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VIVIEN SUCHERT

DAS

VERMESSENE

ICH

Von Selbstkontrolle,
Optimierungswahn und
digitalen Doppelgängern

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1. Auflage

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

INHALT

Wie wir uns selbst
zum Vermessungsgegenstand machen

Erscanne dich selbst

Die Grenzen der Vermessung – »Geht nicht gibt’s nicht!«

Dieses Buch

Wie Zahlen die Welt eroberten

Das Zahlen-Ich in der Gesellschaft

Das alles umspannende Netz der Daten

Datenabbau in den Online-Minen

Warum 1 + 1 gleich 3 ist

Algorithmen – die künstliche Intelligenz von heute

Tiefe Einblicke dank Datenbrille

Eine Zahl, sie alle zu beschreiben

Für Risiken und Nebenwirkungen …

Vermessen will gelernt sein

Wer schützt meine Daten?

Das vermessene Ich in der Zukunft

Wie Biohacker nach ewiger Jugend und Unsterblichkeit streben

Glück auf Knopfdruck

Der Traum vom Übermenschen

Grenzen und Abgründe der Vermessung

Die dunkle Seite einer vermessenen Welt: Von Entfremdung und Vertrauensverlust

Der Mensch ist mehr

Vom Zahlenfetischismus zum Zahlenminimalismus

Wert abseits von Zahlen

Was sonst noch zählt

Literaturverzeichnis

WIE WIR UNS SELBST ZUM VERMESSUNGSGEGENSTAND MACHEN

Ich kann mich noch gut erinnern, als in meiner Jugend eines der Highlights der Selbsttest in der neuen Bravo war: Ist er in mich verliebt? Bist du eine gute Freundin? Wie attraktiv wirkst du auf andere? Offiziell hat natürlich niemand diese Tests wirklich für voll genommen. Wenn man dann allein im Zimmer war, wollte man es aber doch wissen!

Auch während der Recherche für dieses Buch ertappte ich mich dabei, wie ich mich durch einen Test nach dem nächsten klickte. Dabei sollte ich als Psychologin es eigentlich besser wissen, oder? Doch den Drang, herauszufinden, welcher Blume mein Charakter entspricht, welcher Teil meines Gehirns meine Wahrnehmung bestimmt, was meine Lieblingssorte Eis eigentlich über meine Persönlichkeit verrät und welcher Comedy-serie meine Beziehung ähnelt, könnte man fast schon unwiderstehlich nennen. Da bin ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht die Einzige. Wenn es in den Wartezimmern dieser Welt mal wieder etwas länger dauert, hat wohl jeder schon mal zu einer der ausliegenden Zeitschriften gegriffen und ist dabei bei einem dieser berühmt-berüchtigten Tests hängen geblieben. Dabei muss ich zugeben, dass auch ich an dieser Stelle nicht sagen kann, was es mir eigentlich bringt, zu wissen, welche Blume meiner Persönlichkeit entspricht. Dennoch habe ich mich erst vor Kurzem zielstrebig durch den Test eines dieser Magazine gekreuzt, um herauszufinden, dass ich die Sonnenblume bin. Mensch, hätte ich nicht gedacht, mögen Sie jetzt denken – ich ehrlich gesagt auch nicht. Aber gut zu wissen, oder?

Sobald der Testrausch nachließ, setzte jedoch eine abgeklärte Nüchternheit ein, und ich fragte mich: Gut zu wissen, und jetzt? Fragen wie »Welche Superkraft hättest du gerne?« – Fliegen wäre übrigens mein Favorit, noch vor dem Unsichtbarsein – und Aufforderungen wie »Wähle einen Hund aus«, wobei man die Wahl zwischen sechs süßen Hundewelpen hat, deren mimische Vielfalt sicherlich menschliche Züge suggerieren sollen, erscheinen auf den ersten Blick durchaus tiefgründig. Woher man auf dieser Grundlage allerdings weiß, welche Blume meiner Persönlichkeit entspricht, erschließt sich mir im Nachhinein nur schwerlich. Wer hat außerdem herausgefunden, welche Persönlichkeit welcher Blume entspricht und warum hat diese Person noch keinen Nobelpreis erhalten? Fragen über Fragen. Die entscheidende ist aber sicherlich: Was steckt eigentlich hinter dem Bedürfnis, mithilfe von Tests – egal wie schwachsinnig oder zwielichtig sie auch erscheinen – mehr über sich selbst erfahren zu wollen? Warum brauchen wir externe Bewertungen über uns selbst?

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Da taucht Henry, seines Zeichens Technikfreak, Selbstoptimierer, Early Adopter und Anhänger der aktuell sehr populären Quantified-Self-Bewegung, welche die Vermessung des Selbst zum Heiligen Gral erhoben hat, auf der Bildfläche auf und blickt mich irritiert an. Seine Welt besteht aus berechenbaren Größen und durch seine Adern scheinen Datenströme anstelle von Blut zu fließen. Er wirft eilig einen Blick auf sein Fitnessarmband. Womöglich, um sicherzugehen, dass sein Puls noch im Normalbereich liegt und ich ihn mit meinen ihm offenbar sehr dumm erscheinenden Fragen nicht in allzu hohe emotionale Erregung versetzt habe.

Wie ein gläubiger Christ, der textsicher Stellen aus der Bibel aufsagt, zitiert er Gary Wolf, einen der Initiatoren der Quantified-Self-Bewegung mit den Worten »We don’t have a slogan, but if we did it would probably be ›Self-knowledge through numbers‹« – Wir haben keinen Slogan, aber wenn wir einen hätten, hieße er wahrscheinlich: Selbsterkenntnis durch Zahlen.

