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Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

Epilog

Leseprobe: PERRY RHODAN Stardust 1 – Die neue Menschheit

Vorwort

1.

2.

Leserkontaktseite

Kommentar

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Nr. 2756

 

Das Schiff der Richterin

 

Ein Terraner in der WIEGE DER LIEBE – einem kosmischen Rätsel auf der Spur

 

Marc A. Herren

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

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Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Die Terraner – wie sich die Angehörigen der geeinten Menschheit nennen – sind längst in ferne Sterneninseln vorgestoßen. Immer wieder treffen Perry Rhodan und seine Gefährten auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte, die das Geschehen im Universum beeinflussen.

Seit 1514 Neuer Galaktischer Zeitrechnung – bereits über zwei Jahre lang – steht die Milchstraße unter dem Einfluss des Atopischen Tribunals. Dies behauptet, im Rahmen der »Atopischen Ordo« für Frieden und Sicherheit zu sorgen und den Weltenbrand aufzuhalten, der anderenfalls der Galaxis drohe.

Wie sich herausstellt, beherrscht das Tribunal schon seit Jahrhunderten die Galaxis Larhatoon, die Heimat der Laren – dorthin hat es auch Perry Rhodan verschlagen. Während Reginald Bull der Fährte seines Freundes mit dem neuesten Raumschiff der Menschheit – der RAS TSCHUBAI – folgt, befindet sich Perry Rhodan in einer prekären Situation:

Er ist erneut in die Gewalt des Atopischen Tribunals geraten. Dessen Exekutivorgane, die Onryonen, fordern von ihm Informationen über den Verbleib des obersten larischen Rebellen und Gaumarol da Bostichs. Als Rhodan die Zusammenarbeit verweigert, nimmt sich eine Atopin seiner an. Ihr Raumschiff ist DAS SCHIFF DER RICHTERIN ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Terraner betritt das Schiff der Richterin.

Der Schwarze Bacctou – Rhodans Begleiter weiß nichts von seiner Vergangenheit und Zukunft.

Saeqaer – Die Richterin versucht, zu Perry Rhodan durchzudringen.

Thivinne, Khambhulom und Kharingo – Bewohner der WIEGE DER LIEBE bekommen Kontakt zu dem Unsterblichen und stellen sich seltsamen Fragen.

1.

Der Schwarze Bacctou

 

Lautlos öffneten sich die Hangartore. Aus der Tiefe des Raumes schwebte in vollkommener Eleganz eine etwa drei Meter durchmessende, kristalline Kugel herein. Ein bläulicher, in seiner Sanftheit an Perlmutt erinnernder Schimmer umspielte sie. Darin: ein schwarzer Schemen.

Dies war offenbar die angekündigte Barkasse der CHEMMA DHURGA. Sie sollte Perry Rhodan von der SPINYNCA bringen. Weg von den Onryonen Guol Chennyr und Taccea Sperafeco.

Perry Rhodan spürte die Veränderung, die mit dem Auftauchen der weißbläulichen Kugel einherging. Er fühlte, wie sich in diesem Augenblick etwas zwischen ihm und den beiden Onryonen veränderte. Bisher waren sie es gewesen, die den Takt angegeben hatten. Nun entlarvte die Anwesenheit des Schiffes der Atopin Saeqaer sie als kleine, eigentlich unwichtige Figuren in einem viel größeren, komplexeren Spiel.

Sie und ihre Kampfroboter mit den flimmernden Abstrahlmündungen waren bloß Staffage auf einer Bühne, die für Perry Rhodan und den Ankömmling in der schwebenden Kugel aufgestellt worden war.

Er war es, den die Richterin wollte.

Wofür?

Das würde er früh genug herausfinden.

Würde sich seine Situation damit zum Besseren oder Schlechteren wenden?

Er glaubte nicht an ein Wunder, daher nahm er an: tendenziell zu Letzterem.

Wichtig für den Terraner in dieser Situation war einzig und allein, dass er in diesem Spiel auf das nächste Feld vorgerückt war. Er hatte Bostich und Avestry-Pasik nicht verraten. Dafür kam er nun in die Nähe einer Richterin. Das eröffnete ihm völlig neue Möglichkeiten.

Rhodan hatte in seinem langen Leben viele Situationen wie diese erlebt. Die Suche nach neuem Wissen, dem Verstehen der Hintergründe und Motivationen der Gegenspieler war existenziell wichtig. Wissen schnitt tiefer als jedes Schwert.

Die Kristallsphäre schwebte auf die kleine Gruppe zu. Das grelle Licht der Hangarbeleuchtung erschuf aus dem Schemen eine schwarze, grobschlächtige Gestalt, vor der eine ebenso schwarze Schale schwebte.

