie aus einem Sprachrohr kam.

Der Türhüter schickte sich an, die Führung zum Hause zu übernehmen, aber Sharp lehnte ab.

„Danke. Wir bleiben im Garten“, erklärte er kurz, indem er auch schon den nächsten Kiesweg einschlug, und der mit Disziplin getränkte Sergeant Huggins folgte ihm in der durch den Respekt gebotenen Entfernung. Und wieder in einem entsprechend bemessenen Abstande schlenderte Assistent Guy Denby hinter den beiden drein. Keineswegs jedoch aus Respekt, für den er nicht viel übrig hatte, sondern weil er dies sich selbst schuldig zu sein glaubte. Mit dem dürren, quittengelben, unrasierten Inspektor Sharp ließ sich kein Staat machen, und Sergeant Huggins war zwar ein ganz stattlicher Mann, konnte aber bestenfalls für einen wohlsituierten Gemüsehändler gehaltenwerden, der zu irgendeinem feierlichen Anlasse unterwegs war.

Assistent Guy Denby hingegen hätte sich in der tadellosen Aufmachung, in der er augenblicklich in Kensington umherschlenderte, um gemeine Diebe zu fangen, auch auf dem Mittagskorso im Hydepark ohne weiteres sehen lassen können. Nur die Blume im Knopfloch des gediegenen Überrocks fehlte noch, aber daran war einzig und allein der verschrobene Geschmack seines unmittelbaren Vorgesetzten schuld. Inspektor Sharp hatte nämlich zwar weder an spiegelnden Harmonikahosen, noch an ausgefransten Hemdkragen und fettigen Krawatten, ja nicht einmal an einer penetrant riechenden Stummelpfeife etwas auszusetzen, Blumen im Knopfloch jedoch waren ihm schrecklich zuwider. Und er hatte in seiner galligen Art so lange herumgenörgelt, bis Assistent Denby als der Klügere und um des lieben Friedens willen auf diese letzte Krönung seiner Eleganz verzichtete. Aber nur darauf, obwohl es an ihm noch einige andere Dinge gab, über die der giftige Inspektor unausgesetzt seine bissigen Bemerkungen zu machen hatte, Sharp liebte ihn offenbar nicht, das beruhte jedoch auf Gegenseitigkeit. Und es berührte Denby auch nicht sonderlich, denn seit einiger Zeit lag ihm etwas viel Wichtigeres am Herzen als das Wohlwollen seines Vorgesetzten. Die Sache hatte gerade hier in diesem Hause ihren Anfang genommen, in das ihn vielleicht seine gute Fee geführt hatte. Vorläufig trug die Bekanntschaft mit dem netten Mr. William Ellis allerdings bloß hie und da ein paar Pfund ein, weil der gute Mann von Poker und Bakkarat nicht die blasseste Ahnung hatte, aber vielleicht schaute dabei eines Tages ein wirklich großer Schlag heraus. Und solch eine Chance brauchte Guy Denby, denn die kleinlichen Sorgen, mit denen er sich derzeit herumbalgen mußte, waren seiner angeborenen Großzügigkeit höchst zuwider. Nur hatte es mit dem besondern Glücksfall, von dem er träumte, noch einen kleinen Haken: Erstens hatte er für gewisse Vermutungen bisher bloß einen geradezu lächerlichen Anhaltspunkt, und zweitens bestand die Gefahr, daß sein mißgünstiger Vorgesetzter ihm einen Strich durch die Rechnung machte. Denn man mochte über diesen Neid- und Geizhammel mit den Harmonikahosen denken wie man wollte –, daß er eine verdammt feine Spürnase hatte, konnte man ihm nicht absprechen. Und wenn man sich dann vielleicht schon zu tief in die Geschichte eingelassen hatte, konnte dabei nicht nur die große Chance, sondern auch die Aussicht auf den Polizeipräsidenten zum Teufel gehen.

Deshalb hatte Guy Denby auch dem heutigen Besuche in Kensington mit einiger Besorgnis entgegengesehen. Inspektor Sharp, der sich nie in seine Karten blicken ließ, schwieg sich über den Zweck völlig aus und hatte seinen Begleitern bloß angedeutet, daß er sie vielleicht brauchen werde. Nun ging es ja wahrscheinlich auch diesmal wieder nur um den gestohlenen Schmuck, aber man konnte nicht wissen, was alles dabei zufällig noch herauskam. Besonders da der Inspektor ganz so aussah, als ob er etwas im Schilde führte. Da galt es, Augen und Ohren gehörig offen zu halten ...