Dramaturgische Pause, dann fügt er ergänzend hinzu: »Wie willst du dich selbst verstehen, wenn du nur die Informationen nutzt, die deine beschränkten Sinne dir über dich selbst liefern?«, fragt mich Henry mit einem verständnislosen Kopfschütteln. »Alles, was du über dich selbst weißt, ist doch sehr subjektiv. Nur mit objektiven Mitteln können wir zu echter Selbsterkenntnis gelangen. Der einzig sinnvolle Weg führt daher über Vermessungstools, die dir die ersehnten Wahrheiten in unverrückbaren Zahlen liefern.«

»Okay.«

In Anbetracht meiner unqualifizierten Reaktion scheinen ihm damit der Worte genug gewechselt zu sein, aber ich bin mir sicher, dass noch viele weitere Missionierungsversuche folgen werden.

Erscanne dich selbst

Für die Anhänger der Quantified-Self-Bewegung steht die Selbsterkenntnis oder das Wissen über sich selbst durch Zahlen ausgedrückt im Vordergrund und dient vor allem als Grundlage für die Verbesserung der eigenen Lebensqualität. Hauptanliegen ist es, sich selbst in Zahlen und Daten zu erfassen. Im Leben eines Gary Wolf sieht das dann ungefähr so aus:

Ich bin heute Morgen um 6:20 Uhr aufgestanden. Während der Nacht war ich zweimal wach. Meine Herzfrequenz lag bei 61 Schlägen pro Minute und mein Blutdruck gemittelt über drei Messungen bei 127/74. Meine Stimmung war auf einer Skala von 0 bis 5 bei 4 Punkten. In den letzten 24 Stunden habe ich 0 Minuten Sport gemacht und mein Maximalpuls während des Sports wurde nicht berechnet. Ich habe 400 Milligramm Koffein und 0 Gramm Alkohol zu mir genommen. Und falls Sie sich gefragt haben, mein Narzissmus-Wert liegt bei 0,31.

Dieses Zitat war einem seiner Beiträge in dem Lifestyle- und Technologie-Magazin Wired von 2009 zu entnehmen. Der Begriff Quantified Self selbst geht angeblich auf die beiden Herausgeber dieses Magazins, Kevin Kelley und eben zitierten Gary Wolf, zurück und wird auf das Jahr 2007 datiert. Die beiden Männer trafen sich regelmäßig mit Unternehmern des Technologie-Eldorados Silicon Valley, die, besessen von Effizienz, ihre Arbeitstage in Zeiteinheiten bis zu zwei Minuten planen und überwachen. Die beiden Autoren berichteten in einer Reihe von Medien über die neuen Technologien und deren Möglichkeiten. Mit der Verbreitung des Begriffs und der Idee dahinter formierten sich sogenannte Meet-ups, also regelmäßige Treffen von Anhängern der Quantified-Self-Bewegung. Es folgte eine eigene Homepage, Kongresse und lokale, selbst organisierte Gruppen, um sich untereinander auszutauschen. Die Bewegung wächst seitdem stetig. Die Verdatung hält immer mehr Einzug in jeden einzelnen Aspekt unseres persönlichen Lebens und die Vermessungstechnik wird regelrecht zur zweiten Haut. Sensoren in unseren Schuhsohlen messen die gelaufenen Schritte, unsere Uhr verfolgt unseren Standort und die Apps auf unserem Smartphone, in denen wir von unserer Stimmung, über biophysiologische Parameter bis hin zu unserer Produktivität alles dokumentieren können, löst unser Gehirn immer mehr als Schaltzentrale ab.

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Doch auch wenn der Begriff der Selbstvermessung aktuell einen regelrechten Hype erlebt, ist das Streben nach Selbsterkenntnis nicht neu. Schon die alten Griechen versuchten auf unterschiedlichen Wegen zu Selbsterkenntnis zu gelangen. Sokrates etwa mithilfe seiner herausfordernden Fragen auf dem Marktplatz von Athen. Durch das kontinuierliche Hinterfragen der Aussagen seines Gegenübers suchte er nach der Wahrhaftigkeit der Argumente, um herauszufinden, ob diese tatsächlich der Person entsprachen. Stieß er auf Widersprüche, ging Sokrates der Sache solange auf den Grund, bis aus irrationalen Gedanken echte Selbsterkenntnis wurde. Diese Methode kultivierte Sokrates auch im inneren Dialog mit sich selbst. Noch heute wird das sokratische Gespräch in der Psychotherapie verwendet.

Bereits im 2. Jahrhundert nach Christus beschäftigte sich der römische Kaiser und Philosoph Markus Aurelius ausgiebig mit Selbstbeobachtung und hielt diese narrativ in Briefen fest: Da hörte sich der obige Bericht von Gary Wolf dann eher so an:

Ich habe wenig geschlafen wegen einer kleinen Erkältung, die sich aber beruhigt zu haben scheint. (…) Nachdem ich meinen Vater begrüßt hatte, habe ich Wasser mit Honig bis zum Rachen aufgenommen und wieder ausgespuckt. (…) Danach gingen wir essen. Und was meinst Du, habe ich gegessen? Ein wenig Brot, während ich zusah, wie die anderen Austern, Zwiebeln und fette Sardinen verspeisten.

Das Mittel der Wahl zur Selbsterkenntnis waren damals ganz offenkundig noch Worte und keine Zahlen.

Mit der Zeit kamen objektive Messinstrumente ins Spiel, die die Selbstvermessung nachvollziehbar und weniger subjektiv machen sollten. Dementsprechend wandelte sich auch das Bild des Menschen vom fühlenden Wesen aus Fleisch und Blut hin zu einer bloßen Ansammlung trockener Zahlen und logischer Zusammenhänge. Und sicherlich haben Kevin Kelley und Gary Wolf teilweise recht, wenn sie sagen, dass wir uns durch Zahlen selbst erkennen können. Eines der einfachsten und am weitesten verbreiteten Beispiele, die sich hier anführen lassen, ist die Bestimmung unseres Körpergewichts. Natürlich kann man in Worten grob erfassen, ob jemand ordentlich zugelegt hat oder die Knochen schon klappern, aber präzise wird es erst, wenn wir hierfür ein Messinstrument heranziehen, das uns eine konkrete Zahl ausspuckt. Eine Zahl, die uns sagt, ob wir zu- oder abgenommen haben, und die es uns erlaubt, konkrete Handlungen daraus abzuleiten.

