Die Autorin

Penny Reid – Foto © Korie Hayes

Penny Reid ist USA Today Bestseller-Autorin der Winston-Brothers-Serie und der Knitting-in-the-city-Serie. Früher hat sie als Biochemikerin hauptsächlich Anträge für Stipendien geschrieben, heute schreibt sie nur noch Bücher. Sie ist Vollzeitmutter von drei Fasterwachsenen, Ehefrau, Strickfan, Bastelqueen und Wortninja.

Das Buch

Sandra ist erfolgreiche Psychotherapeutin. Leider auch nach Feierabend: Von ihren letzten 30 Dates endeten 29 damit, dass der Mann am Ende hemmungslos heulte. Am Ende eines weiteren Desasters, lässt sich Sandra auf einen vermeintlich harmlosen Flirt mit dem Kellner ein, der regelmäßig Zeuge ihrer schrecklichen Verabredungen ist: Alex. Er ist geheimnisvoll, schlagfertig und irgendwie auch unfreundlich, also gar nicht ihr Typ. Aber plötzlich muss die Frau, die seit Jahren anderen bei Lebensveränderungen zur Seite steht, aufpassen, dass sie sich nicht ausgerechnet in den Mann verliebt, der sich absolut nicht ändern will.

Von Penny Reid sind bei Forever erschienen:
In der Winston-Brothers-Reihe:
Wherever you go
Whatever it takes
Whatever you need
Whatever you want
Whenever you fall
When it counts
When it's real

In der Knitting-in-the-City-Reihe:
Love factually
Friends without benefits
Factually married
The Logic of Kissing

Penny Reid

The Logic of Kissing

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Sybille Uplegger

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Deutsche Erstausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin August 2020 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Copyright © 2014. Love Hacked by Penny Reid
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Love Hacked (Penny Reid 2014)
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95818-526-5

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Meinem Mann. Danke für deine Liebe zu mir, kuriose Fakten und verstörende technische Innovationen (in genau dieser Reihenfolge).

Kapitel 1


Er hatte eine Glatze, bei deren Anblick ich unwillkürlich an Melonen und Sex denken musste. Hellbrauner Anzug, grüne Krawatte, weißes Hemd – Chuck war eine Honigmelone.

Wir waren uns in der Schlange vor dem Imbissstand bei einem Spiel der Chicago Cubs begegnet. Ich hatte ihn gesehen und sofort gewusst: Der ist es. Dies war der Mann, von dem in meinem Sonntagshoroskop die Rede gewesen war. Wie alle hochintelligenten Frauen, die etwas auf sich halten, lese auch ich allmorgendlich das Horoskop in der Zeitung – gleich nach den Todesanzeigen und noch vor den Comics.

An diesem Morgen hatte mein Horoskop folgendermaßen gelautet: Seien Sie wachsam; heute werden Sie den Menschen treffen, durch den Ihr zukünftiges Leben eine entscheidende Wendung erfährt.

Als ich ihn in der Warteschlange angesprochen – soll heißen: ihm eine Konversation aufgezwungen – hatte, war sein kahler Schädel unter einer Baseballkappe verborgen gewesen. Sein Gesicht und sein freundliches Lächeln hatten mir auf Anhieb gefallen. Ich hatte gespürt, dass er sich über meine Aufmerksamkeit wunderte und mit der Situation ein bisschen überfordert war, nichtsdestotrotz hatte er bereitwillig einem Date zugestimmt.

Doch nun, ohne Baseballkappe und erhellt vom Schein der Kerze, die zwischen uns auf dem Tisch stand, wirkte die untere Hälfte seines Kopfes wie ein Spiegelbild der oberen, und beide Hälften zusammen ergaben eine runde, glänzende, ziemlich undefinierbare Kugel aus melonengelber Haut.

»Der Bella Costa ist ein ausgezeichneter Jahrgang. Zartes Bukett, aber kräftig am Gaumen mit Noten von Brombeere und zerstoßenem Pfeffer.« Er lächelte mich um Anerkennung heischend an.

Meine linke Augenbraue wanderte ganz von selbst in die Höhe.

»Zerstoßener Pfeffer? Im Wein?«

»Ja.« Er gluckste. »Entschuldige. Ich bin so etwas wie ein Connaisseur. Ein Schüler der Rebe, wenn man so will. Letzten Sommer habe ich an einem einwöchigen Sommelier-Workshop bei Louis Martini in Napa teilgenommen.«

»Ist das so, Chuck?«

Wieder gluckste er, und sein großer, runder Kopf wippte auf und ab.

Chuck, die glucksende Honigmelone.

»Du bist sehr witzig, Sandra.«

»Ach ja? Ich hatte gar nicht den Eindruck, etwas Witziges gesagt zu haben.« Ich zog die Nase kraus und lachte mit ihm, obwohl ich keine Ahnung hatte, weshalb wir eigentlich lachten. Das passierte mir oft – dass die Leute mich ohne erkennbaren Grund lustig fanden. Deshalb hatte ich mir schon vor langer Zeit angewöhnt, einfach zu lächeln und zu nicken und dann mit ernster Stimme weiterzureden. Davon musste mein Gegenüber in der Regel nur noch mehr lachen.

Die meisten Menschen sind geradezu deprimierend berechenbar in ihrer Gewöhnlichkeit.

Doch ich wollte mir von Chucks potenzieller Berechenbarkeit nicht die Laune verderben lassen. Ich hatte mir für das Date extra ein neues Kleid gekauft – feuerrot, trägerlos und knalleng. Außerdem hob es meine von Natur aus eher bescheidenen Brüste an, sodass man sie wirklich nicht übersehen konnte. Von freudiger Erwartung erfüllt, hatte ich mir große Mühe mit meinem Äußeren gegeben. Die Zebraprint-Stilettos, die ich von meiner Freundin Janie geborgt hatte, waren vielleicht etwas zu viel des Guten. Aber ich setzte große Hoffnungen in Chuck.

