ICH HAB GELEBT

ERINNERUNGEN

Aufgezeichnet von Martin R. Niederauer

2. Auflage

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-00924-9
Copyright © 2014 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Kurt Hamtil, Wien
unter Verwendung eines Fotos aus dem Privatarchiv Jazz Gitti
(Foto: Karl Schrotter)
Typografische Gestaltung, Layout: Kurt Hamtil, Wien
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

INHALT

Auftakt

Mischpoche

Jüdische Prinzessin

Gelobtes Land

Espresso Gitti

Heimat Israel

Große Liebe

Shlomit

Selbst ist die Frau

Wieder in Wien

Selbständigkeit

Gittis Jazz Club

Crash

Erste Erfolge

Durchbruch

World Music Award

Rückschlag

Phönix aus der Asche – Die Entertainerin

Schlussakkord

Dank & Anerkennung

Für Shlomit

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Weil sie nicht nur meine Tochter,
sondern der wichtigste Mensch in meinem Leben war,
ist und immer sein wird!

AUFTAKT

13. Mai 1977. Wiener Stadthalle: Die Göttin des Jazz, Ella Fitzgerald, kam auf die Bühne, griff zum Mikrofon und sprach: „Gibt es hier eine Jazz-Lady mit dem Namen Tschitti im Saal? Hallo Tschitti? Ein Vogerl hat mir gezwitschert, dass heute dein Geburtstag ist. Ich wünsche dir daher von Herzen alles Gute und ein glückliches Leben!“ Zuerst reagierte ich nicht, weil ich meinen Namen nicht verstanden hatte, bis mich eine Freundin stupste: „Gitti, die meint dich!“ Es vergingen einige Minuten, bis ich realisierte, was gerade geschehen war. Mein Idol Ella Fitzgerald gratulierte mir höchstpersönlich zum 31. Geburtstag.

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Wenn mir damals einer erzählt hätte, ich, Martha Butbul, würde zwei Jahrzehnte später als „Jazz Gitti“ in der ausverkauften Wiener Stadthalle ein Konzert geben, den hätte ich stante pede für verrückt erklärt. Ich war 16 Jahre alt, als ich Ella das erste Mal aus der Musikbox im Kaffeehaus meines Vaters hörte, und sie begleitete mich ein Leben lang – in guten wie in schlechten Zeiten. So manche Lebenskrise hätte ich nicht meistern können, wenn sie mir mit ihrer Stimme nicht beigestanden und mir Mut gegeben hätte. Ich erinnere mich an diesen Konzertbesuch, als ob es gestern gewesen wäre, und ich bin überzeugt davon, dass Ella über mein Leben immer eine schützende Hand gehalten hat.

Im Erscheinungsjahr dieses Buches begehe ich mein 30-jähriges Bühnenjubiläum und keinen einzigen Tag dieser 30 Jahre möchte ich missen. Wenn ich als Geschäftsfrau nicht pleitegegangen wäre, dann wäre ich nicht im Showbiz gelandet und hätte nicht meine wahre Berufung als Entertainerin gefunden. Ich lebe dafür, Menschen zu unterhalten, egal, ob ich vor einem Dutzend auftrete oder in einem Stadion vor 12.000 Menschen singe. Ich gebe immer mein Bestes!

Mein Leben mag von außen betrachtet wie eine Achterbahn-Fahrt erscheinen: Geprägt hat mich der frühe Tod meiner Mutter. Sie hat mir nicht nur unendlich viel Liebe, sondern auch eine solide Basis für mein Leben mitgegeben, so dass ich nicht auf die schiefe Bahn geraten bin. Geprägt hat mich auch mein Leben in Israel. Zehn Jahre verbrachte ich dort und durchlebte entsetzliche, aber auch sehr schöne Stunden. In Israel habe ich den Blues kennengelernt und musste erwachsen werden. Und geprägt hat mich die Geburt meiner Tochter Shlomit.