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Moderne Waagen zeigen nun aber nicht mehr nur das schnöde Gewicht an, auch Kalorienbedarf, Fett- und Muskelmasse gehören zum Standardrepertoire. Die Waage 2.0 kommuniziert darüber hinaus auch direkt mit einer App und zeigt uns den detaillierten Entwicklungsverlauf dieser Werte an. In schönen bunten Kurven und Balken erfahren wir, wie es um unser Gewicht und unsere Körperzusammensetzung bestellt ist und macht zusammen mit gespeicherten Messungen Trendanalysen. Womöglich informieren wir gleich noch Apple, Google und Co. über unseren Gesundheitszustand und mit ein wenig Glück bekommen neben staatlichen Behörden auch die Anbieter unserer Lebens- und Krankenversicherungen ein persönliches Update von uns. Der ermittelte Kalorienbedarf kann als Grundlage für unser Essverhalten dienen, denn nur so können wir ja sicher sein, dass wir weder zu viel noch zu wenig Energie zu uns nehmen. Dafür haben wir dann auch schon direkt die nächste App an der Hand, mit der wir penibel genau dokumentieren, was wir wann in welchen Mengen gegessen haben und wie viel Eiweiß, Kohlenhydrate und Fett in dem, was wir uns in die Futterluke geworfen haben, wirklich steckt.

Es besteht also nicht nur ein Unterschied zwischen der Selbstvermessung durch Worte und der Selbstvermessung durch Zahlen. Der entscheidende Unterschied zwischen den Zeiten, als die Waage nur eine Zahl ausspuckte, und heute liegt vor allem im Ausmaß und der Komplexität, in der wir die Selbstvermessung betreiben und welche Bedeutung sie in unserem alltäglichen Leben einnimmt.

Möglich werden diese Entwicklungen erst durch den rasanten technologischen Fortschritt der letzten beiden Jahrzehnte. Hätten meine Eltern früher all ihre Mahlzeiten detailliert nach Nährstoffen aufschlüsseln und im Zeitverlauf betrachten wollen, hätten sie am Tag neben dem Essen an sich und dessen Dokumentation wohl nicht viel zustande gebracht. Das Abwiegen der Lebensmittel, das Führen eines Ernährungstagebuches, das Erstellen umfassender Grafiken und vor allem die Recherche der in jedem Lebensmittel enthaltenen Nährstoffe – all das braucht Zeit. Kurze Erinnerung: Googeln konnte man das früher noch nicht.

Das Internet und moderne Geräte wie Smartphones oder Tablets haben diesen Prozess enorm vereinfacht. Heute kann man von einem Lebensmittel, das man verwendet, einfach den Barcode einscannen und hat direkt alle wichtigen Informationen dazu auf seinem Handy, nicht nur für heute, sondern auch für die vergangenen Tage, Wochen oder Monate. Dabei brauche ich dann kein immer dicker werdendes Buch mit Daten, deren Aufbereitung mich Unmengen an Zeit kostet. Die App kann meine Eingabe sofort mit alten Werten oder mit Zielen abgleichen, und das auch noch in Balken und Diagrammen laienverständlich aufbereiten. Denn auch die Technik zur Datenspeicherung und -verarbeitung hat sich dramatisch verbessert.

Die Speicherkapazität der in den Achtzigerjahren weitverbreiteten Floppy Disc von 1,2 Megabyte wäre jedenfalls schnell erschöpft gewesen. Ganz abgesehen davon, dass das Diskettenformat ziemlich unpraktisch gewesen wäre. (Für alle jüngeren Leser, die sich jetzt irritiert fragen, was eigentlich eine Floppy Disc oder eine Diskette ist: Das sind Speichermedien wie USB-Sticks, nur viel größer, dafür passt aber weniger drauf.) Moderne Fitnessarmbänder und Uhren überzeugen nicht nur durch ihre Größe, sondern bringen meist auch ein paar Gigabyte Speicherplatz mit. Das ist natürlich eine ganz andere Hausnummer.

Ein weiterer Aspekt, der die Quantifizierung unserer Körperdaten entscheidend vorangetrieben hat, ist die rasante Weiterentwicklung biometrischer Sensoren. Sei es für die Messung des Körperfettanteils, des Schlafverhaltens oder auch des Aktivitätsverhaltens: Alles, was man brauchte, waren recht präzise und gleichzeitig für die breite Masse bezahlbare Sensoren. Dass dabei ganz nebenbei ein großer Markt entstanden ist, auf dem immer mehr Unternehmen nicht nur die Hardware, also die Geräte zur Selbstvermessung an sich, sondern auch die geeignete Analyse- und Speichersoftware in Form von Apps und Co. zur Verfügung stellen, hat ebenfalls zur zunehmenden Vermessung unseres Alltagslebens beigetragen. Laut Prognose des Beratungsunternehmens A. T. Kearney wird sich der Umsatz an Wearables, also an tragbaren Computersystemen, die unter anderen der Selbstvermessung dienen, bis 2020 von 10 Milliarden US-Dollar im Jahr 2017 weltweit auf 14 Milliarden erhöhen. Dabei machen reine Aktivitätstracker fast 20 Prozent des Absatzmarktes aus, multifunktionale Geräte wie etwa Smartwatches über 60 Prozent. In Deutschland lag der Umsatz für Fitnesstracker 2017 laut Statista bei 143 Millionen Euro. Dass man in der Hoffnung auf ein besseres und gesünderes Leben gern auch mal tiefer in die Tasche greift, finde ich grundsätzlich nachvollziehbar. Wer möchte nicht mehr Sport treiben, sich gesünder ernähren oder besser schlafen? Doch ab wann schränkt dieses Bedürfnis unser Leben eher ein, als dass es eine Verbesserung darstellt?