Der Sitz für den Passagier?

Auf den ersten Blick meinte Rhodan in der Gestalt einen nackten Onryonen zu erkennen. Aber der erste Eindruck täuschte. Der Humanoide hatte mit den Onryonen außer der schwarzen Haut nichts gemein. Er hatte keine Haare, kein Emot-Organ, die Ohren waren vergleichsweise winzig und standen kaum vom Schädel ab.

Und die Augen waren schwarz und leer.

Die Gestalt schien mit der Passagierschale zu verschmelzen, als wäre sie von einem Steinbildhauer aus demselben Quader aus tiefschwarzem Onyx gehauen worden.

Die Barkasse setzte nicht auf, sondern verharrte eine Handbreit über dem Hangarboden. Die Gestalt wandte den Kopf. Die schwarzen Augäpfel richteten sich auf den designierten Passagier.

Eine Assoziation stieg in Rhodan auf. Alt, unbequem und mächtig.

Die Kristallsphäre teilte sich, wurde zu zwei Kugelschalen, die auseinander- und wieder ineinanderglitten. Die grobschlächtige Gestalt löste sich von der Passagierschale und schwebte auf die drei Wartenden zu.

Rhodan spürte, wie sein Herz schneller schlug. Die Assoziation verstärkte sich, aus dem tiefen Brunnen seiner Erinnerung stiegen Bilder und Erlebnisse auf. An ein Wesen, das seinen und den Weg der Menschheit für einige Zeit begleitet hatte, bis es seine Bestimmung auf der anderen Seite gefunden hatte.

Ein Wächter, ein Geschenk, ein undurchsichtiger Diener und mächtiges Wesen. Geschaffen aus einer Spindel und dem sie umgebenden Genpool. Ausgerüstet mit kybernetischen Hilfsmitteln und einem gut behüteten Plan.

Voltago, der Kyberklon.

Aber Voltago war längst nicht mehr. Jedenfalls nicht in dieser Form – und auf dieser Seite des Universums.

Der Neuankömmling war nicht Voltago. Der humanoide Körper des Sphärenpiloten endete unterhalb des Brustkorbes und ging in einen zylinderförmigen Sockel über, der sich nach unten leicht verbreiterte.

Wie eine Schachfigur ..., dachte Rhodan.

Das Wesen wirkte wie aus einem einzigen Block schwarzen Onyx' geschlagen. Es schwebte einige Zentimeter über dem Boden und maß etwa einen Meter und achtzig Zentimeter von der Unterseite des Sockels bis zu seinem Scheitelpunkt.

Im Gegensatz zu dem perfekten und mächtig wirkenden Voltago erschien Rhodan der Sphärenpilot grobschlächtig und irgendwie unfertig. Als hätte sich das Werk des Bildhauers selbstständig gemacht, bevor er es beenden konnte.

Guol Chennyr trat vor. »Ich grüße dich, Bote. Mein Name ist Guol Chennyr. Dies ist Taccea Sperafeco. Und hier ist der Kardinal-Fraktor GA-yomaads, Perry Rhodan, den wir der Richterin Saeqaer ausliefern.«

»Man nennt mich den Schwarzen Bacctou.«

Der Schwarze Bacctou sprach Onryonisch, die Stimme klang tief und kehlig. Und er hielt, während er sprach, den Blick unverwandt auf den Terraner geheftet, als wolle er jeden Moment ihres Zusammentreffens in sich aufsaugen.

Rhodan spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Der Schwarze Bacctou wirkte in seinem groben, unvollendeten Erscheinungsbild irgendwie verletzlich ... und gefährlich zugleich. War er ein Kunstwesen? Und bedeutete das, dass er wie ein Spielstein behandelt und notfalls geopfert wurde? Doch welche Art Spielstein war er? Dame? Springer? Läufer? Turm? Oder auch nur wieder ein Bauer?

»Woher kommst du, Schwarzer Bacctou?«, fragte Taccea Sperafeco hastig mit ungewohnt hoher Stimme. »Was ist deine Funktion?«

»Ich bringe Perry Rhodan an Bord der CHEMMA DHURGA«, verkündete der Schwarze Bacctou, als wäre damit alles gesagt. »Löst seine Fesseln!«

Sperafeco befreite ihn.

Ohne zu zögern, ging Rhodan auf die Kristallsphäre zu und setzte sich in die Passagierschale. Sofort passte sie sich seinem Körper an. Rhodan strich über das schwarze Material. Es fühlte sich an wie Stein, obwohl es nachgab, als er den Druck seiner Fingerkuppen erhöhte.