Als kleines Kind war ich ein verwöhnter Fratz, später ein bunter Paradiesvogel. Als ich meine Tochter das erste Mal im Arm hielt, wusste ich: Es ist jetzt Zeit, Verantwortung zu übernehmen. Und das tat ich auch. Als sie dann ihr eigenes Leben zu leben begann, durfte ich wieder der Paradiesvogel sein – und das bin ich bis heute gern.

Ich habe es mir nicht ausgesucht, im Mittelpunkt zu stehen, es hat sich in meinem Leben so ergeben. Ich gehöre nicht zu den diplomatischen Vertretern der Menschheit und habe sicherlich mein Herz zu lange viel zu offen auf der Zunge getragen. Aber ich habe dazugelernt! Auch wenn manche immer noch behaupten, für die Jazz Gitti würde man eine Gebrauchsanweisung benötigen.

Ich begann in jungen Jahren als Kellnerin zu arbeiten, erkannte aber bald, dass man in diesem Beruf nicht alt werden darf. Daher machte ich mich selbständig und schlug zwei Fliegen mit einer Klappe: Ich verband meine Liebe zum Jazz mit der Gastronomie. Denn ich war eine Wirtin mit Leib und Seele. Eine Wirtin, die gern mal auch selbst das Mikrofon in die Hand nahm und ein Ständchen zum Besten gab.

So gut wie alle heute bekannten Größen des Austropop waren in meinen Lokalen zu Gast, und als ich professionell mit dem Singen anfing, gab es zwar viel Zuspruch, aber auch so manche Kritik. Dass ich mit Singen und Unterhalten meine wahre Berufung finden und diesen Beruf auch noch 30 Jahre später ausüben würde, konnte ich mir zu Beginn meiner Karriere überhaupt nicht vorstellen – und viele trauten es mir bestimmt nicht zu.

Immer wieder werde ich gefragt, ob mich der Erfolg verändert habe. „Mich nicht“, lautet meine Antwort stets. „Aber die anderen schon!“ Warum das so ist, will ich mit meiner Lebensgeschichte erzählen.

MISCHPOCHE

März 1941. Wiener Franz-Josefs-Bahnhof. Schwerfällig setzte sich der Deportationszug in Bewegung und rollte stotternd aus dem Bahnhof in Richtung Polen. Ein letztes Mal konnte meine Großmutter durch einen schmalen Schlitz in der Bretterverkleidung des Wagons einen Blick auf ihr geliebtes Wien erhaschen und drückte ihren jüngsten Sohn Mani fest an sich. Es war das letzte Mal, dass die Familie meiner Mutter eine Familie war.

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Um mich, die Jazz Gitti, kennenzulernen und ein wenig besser zu verstehen, sollte man auch etwas über die Geschichte meiner Familie erfahren. Meine Eltern waren durch und durch echte Wiener. Beide Familien kamen ursprünglich aus den Kronländern und der Vater wie auch die Mutter waren stark von ihrer familiären Herkunft geprägt. Aber Wien war ihre Heimat und ist auch heute noch mein Zuhause.

Die Verwandtschaft meiner Mutter stammte ursprünglich aus Galizien, genauer aus Westgalizien im heutigen Polen, das bis zum Ende der Monarchie ein Kronland war. Mein Urgroßvater, erzählte meine Mutter, war eine Art Hilfs-Rabbiner. Seine Brüder waren Kantoren, also Tempelsänger, und müssen für ihre Zeit recht ausgeflippte Typen gewesen sein. Mein Talent für die Bühne und meine lustige Wesensart kommen also nicht von ungefähr.