Die Grenzen der Vermessung – »Geht nicht gibt’s nicht!«

Henry und ich haben uns zum Frühstück in einem hippen Café in der Innenstadt verabredet. Nachdem die Kellnerin zweimal die kernige Frühstücksplatte auf unserem Tisch verteilt hat, kramt Henry eine kleine Taschenwaage aus seinem Rucksack hervor. Nein, »kramen« trifft es eigentlich nicht. Zielsicher öffnet er eine der Taschen und landet mit einem Griff einen Volltreffer. Er platziert das Gerät vor sich auf dem Tisch und holt sein Smartphone aus der Hosentasche. Henry beginnt einzelne Wurst- und Käsescheiben, den Frischkäse, Honig und schließlich das im Eierbecher vor ihm stehende Ei zu wiegen und alles akribisch genau in sein Smartphone einzutippen.

»Kann ich dein Ei auch noch haben, sonst komme ich mit meiner Makronährstoffverteilung nicht hin?«, fragt er schließlich. Noch ehe ich antworten kann, schnappt er sich mein Frühstücksei und notiert den schon gedanklich vollzogenen Verzehr in seinem Handy. »Warum isst du die Sachen nicht einfach?«, frage ich nach fünf Minuten faszinierter Stille. Während er noch irgendetwas auf seinem Display herumtippt, wirft Henry mir einen genervten Blick über die Ränder seiner Brille zu. Mit dem Gefühl, etwas furchtbar Dummes gefragt zu haben, schnappe ich mir eines der Brötchen. »Ich meine ja nur … Du musst nicht abnehmen und besondere sportliche Ziele verfolgst du zurzeit auch nicht, oder?«, versuche ich es etwas differenzierter.

»Das sind ja auch mittelmäßige Ziele, über die ich schon längst hinaus bin. Im Gegensatz zu dir gebe ich mich offensichtlich nicht mit Mittelmaß zufrieden. Ich will die beste Version von mir sein, die ich sein kann.« In seinem Blick liegt etwas Pathetisches, fast schon Heroisches. Soso, die beste Version von sich selbst werden … Das klingt im Prinzip gar nicht so schlecht und irgendwie nach einem guten Ziel, denke ich mir, lasse mir allerdings nichts anmerken. »Dafür muss man die Sachen, die man ins System reinsteckt, eben immer weiter optimieren. Die Rennwagen bei der Formel 1 fahren ja auch nicht mit mittelmäßigen Reifen oder Treibstoffen. Ein bisschen mehr Anspruch täte dir gut«, giftet Henry mich an. »Und, woran wirst du merken, wenn du dein Optimum erreicht hast?«, frage ich nun ernsthaft interessiert. »Der Weg ist das Ziel. Ich dachte, du als Reisebegeisterte wüsstest das.«

Tatsächlich ist die Quantified-Self-Bewegung inzwischen mehr als nur ein Trend. Selbstvermessung ist regelrecht zum Lifestyle avanciert, frei nach dem Motto: Vermutest du noch oder misst du schon?

War die Überwachung des Herzschlags früher noch Angelegenheit von Kardiologen, wenn Verdacht auf ein medizinisches Problem bestand, schwappte diese Möglichkeit später in den Bereich des Leistungssports über und ist mittlerweile in der Normalbevölkerung angekommen. Mit Pulsgurten und Fitnessarmbändern können wir über den gesamten Tag hinweg in Zahlen fassen, was im Inneren unseres Körpers mit unserem Herzschlag passiert, wann wir uns aufregen, anstrengen und zur Ruhe kommen. Mittlerweile braucht man dafür nicht einmal mehr einen Pulsgurt. Neueste Kopfhörermodelle können weitaus mehr als einfach nur Musik abzuspielen. Über eingebaute Sensoren messen sie nicht nur die Herzfrequenz, sondern zeichnen auch die sportliche Aktivität des Nutzers auf. Über Sprachsteuerung kann man zum nächsten Titel wechseln oder sich per Sprachausgabe von den Mini-Trainern im Ohr unterstützen lassen. Die gesammelten Daten landen dann direkt auf dem Smartphone und können dort zur Selbstanalyse genutzt werden. Kaum zu glauben, dass Menschen früher einfach so ohne alles Sport getrieben haben. Das Spüren des eigenen Herzschlags, wenn er schneller wird, und die Kurzatmigkeit kann man natürlich auch als Indizien für einen erhöhten Puls heranziehen, aber, wie Henry schon sagte, sicher ist man sich erst, wenn man die exakte Zahl schwarz auf weiß beziehungsweise in Pixeln auf dem Display sieht.

Die Selbstvermessung ist längst aus ihren Kinderschuhen hinausgewachsen. Das Universum der Möglichkeiten zur Selbstvermessung ist scheinbar grenzenlos. Und Gary Wolf liegt natürlich ganz richtig, wenn er sagt, dass es doch nur nachvollziehbar sei, wenn man über sich selbst so viel wissen wolle, wie Apple, Facebook und Google es ohnehin bereits tun. Von medizinischen Parametern, wie Blutzucker, Blutdruck oder Cholesterinwerten, über Verhaltensmaße, wie etwa zurückgelegte Schritte oder finanzielle Ausgaben, bis hin zu Gehirnströmen oder der eigenen Stimmung lässt sich inzwischen so ziemlich alles selbst messen. Die Liebe zu selbst erfassten Daten ist zu einer bedingungslosen Liebe geworden.