Denby verwandte auch keinen Blick von seinem Vorgesetzten, aber Sharp beschränkte sich darauf, in der Nähe des Portals auf und ab zu marschieren. Er hatte die Hände auf dem Rücken gefaltet, und seine dürren Finger führten ein unruhiges Spiel auf. Und ebenso unruhig flatterten seine Gedanken. Er hatte nämlich wirklich etwas Besonderes vor, und davon, wie dieser gewagte Versuch ausfiel, hing für ihn unendlich viel ab. Er hatte schlimme Wochen hinter sich, denn er kam in den verwünschten Juwelendiebstählen nicht um einen Schritt weiter, und der neue Chefkonstabler ließ ihn diesen Mißerfolg doppelt bitter empfinden. Seit Tagen hatte Oberst Merewether überhaupt kein Wort mehr für ihn, sondern bloß ein beißendes Lächeln, das den verzweifelten Sharp immer wieder an die schreckliche Bemerkung von der „vorzeitigen Pensionierung“ erinnerte, mit der ihn der Chefkonstabler kürzlich verabschiedet hatte.

Diese Bemerkung ließ den Inspektor das Äußerste aufbieten, und er wälzte das Problem, an dem seine Laufbahn scheitern sollte, Tag und Nacht im Kopfe herum. Und nachdem er alle Umstände der einzelnen Fälle hunderte Male geprüft und miteinander verglichen hatte, war ihm in der verflossenen Nacht plötzlich ein Gedanke gekommen, der möglicherweise die Lösung, hinter der er her war, bergen konnte. Aber dann mußte er die Geschichte anders anpacken und sich zunächst noch einmal mit Mrs. Ellis und Mrs. Reed ein bißchen unterhalten. Deshalb war er heute hier, und darum verriet er eine solche Erregung. Ein neuer Fehlschlag oder gar ein Skandal konnte ihm endgültig den Hals brechen. Aber vielleicht kam ihm endlich auch das zu Hilfe, worauf er seit ungefähr einem Monat von Tag zu Tag wartete. Wenn der seltsame Brief mit den eingestochenen Sternen für ihn wirklich Bedeutung haben sollte, mußte er nun diesem Zeichen ehestens irgendwo begegnen ...

Es fehlten noch einige Minuten auf halb drei, als der Wagen mit Mrs. Ellis und Mrs. Reed eintraf, und die beiden Damen waren kaum im Hause verschwunden, als Inspektor Sharp feierlich seinen fadenscheinigen Überzieher zuknöpfte, soweit er sich zuknöpfen ließ, und ebenso feierlich die verblaßte und bereits etwas brüchige Melone zurechtrückte.

„Ich gehe allein. Warten Sie beim Portal, damit Sie gleich bei der Hand sind, falls ich Sie brauche“, sagte er zu dem Sergeanten Huggins und schlürfte auch schon eilig der Freitreppe zu.

Huggins war über diese Anordnung arg enttäuscht, denn er liebte es, bei derartigen dienstlichen Besuchen, besonders solchen in vornehmen Häusern, mit dabei zu sein, und seine Kränkung über die unerwartete Entscheidung des Inspektors war so tief, daß er sich darüber aussprechen mußte. Er setzte sich daher in Marsch, um den Assistenten einzuholen, der als einzigen Zweck seines Hierseins eine beschauliche Promenade durch den Park zu betrachten schien.

„Wir sollen beim Eingang warten, Mr. Denby“, störte ihn der Sergeant auf. „Mr. Sharp ist allein zu den Damen gegangen.“

Der Ton verriet ganz deutlich, wie Huggins über diese Zurücksetzung dachte, aber der Assistent nickte höchst befriedigt.

„Fein“, sagte er in seiner vornehm näselnden Oxforder Sprechweise. „Ich unterhalte mich ja ganz gern mit Damen, aber nicht über solche langweiligen Dinge. Und außerdem sind Mrs. Ellis und Mrs. Reed auch nicht mehr die Jüngsten.“

Mit dieser Antwort war dem Sergeanten nicht gedient. Er rieb sich eine Weile das kräftige Kinn und schüttelte schließlich den Kopf. „Weshalb hat er uns dann überhaupt mit herausgeschleift? Ich dachte, daß es sich um etwas besonders Wichtiges handelte, denn Mr. Sharp ist sehr aufgeregt. – Haben Sie das nicht auch bemerkt?“

„Nein“, erklärte Denby völlig interesselos. „Ich habe nur bemerkt, daß Mr. Sharp den obersten Knopf an seinem Überrock noch immer nicht angenäht hat. – Das stört mich nun schon seit dem vorigen Herbst ...“

Der Sergeant erfuhr wieder einmal, daß mit dem Assistenten über ernste Dinge nicht zu reden war, aber das konnte ihn nicht abhalten, seiner argen Verstimmung Luft zu machen. Denby gegenüber durfte man sich das schon erlauben.