Mein Urgroßvater, Abraham Prober, hatte eine Tochter mit dem Namen Fanny, auf Jiddisch Feige. Sie war eine beachtenswert schöne Frau, hatte jedoch einen schlimmen körperlichen Makel, nämlich Klumpfüße. Daher wurde ein für die damalige Zeit üblicher Shidduch (eine jüdische Heiratsvermittlung) abgehalten, um die „behinderte“ Tochter möglichst schnell unter die Haube zu bringen und zu versorgen. Diese arrangierte Ehe entpuppte sich als totales Desaster und meine Großmutter wollte nur weg aus dem galizischen Schtetl. Irgendwie gelang es ihr, die Ketubba, das heißt den jüdischen Heiratsvertrag, aufzulösen. Nach der Scheidung nahm sie ihren Sohn, meinen Onkel Bela, und kam 1910 als geschiedene Frau, sie hieß nun Feige Gold, nach Wien.

Sie hauste im neunten Bezirk in der Canisiusgasse und lebte von der Hand in den Mund, bis sie einen orthodoxen ungarischen Juden kennenlernte und nach jüdischem Gesetz heiratete. Meine Großmutter war eine fromme Frau und ein nicht frommer Jude wäre für sie als Ehemann nie in Frage gekommen. Mein Großvater machte ihr drei Kinder, den Emil, meine Mutter Frida, geboren 1918, und den Mani. Dann seilte er sich ab, zog nach Frankreich und zeugte dort angeblich 18 weitere Kinder. Gesehen oder gehört hat meine Mutter nie wieder von ihm.

So saß meine Großmutter nun mit ihren Klumpfüßen, vier Kindern und ohne geregeltes Einkommen in dieser Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung und hielt sich mit Näharbeiten und halb illegalem Handel einigermaßen über Wasser. Meine Mutter und ihre Geschwister waren sehr arme Kinder. Nur die Lebensmittelpakete der Tante Gitti aus Russland linderten oft die größte Not.

Die Familie meines Vaters stammte ursprünglich aus Jugoslawien, ich glaube aus Serbien. Mein Urgroßvater kam mit zwölf Brüdern irgendwann Ende des 19. Jahrhunderts nach Österreich, heiratete eine Frau aus Mähren und arbeitete für die Eisenbahn. Sie hatten vier Kinder: meine Großmutter Angela und meine Großtante Lieserl sowie noch zwei weitere Geschwister.

1916 kam mein Vater als lediges Kind auf die Welt, für die damalige Zeit eine große Schande für die Familie. Um Schadensbegrenzung bemüht und vor allem, um noch weiteres Unheil abzuwenden, steckte mein Urgroßvater seine beiden Töchter kurzerhand in ein Kloster. Dort lernten sie auch einen Beruf als Weißnäherinnen.

Mein Vater wuchs bis zu seinem sechsten Lebensjahr bei seinen Großeltern auf und diese Zeit prägte ihn ein Leben lang. Im Haus der Großeltern wurde Serbokroatisch gesprochen, es herrschte eine strenge Hand und früh schon musste er mit anpacken. Als er ungefähr sechs Jahre alt war, heiratete seine Mutter und nahm ihren Sohn zu sich. „Schwimmen hab ich g’lernt, weil mich der Opa g’packt und in die Donau g’schmissen hat“, erzählte der Vater manchmal aus seiner Kindheit. Oder wie er als Volksschulkind einmal heimlich eine Virginia-Zigarre des Großvaters zu rauchen probierte und wegen der ungewohnten Wirkung schleunigst das Klo aufsuchen musste. Ein paar Ohrfeigen gab es als Strafe noch obendrein.

Meine Mutter erzählte nicht gern von ihrer Kindheit. Es waren harte Zeiten und an die erinnert man sich eben nicht so gern. Die vier Kinder meiner Großmutter mütterlicherseits waren richtige Düsen, wie man heute sagen würde. Besonders eng war das Verhältnis zwischen meiner Mutter und ihrem Bruder Emil.

Ihm gelang während der Nazi-Verfolgung über Tschechien die Flucht nach Israel. Nach Österreich fuhr er in seinem Leben nie wieder, nicht einmal zur Beerdigung meiner Mutter, also seiner Schwester, und auch nicht zur Sponsion seines Sohnes, der in Wien studierte. Emil lebte in Israel seiner Ehefrau Rifka zuliebe koscher. Aber auf die „Polnische“, auf die Krakauer-Wurst, verzichtete er nur ungern.