In meinem Horoskop hatte gestanden, dass er für mein zukünftiges Leben eine bedeutsame Rolle spielen würde, und ich konnte es gar nicht erwarten, dieses zukünftige Leben endlich zu beginnen.

Ich versuchte, mich nicht in rosaroten Tagträumen zu verlieren, aber es fiel mir schwer. Schon während ich mich für das Date hübsch gemacht hatte, war in meinem Kopf die Produktion Instagram-tauglicher Fotos aus unserem gemeinsamen Leben angelaufen: Saisonkarten für die Cubs. Wir beide, wie wir den Cardinal-Fans obszöne Beleidigungen zurufen. Wie wir uns bei Portillo’s ein Hotdog teilen. Nackt auf der Couch beim freitäglichen Horrorfilmabend oder sonntags beim gemeinsamen Zeitunglesen. Und natürlich eine beeindruckende Fülle an Schlafzimmer-Akrobatik.

Aber erst mal musste ich die Tatsache verdauen, dass er bislang zutiefst durchschnittlich wirkte.

Sein Gelächter verstummte, doch sein Mund lächelte weiter. »Keiner nennt mich noch Chuck«, sagte er. »Normalerweise bevorzuge ich Charles.«

»Oh.« Auch ich hörte auf zu lachen. »Das tut mir leid, Charles. Ich wusste nicht …«

»Nein, nein, ist schon gut.« Er legte die Hand zwischen uns auf den Tisch. »Bei dir macht mir das irgendwie gar nichts aus.«

Oh. Aha. Mist.

Mein Magen krampfte sich in einem Anflug von Verzweiflung zusammen.

Ich erwiderte sein warmherziges Melonenlächeln, so gut ich konnte. Seine Aussage hatte mir einen herben Dämpfer verpasst, doch ich bemühte mich nach Kräften, mir nichts anmerken zu lassen. Es war zu früh, um die Flinte ins Korn zu werfen. »Aber du kennst mich doch kaum. Ich könnte eine gemeingefährliche Irre sein.«

Er gluckste. »Du bist wirklich hinreißend.«

Das Kompliment verbesserte meine Stimmung ein wenig. »Warst du deshalb mit der späten Uhrzeit einverstanden? Weil ich so hinreißend bin? Das tut mir übrigens leid, meine Schicht ist erst um neun zu Ende. Nicht jeder Mann wäre bereit gewesen, um zweiundzwanzig Uhr auf ein erstes Date zu gehen.«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist kein Problem. Schließlich lernt man nicht jeden Tag eine umwerfend schöne rothaarige Frau mit grünen Augen kennen, mit der man so gute Gespräche führen kann.«

Mit der man so gute Gespräche führen kann.

Ich lächelte, um meine wachsende Mutlosigkeit zu überspielen, dann widmete ich mich der Speisekarte auf meinem Schoß. Ich unterdrückte einen Seufzer. Unser Date hatte gerade erst begonnen, und schon jetzt musste ich mich gegen die schleichende Erkenntnis wehren, dass eventuell bereits alles vorbei war.

Falls Chuck innerhalb der nächsten fünf Minuten nicht etwas Außergewöhnliches sagte, war er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht die Person, durch die irgendetwas in meinem Leben eine wie auch immer geartete Wendung erfuhr – außer vielleicht, dass ich zum neunundzwanzigsten Mal in einem Restaurant sitzen gelassen werden würde.

Ich sah den Abend genau vor mir, so als wäre er bereits passiert. Irgendwie war er das auch. Dieses Date hier lief haargenau so ab wie jedes andere erste Date, das ich bisher gehabt hatte.

Es fängt immer gleich an: Der Mann sagt mir, wie wohl er sich in meiner Gegenwart fühlt, obwohl wir uns überhaupt nicht kennen. Er überlegt hin und her, was der Grund dafür sein könnte, und irgendwann gesteht er mir dann, dass ich ihn an jemanden erinnere – an seine erste Freundin, eine Nachbarin, an die Frau, die er immer wollte, aber nie bekommen hat. Auf mein Nachbohren hin räumt er ein, dass es eine ältere Frau war: eine nette Lehrerin, eine Tante oder – noch schlimmer! – seine Mutter. Als Nächstes erzählt er mir dann, wie stark ihn die Beziehung zu besagter Frau geprägt hat, und irgendwann ist er gar nicht mehr zu bremsen, und ich erfahre mehr, als ich jemals wissen wollte: über sein Leben, seine Träume, seine Erwartungen, dass er seine Eltern, seine Geschwister oder seine Freunde bitter enttäuscht hat oder von ihnen bitter enttäuscht wurde.

Und am Ende fängt er an zu weinen.

Wenn ich Glück habe, tut er das wenigstens nicht im Restaurant.

Irgendwann bedankt er sich bei mir, sagt mir, wie wundervoll ich bin, und schüttelte mir zum Abschied die Hand.

Dann fragt er mich noch, ob er mich anrufen kann – zum Reden. Ich gebe ihm die Visitenkarte meines Freundes Thomas, einem anerkannten Psychiater mit Spezialgebiet Familientherapie. Wir gehen in Freundschaft auseinander, und ich habe einen neuen Kumpel in meiner Sammlung – noch einen Mann, der bei mir zu Hause Bilder aufhängt oder mir beim Umzug hilft.

Er wiederum hat eine neue gute Freundin, die er seiner Frau vorstellen kann, wenn er irgendwann mal heiratet.

Doch ich wollte mich nicht vorschnell in mein Schicksal ergeben, also schaute ich wieder in die Speisekarte, allerdings ohne sie wirklich zu lesen. Ich wusste bereits, was ich bestellen wollte. Das war einer der zwei Gründe, weshalb ich als Ort für meine – durchaus zahlreichen – ersten Dates immer das Taj’s auswählte. Das Butter Chicken hier war nämlich apokalyptisch gut. Wenn ich mir aussuchen müsste, was meine letzte Mahlzeit auf Erden sein soll, würde ich mich für das Butter Chicken aus dem Taj’s entscheiden.