„Es wäre höchste Zeit, daß wir mit diesen Schmuckdiebstählen endlich fertig würden“, fuhr er mit einem bekümmerten Seufzer fort. „Die Luft im Yard wird immer dicker und ungemütlicher. Vor Oberst Merewether kann man sich geradezu fürchten, obwohl er fortwährend mit lächelndem Gesicht herumläuft. Aber man hat das Gefühl, daß dahinter nichts Gutes steckt, und daß es eines Tages eine schreckliche Explosion geben wird. Hoffentlich fliege ich dabei in eine kleine Station an der Peripherie, was ich mir schon längst wünsche. Dort tut man seine Pflicht und hat nicht die ewigen Aufregungen wie im Yard. Und dann kann man dort auch ein bißchen Mensch sein. Man hat sein bescheidenes Häuschen mit einem kleinen Garten ...“

Das war ein Stichwort, das den Assistenten aus seiner Teilnahmslosigkeit jäh aufrüttelte. „Mit einem kleinen Garten – großartig“, fiel er begeistert ein. „Da könnte man sich die Blumen fürs Knopfloch in eigener Regie ziehen und eine ganze Menge Geld ersparen. Das würde auch mir so eine kleine Station ganz sympathisch machen. – Aber erzählen Sie das nicht Mr. Sharp, lieber Huggins. Sie wissen, daß er es auf Blumen abgesehen hat, und er ist aus lauter Bosheit imstande, Sie lieber zum Inspektor im Yard vorzuschlagen, damit Sie nur ja nicht zu dem netten Blumengarten kommen ...“

Diese offenherzige Bemerkung ermutigte den Sergeanten, bei allem Respekt noch etwas vertraulicher zu werden. „Ich glaube, Mr. Sharp wird im Yard kaum mehr lange mitzureden haben“, flüsterte er. „Der Chefkonstabler verfügt schon jetzt über seinen Kopf hinweg. Sie haben doch von der Geschichte gehört, die es gestern nacht in Soho gegeben hat?“

Assistent Denby hatte davon gehört und sich sogar auch manches darüber gedacht, brauchte aber nun eine Weile, bevor er sich daran erinnerte. „Von einer Geschichte in Soho?? – – Meinen Sie etwa die ganz gewöhnliche Wirtshausrauferei?“

„Ja – die ganz gewöhnliche Wirtshausrauferei“, wiederholte Huggins mit vielsagendem Nachdruck. „Das ist es ja eben. – Weil es sich um eine so bedeutungslose Sache handelte, hatte Mr. Sharp auf eine Anfrage des Inspektors von Soho angeordnet, daß Roger Meraine und der andere, der ihn so schrecklich verprügelt hat, nach der Einvernahme freizulassen seien. Aber kaum fünf Minuten später ist Oberst Merewether plötzlich im Yard erschienen und hat persönlich den telephonischen Befehl nach Soho gegeben, die beiden bis zur Verhandlung vor dem Polizeirichter in Haft zu behalten. – Nun gehört ja dieser abgefeimte Halunke Hodge allerdings schon längst hinter Schloß und Riegel, aber wegen einer einfachen Rauferei ...“ Der Sergeant schüttelte verständnislos und bedenklich den Kopf. „Da muß noch was anderes dahinter stecken. – Wie gesagt, mir kommt es ganz so vor, als ob sich im geheimen besondere Dinge vorbereiteten. Und unsereiner, der doch dazu gehört, hat nicht die leiseste Ahnung davon ...“

Der diensteifrige Sergeant empfand dies offenbar sehr bitter, Assistent Denby aber war auf die Dinge, die sich zusammenbrauen sollten, nicht allzu begierig.