Was auf den ersten Blick furchtbar romantisch klingt, kann auf den zweiten Blick irgendwie nach jeder Menge Quatsch aussehen. »Wahre Liebe, um bei der Metapher zu bleiben, überwindet die Konventionen der Vernunft und entflammt selbst für abwegige Fragen – wie zum Beispiel, ob man schneller einschläft, wenn man vorher einige Minuten auf beiden Beinen steht, oder wie oft man jeden Buchstaben des Alphabets auf seiner Computertastatur tippt«, wie es Literatur- und Medienwissenschaftler Roberto Simanowski in seinem Buch Data Love sarkastisch beschreibt. Wenn wir den vorherigen Absatz als repräsentativ für meinen Schreibstil ansehen, zeigt sich ein klares Ungleichgewicht in meiner Buchstabenbenutzung und damit Tastaturabnutzung. Die Poleposition der von mir am häufigsten genutzten Buchstaben nimmt das »E« mit 91 Anschlägen ein, mit deutlichem Vorsprung vor dem »S« mit 57 Benutzungen und dicht gefolgt vom »N« mit 53 Anschlägen. Wenn ich ehrlich bin, finde ich diese Erkenntnis gar nicht so unnütz, denn beim nächsten Galgenmännchen-Spiel trifft man mit diesen Buchstaben bestimmt ins Schwarze.

Bei den folgenden Beispielen können Sie sich ja gern selbst einmal ein Bild machen, wie sinnvoll und klug die vermeintlich smarten Gadgets und Anwendungen tatsächlich sind. So gibt es seit einigen Jahren Gabeln, mit denen man seine Essgewohnheiten messen und verbessern kann. Waren Vorläufermodelle noch dumm wie Brot, registriert die smarte Gabel jedes Mal, wenn man Essen vom Teller in den Mund befördert. Isst man zu schnell, wird das durch Lichter und leichte Vibrationen der Gabel angezeigt. Die Gabel erfasst, wie lange man für jedes Essen braucht, wie häufig man die Gabel pro Minute in den Mund führt und wie viel Zeit dazwischen jeweils vergeht. Ich finde es verstörend und faszinierend zugleich, wie aus den alltäglichsten Handlungen eine regelrechte Wissenschaft gemacht werden kann. Die Daten der Gabel lassen sich dann natürlich noch per Bluetooth oder USB auf den eigenen Account der Online-Plattform des Anbieters laden und sein Essverhalten über die Zeit hinweg verfolgen und analysieren. Ziel ist es, langsamer zu essen, da ein zu schnelles Essen mit Verdauungsproblemen, Gewichtszunahme und Sodbrennen in Verbindung gebracht wird. Für alle, die ihr Essen gern schlingen, sicherlich eine gute Sache. Die nächste folgt sogleich.

Denn was in unserem Mund und unserem Magen landet, bleibt zu einem Teil auch auf unseren Zähnen haften. Auch dafür gibt es mittlerweile intelligente Unterstützung aus der Technikabteilung. Ich muss ja gestehen, dass ich nach wie vor nicht mal eine elektrische Zahnbürste besitze, sondern immer noch ziemlich altmodisch meine Zähne durch eigene Schrubb- und Kreisbewegungen zu säubern versuche. Bisher hatte ich damit nie Probleme, aber besser geht ja immer, nicht wahr? Die Zukunft ist also intelligent oder neudeutsch: smart. Da kann selbst die normale elektrische Zahnbürste einpacken. Die Kontrolle der Putzdauer ist dabei noch Grundschulniveau. Denn dank diverser Sensoren überwacht die Zahnbürste von morgen nicht nur die Bereiche im Mund, die wir bereits geputzt haben, sondern auch, ob wir den richtigen Druck ausüben. Ja, auf das Finetuning kommt es an. Via Bluetooth lassen sich die Daten dann auf einer App visualisieren, um die eigene Putztechnik zur Perfektion zu bringen. Und damit aus dem täglichen Zähneputzen ein echtes Erlebnis wird und der Spaßfaktor nicht zu kurz kommt, vergibt die App Auszeichnungen wie etwa Pokale, wenn man über einen längeren Zeitraum optimales Putzverhalten an den Tag legt. Ich warte nur auf den Moment, wenn auf Facebook einer meiner Freunde seine Errungenschaften beim Zähneputzen voller Stolz via App teilt.

Zugegeben: Die Vermessung der Zahnpflege hat echte Vorteile, da erwiesenermaßen das Putzverhalten und die Zahngesundheit verbessert werden. Auch regelmäßige Kontrolltermine und das Wechseln der Bürstenköpfe werden dank mitdenkender Smartphone-App nicht mehr so schnell vergessen. Aber wie viel Informationen stecken eigentlich im Speichel? Das werden wir bestimmt in naher Zukunft herausfinden und unsere Zahnbürste wird genau das für uns messen können. Wir dürfen gespannt sein.

Natürlich wird auch unser Gehirn und seine Leistungsfähigkeit bei Selbstvermessern zum Gegenstand der Optimierung. Mittlerweile werden darüber hinaus unsere Psyche, unser Innenleben und unsere Spiritualität mit Zahlen erfassbar. Zumindest versucht man das. Davon erhoffen sich die Datengläubigen ein tieferes Verständnis nicht nur des Körpers, sondern auch mentaler Prozesse. So lässt sich beispielsweise unsere Produktivität im digitalen Zeitalter, zumindest wenn wir einem entsprechenden Job am Computer nachgehen, durch Apps nachverfolgen und verbessern.

Apps wie RescueTime laufen im Hintergrund des eigenen Computers oder mobilen Endgerätes und erfassen ganz genau, mit welchen Programmen und auf welchen Webseiten wir wie viel Zeit verbringen. Diese Daten können wir uns dann in Tabellen und Diagrammen anzeigen lassen, um genau zu wissen, wie viel Zeit wir tatsächlich auf unser produktives Arbeitskonto rechnen dürfen. Kleine Warnung vorab: Es ist mit Sicherheit weniger, als Sie denken. Doch diese Tools können noch mehr. Sie alarmieren, wenn wir zu viel Zeit mit einer bestimmten Tätigkeit, zum Beispiel Tiervideos auf YouTube anschauen, verbracht haben oder blockieren ablenkende Webseiten wie Facebook, wenn wir konzentriert arbeiten wollen. Das Ganze gibt es natürlich auch für Unternehmen, aber keine Sorge, die Teamdaten werden schön zu Mittelwerten zusammengefasst, damit niemand Angst haben muss, deshalb auf der nächsten Entlassungsliste zu stehen. So zumindest die Zusicherung des Anbieters.