Später erzählte er mir manchmal Geschichten aus den gemeinsamen Kindheitstagen mit meiner Mutter: Oft spielte er mit ihr im Hof des Wohnhauses und hoffte, wie damals üblich, von den Nachbarn ein paar Naschereien zu ergattern: „Dann hat deine Mama wieder in der Nas’n bohrt und den Nasenrammel g’fressen. Und bekommen haben wir nix!“ Auch musste Onkel Emil seiner kleinen Schwester immer beim Anziehen und Baden helfen. „Als es für mich dann interessant wurde, hab ich ihr nimma zur Hand gehn dürfen.“

Mein Vater, Ferry, eigentlich Ferdinand, war schon als Kind ein Autonarr und hoffte, als Jugendlicher einen Ausbildungsplatz zum Automechaniker zu finden. Nur war er körperlich zu schwach. „Du kannst ja ned einmal die Werkzeugkiste schleppen“, soll der Meister gesagt haben. Das war ihm Ansporn genug, ins Box-Training zu gehen, und aus dem Spargel-Tarzan wurde unversehens ein fescher, sportlicher junger Mann. Mein Vater fand schließlich mit Hilfe seiner Tante eine Ausbildungsstelle zum Friseur, die für ihn stolze 5000 Schilling Lehrgeld bezahlte. So begann er 1930 mit 14 Jahren seine Lehre.

Onkel Emil arbeitete als Verkäufer bei einem schicken Herrenausstatter in der Wiener Innenstadt und lernte meinen Vater im Tröpferlbad kennen. Die beiden waren beste Freunde und gingen meistens am Wochenende aus oder besuchten Emils älteren Halb-Bruder Bela, der als erfolgreicher Profi-Kartenspieler in den Lokalen beim Prater anzutreffen war. Onkel Bela wurde später von den Nazis nach Auschwitz-Birkenau deportiert. „Wenn ich diese Hölle überlebe, dann rühr nie wieder eine Karte an“, schwor er bei seiner Ankunft im Konzentrationslager. Wie durch ein Wunder überlebte er. Kein einziges Mal hat er in seinem Leben je wieder Karten gespielt.

Als die beiden Freunde wieder einmal Bela beim Kartenspielen besuchten, war auch Schwester Frida in Begleitung ihrer Mutter anwesend – und da trafen Frida und Ferry das erste Mal aufeinander: Er war 18 und sie 16 Jahre alt. „Es war Liebe auf den ersten Blick“, erzählte Frida später gern vom ersten Kennenlernen. Sie war damals im letzten Lehrjahr zur Schneiderin in einem Modesalon. „Schau Gittele, a junger, fescher Jid hätt mich nicht geheiratet, weil ich arm war. An alten Schiachen wollte ich ned. Ich hab mir einen Mann zum Gernhaben gewünscht und deswegen deinen Vater genommen.“

Mit dieser Liebelei wurde die Freundschaft der beiden jungen Männer auf eine harte Probe gestellt, denn Onkel Emil war von dieser Liaison überhaupt nicht begeistert. Meiner Großmutter gefiel diese Liebe noch viel weniger. Sie soll Schive gesessen haben (so heißt die siebentägige jüdische Trauerzeit), als die beiden ihre Verlobung bekannt gaben und die Hochzeit ins Haus stand. Mein Vater war schließlich kein Jude!