Der zweite Grund würde jeden Moment an unserem Tisch erscheinen – eine Aussicht, die mich ein wenig aufzuheitern vermochte.

»Weißt du was? Irgendwie erinnerst du mich an jemanden.« Chucks Bemerkung kam wie aufs Stichwort, und als er fortfuhr, hätte ich seinen Text praktisch mitsprechen können. »Du siehst einer Frau ähnlich, die ich früher mal gekannt habe.«

Ich sah ihn nicht an und hörte ihm auch nicht länger zu. Stattdessen wappnete ich mich innerlich für das, was gleich kommen würde. Oder vielmehr: für den, der gleich kommen würde.

Und er kam, pünktlich wie ein Uhrwerk. Ich musste nicht mal aufblicken, um zu wissen, dass er zwei Gläser Wasser in der Hand hatte. Meins war ohne Eis und Zitrone.

»Guten Abend«, sagte er, und seine samtene Stimme sandte ein köstliches Kribbeln von meiner Nase bis hinunter in meine Zehenspitzen. »Ich bin Alex, und ich werde Sie heute Abend bedienen.«

Bleib cool. Bleib cool und locker. Chillig, ganz chillig bleiben. Kühl wie Eis. Du bist ein Eiswürfel. Einfach cool sein.

Ich spürte, wie mir eine Hitzewelle den Hals hinauf bis in die Wangen kroch, aber da ich auf diese Reaktion meines Körpers gefasst gewesen war, gelang es mir, ihn rechtzeitig zur Räson zu bringen, ehe ich errötete. Ich atmete einmal tief durch, dann hob ich den Kopf und sah ihn an.

Ahh. Alex, der Kellner.

Alex, der Kellner, stand auf meiner Liste der Männer, denen ich gerne mal den Hintern versohlen würde, auf Platz drei – gleich nach Henry Cavill, dem Schauspieler und Henry Cavill als Superman. Alex war ein Beweis dafür, dass Gott existierte und dass er Hetero-Frauen liebte.

Wie immer blickte er mich mit seinen tief liegenden indigoblauen Augen nachdenklich an. Wie immer hatte er seine schwarze Hornbrille auf. Wie immer war sein Mund zu einem kleinen Lächeln verzogen.

Da stand er nun – dieses einen Meter neunzig große, schlanke und geschmeidige Exemplar purer Männlichkeit. Auf seiner markanten, mit schwarzen Bartstoppeln bedeckten Wange prangte eine große, unregelmäßige Narbe, die von der Mitte seiner Unterlippe bis zum Kinn verlief. Er hatte eine leicht krumme Nase, die ihm vermutlich in der Vergangenheit schon mehrmals gebrochen worden war, dazu kurze schwarze Haare, die er am Oberkopf in Andeutung eines Irokesenschnitts ein wenig länger trug, und Lippen, die für sein eher kantiges Gesicht ein bisschen zu weich und üppig geraten waren.

Wie üblich war er von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet.

Wenn man auf junge, gefährliche Männer mit jeder Menge Ecken und Kanten, schwieriger Biografie, natürlicher Sinnlichkeit und dem Körperbau eines olympischen Schwimmers stand – wohlgemerkt, das tat ich normalerweise nicht –, dann wurde Alex den Anforderungen mehr als gerecht.

Ich fühlte mich normalerweise eher zu netten Männern hingezogen – soll heißen, zu Männern, die nett wirkten: Männer, die viel lächelten, gerne Golf spielten, immer brav ihre Strafzettel bezahlten, die gute Anzüge und praktische Schuhe im Schrank hatten und für die Pullunder eine adäquate Wochenendbekleidung darstellten; Männer, die ein Schaf von einer Angoraziege unterscheiden konnten und alle ihre Schäflein bereits ins Trockene gebracht hatten; Männer, die theoretisch gute Ehemänner und Väter abgeben würden. Männer, die auf den ersten Blick kein emotionales Gepäck mit sich herumschleppten.

Alex passte nicht in dieses Schema; dass er jede Menge emotionales Gepäck hatte, erkannte man schon von Weitem, so als würde ein riesengroßes, blinkendes Warnschild darauf hinweisen. Trotzdem: Sobald ich zum ersten Mal seine Stimme gehört hatte, war ich hin und weg gewesen. Wenn er sprach, machte mein Magen einen Kopfsprung in Richtung meiner Zehen – ohne Fallschirm. Seine Stimme ließ mich an Jazz und Schlafzimmer und Striptease denken: Sie war melodisch, tief und ein bisschen heiser, zugleich aber auch unbekümmert, ja, beinahe gleichgültig.

Ich träumte davon, wie er mir ein Buch vorlas – oder die Zeitung oder eine Postkarte oder von mir aus auch einen Räumungsbescheid. Falls so etwas möglich war, hatte ich mich in seine Stimme verknallt. Ich stellte ihm oft Fragen zur Speisekarte, obwohl ich bereits wusste, was ich bestellen wollte – einfach nur, um ihn sprechen zu hören. Wenn er sprach, war das Leben schön.

Seine Stimme löste gewisse Gefühle in mir aus.

Alex, dem Kellner mit der Schlafzimmerstimme, war es zu verdanken, dass ich meinen unzähligen gescheiterten ersten Dates noch etwas Gutes abgewinnen konnte. Sein Satz »Ich werde Sie heute bedienen« war in der Regel der Höhepunkt meines Abends. Danach ging es meistens steil bergab.

Als ich ihm zur Begrüßung höflich zunickte, schwand sein Lächeln, und er presste die Lippen zu einem geraden Strich zusammen.

Offenbar konnte Alex, der Kellner, mich nicht besonders gut leiden.