„Nun, eines Tages wird die Bescherung schon kommen“, meinte er leichthin. „Sie müssen nur ein bißchen Geduld haben. Vielleicht gibt unser netter neuer Chefkonstabler demnächst einen Ukas heraus, daß keiner seiner Beamten ein Kleidungsstück länger als drei Jahre Tag für Tag tragen darf und jeden abgesprungenen Knopf binnen vierundzwanzig Stunden anzunähen hat. Da müßte ich aber lachen ...“

Huggins gab den Versuch, bei dem so oberflächlichen jungen Manne Verständnis zu finden und dabei aus ihm vielleicht etwas herausziehen zu können, als völlig aussichtslos auf. „Nun muß ich aber schauen, daß ich wieder auf meinen Posten komme“, sagte er mit einem besorgten Blick nach der Freitreppe. „Wenn Sharp so aufgeregt ist, hat man sofort seine Nase weg.“

„Ja, tun Sie das, lieber Huggins“, riet ihm der Assistent dringend. „Sie haben für so was ein zu weiches Gemüt. Ich bummle noch ein bißchen herum, denn mir kommt es auf einen Anschnauzer mehr oder weniger nicht an. Bis ich Polizeipräsident sein werde, lade ich diese Rüffel alle wieder ab ...“

Guy Denby dehnte seinen ziellosen Spaziergang so weit aus, bis er von einem durch dichtes Buschwerk verdeckten Seitenwege die rückwärtige Front der Villa überblicken konnte. Dann blieb er stehen, holte eine gediegene goldene Dose hervor, und während er diese öffnete und darin nach einer Zigarette fingerte, hefteten sich seine Augen verträumt auf ein kleines Gewächshaus, dass unweit der Gartenmauer stand. Anscheinend war der blumenliebende junge Gentleman in die Betrachtung der bunten Blüten versunken, die in verschwommenen Farben durch die dunstbeschlagenen Scheiben schimmerten. Er war davon sogar derart gebannt, daß eine lange Minute verging, bevor er an die Zigarette dachte, die er schon längst zwischen den Fingern hielt. Endlich aber schob er sie doch zwischen die Lippen, und nachdem er sie in Brand gesetzt hatte, führte er eines jener kurzen Selbstgespräche, mit denen er seinen Gedanken gerne Luft machte.

„Mein lieber Huggins“, murmelte er vor sich hin, „Sie wollen mir mit Ihrer Einfalt und Ihrem Blumengärtchen an der Peripherie ebensowenig gefallen, wie der unausstehliche Mr. Sharp mit seiner Aufregung und unser verehrter Oberst Merewether mit seinem heimtückischen Lächeln. Aber solange es nicht um diese meine Gegend hier geht, die hoffentlich eine Goldader ist, berührt mich euer Getue nicht ...“

3

Aber erst ganz zu unterst stieß der Konsul auf einen Umschlag, der ihn interessierte, und riß ihn ohne viel Umstände auf. Die einfache weiße Karte, die zum Vorschein kam, sah wie eine Einladung oder Familienanzeige aus, aber Karenowitsch hatte kaum einen Blick darauf geworfen, als er diesmal sichtlich außer Fassung geriet. Er starrte mit reglosem Gesicht lange Sekunden auf das Blatt, dann ließ er es endlich sinken und streifte den harrenden Besucher mit einem seltsamen Blick.

„Wer, zum Teufel, macht so alberne Späße?“ stieß er zwischen den verbissenen Zähnen hervor, und in Ellis wurden sofort wieder alle Befürchtungen, mit denen er sich seit vielen Wochen herumschlug, wach.

„He – vielleicht noch eine Bescherung?“ platzte er besorgt heraus, und da nicht sofort eine Antwort kam, riß er seinem Teilhaber die Karte ungestüm aus der Hand und trat damit zum Fenster. Und dann fuhr ihm auch bereits ein gewaltiger Schreck in die Glieder: Das sah ja ganz nach dem verdammten Humbug aus, der ihnen schon einmal gehörig zu schaffen gegeben hatte. Aber hatte man denn dieser niederträchtigen Geschichte nicht ein Ende gemacht? – Ein so gründliches Ende, daß man davor für immer Ruhe haben mußte? – Was sollte da auf einmal dieser Wisch bedeuten?

Ellis glotzte auf die sechs unregelmäßig angeordneten Sternchen in der linken oberen Ecke, und dann flogen seine flimmernden Augen über die wenigen Maschinenzeilen.