Mit 18 Jahren, am 13. Mai 1937, brachte meine Mutter meine ältere Schwester Lieserl auf die Welt. Der Vater drängte auf eine rasche Hochzeit und der Pfarrer ließ sich mit Ach und Krach überreden, nicht nur das Lieserl, sondern auch gleich meine Mutter in der Sakristei zu taufen. Ein Jahr vor dem offiziellen Anschluss Österreichs im März 1938 ahnte man schon, was die Uhr bald schlagen würde. Auch wenn es die meisten noch nicht wirklich wahrhaben wollten. Im Wochenbett hat meine Mutter ihre Mutter noch einmal gesehen. „Sie wollte nur kontrollieren, ob die Füße vom Lieserl auch gerade waren“, sagte sie. „Gesprochen hat sie kein Wort.“

Die junge Familie wohnte gemeinsam mit der Mutter meines Vaters in ihrer kleinen Wohnung in Wien-Leopoldstadt. Keine leichte Zeit für meine Mutter: Der Bruch mit ihrer eigenen Mutter, eine beherrschende Schwiegermutter und ein Ehemann, der anfangs mit dem Baby auch nicht viel anfangen konnte, machten ihr das Leben schwer. Dennoch zogen sie an einem gemeinsamen Strang und schmiedeten Zukunftspläne: möglichst schnell viel Geld zu verdienen und zu sparen, um einen eigenen Hausstand zu gründen. Mein Vater konnte als Friseur nebenbei viel pfuschen und meine Mutter verdiente in einem Modesalon als Schneiderin gutes Geld. Schon als junge Frau konnte sie, vielleicht weil sie so arm aufgewachsen war, immer besonders gut mit Geld umgehen. Zusätzlich zeichnete sie in Heimarbeit für Malerbetriebe Schablonen und sägte mit der Laubsäge den Gummi für die Mal-Walzen aus. Damit verdiente sie sich ein schönes Körberlgeld.

Dann bekam mein Vater den Befehl zur Musterung. Er wurde für tauglich befunden, obwohl er alles versuchte, sich wie ein Schwejk anzustellen und eine möglichst schlechte Bewertung zu bekommen. Er hatte aber einen Führerschein und kannte sich mit Autos gut aus. Ein Offizier bei der Musterungskommission wollte ihn deswegen unbedingt als Chauffeur haben und er wurde auch sofort einberufen. Dieser Offizier wusste freilich nicht, dass mein Vater mit einer Jüdin verheiratet war.

Schon bald nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich kam es auch in Wien zu Arisierungen und viele Juden versuchten der drohenden Deportation durch Flucht zu entkommen. Obwohl meine Mutter ständig in der Angst leben musste, selbst denunziert und verhaftet zu werden, half sie den Glaubensgenossen. Sie kaufte mit der tatkräftigen Unterstützung meines Vaters von dem gemeinsam ersparten Geld ganze Haushalte und Wertgegenstände zu fast marktüblichen Preisen auf. Juden, die das Land verlassen wollten, mussten ja die Reichsfluchtsteuer bezahlen. Meine Eltern handelten auch mit diesen Waren und schnell waren zwei große Magazine im zweiten Bezirk mit edlen Teppichen, kostbaren Musikinstrumenten und allerhand mehr oder weniger teurem Tand gefüllt. „Des hätt’ unsere Versicherung für einen Neuanfang in besseren Zeiten sein sollen“, erzählte sie nach dem Krieg. Doch es kam ganz anders.

1940 wurde der Vater mit seiner Einheit heim ins „Reich“ nach Aachen versetzt. Er musste dem Befehl gehorchen. Heimlich ließ er seine Familie nachkommen und versteckte sie in einem Kloster nicht weit von der Kaserne, in der er stationiert war. Als Chauffeur hatte er gute Beziehungen und konnte daher seiner Familie oft Essen bringen. Doch dann schlug das Schicksal unbarmherzig zu: Im Kloster brach nach einem Jahr eine Diphterie- und Scharlach-Epidemie aus, der auch meine Schwester Lieserl zum Opfer fiel: Sie starb mit nicht einmal vier Jahren.