»Hi. Würden Sie mir vielleicht verraten, was …?«

»Lass mich für dich bestellen«, fiel Chuck mir ins Wort, ehe er die Hand über den Tisch streckte und mir meine Speisekarte wegnahm.

Mein Blick ging von Alex zu Chucks Melonengesicht. »Ach, das ist nicht nötig – ich weiß schon, was ich …«

»Ich bestehe darauf. Dann kann ich die Weinbegleitung perfekt darauf abstimmen.« Chuck zwinkerte mir zu, dann wandte er sich an Alex. »Wir beginnen mit einer Flasche von Ihrem Parducci, zehn Minuten lang auf vier Grad gekühlt, dann atmen lassen. Dazu nehme ich das Chicken Tandoori, und die Dame wählt das Saag Paneer.«

Chuck reichte Alex unsere beiden Speisekarten und grinste mich an. Er schien sehr stolz auf sich zu sein. Ich erwiderte sein Grinsen nicht. Ich halte nichts davon, schlechtes Benehmen positiv zu verstärken.

Alex nahm zwar die Speisekarten entgegen, bewegte sich jedoch nicht vom Fleck.

»Ja, Sandra … Ich wollte dir gerade von der … von der Frau erzählen, an die du mich erinnerst.«

Chuck lehnte sich über den Tisch und schob sein Messer ein paar Millimeter weiter zu seinem Löffel hin.

»Eine Frau?« Ich räusperte mich. Es war mir unangenehm, dass Alex immer noch an unserem Tisch stand.

»Ja. Die Ähnlichkeiten sind wirklich verblüffend.« Er blickte auf sein Besteck. »Geradezu unheimlich«, murmelte er, als spräche er mit sich selbst.

Erschrocken starrte ich ihn an. Jetzt ließ auch Alex ein Räuspern hören und lenkte meine Aufmerksamkeit damit auf sich. Mein Entsetzen schien ihm zu gefallen, denn seltsamerweise lächelte er jetzt wieder – sogar ein bisschen breiter als gewöhnlich.

»Das Butter Chicken?«, fragte er mich.

Ich nickte knapp, dann seufzte ich. »Ja. Ich glaube, es dauert auch nicht mehr lange.«

Alex nickte ebenfalls, und seine schwarzen Augenbrauen wanderten einen halben Zentimeter in die Höhe.

»Soll ich die andere Bestellung dann stornieren?«

»Ja, bitte. Vielen Dank.«

Alex lächelte noch einmal trocken und schaute mich mit seinen undurchdringlichen Augen an. Ich wunderte mich, dass sein Blick eine Zeit lang auf meinen Lippen ruhte, ehe er sich schließlich umwandte und zurück in Richtung Küche verschwand. Ich beäugte seinen Hintern und seine breiten Schultern. Er hatte einen aufreizend lässigen Gang – fast an der Grenze zum Angeberischen. Es war ein Schlafzimmergang, der perfekt zu seiner Schlafzimmerstimme passte.

Ich stieß einen weiteren Seufzer aus und dachte daran, wie schön es war, Alex von hinten zu betrachten. Wie alt er wohl war?

Ich schätzte ihn auf zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig. Ein Spätentwickler. Sein Körper wirkte noch nicht vollständig ausgewachsen; seine Hände waren noch ein klein wenig zu groß, und seine nachlässige Körperlichkeit glich der eines Teenagers.

Sein Blick allerdings war hart und verschlossen. Sobald ich ihm in die Augen sah, schien er zu altern; er hatte die Augen eines Mannes.

Eines sehr, sehr bösen Mannes.

»Sandra?«

Ich riss den Blick von Alex’ Rückansicht los und stellte fest, dass Chuck, die Honigmelone, mich verwirrt ansah.

»Was war das denn gerade?« Mit einer Bewegung seines Kopfes deutete er auf den sich entfernenden Alex. Offenbar wollte er eine Erklärung für unsere seltsame Unterhaltung.

»Ach, nichts. Warum erzählst du mir nicht mehr über deine Mutter?« Ich legte die Hände in meinen Schoß und wappnete mich.

»Also, ich wollte nicht – ich meine, ich habe doch gar nicht über meine Mutter geredet.«

»Dein Vater war alleinerziehend, oder?«, fragte ich sanft und mit betont neutraler Miene.

Chuck nickte halb verständnislos, halb ehrfürchtig. »Ja, aber woher weißt du das …?«

»Er hatte kaum Zeit für dich, stimmt’s? War er oft unterwegs, oder musste er viel arbeiten?«

Chuck beugte sich nach vorn. Er stellte mit einem dumpfen Knall die Ellbogen auf den Tisch, dann sprudelte es aus ihm hervor wie Blut aus einer perforierten Arterie. »Nein, er war nicht oft unterwegs, daran lag es nicht. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich sieben war. Meine Mom hat meine Schwester genommen, und ich bin bei meinem Dad geblieben. Er hat … er hat fast rund um die Uhr gearbeitet.«

Und so nahm die Sache ihren Lauf.

Ich hörte zu, während Chuck die Geschichte seiner wohlstandsvernachlässigten Kindheit und Jugend vor mir ausbreitete. Ich hatte Mitgefühl mit ihm, wirklich, so wie ich mit allen Menschen in seiner Lage Mitgefühl empfand. Mir schien, als brächte unsere Gesellschaft eine ganze Generation gebrochener Kinder hervor, die von ihren Eltern eher als Accessoires betrachtet wurden denn als lebende, atmende, fühlende Individuen. Sie parkten sie vor Fernsehbildschirmen oder Spielekonsolen und holten sie nur dann hervor, wenn es ihnen in den Kram passte – in der Regel an Feiertagen.