Wearables fürs Gehirn versprechen eine Verbesserung der Konzentration und das frühzeitige Erkennen von Stress. Sie sehen aus wie Headsets und messen die elektrische Aktivität auf der Oberfläche des Gehirns, daher werden sie auch EEG- Headsets genannt und sind teilweise schon ab hundert Euro im Internet zu bestellen. Die Signale, die sich damit messen lassen, sind die elektrischen Wellen des Gehirns, welche wiederum unterschiedliche Aktivitäts- beziehungsweise Bewusstseinszustände anzeigen. Diese lassen sich dann nicht nur aufzeichnen, sondern auch visualisieren. Hierdurch lassen sich etwa Entspannungseffekte von Meditation oder dergleichen auf das eigene Stresslevel erfahrbar machen und Fortschritte dokumentieren.

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Beispielsweise haben sich finnische Wissenschaftler mit der Vermessung von Emotionen beschäftigt. Sie brachten Wärmeveränderungen im Körper mit unterschiedlichen Emotionen in Verbindung. Wenn man diese Temperaturveränderungen mit spezifischer Kleidung misst, könnte man so auch die empfundenen Emotionen des Trägers in Zahlen erfassen. Um einen Zusammenhang herzustellen, ließen die Forscher ihre Versuchspersonen deren Wärme- oder Kälteempfindungen in bestimmten Körperbereichen bei unterschiedlichen Emotionen beschreiben. Dabei fanden sie ein sehr einstimmiges Muster. Während Liebe beispielsweise ein warmes Gefühl im Rumpf und Kopf erzeugte, berichteten die Probanden ein Kälteempfinden in den Gliedmaßen bei depressiver Stimmung. Freude war durch ein wohlig warmes Gefühl im ganzen Körper und ganz besonders im Kopf und der Brust zu beschreiben.

Die tägliche Befindlichkeit lässt sich über Apps wie Mood-Panda nachverfolgen. Auf einer Skala von 0 bis 10 kann man täglich einschätzen, wie man sich fühlt. Statistische Kennwerte, wie die durchschnittliche Stimmung, oder eine grafische Aufbereitung der Stimmungskurve ermöglichen den Vergleich mit anderen. Zusätzlich zum eigenen Stimmungsverlauf wird auch die gemittelte Stimmungskurve aller Nutzer angezeigt, sodass man sofort sieht, ob man über- oder unterhalb des Durchschnitts liegt. In leicht verständlichen Diagrammen werden der beste und schlechteste Tag angezeigt, und ein Tortendiagramm illustriert die Verteilung von glücklichen, unglücklichen und mittelmäßigen Tagen. Bei MoodPanda.com gibt es außerdem die Möglichkeit, Unterstützung aus der Community zu erhalten, also online mit anderen zu kommunizieren. Andere sogenannte Mood-Tracker funktionieren etwa bei Depressionspatienten über eine direkte Verbindung zu einem Therapeuten oder Familienmitglied, die benachrichtigt werden, sobald sich der Stimmungszustand deutlich verschlechtert. Mit vergleichbaren Apps lässt sich die eigene Meditationspraxis dokumentieren oder unser Stresslevel systematisch nachverfolgen.

Wer von der Selbstvermessung dann immer noch nicht genug hat, legt sich das smarte Kondom i.Con zu, mit dem sich auch die Leistung im Bett in bunten Graphen und ganz unerregten Zahlen darstellt. Da es sich hierbei um ein seriöses Sachbuch handelt, ist das übrigens kein Witz. Das smarte Kondom ist jedoch weniger Kondom als vielmehr ein Ring, der über das Kondom gezogen wird und mit verschiedensten Sensoren und einem Nanochip ausgestattet ist. Über Bluetooth kommuniziert das Gerätchen mit einer App auf dem Smartphone. Die Leistungsdaten wie etwa der Kalorienverbrauch, die Dauer des Liebesaktes, Stoßhäufigkeit und -geschwindigkeit oder Temperatur können nach dem Geschlechtsverkehr in einer App eingesehen werden. Die Daten lassen sich dann mit früheren Leistungen vergleichen oder für die ganz Mutigen in sozialen Netzwerken teilen. Das i.Con ist quasi der Fitnesstracker fürs Schlafzimmer.

Noch bevor es zum Einsatz des i.Con kommt, ist vielleicht die Erfindung des japanischen Unterwäscheherstellers Ravijour von Interesse: Dieser hat vor ein paar Jahren mit dem True Love Tester einen smarten BH auf den Markt gebracht. Dieser BH lässt sich nur öffnen, wenn als Zeichen für wahre Liebe die Herzfrequenz der Trägerin, gemessen über einen eingebauten Hautsensor, ein gewisses Level erreicht. Okay, viel mehr als ein Scherzartikel kann das ja wohl nicht sein, auch wenn die Ausführungen des Anbieters einen durchaus ernst gemeinten Eindruck machen.

Bei unserem nächsten Treffen kann ich es mir nicht verkneifen, Henry zu fragen, ob er in letzter Zeit mit dem i.Con Erfahrungen gesammelt habe oder unlängst an einem intelligenten BH gescheitert sei. Ein Schlag unter die Gürtellinie, wie ich sofort erkenne. Henry wirft mir einen finsteren Blick zu. Offenbar geht in diesem Bereich gerade nicht so viel bei ihm. Ich habe kurz ein schlechtes Gewissen, doch schon im nächsten Augenblick erkenne ich, dass sich die Frage voll gelohnt hat.

»Ich mache das hier nicht, um irgendwem was zu beweisen.« Er klingt erstaunlich überzeugt, doch irgendwie glaube ich ihm nicht.