„Das Geschäft mit Th. W. und jenes im Hafen geht halbpart. Als Anzahlung haben Sie in der Nacht zum 21. d. M. pünktlich um elf Uhr den Betrag von zweitausend Pfund zu erlegen. Der Umschlag mit dem Gelde ist an einem genau drei Meter langen Bindfaden am dritten Geländerpfeiler des Regents Canals links von der Canalbridge Street zu befestigen und zum Wasser hinabzulassen. Die endgültige Abrechnung für den 11. V. 1936, der sich diesmal nicht wiederholen wird, bleibt offen.“

„Natürlich ist das ein fauler Witz“, wiederholte der Konsul auf die stumme Frage, die in Ellis’ verstörtem Gesicht geschrieben stand, aber es klang nicht sehr sicher. „Diese Leute haben wir samt ihren Sternen ein- für allemal ausgeblasen. Du warst ja selbst mit dabei. Es kann nur sein, daß Elvira zu irgendwelchem hinterhältigen Zweck plötzlich auf diesen blöden Einfall gekommen ist.“

Ellis ließ ein gereiztes Lachen hören und fuhr sich grimmig durch die schütteren rötlichen Haarsträhnen. „Mein Lieber, ich fürchte, es steckt etwas weit Schlimmeres dahinter“, würgte er aus rauhem Halse hervor. „Das Weib ist ja ein tückischer Satan, aber woher sollte es von Wesley und dem andern wissen, he? Wir haben ja bei uns nie ein Wort darüber gesprochen.“ Er befeuchtete mit der Zunge die trockenen Lippen, und seine kleinen geröteten Augen flackerten noch unruhiger als sonst. „Es könnte doch sein, daß wir damals nicht das ganze Nest erwischt haben, und daß der eigentliche Mann ...“

Der Konsul war plötzlich so übler Laune, daß seine Selbstbeherrschung platzte und alle weltmännische Glasur von ihm absprang. „Scher dich endlich schon zum Teufel!“ herrschte er seinen besorgten Freund an. „Ich bin mit dieser verdammten Bande bereits einmal fertig geworden, und wenn sie daran nicht genug hat, wird sie eben nochmals draufzahlen. Bis zu dem gewissen Tage haben wir ja fast noch eine ganze Woche Zeit ...“

Er machte eine verabschiedende Handbewegung, und Ellis war zwar noch bedrückter und sorgenvoller, als er gekommen war, aber als er im Abgehen seinen Genossen mit einem mürrischen Blick streifte, wurde er etwas ruhiger und zuversichtlicher. So, wie Iwan Karenowitsch augenblicklich dreinsah, hatte er gar nichts von einem Gent, Herzensbezwinger und mit flimmernden Orden bespickten Konsul an sich, sondern glich einem verteufelt entschlossenen Mann, dem es auf ein Menschenleben und ähnliche Kleinigkeiten nicht ankam. Mit solch einem Verbündeten konnte man vielleicht schließlich doch aus allen Schwierigkeiten heil herauskommen.

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Bevor das Sternbild des Skorpions die Gemüter des weiten Gebiets von London derart beschäftigte, daß die Straßenjugend der äußersten Vororte diese Figur der fernen südlichen Himmelshälfte an alle Mauern und Bretterwände kritzelte, ernste Männer sie mit wuchtiger Hand auf die geschwärzten Tische der Hafenkneipen und Schenken des Ostens malten, und die geschwätzigen Frauen von Convent Garden ihre Blumenstände damit schmückten, geschahen zunächst einige Dinge, die – zusammenhangslos, wie sie sich abspielten – im folgenden gleichfalls vorangeschickt seien.

Drei kurze, aber ungewöhnliche Briefe

An einem nebelverhangenen Februartage waren in verschiedenen Stadtteilen Londons drei Briefe zugestellt worden, die ihren Empfängern ziemlich zu denken gaben. Die billigen farbigen Umschläge deuteten auf irgendeine belanglose geschäftliche Anzeige hin, aber der Eindruck täuschte, denn der Inhalt war ungewöhnlich und für jene, die er anging, wirklich bedeutsam.

Die eine dieser Mitteilungen lautete:

„Ich brauche Sie. Warten Sie nächsten Donnerstag Schlag elf Uhr abends an der Ecke Cattle Market– Market Road, und steigen Sie in den Wagen, der bei Ihnen halten wird; er wird Sie an einen Ort bringen, wo wir uns ungestört aussprechen können. Es liegt in Ihrem Interesse, dieser Einladung nachzukommen, denn sollten Sie dies nicht tun oder gar auf irgendeine Hinterhältigkeit verfallen, so würden Sie sich dadurch sehr ernste Unannehmlichkeiten bereiten. Ich erinnere Sie bloß an die gewissen drei Schließfächer. Es wäre aber eine völlig unnütze Bemühung, wenn Sie diese nun etwa rasch räumen wollten, denn erstens würde ich von allen Ihren Schritten erfahren, und zweitens habe ich vorläufig keine Veranlassung, Sie in Schwierigkeiten zu bringen. Falls Sie aber unsere Zusammenkunft vereiteln, werde ich allerdings dafür sorgen, daß Sie noch in derselben Nacht eine für Sie weit bedenklichere Unterredung zu bestehen haben werden …“