Als Alex mit der Weinflasche zurückkam, bemerkte Chuck ihn gar nicht, so sehr war er in seine Erzählung vertieft. Es ging gerade um seinen Vater und dessen neue Frau. Mir war aufgefallen, dass er sie immer noch als »Dads neue Ehefrau« bezeichnete, obwohl die beiden mittlerweile seit über fünfzehn Jahren verheiratet waren.

Meine Blicke sprangen zwischen Chuck und Alex hin und her, weil ich versuchte, die Aufmerksamkeit beider zu halten, während ich gleichzeitig den Wein probierte und Alex mit einem Nicken zu verstehen gab, dass die Flasche mir zusagte.

Als er uns das Knoblauch-Naan brachte, schlug Chuck mit der Faust auf den Tisch. Er hatte soeben von einem Querfeldeinlauf erzählt, den er auf der Highschool gewonnen hatte – ein Erfolg, von dem sein Vater bis heute nichts wusste.

Als mein Butter Chicken kam, hatte Chuck das Gesicht in den Händen vergraben und schluchzte leise; Alex stellte gerade den Teller vor mich hin, als Chuck mühsam aufstand. Er merkte nicht einmal, dass Alex ihm kein Essen gebracht hatte. Ich erhob mich ebenfalls, half ihm auf die Beine und drückte ihm eine von Thomas’ Visitenkarten in die Hand.

»Gott, Sandra, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll. Ich … ich habe das Gefühl …« Ihm versagte die Stimme, als erneut ein kleiner Schluchzer aus seiner Kehle drang.

Ich rieb ihm beruhigend den Arm. »Mit der Zeit wird es besser. Reden hilft.«

Er nickte. Sprechen konnte oder wollte er nicht. Dann wischte er sich mit dem Handrücken die Augen.

»Du bist nicht allein, Charles.«

Er nahm meine Hand.

»O Gott! Das Abendessen. Es tut mir so leid.« Mit glasigen Augen starrte er auf unseren Tisch. Ich tätschelte seine Hand. Außer uns war nur noch eine einzige Gruppe von Gästen im Restaurant. Sie warfen immer wieder neugierige Blicke in unsere Richtung, auch wenn sie sich bemühten, dabei halbwegs diskret vorzugehen. Doch Chuck nahm sie gar nicht wahr.

»Ist schon gut, Chuck. Fahr nach Hause, und kümmere dich um dich.« Ich nahm ihn am Arm und lotste ihn in Richtung Ausgang. »Leg dich ins Bett, schlaf dich aus, und morgen früh rufst du bei Thomas in der Praxis an.« Als sein völlig verstörter Blick mich traf, drohten seine Augen erneut überzulaufen, also schenkte ich ihm ein aufmunterndes Lächeln. »Sag ihm, Dr. Fielding hat dich geschickt, dann bekommst du einen Rabatt auf die ersten beiden Sitzungen.«

Er nickte. Abrupt zog er mich in seine Arme, drückte mich, löste sich genauso abrupt wieder von mir und eilte dann durch die Tür ins Freie.

Ich sah ihm noch eine Zeit lang nach. Den Wein würde ich jetzt wohl alleine trinken müssen. Aber das war keine Katastrophe. Samstags hatte ich frei und konnte ausschlafen. Ich wartete, bis Chuck am Ende des Blocks um die Ecke gebogen war, dann machte ich kehrt, um zu meinem Butter Chicken zurückzukehren.

Auf dem Weg machte ich einen Schritt zur Seite, um die letzten Gäste vorbeizulassen, die gerade im Gehen begriffen waren. Jetzt war ich der einzige zahlende Gast im Restaurant. Ich würde Alex bitten, mein Essen einzupacken und die Weinflasche wieder zu verkorken. Er sollte meinetwegen nicht länger bleiben müssen.

Als ich mich unserem Tisch näherte, stellte ich jedoch zu meinem Erstaunen fest, dass dieser inzwischen besetzt war. Na ja, mein Platz war nach wie vor leer. Aber Chucks Platz war besetzt – dort saß nämlich Alex. Meine Schritte gerieten ins Stocken.

Er sah mich an. Er taxierte mich, als wäre ich ein Studienobjekt, und je näher ich kam, desto argwöhnischer wurde sein Blick.

Wenige Schritte von meinem leeren Platz entfernt blieb ich stehen. Ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte. Es war ein sehr, sehr merkwürdiger Moment. Alex saß am Tisch, und ich stand vor ihm. Es war, als hätten wir die Rollen getauscht.

»Hallo«, sagte ich.

»Hallo«, sagte er.

Er hatte einen Teller mit Saag Goat oder Saag Lamb – das war unmöglich zu erkennen – und ein Schälchen Mangochutney vor sich stehen. Das Körbchen mit dem Knoblauch-Naan hatte er bereits geplündert.

Und er hatte sich ein Glas von meinem Wein eingeschenkt.

Ich schaute ihm in die Augen. Diese berechnende Zurückhaltung in seinem Blick war wirklich verstörend. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

»Bitte, setz dich doch.« Er deutete auf mein Gedeck.

Ich sah ihn an. Ich sah den Wein an. Ich sah meinen Teller mit Butter Chicken an. Dann zuckte ich mit den Schultern.

»Okay. Warum nicht?«

Ich nahm Platz, breitete die Serviette in meinem Schoß aus und schob mir eine Gabel voll Hühnchen und Jasminreis in den Mund. Wie immer war das Essen ein köstlicher Ersatz für Körperkontakt. Mein Seelenfutter. Mein Trost.

Abermals riskierte ich einen Blick auf Alex. Er war auch eine Köstlichkeit – allerdings sah er mich an, als fände er mich ganz und gar nicht köstlich. Im Gegenteil: Unter seinem kritischen Blick kam ich mir beinahe eklig und übel riechend vor. Aus unerfindlichen Gründen beschleunigte sich mein Herzschlag. Plötzlich fühlte ich mich wie ein erschrockenes Kaninchen. Das war durchaus bemerkenswert, denn normalerweise war ich eher der Typ optimistischer Krake.