»Und warum postest du dann ständig die Ergebnisse deines Fitnesstrackers auf Facebook?«

»Als Motivation für mich und andere vielleicht? Wie wäre es, wenn du es einfach selbst mal ausprobierst, statt hier schon wieder rumzufrotzeln? Ich wollte mir eh einen neuen Fitnesstracker kaufen. Du kannst meinen haben.«

Oh, verdammt, die Wendung habe ich nicht kommen gesehen. Aber warum eigentlich nicht, denke ich mir. Allein aus Gründen der wissenschaftlichen Recherche komme ich wohl nicht umhin, der ganzen Sache eine Chance zu geben und selbst einmal in den Genuss der Faszination der eigenen Quantifizierung zu kommen. Ich bin gespannt.

Doch zurück zu wirklich sinnvollen Anwendungen. Unter dem Begriff E-Health sollen Informations- und Kommunikationstechnologien, allen voran die Möglichkeiten der Selbstvermessung, das Gesundheitssystem bereichern. Vor allem für chronisch Kranke kann die neue Selbstvermessungstechnologie ein echter Gewinn sein, beispielsweise für Diabetespatienten, die ihren Insulin- und Glukosespiegel im Blut regelmäßig kontrollieren müssen. Für sie ist es lebensentscheidend, beide Werte in einem gesunden Bereich zu halten, um so eine Überoder Unterzuckerung zu vermeiden. Für eine kontinuierliche Überwachung wird ein kleiner Sensor direkt unter die Haut implantiert und ein daraufsitzender Transmitter über der Haut schickt die Signale dann per Bluetooth an die dazugehörige App auf dem eigenen Smartphone. Alle fünf Minuten gibt es dann ein neues Update zum Blutzuckerspiegel, das einem genau sagt, wo man gerade steht und welche Entwicklung zu erwarten ist. Das kann vielen Betroffenen die Unsicherheit nehmen und gerade Eltern können ungünstige Werte bei ihren Kindern leichter überwachen. Zusätzlich helfen Alarmsignale, kritische Entwicklungen des Blutzuckers frühzeitig zu erkennen und so das Risiko für eine Unterzuckerung, die tödlich enden kann, beispielsweise während der Nacht zu reduzieren.

Auch vor einem weniger akuten, aber nicht minder ernsten Hintergrund, etwa bei Menschen mit starkem Übergewicht, kann die Selbstvermessung aus gesundheitlicher Sicht wertvoll sein. Um Gewicht zu verlieren, braucht es ein gewisses Kaloriendefizit, welches durch das Tracken der zu sich genommenen Kalorien sowie derer, die durch Bewegung verbraucht wurden, nachverfolgen lässt.

Die Vorteile der digitalen Selbstvermessung sind also kaum von der Hand zu weisen. Indem wir Einblicke in sonst nicht oder nur schwer zugängliche Prozesse unseres Körpers und Verhaltens gewinnen, lernen wir jede Menge über uns selbst. Dabei werden viele Selbstvermesser von einem regelrechten Pioniergeist getrieben. Sie wollen sich nicht auf allgemeine Erkenntnisse verlassen, die immer nur auf Mittelwerten über große Menschengruppen hinweg gelten. Sie wollen es genau wissen. Was wirkt wie bei mir als Einzelperson unter meinen ganz spezifischen Bedingungen und was nicht?

Tim Ferriss, US-amerikanischer Autor und Unternehmer, hat auf der Wired Health Conference: Living by Numbers 2012 diesen Aspekt mit einem persönlichen Beispiel verdeutlicht. Schon lange litt er – wie viele andere – unter Schlafproblemen. Doch erst als er ernsthaft anfing, seinen Schlaf zu tracken, zu überwachen und damit in Beziehung zu setzen, wie ausgeruht er sich am nächsten Tag fühlte, kam er zu der Erkenntnis, dass seine Erschöpfung gar nicht in erster Linie von der Gesamtmenge an Schlaf abhing, die er pro Nacht schlief, sondern von der Dauer an REM-Schlaf (Rapid Eye Movement, die Schlafphase, in der wir träumen). Durch verschiedene Maßnahmen, die er daraufhin ergriff, konnte er seine Schlaflosigkeit und Müdigkeit am Tag, die ihn sein Leben lang geplagt hatten, loswerden. Ein hervorragendes Beispiel, wie Daten unsere Veränderungsmotivation beeinflussen können.

Die kontinuierliche Überwachung bestimmter Verhaltensweisen ist eine in der Psychologie am besten und meist erforschten Strategien zur Verhaltensänderung. Wenn ich beispielsweise einen Schrittzähler trage oder meine Schritte per Smartphone tracke, kann ich regelmäßig am Tag auf mein Schrittkonto schauen und bei Bedarf eine Extrarunde im Park drehen, um mein Tagesziel zu erreichen. Die eingebauten Feedbackschleifen in den Selbstvermessungstools erfüllen eine wichtige motivationale Funktion. Ohne Selbstvermessungstechnologie könnte ich das ungefähr hinkriegen, aber es wäre mit mehr Aufwand und mehr Überlegungen verbunden. Zudem erinnern viele Fitnesstracker heutzutage beispielsweise auch daran, regelmäßig aufzustehen, wenn man zu viel Zeit im Sitzen verbringt, was wiederum der Gesundheit schadet. Oder erinnern wir uns an die Produktivitätsapps, die unser Verhalten am Computer während der Arbeit erfassen: Wenn ich zu viel im Internet surfe, kann mir die App das rückmelden und ich kann mein Verhalten entsprechend anpassen und mich wieder auf die Arbeit konzentrieren (oder zumindest so tun …, das Surfen in unserem Gedankeninternet kann momentan ja glücklicherweise noch nicht gemessen werden).

Während wir uns gern selbst an der Nase herumführen und wahre Meister darin sind – unserem Unterbewusstsein und der wohltuenden Verdrängung sei Dank –, können wir vor den objektiv gemessenen Zahlen nur schwerlich die Augen verschließen. Selbst wenn ich mich in gut geschnittenen Klamotten und im Schummerlicht einer Bar am Abend richtig gut fühle, lassen sich die zwanzig Kilo zu viel auf der Waage am nächsten Morgen nicht kaschieren. Und während ich mir selbst noch ganz wunderbar einreden kann, dass ich doch pünktlich um 10 Uhr ins Bett gegangen und damit genug Schlaf bekommen haben muss, kann ein entsprechendes Vermessungsgerät aufdecken, dass ich womöglich erst zwei Stunden zu spät eingeschlafen bin und dann auch noch eine schlechte Verteilung meiner Schlafphasen hatte.