Das war ein fürchterlicher Schlag für meine Mutter. Sie war völlig verzweifelt und überzeugt davon, dass die Nazis ihre Tochter verschleppt hatten. Weil sie sich überhaupt nicht beruhigen wollte, brach mein Vater nachts unter größter Gefahr in das Leichenschauhaus ein, um die goldenen Ohrringe meiner älteren Schwester als Beweis für ihren Tod zu stehlen. Aus diesem Grund habe ich bis heute keine gestochenen Ohrläppchen! Zu allem Überfluss stürzte meine Mutter auch noch und brach sich ein Bein. Als Kranke konnte sie im Kloster nicht mehr arbeiten und wurde von den Schwestern kurzerhand vor die Tür gesetzt. Niemand konnte oder wollte ihr helfen!

Zeitgleich erhielt mein Vater einen Marschbefehl nach Tschechien. Jetzt war auch er völlig verzweifelt und wusste nicht mehr ein noch aus. In letzter Not fälschte er kurzerhand seine Dienstpapiere, stahl das Auto seines Offiziers, desertierte und schlug sich mit meiner Mutter von Aachen nach Wien durch – in ständiger Angst vor Entdeckung, Erschießung und Deportation. In Wien erhofften sich meine Eltern, trotz der längst ausgestellten Haftbefehle, ein wenig Hilfe. Schließlich gab es in der Heimat auch noch die Depots mit den Wertsachen. Mit dem Verkauf und dem Erlös hätte man weiter auf die Flucht gehen können.

Weit gefehlt: In den zwei bis an die Decke angefüllten Magazinen war nichts mehr. Der Mann meiner Großmutter väterlicherseits, ein Säufer, und sie selbst hatten das komplette Vermögen meiner Eltern in nur wenigen Jahren durchgebracht und das wertvolle Gut großzügig gegen Essen und Alkohol eingetauscht. Es wurde sogar noch schlimmer: Aus Verzweiflung und Angst vor dem Zorn des Sohnes schrie seine Mutter mitten auf der Praterstraße auf, als sie ihren Sohn erkannte: „Schaut’s, da kommen die Juden!“ Sie hatten nichts, keine Hilfe und wurden polizeilich gesucht.

„Wenn der Krieg aus ist, geh ich und erschieß sie“, schimpfte der Vater verzweifelt und zornig über den Verlust des Notgroschens. Später durfte die Oma nur auf ausdrücklichen Wunsch meiner Mutter im Geschäft aushelfen und passte manchmal auf mich auf. Nie wieder richtete mein Vater auch nur ein Wort an sie.

Mein Vater war eine echte Kämpfernatur. Er ging in den Untergrund zu den jugoslawischen Partisanen, weil er ja deren Sprache verstand, und versteckte meine Mutter in einem Lehmkeller in Atzgersdorf bei Wien. Erstaunlicherweise gelang es ihr sogar irgendwie, ein halbwegs normales Leben zu führen. Wie, weiß ich nicht, aber sie fand eine Anstellung als Nacht-Kinokassiererin und ging arbeiten, bis die Russen endlich Wien befreiten. Dieses Ausgeliefertsein, diese fürchterliche Angst vor Entdeckung und die Entbehrungen hat sie nie ganz vergessen können – und sie ließen sie später schwer erkranken.

Mein Vater hat meiner Mutter das Leben gerettet. „In dieser Zeit, in der oft der Vater den Sohn und der Sohn den Vater verraten hat, war dein Vater einer der wenigen anständigen Menschen“, betonte meine Mutter immer wieder. Wahrscheinlich hat der Vater dann auch deswegen nach dem Krieg eine Art Freibrief von meiner Mutter bekommen. Denn diese Generation wurde um ihre Jugend betrogen.

JÜDISCHE PRINZESSIN

Weihnachten 1950: Unsere Wohnung in der Hofenedergasse
in Wien-Leopoldstadt. Als es endlich läutete und ich in
den Salon durfte, traute ich meinen Augen nicht: Da standen
ein Puppenwagen mit einer Schildkröt-Babypuppe, ein
Kinderfahrrad, eine Gehpuppe, ein Kinderauto und die so heiß ersehnte „Negerpuppe“. Ich fand Päckchen mit einem Goldketterl samt Marienanhänger, Kreuz und Davidstern, mit Puppenkleidung und mit Musikinstrumenten. Das Christkind hatte
alle meine Wünsche erfüllt und ich erinnere mich an ein
Weihnachten, an dem wir eine rundum glückliche Familie
waren.