»Wie schmeckt das Butter Chicken, Sandra?«

Ich schrak zusammen, und meine Gabel schwebte einen Moment lang ziellos in der Luft, doch ich fing mich schnell wieder. »Woher kennst du meinen Namen, Alex?«

»Von deiner Kreditkarte, Sandra. Ich ziehe sie jeden Freitagabend durchs Kartenlesegerät.«

»Oh.« Ich zog die Brauen zusammen. Irgendwas an ihm war einfach seltsam. Er schien mich nicht zu mögen, und trotzdem saß er hier und aß mit mir zu Abend – noch dazu, ohne von mir dazu eingeladen worden zu sein. Nicht gemocht zu werden, war eine ungewohnte Erfahrung für mich. Hmm … sonderbar. »Ich bin nicht jeden Freitagabend hier.«

»Von mir aus. Dann eben jeden zweiten Freitagabend.«

Ich ignorierte seine letzte Bemerkung. »Das Butter Chicken schmeckt sehr gut, danke. Wie schmeckt dein Saag Goat?«

»Es ist Saag Lamb, und es ist absolut köstlich.«

Fast hätte ich mich an meinem Hühnchen verschluckt, als er absolut köstlich sagte. Konnte er Gedanken lesen? Und, Gott, diese Stimme …

»Freut mich sehr, das zu hören. Also, Alex, warum erzählst du mir nicht ein bisschen was von dir?«

Er lächelte, doch das trug nicht dazu bei, mir die Nervosität zu nehmen. Im Gegenteil, mein Herz schlug sogar noch schneller: von erschrockenem Kaninchen zu verängstigtem Kaninchen mit ersten Anzeichen eines leichten Herzinfarkts.

Sehr, sehr sonderbar!

»Was möchtest du gerne wissen, Sandra?«

»Erstens: Könntest du bitte aufhören, meinen Namen zu sagen? Das ist gruselig.«

»Wieso?«

»Weil ich dir meinen Namen nie verraten habe.«

»Und?«

Ich überging die Frage. »Und zweitens: Warum fangen wir nicht bei deinen Eltern an?«

»Bei meinen Eltern?«, wiederholte er tonlos.

»Ja. Erzähl mir was über deine Eltern.«

»Gern.« Er wischte sich die Hände an seiner Serviette ab und ließ sich, scheinbar ganz entspannt, gegen die Rückenlehne der Sitzbank sinken. »Meine Eltern waren rumänische Zirkusartisten. Ich bin im Zirkus aufgewachsen, als Teil ihrer Nummer.«

Ich starrte ihn an. Er starrte mich an. Ich wusste, dass er log. Zu dem allgegenwärtigen Argwohn in seinem Blick hatte sich auf einmal noch etwas anderes gesellt – eine Emotion, die ich nicht recht deuten konnte. Ich hielt es für Belustigung, aber es konnte auch etwas anderes sein.

Er war schwer zu durchschauen.

Ich schüttelte den Kopf, legte die Gabel auf den Teller und lehnte mich ebenfalls zurück. Einer seiner Mundwinkel bewegte sich ein kleines Stückchen nach oben. Trotzdem wirkte er noch immer kühl und unnahbar.

»Das ist nicht wahr«, sagte ich beiläufig.

Jetzt lächelte er wirklich, doch es war ein Lächeln, dem jede Wärme fehlte.

»Du hast recht. Ist es nicht.«

Ich betrachtete ihn zunächst eine Zeit lang schweigend, ehe ich ihm eine naheliegende Frage stellte. »Warum hast du es dann gesagt?«

»Weil du Männer zum Weinen bringst.«

Ich riss die Augen so weit auf, dass sie fast aus ihren Höhlen purzelten. Mit dieser Antwort hatte er mich überrumpelt. Eins zu null für Alex.

»Ach. Das.« Ich nickte und griff nach meinem Weinglas. »Du hast mich enttarnt. Ich bin eine Männerfresserin.« Ich trank einen großzügigen Schluck.

»Das sind doch gute Neuigkeiten.«

Ich verschluckte mich und musste husten. Wie durch ein Wunder gelang es mir, keinen Rotwein über den Tisch zu spucken. Meine Augen traten noch weiter aus ihren Höhlen. Hatte Alex, der Kellner, meinen Männerfresserinnen-Kommentar etwa für eine sexuelle Anspielung benutzt? War das gerade wirklich passiert? Wie überaus skandalös!

»Trink Wasser.« Er hob das Kinn und deutete auf mein noch volles Wasserglas, während er mir gleichzeitig Wein nachschenkte.

Nachdem ich mir etwas von meinem Wasser genehmigt hatte, hatte ich das Gefühl, gefahrlos weitersprechen zu können, auch wenn meine Stimme kratziger klang als sonst. »Da hast du aber gerade etwas sehr Ungezogenes gesagt, Alex.«

Der Argwohn in seinem Blick ließ nach, während sich langsam ein aufreizendes Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete und von seinem Mund auf seine Augen übergriff. Ich hielt den Atem an. Wenn er lächelte – wirklich lächelte –, sah er unschuldiger und zugleich verschlagener aus. Jungenhaft und irgendwie verwegen. Es hatte eine absolut vernichtende Wirkung auf mich. Ich fühlte mich wie ein junges Mädchen, das sich in den Bad Boy der Schule verknallt hatte.

Auf einmal wollte ich ihn küssen.

Stattdessen griff ich nach meinem Weinglas und trank es zur Hälfte aus, während ich ihn über den Rand hinweg beobachtete.

Endlich brach er das Schweigen. »Das war wirklich ungezogen, oder?« Er klang selbstzufrieden.