Der Mann, an den diese Worte gerichtet waren, las sie mit einem Gemisch von schreckhafter Bestürzung und ohnmächtiger Wut. Schreiben solcher Art waren ihm zwar nicht fremd, aber bisher waren sie immer von ihm selbst ausgegangen. Er hätte die Sache auch unbedingt als albernen Scherz aufgefaßt, wenn die fatale Andeutung von den drei Safes nicht gewesen wäre.

Wer davon Kenntnis hatte, dem war sicher noch mehr bekannt, und die Drohung mit der „weit bedenklicheren Unterredung“ war daher verdammt ernst zu nehmen. Der Aufforderung einfach nachzukommen, wie der Brief es verlangte, war also vielleicht gefährlich, etwas dagegen zu unternehmen aber unter diesen Umständen ein noch größeres Wagnis. Schließlich hatte es ja schon viele Leute gegeben, die seine Dienste in Anspruch genommen hatten, nur der Ton paßte dem Manne nicht. Er war nicht gewohnt, daß man ihm so kam. Der andere mußte sich sehr stark fühlen, daß er dies wagte, obwohl er doch sicher genau wußte, mit wem er es zu tun hatte. Aber das Blatt würde sich vielleicht rasch wenden, wenn man erst eine Ahnung hatte, wer mit so gefährlichen Kenntnissen herumlief ...

Diese Erwägungen ließen es dem besorgten Manne geraten scheinen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, aber er wollte doch einiges vorkehren, um nicht etwa in eine Falle zu tappen ...

Bei dem Empfänger des zweiten, ähnlichen Briefes ließ der Schreck irgendwelche Bedenken überhaupt nicht erst aufkommen. Für ihn gab es kein langes Überlegen und keine Vorkehrungen, sondern er mußte einfach gehorchen, denn auch in seinen Zeilen fehlte es nicht an einer sehr ernsten Wendung.

„Ich weiß, daß Sie sich in großen Schwierigkeiten befinden“, hieß es darin, „weil Ihr bescheidenes Einkommen für Ihre Passionen nicht ausreicht. Frauenbekanntschaften sind sehr kostspielig. Ich finde es daher begreiflich, daß Sie gelegentlich verschiedenen Spielklubs kleine Gefälligkeiten erweisen, aber andere Leute dürften darüber viel engherziger denken, falls sie davon erführen. Wenn Sie das vermeiden wollen, warten Sie nächsten Donnerstag pünktlich um Mitternacht gegenüber der Maiden Lane Station, und steigen Sie in den Wagen, der vor Ihnen halten wird. Er wird Sie an einen Ort bringen, wo wir uns ungestört aussprechen können, was Ihnen nur Vorteile bringen wird ...“

Am ruhigsten blieb der Empfänger des dritten Briefes. Er hatte auch keinen Grund, sich zu erregen, denn die kurze Mitteilung enthielt diesmal keine Drohung, sondern eher eine Verheißung. Sie besagte nämlich:

„Es ist möglich, daß ich Ihnen gelegentlich in dieser oder jener wichtigen Sache dienlich sein kann. Halten Sie dieses Blatt gegen das Licht, und merken Sie sich das Zeichen, das in der linken oberen Ecke eingestochen ist. Sollten Sie ihm einmal begegnen, so können Sie manches erfahren, was zu wissen für Sie von Wichtigkeit sein wird. Einen andern Weg kann ich aus gewissen Gründen nicht wählen, und es ist auch keiner so zuverlässig.“

Nachdem der dritte Mann das Blatt wirklich gegen das Licht gehalten und sekundenlang auf die unregelmäßig angeordneten sechs hellen Pünktchen gestarrt hatte, schob er es bedächtig wieder in den Umschlag und barg diesen in seinem abgegriffenen Taschenbuche. Auch ihm waren derartige Briefe nicht fremd, aber er pflegte sie weder zu überschätzen, noch kurzweg abzutun. Manchmal war es ein bloßer Bluff, aber zuweilen steckte wirklich etwas dahinter.

Man würde ja sehen, was es diesmal war ...