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Eigentlich dürfte es mich gar nicht geben. Gleich mehrere Ärzte waren notwendig, um die richtige Diagnose zu finden. Als dann die Schwangerschaft meiner Mutter sozusagen „von Amts wegen“ bestätigt war, hätte ich nach ihrem Wunsch ein Franzl werden sollen. Was für eine Überraschung für alle Beteiligten, als ich am 13. Mai 1946 im alten Allgemeinen Krankenhaus von Wien das Licht der Welt erblickte: „A Wunda eben, ein Mädchen!“ Auf den Tag genau neun Jahre später geboren als meine verstorbene ältere Schwester Lieserl.

Meine Mutter war in ihrer Jugend eine gertenschlanke und bildhübsche Frau gewesen. Die Flucht während des Krieges, das Leben im Untergrund und die ungesunde Ernährung hatten sie krank und vor allem fettleibig gemacht. Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, was diese ständige Angst um das eigene Leben mit Menschen anstellt. Für meine Mutter war das Essen nicht nur Nahrung, sondern Balsam für ihre geschundene Seele. Auch wenn der Arzt ihr verboten hatte, zehn Crèmeschnitten am Stück hintereinander zu vertilgen, sie haben die Welt für Mama wieder ins rechte Licht gerückt. Sie aß immer nur den Boden und die Crème, nie den Deckel: „Das Süße esse ich doch eh nicht“, verteidigte sie sich dann gern.

Irgendwann spielte ihr Körper nicht mehr mit und meine Mutter bekam ernsthafte gesundheitliche Probleme. Sie fühlte sich elend, die Menstruation setzte aus und die Ärzte wussten keinen Rat. „Wechsel“, beschied man der 27-Jährigen und behandelte sie mit Hormonen, so dass sie sich sogar rasieren musste. Es vergingen Wochen, bis ein Arzt die richtige Diagnose stellte: Meine Mutter war nur schwanger.

Weil meine Mutter immer noch Angst vor den Nazis hatte, wurde ich gleich nach der Geburt getauft. Als der Pfarrer nach meinem künftigen Namen fragte, zuckte meine Mutter nur mit den Schultern: „Ich hab keine Ahnung, es hätte ja ein Franzl werden sollen.“ Der Pfarrer, wohl ein wenig von der Situation überfordert, ergriff schließlich die Initiative und fragte nach dem Namen der Taufpatin, die meine Eltern ins Pfarramt begleitete und mich im Arm hielt. So wurde aus dem „Wunda“ die Martha Margit Bohdal.

Später hat meine Mutter erzählt, dass ich ein unglaublich braves Baby gewesen sei. Wenn ich eine saubere Windel und genug zu essen hatte, war ich gut gelaunt und lachte immerfort. Fast wie heute. Nur singen konnte ich noch nicht. Meine gute Laune scheint mir tatsächlich in die Wiege gelegt worden zu sein, genauso wie meine Neigung zum Dicksein. Mein Vater war ebenfalls schwer verliebt in mich. Stundenlang soll er vor meiner Wiege gesessen, mich angesehen und dabei immer den Kopf geschüttelt haben: „So a schönes, lustiges Kind. Die kann doch ned von mir sein!“ Meine Eltern hatten nach dem Tod meiner älteren Schwester und wegen der Krankheit meiner Mutter nicht mehr damit gerechnet, noch einmal ein Kind zu bekommen.

Unmittelbar nach dem Krieg gab es nichts und keiner hatte etwas. Meine Mutter eröffnete ein Geschäft mit den Namen „Fribor“, aus FRida BOhdal, und stellte wieder Gummiwalzen für Malerbetriebe her. Mein Vater und meine Großtante handelten mit Hadern und Lumpen, fuhren mit einem alten Pferdegespann durch die Gassen und kauften die Felle auf, die vom Schlachten der Katzen und Hunde übrig blieben. Wegen der schweren Not landete alles im Kochtopf, was essbar war. Vom ersten Gewinn kaufte mein Vater ein Auto, einen US-amerikanischen Packard.