Ich nickte und stellte mein Glas wieder hin. »War das deine Absicht?«

Bei dieser Frage kniff er die Augen zusammen. »Warum bringst du Männer zum Weinen?«

Ich trank noch einen Schluck von meinem Wein. »Tue ich das denn?«

»Ja, jeden zweiten Freitagabend. Möchtest du meine Theorien dazu hören?«

»Du hast mehr als eine?«

»Beantwortest du jemals eine Frage, ohne eine Gegenfrage zu stellen?«

»Stört dich das?«

»Nein. Aber es stützt meine Hypothese.«

»Welche Hypothese?«

Er stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. Danach war alle Restwärme von unserem neckischen Geplänkel verflogen.

»Du bist Psychiaterin«, sagte er. Genauso gut hätte er mir vorwerfen können, eine Landesverräterin oder eine Mörderin oder eine Kardashian zu sein.

Ich leerte mein Weinglas, das er sogleich wieder auffüllte.

Nur am Rande nahm ich zur Kenntnis, dass er seinen eigenen Wein noch nicht angerührt hatte.

»Wie kommst du darauf, dass ich Psychiaterin bin?«

Er zog die Brauen zusammen. »Anfangs dachte ich, du bringst die Männer hierher, um mit ihnen Schluss zu machen. Aber dafür waren es einfach zu viele. Dann kam ich auf die Idee, dass es vielleicht deine Angestellten sind und du mit ihnen herkommst, weil du sie feuern musst. Ich dachte, vielleicht hast du dir dieses Restaurant ausgesucht, um ihnen die Nachricht möglichst schonend beizubringen.«

»Aber den Gedanken hast du dann auch wieder verworfen.« Ich nahm mein Weinglas. Erst nippte ich nur vorsichtig, dann trank ich einen tiefen Schluck. Dabei hielt ich das Glas in beiden Händen, als könne es mich vor Alex, dem Kellner, schützen. Keine Ahnung, warum ich das tat.

Er nickte. »Von Zeit zu Zeit habe ich Fetzen eurer Unterhaltung aufgeschnappt, dabei ist mir klar geworden, dass du die Männer eigentlich gar nicht kennst. Also habe ich mir überlegt, dass du ihnen vielleicht irgendwelche anderen schlechten Nachrichten überbringen musst – dass bei ihnen Krebs festgestellt wurde oder sie einen nahen Angehörigen verloren haben oder so.«

»Aber die Idee hat sich auch nicht lange gehalten.« Mein Weinglas war schon wieder leer. Alex, der Kellner, bedeutete mir, es auf den Tisch zu stellen; ich tat wie geheißen, und er schenkte mir nach, wobei er sich ganz auf die Weinflasche und das Glas konzentrierte.

»Du schienst die Männer also nicht zu kennen – zumindest nicht besonders gut. Irgendwann ist mir dann aufgegangen, dass du dich zum allerersten Mal mit ihnen triffst, also dachte ich, es wären vielleicht Kunden von dir, und ihr hättet ein Geschäftsessen. Aber das erklärte nicht, wieso sie jedes Mal anfingen zu weinen.«

»Ja, da ist was dran.« Mein zustimmendes Nicken war ein wenig übertrieben. So langsam machte sich der Alkohol bemerkbar. Vielleicht hatte ich doch zu schnell getrunken?

»Warum tust du das?« Sein Ton war scharf, genau wie sein Blick, als er zwischen der Flasche und mir hin und her schaute. Er war so wütend, dass er beinahe gefährlich aussah.

Zu schade. Wenn er lächelte, hatte er so ein hübsches Gesicht. Allerdings, so stellte ich in meinem beschwipsten Zustand fest, war der wütende, gefährliche Alex auch nicht übel.

Weit davon entfernt.

»Das ist keine Absicht.«

»Ach nein?« Er glaubte mir nicht.

»Nein. Wirklich nicht.« Ich hielt seinem eisigen Blick stand. »Mir gefällt es auch nicht, wenn sie weinen. Deshalb lege ich meine ersten Dates auch immer auf den späten Abend.«

Seine feindselige Fassade bekam Risse, und er zog ungläubig die dunklen Brauen zusammen. »Moment mal – was? Dates? Das sind alles Dates? Soll das ein Witz sein?«

Ich nickte betrübt – eine etwas unkontrollierte Bewegung, die aussah, als wäre ich kurz davor, im Sitzen einzuschlafen. Das passiert eben, wenn eine Frau, die seit mehr als zwei Jahren nicht mehr geküsst wurde, große Mengen Rotwein auf leeren Magen trinkt. »Ja. Dates. Erste Dates. Dachtest du, die Männer sind meine Patienten?«

Sein Blick war stechend, als wolle er in meinen Kopf schauen und aus der grauen Substanz meines Gehirns die Wahrheit herauslesen. Nach einer Weile stieß er den Atem aus. »Dann … bist du wirklich Psychiaterin?«

Ich nickte in mein Weinglas – das dritte, auch bereits zur Hälfte geleert. Das Butter Chicken war vergessen.

»Ich bin Psychiaterin.«

»Du bist eine Psychiaterin, die ihre Dates zum Weinen bringt.«

Ich sah ihn stirnrunzelnd an. Da war dieser scharfe, regelrecht anklagende Unterton in seiner Stimme. »Moment mal. Glaubst du, ich mache das mit Absicht? Glaubst du, ich finde es toll, wenn jedes meiner Dates mit einem Heulkrampf statt mit einem Kuss endet?« Kann sein, dass ich beim Wort Kuss ein bisschen lallte. Ich war mir nicht ganz sicher.

Trotzdem folgte auf meine Frage zunächst eisiges Schweigen. Alex hatte ungläubig einen Mundwinkel hochgezogen. Doch er sah aus, als sei er grundsätzlich an einer Erklärung interessiert, also fuhr ich fort.

»Willst du wissen, wie lange es her ist, dass mich zuletzt jemand geküsst hat? Rate mal!« Ich machte eine fahrige Geste in seine Richtung, dann schlug ich mit der flachen Hand auf den Tisch. Er zuckte mit keiner Wimper.