Ein Raubzug nach Juwelen

Ungefähr acht Tage später gab Mr. William Ellis, ein Mann, der in verschiedenen Erdteilen ein sehr ansehnliches Vermögen gemacht zu haben schien, in seiner prunkvoll eingerichteten Mietvilla in Kensington einen großen Abend. Die Gäste, die – etwa vierzig an der Zahl – erschienen waren, führten zwar keine gewichtigen gesellschaftlichen Namen, und auch die obere Schicht der Citywelt war nicht vertreten, aber es waren durchwegs Leute mit viel Geld. Dafür sprachen auch die erlesenen Juwelen der Damen, die von ihren glücklichen Besitzerinnen in offenkundigem Wettbewerb zur Schau getragen wurden; aber selbst der kostbarste und reichste Schmuck mußte vor dem Schimmer der haselnußgroßen Perlen und dem Feuer der Diamanten, mit denen die Frau des Hauses, eine geborene Portugiesin, behängen und besteckt war, verblassen. Man tröstete sich jedoch damit, daß all dieser Glanz noch immer nicht genügte, um den ganz besonderen dunklen Punkt, den es bei Mrs. Elvira Ellis gab, zu übertünchen.

Etwa um Mitternacht fühlte sich die Frau des Hauses durch ihre Inanspruchnahme plötzlich sehr ermüdet und zog sich für eine Weile in ihre Räume zurück. Man vermißte sie nicht und bemühte sich auch nicht sonderlich, ihrer habhaft zu werden, als man aufbrach. Erst als die letzten Gäste und die Aushilfsdienerschaft das Haus bereits längst verlassen hatten, wurde Mrs. Elvira von ihrer Zofe in einem derart festen Schlafe angetroffen, daß dem Mädchen nichts anderes übrigblieb, als die Herrin selbst auszukleiden und zu Bett zu bringen.

Die erschöpfte Dame schlief bis tief in den nächsten Tag hinein, und erst nach ihrem Erwachen stellte sich heraus, daß man sie, offenbar noch während alle Räume voll Leute gewesen waren, wie einen Christbaum abgeklaubt hatte. Nur die Ringe hatte man ihr belassen, weil es wohl zu zeitraubend gewesen wäre, sie von den fleischigen Fingern zu streifen.

Und während man noch an einen Einzelfall dachte, der vielleicht auf besondere Umstände zurückzuführen war, ereigneten sich bereits in den allernächsten Tagen vier weitere derartige Diebstähle, und es waren auch dabei immer die Gastgeberinnen, die die Opfer wurden; unter ihnen Mrs. Reed, eine junge Witwe aus Australien, die in unmittelbarer Nähe von Mrs. Ellis wohnte und mit dieser auch ziemlich viel verkehrte.

Scotland Yard nahm die Untersuchung dieses förmlichen Raubzuges mit seiner bewährten systematischen Gründlichkeit auf, kam jedoch zu keinem raschen Erfolg, sondern zunächst bloß zu einigen bedeutsamen Feststellungen. Erstens ergab sich, daß bei allen diesen Gelegenheiten fast immer dieselben Gäste anwesend gewesen waren, und zweitens berichteten alle Betroffenen, sie wären blitzartig von einer derartigen Müdigkeit befallen worden, daß sie überhaupt keinen anderen Gedanken hatten, als den, schleunigst ein wenig zur Ruhe zu kommen. Nur so ließ es sich auch erklären, daß die letzten Opfer trotz der früheren Fälle, die ja mit allen ihren Einzelheiten allgemeinen Gesprächsstoff bildeten, sich der Gefahr gar nicht bewußt wurden und daher auch keinerlei Vorsichtsmaßnahmen trafen.

Über diese sonderbaren Schwächeanwandlungen war man sich bereits im klaren, denn bei einer der Frauen konnten noch die Spuren eines Narkotikums nachgewiesen werden, dessen Art die Ärzte und Chemiker allerdings nicht näher zu bestimmen vermochten. Jedenfalls handelte es sich aber offenbar um planmäßig vorbereitete und mit besonderem Raffinement ausgeführte Anschläge, für die das bekannte Verbrechertum kaum in Betracht kam. Auf alle Fälle behielt man jedoch auch dieses und die Hehlerwelt schärfstens im Auge, während man in aller Stille nach einer etwas konkreteren Spur forschte.

Es war dies eine sehr mühevolle und heikle Arbeit, die für die Ungeduld der erregten Öffentlichkeit viel zuviel Zeit in Anspruch nahm.