Später erzählte meine Mutter, dass es in dieser turbulenten Zeit einen ganz anderen Zusammenhalt unter den Menschen gab und jeder bemüht war, dem anderen zu helfen. Damals entstanden auch viele der guten Geschäftsverbindungen, die meinen Eltern später zum großen Erfolg verhalfen. Dem Geschäft mit der Herstellung und dem Vertrieb von Malerwalzen war kein langes Leben gegönnt. Mutter behauptete später, der Vater habe zu viel Geld vom Gewinn in seinen Packard gesteckt, so dass zu wenig zum Investieren blieb.

Mit Hilfe von Mutters Kontakten zu den sowjetischen Besatzern gelang es den Eltern, bereits im 46er-Jahr wieder Fuß zu fassen, und sie eröffneten bald nach meiner Geburt einen „USIA-Konsum“, also ein Lebensmittelgeschäft. (Mit der offiziellen Abkürzung „USIA“ wurde die Verwaltung des sowjetischen Vermögens im östlichen Österreich bezeichnet.) Das große geschäftliche Talent meiner Mutter zeigte sich nach Kriegsende beim Organisieren und Beschaffen von Waren aller Art: von Lebensmitteln bis hin zu Nähseide – im ganzen Land fehlte es am Notwendigsten. Dank ihrer guten Kontakte konnte sie in dieser Zeit der Lebensmittelmarken und verordneten Einschränkungen so gut wie alles besorgen. Mein Vater wiederum war bei den Donau-Schiffern bekannt dafür, den besten Rum zu panschen, und knüpfte dadurch neue Geschäftskontakte. Ich kann mich nicht daran erinnern, als Kind jemals Hunger gehabt zu haben.

Damals, kurz nach dem Krieg, wurde meiner Mutter mitunter zum Vorwurf gemacht, sie würde als Jüdin Lebensmittel an ehemalige Nazis verkaufen. „Warum denn nicht“, war ihre Antwort. „Sie bezahlen ja dafür. Außerdem ist es an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Das Leben muss weitergehen. Wenn wir uns alle hassen, bringt es gar nichts.“ Mit dieser Einstellung von Toleranz und Gefühl für Mitmenschen bin ich aufgewachsen und genauso lebe ich auch heute noch.

Wir wohnten in einer Zwölf-Zimmer-Wohnung in der Hofenedergasse im zweiten Wiener Bezirk, eine während des Nazi-Regimes arisierte und später wieder an Juden restituierte Wohnung, die wir uns, wie damals üblich, mit einer Flüchtlingsfamilie teilten: vertriebene ungarische Juden mit einem katholischen Kindermädchen – jene Martha Margit, die zu meiner Namenspatronin wurde. In dem langen Gang, von dem die Zimmer abgingen, konnte ich gemeinsam mit den Buben aus der anderen Familie wunderbar laut schreiend auf dem Besen reiten – und schon als kleines Kind waren mir Spaß und Unterhaltung, auf gut Wienerisch eine „Hetz“, besonders wichtig.

Meine Eltern hatten es dank des gutgehenden Geschäfts im russischen „Konsum“ und den noch besser gehenden „Nebengeschäften“ meiner Mutter recht schnell zu einem gutbürgerlichen Wohlstand gebracht. Ein zweites Lebensmittelgeschäft am Vorgartenmarkt wurde eröffnet. Sie führten einen gut situierten Haushalt, in dem täglich für die zehn Angestellten des Geschäfts gekocht und gewaschen wurde. Meine Mutter war immer eine großzügige Person gewesen. Wer Hunger hatte, der hat zu essen bekommen. Und Hunger hatte damals eigentlich jeder – und so hatten wir beim Essen immer ein paar Extra-Gäste am Tisch.