»Zwei Jahre«, sagte ich.

Kann sein, dass ich beim Wort Jahre ein bisschen lallte. Ich war mir nicht ganz sicher.

»Zwei … Jahre. Nein, sogar noch länger. Zwei Jahre und ein paar Monate. Zehn vielleicht. Also sind es eigentlich schon fast drei Jahre. Und weißt du was? Der letzte Kuss war …« Ich runzelte die Stirn und schüttelte angewidert den Kopf. Dann beugte ich mich über den Tisch und weihte ihn in ein weiteres Geheimnis meines nicht vorhandenen Liebeslebens ein. »Es war kein guter Kuss«, wisperte ich.

Er schürzte die Lippen und verzog sie fast unmerklich nach rechts. Ich mochte schon ziemlich einen im Tee haben, aber mir war nicht entgangen, wie sein Blick zwischendurch zu meinem Mund wanderte. Wahrscheinlich suchte er nach Herpes oder irgendeinem anderen Grund für meine sexuelle Dürreperiode.

»Dabei bin ich eine gute Küsserin, verdammt noch mal!« Ich griff mein Weinglas, stürzte den letzten Schluck hinunter und genoss das herrliche Schwindelgefühl, das sich in meinem Kopf breitmachte und mein Zahnfleisch zum Kribbeln brachte. Ich stellte mein leeres Glas auf dem Tisch ab und versuchte Alex mit einem bohrenden Blick zu fixieren. Stattdessen hatte ich Mühe, nicht zu schielen.

»Und ich habe keinen Lippenherpes, falls du dich das gefragt hast.«

Schlagartig riss er den Blick von meinem Mund los. »Nein, ich habe mich nicht gefragt, ob du Lippenherpes hast, aber danke, dass uns dieses peinliche Thema nun erspart bleibt.«

»Gern geschehen!« Ich rutschte zum Ende der Sitzbank. Alles war ein bisschen verschwommen. Der Raum schwankte, als ich aufstand und verkündete: »Ich muss pinkeln gehen!«

»Die Toiletten sind hinter …«

»Ich weiß, wo die Toiletten sind, Alex.« Ich blinzelte ihn an, geriet dabei ins Straucheln und machte unabsichtlich einen Jazztanzschritt, als ich versuchte, das Gleichgewicht zu halten. »Es stimmt, ich komme mit all meinen ersten Dates hierher. Normalerweise halten sie aber nicht mal bis zum Hauptgang durch. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest.«

Ich machte eine angedeutete Verbeugung – keine Ahnung, warum – und stakste in Richtung der Damentoiletten davon.

Ich war zufrieden damit, wie ich diesen prätentiösen Möchtegern in seine Schranken verwiesen hatte. Wie konnte er es wagen! Wie konnte er es wagen, mir vorzuwerfen, ich würde meine Männer absichtlich zum Weinen bringen? Wie konnte er es wagen, so männlich und stark und ernst und sexy zu sein? Wie konnte er es wagen, meine Lippen anzustarren und meine inneren Organe bis auf Infernotemperatur zu erhitzen? Wie konnte seine heiße Magmastimme es wagen, Eis, Stahl und alle meine weiblichen Bauteile zum Schmelzen zu bringen?

Wie konnte er es …

Moment mal.

Ich blinzelte, blieb stehen, machte zwei Schritte zurück und spähte in die Küche. Dort war alles dunkel. Ich dachte eine geschlagene Minute lang über diesen Umstand nach, ehe ich zu dem Schluss kam, dass die Küche geschlossen hatte und dass Koch, Manager und Küchenhilfe nach Hause gegangen waren. Achselzuckend setzte ich meinen Weg zur Toilette fort.

Ich schaltete das Licht ein, verriegelte die Tür und erledigte, was ich zu erledigen hatte, während ich vergeblich versuchte, meine Empörung wieder anzufachen. Doch irgendwie kam ich über die Worte männlich, stark, ernst und sexy nicht hinaus. Dann musste ich an das Wort Kuss denken.

Hmmm … Kuss.

Gedankenverloren wusch ich mir die Hände und betrachtete meine Erscheinung im Spiegel. Mein trägerloses feuerrotes Kleid sah nach wie vor fantastisch aus, und selbst meine trüben Augen registrierten, dass es sich an all den Stellen, wo Männer angeblich gerne hinschauten, verführerisch um meinen Körper schmiegte. Ich zwinkerte mir im Spiegel zu, wie ich es hin und wieder zu tun pflegte.

»Hey, sexy Lady. Ich bin nicht besoffen, nur berauscht von dir.«

Diese kleine Theatervorstellung veranlasste mich zu einem Laut, der halb Lachen, halb Stöhnen war. Dann schlug ich mir die Hände vors Gesicht.

Das Kleid, gepaart mit dem gepolsterten Push-up-BH, hätte mir eine Nacht zügelloser Leidenschaft bescheren sollen. Deshalb hatte ich es schließlich gekauft. Doch zur unendlichen Frustration meiner inneren Orgasmus-Enthusiastin war das Heißeste, was mir bislang passiert war, ein warmer Händedruck von Chuck, der erst glucksenden und dann heulenden Honigmelone.

Als ich den Kopf hob, merkte ich, dass meine Zähne vom Rotwein eine leicht grünliche Färbung angenommen hatten. Ohne ersichtlichen Grund schnappte ich mir ein Papierhandtuch und rubbelte damit über die Zähne, bis sie mir wieder weißer vorkamen. Das machte ich oft, vor allem, wenn ich betrunken war.

Zufrieden nickte ich meinem Spiegelbild noch einmal zu, dann torkelte ich aus der Toilette in den kleinen quadratischen Flur. Ich kam drei Schritte weit, ehe ich feststellte, dass der Weg in den Gastraum versperrt war. Durch Alex.

Das stellte ich fest, weil ich gegen seine Brust prallte.