Ein unangenehmer neuer Chefkonstabler

Knapp vor diesen bewegten Tagen hatte sich auf dem wichtigsten Posten des Yard ein Wechsel vollzogen. Der bisherige Leiter des Criminal Investigation Department hatte sich mit einem schweren Gallenleiden und einem hohen Orden in sein stilles Landhaus in Essex zurückgezogen, und an seine Stelle war Oberst Merewether, ein Außenseiter, berufen worden. Der neue Chefkonstabler kam aus dem Kolonialdienst, und man wußte in London von ihm nur, daß er während der letzten zwei Jahrzehnte in verschiedenen gefährlichen Winkeln des Empires mit eiserner Faust aufgeräumt hatte.

Und schon in den ersten Wochen seiner Amtsführung ergab sich, daß der gedrungene Mann mit dem eisgrauen Kopf und dem verwitterten und verkniffenen knochigen Gesicht auch kein sonderlich angenehmer Vorgesetzter war; nicht wegen seiner kurz angebundenen soldatischen Art, der man ja in diesem Dienste öfter begegnete, sondern wegen einer andern Eigenheit: Oberst Merewether hatte ein Schweigen, das die rapportierenden Beamten Blut schwitzen ließ, und ein Lächeln, dessen derjenige, dem es galt, nicht froh werden konnte.

Dieses Schweigen und dieses Lächeln lernten in Kürze alle seine Leute kennen, und nur einer der jüngsten, der Assistent Guy Denby, zeigte sich davon nicht im mindesten beeindruckt. Aber dieser sehr vorteilhaft aussehende Gentleman mit dem schrecklich gelangweilten Gesicht und der ebenso gelangweilten Sprechweise fiel überhaupt in allem aus dem Rahmen des ernsten Backsteinbaues auf dem Victoria Embankment. Er war immer mit einem dandyhaften Einschlag gekleidet, hatte das selbstbewußte Wesen eines großen Herrn, und aus seinem Privatleben wurden Dinge getuschelt, die zu einem Manne vom Yard nicht recht passen wollten. Er entstammte jedoch einer sehr angesehenen Familie und hatte einflußreiche Beziehungen, die es einigermaßen verwunderlich scheinen ließen, daß er gerade auf den Polizeidienst verfallen war. Aber hierfür hatte Denby einem besonders Interessierten einmal eine sehr offenherzige Erklärung gegeben: „Eh, mein Lieber“, hatte er mit einem Achselzucken geäußert: „wenn ich das verwünschte nötige Kleingeld hätte, wäre ich natürlich lieber Botschafter Seiner Großbritannischen Majestät an irgendeinem Hofe geworden; aber Chef Commissioner of the Metropolitan Police ist schließlich auch ein ganz hübscher Titel und ein recht angenehmer Posten.“

Nach dem fünften der rätselhaften Schmuckdiebstähle beorderte Oberst Merewether wieder einmal Inspektor Sharp zu sich, der die Nachforschungen leitete. Sharp galt als einer der tüchtigsten Leute des Yard, war jedoch wegen seiner Verschlossenheit und seines neidischen Wesens wenig beliebt.

„Nun???“ fragte der Chefkonstabler, und das Schweigen, das diesem einen Worte folgte, wirkte wie eine Saugpumpe.

Aber der Inspektor, ein Mann in den Vierzigern, gelb, dürr und düster wie ein Fakir, konnte nur krampfhaft mit den Achseln zucken. „Es hat sich auch diesmal kein neuer Anhaltspunkt ergeben, Sir“, brachte er endlich hohl hervor. „Und die Gäste sind alle völlig einwandfrei ...‘‘

Das Lächeln brachte ihn zum Verstummen, aber der Oberst hatte schon wieder eine andere Frage.

„Wie ist das mit dem Manne in Soho?“

Inspektor Sharp atmete auf, denn diesmal konnte er eine weniger knappe Auskunft geben. „Natürlich haben wir diesen Roger Meraine ebenfalls unter Überwachung gestellt“, erklärte er eifrig. „Es ist immerhin möglich, daß er bei der Sache die Hände mit im Spiele hat. Er steckt ja mit dem vielen ausländischen Gesindel, das sich in Soho verkrochen hat, unter einer Decke und hat auch zu unseren übelsten Leuten in Whitechapel und Deptford Beziehungen. Und wenn Hogde und seine Kreise mit der Juwelengeschichte auch direkt nichts zu tun haben mögen, so ist ihnen wahrscheinlich wenigstens einiges darüber bekannt. Es dürfte in London in den letzten fünf Jahren überhaupt kaum ein größeres Verbrechen verübt worden sein, von dem dieser Mann nicht mehr oder weniger gewußt hätte. – Aber man kann leider nie an ihn heran ...“