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Wir haben mit der Selbstvermessung also die Chance, Informationen über uns zu erhalten, die nicht durch den subjektiven Filter unserer Wahrnehmung und unseres Unterbewusstseins laufen. So unschön das manchmal sein mag, so sehr brauchen wir doch echtes Feedback für zielführende Veränderungen.

Wenn ich ein schlechter Redner bin und von Zuhörern immer nur gesagt bekomme, wie toll meine Vorträge sind, habe ich kaum eine Chance, mich ernsthaft zu verbessern. Dafür würde es schon viel ehrlicher Selbstreflexion bedürfen. Die Selbstvermessung hilft uns genau bei diesem Prozess und dabei gibt es dann nicht mal jemanden, auf den wir sauer sein können, weil er oder sie etwas Kritisches zu unserem Verhalten gesagt hat. So kann beispielsweise das Führen eines Ernährungstagebuches zu einem fast doppelt so großen Gewichtsverlust führen, als wenn man nicht dokumentiert, was man den lieben langen Tag so isst. Natürlich kann man das Gegessene auch auf Zettel schreiben, aber die digitalen Selbstvermessungstechniken erleichtern diesen Prozess enorm und senken damit die Hürde für Menschen, so etwas wie ein Ernährungstagebuch zu führen.

Indem ich bestimmte Sachen messe und aktive Selbstvermessung betreibe, werden mir auch meine Entscheidungen bewusster. Denn auf die Dinge, die man misst, lenkt man mehr Aufmerksamkeit. Wenn ich etwa meine Kalorien und Nährstoffe per App tracke, dann achte ich bei den Lebensmitteln, die ich kaufe und konsumiere, auch mehr darauf, was eigentlich drin steckt. Das ist wie damals als Kind, wenn wir mit unseren Eltern in den Urlaub gefahren sind und auf der Autobahn Such- und Zählspiele gespielt haben. Wenn es hieß, wer zuerst zehn rote Autos gesehen hat, gewinnt, haben mein Bruder und ich wie verrückt nach roten Autos Ausschau gehalten. Die wären unserer Aufmerksamkeit ansonsten vermutlich völlig entgangen. Und das funktioniert natürlich auch bei bedeutsameren Dingen als dem Gewinnen eines Zählspiels. Indem durch die Selbstvermessung nun also das Unsichtbare sichtbar und das Qualitative quantitativ wird, können wir wichtige Einblicke und Selbsterkenntnisse gewinnen und unsere Gesundheit, unsere Leistungsfähigkeit und womöglich sogar unser Wohlbefinden wirklich verbessern.

Dieses Buch

Zahlen und Daten spielen in fast allen Lebensbereichen eine zentrale Rolle: Millionen von Menschen nutzen neueste Gadgets, wie Fitnessarmbänder und dazugehörige Apps, um ihr Bewegungsverhalten, ihren Kalorienverbrauch oder ihr Schlafverhalten zu vermessen. Die soziale Beliebtheit wird an der Anzahl der Follower in sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter abgelesen und die Qualität eines Fotos durch die erzielten Likes auf Instagram in Zahlen gesteckt. Unser Kaufverhalten wird mit Daten erfasst und die Muster liefern Konzernen wichtige Informationen zur weiteren Produktentwicklung. Daten werden zur Manipulation von Wahlen genutzt, datengestützte Interessenprofile für zielgerichtete Werbemaßnahmen. Die Wahrscheinlichkeit für Erkrankungen und Kosten über in der Vergangenheit ermittelte Muster bilden Grundlage für Versicherungsbeiträge.

Mir als Psychologin stellen sich in diesem Zusammenhang verschiedene Fragen, die tief in die menschliche Existenz ragen, aber auch ganz alltäglicher und praktischer Natur sind. Die wichtigste ist jedoch: Wo ist eigentlich der Mensch, das Menschliche zwischen all den Daten und was macht der Vermessungswahn mit einem Wesen, das zwar vernunftbegabt, in aller Regel aber häufig nicht rational agiert. Inwieweit lässt sich unsere Realität überhaupt mit Nullen und Einsen abbilden und wie positiv ist diese Entwicklung hin zur Vermessung unseres ganzen Lebens?

Genau um diese Fragen soll es in diesem Buch gehen. Denn Menschen machen Fehler. Wir sind subjektiv und irrational. Unsere Erinnerungen und Wahrnehmungen liefern uns verzerrte Bilder der Realität. Selbst vermeintlich banale Fragen wie »Was habe ich vorgestern zu Abend gegessen?« oder »Wie viel Geld gebe ich an einem normalen Tag aus?« stellen uns auf der Suche nach einer Antwort vor eine Herausforderung. Hierin sehen die Verfechter der Vermessung eine große Schwäche, die wir dank Zahlen und Daten überwinden können. Aber ist das wirklich so? Und wie zutreffend ist die Überzeugung der Selbstvermessungsenthusiasten, dass sich der Mensch in seiner Gänze in Zahlen und Daten abbilden ließe? Sind wir nicht mehr als die Summe unserer Daten?

Ich kann mit diesem Buch keine abschließenden Antworten auf derartige Fragen liefern. Das wäre wohl mindestens genauso vermessen wie einige Überzeugungen, die mit der totalen Quantifizierung unseres Lebens einhergehen. Stattdessen möchte ich Ihr Bewusstsein für wesentliche Aspekte unserer von Zahlen und Daten geprägten Welt schärfen und zur kritischen Auseinandersetzung damit anregen. Das Thema ist komplex und viele Aspekte sind aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, daher wünsche ich mir, dass mein Buch zur ein oder anderen lebhaften Diskussion beiträgt.

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Das vermessene Ich