»Warte!«, hörte er erneut Sperafecos Stimme. »Es ist mein Wunsch, mit dir und Rhodan an Bord der WIEGE DER LIEBE zu kommen. Kannst du mir diesen Wunsch erfüllen, Schwarzer Bacctou?«

Rhodan blickte die Onryonin an. Ihr Emot pulsierte in einem hellen Orangerot. Unsicher sah sie den Sphärenpiloten an.

Was hatte sie vor? Wollte sie das Schiff der Richterin erkunden oder in erster Linie in der Nähe von Rhodan oder dem Schwarzen Bacctou bleiben? Es war offensichtlich, dass der Sphärenpilot die Onryonin stark faszinierte.

»Der Schwarze Bacctou bringt Perry Rhodan an Bord der CHEMMA DHURGA«, wiederholte der Schwarze Bacctou. »Es gibt einen Platz für die Passage. Es gibt einen Passagier.«

Ohne ein weiteres Wort ließ er die beiden Onryonen und ihre Kampfroboter stehen und nahm seinen Platz hinter der Passagierschale ein.

Die Kristallsphäre schloss sich lautlos. Aus einem versteckten Tank strömte frische Atemluft. Zu Rhodans Verwunderung nahm er eine Note von Lavendel wahr.

Die Barkasse hob ab, flog durch die Halle und erreichte den Weltraum. Die riesige Doppelkugel der CHEMMA DHURGA schälte sich aus der Schwärze: zwei schneeweiße Kugeln, die durch einen elliptischen Reifen miteinander verbunden waren.

Rhodan wandte sich dem Piloten zu. »Wohin wird mich die CHEMMA DHURGA bringen?«

»Die CHEMMA DHURGA ist nicht deine Reise«, sagte der Schwarze Bacctou. »Sie ist dein Ziel.«

Rhodan zeigte ein Grinsen. »Dann ist die WIEGE DER LIEBE ab sofort mein Zuhause?«

Überrascht stellte der Zellaktivatorträger fest, dass sich die Mundwinkel des Schwarzen Bacctou verzogen. Das Kunstwesen erwiderte sein Grinsen.

»Was ist schon ein Zuhause? Wo ist man zu Hause wenn nicht bei sich selbst?«

Rhodan hob eine Augenbraue. »Es spricht viel Weisheit aus deinen Worten.«

»Was ist Weisheit?«

Der Terraner zuckte mit den Achseln. »Wissen zu sammeln, Zusammenhänge zu erkennen, Schlüsse zu ziehen.«

Der Schwarze Bacctou imitierte Rhodans Bewegung. »Aus deiner Äußerung schließe ich, dass du mir eine solche Weisheit nicht zugetraut hast.«

»Zumindest nicht auf der Grundlage deines kurzen Gesprächs mit den beiden Onryonen.«

»Enthält deine Definition von Weisheit auch ein Verschweigen von Wissen?«

»Und ob«, sagte Rhodan. »Bei meinem Volk gibt es eine Redewendung: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Das Sprichwort entstammt aus einer Zeit, als beide Metalle einen großen Wert besaßen. Und Gold war für die Menschen wertvoller als Silber.«

»Es ist zumindest schwerer.«

»Da hast du recht.«

Rhodan blickte wieder auf das Richterschiff. Die beiden durch den Polreif umschlossenen schneeweißen, kristallin schimmernden Kugeln füllten den gesamten Sichtbereich aus. Ein in seiner schlichten Eleganz beeindruckendes Raumschiff. Aber eines von vielen.

Der Schwarze Bacctou sprach leise weiter. Rhodan sah, dass der Sphärenpilot die Augen geschlossen hatte. Der Terraner verstand die Worte nicht. Er wollte den Schwarzen Bacctou darauf ansprechen, als ihm bewusst wurde, dass sein Begleiter sang.

Ein leises Modalisieren, das Rhodan an den Sprechgesang von Mönchen in alten tibetanischen Klöstern erinnerte. Es klang angenehm, irgendwie vertraut und verlieh dem groben, unfertig wirkenden Sphärenpiloten eine weitere überraschende Facette.

Perry Rhodan fühlte, dass ihm der Schwarze Bacctou mit jeder Minute sympathischer wurde.

Lag es an der Mimik und Gestik, die der Sphärenpilot ganz offensichtlich zu spiegeln versuchte? Der Trick war alt, uralt sogar. Rhodan wandte ihn häufig an, wenn er auf Fremdlebewesen traf. Es galt, das Verbindende zu betonen, nicht das Trennende.

Aber der Schwarze Bacctou war mehr als ein Imitator. Rhodan fühlte ein tieferes Interesse des Wesens an seiner Person. So distanziert er sich gegenüber den Onryonen gezeigt hatte, so bemüht gab er sich nun, Rhodan mit seinen durchdachten Äußerungen zu beeindrucken.

Und da war diese schwer erfassbare Verletzlichkeit, die sich besonders in diesem zurückhaltenden Singsang äußerte.

Wer ist die Figur in diesem Spiel?, dachte Rhodan. Der Schwarze Bacctou oder ich?

 

*

 

»Die CHEMMA DHURGA besteht aus zwei Globen«, erklärte der Schwarze Bacctou, während die Barkasse auf einen dunklen Punkt an der größeren der beiden Kugeln zuflog. »Globus Eins ist die Heimstatt der Atopin. Globus Zwei vor uns beherbergt die Schiffbrüchigen aller Welten.«

Sein Pilot nannte die Durchmesser der beiden Kugeln in onryonischen Längeneinheiten. Rhodan kannte sie bereits – Globus Eins durchmaß ungefähr einen Kilometer, Globus Zwei fünf Kilometer.

»Weshalb bringst du mich nicht direkt zur Richterin?«, wollte der Terraner wissen. »Ich hatte bisher den Eindruck, Saeqaer wolle mich persönlich treffen.«

»Mein Auftrag lautet, dich zu den Schiffbrüchigen zu bringen.«

»Dann wird mich Saeqaer im Globus Zwei treffen?«, hakte er nach.

Der Schwarze Bacctou legte den Kopf schief, als litte er unter einem verspannten Nacken. »Es ist mir nicht bekannt, ob es eine Audienz geben wird. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«

»Das ist seltsam.«

»Seltsam?«, gab der Schwarze Bacctou zurück. »Aber so wurde es mir aufgetragen.«

»Von wem? Der Richterin?«

»Das kann ich dir nicht sagen.«

»Hmm«, machte Perry Rhodan. »Was muss ich mir unter den ›Schiffbrüchigen aller Welten‹ vorstellen, die du erwähnt hast?«

»Sie haben in der WIEGE DER LIEBE eine neue Heimat gefunden. Du wirst sie schon bald treffen.«

»Gelte ich damit nun ebenfalls als ein solcher Schiffbrüchiger?«

Der Schwarze Bacctou sah Rhodan an. »Was ist und wird, ist nicht an mir zu definieren.«

Er richtete den Blick wieder auf die weiße Kugelschale, auf die sie zuflogen. Oberhalb des umlaufenden Rings, der die beiden Kugeln der CHEMMA DHURGA verband, erschien eine runde Öffnung, vergleichbar mit dem Verschluss einer Irisblende.

Sie war nur geringfügig größer als die Barkasse. Ohne die Kugelsphäre abzubremsen, steuerte der Schwarze Bacctou sie durch die Öffnung. Sie gelangten in einen Tunnel, der nach Rhodans Schätzung gut hundert Meter ins Innere von Globus Zwei führte.

Die Kugelsphäre schoss aus einem Schacht und kam zum Stillstand.

Rhodan hielt den Atem an. Sie schwebten über einer diffus beleuchteten Moorlandschaft. Eine rot verwaschene Kunstsonne stand über ihnen, spendete das spärliche Licht.

»Willkommen im Globus Zwei«, sagte sein Pilot.

»Eine Hohlwelt«, murmelte Perry Rhodan.

Unter ihnen breitete sich das Moor aus, mit Sumpflöchern, schmutzig braunen Grasbüscheln und knorrigen, kaum belaubten Kronen. Etwas weiter entfernt zeichneten sich die Silhouetten von asymmetrischen Objekten ab, die einerseits Baugerippen ähnelten, andererseits aber wie künstliche Verzerrungen wirkten.

Eine düstere, feuchte, unwirtliche Welt, dachte Rhodan.

Am Horizont schienen Gebirge aufzuragen. Eine optische Täuschung, denn was Rhodan in der dämmrigen Ferne sah, war nur die Wölbung des Bodens, der Innenseite der Kugelschale von Globus Zwei.

Der Zellaktivatorträger überschlug kurz die Ausmaße der Hohlwelt. Wenn er davon ausging, dass die Kugelwand überall etwa hundert Meter dick war, kam er auf einen Durchmesser von 4800 Metern. Damit verfügte die Innenseite dieser Welt über etwa 72 Millionen Quadratmeter oder 7200 Hektar Oberfläche.

Einundzwanzigmal so groß wie der Central Park im New York meiner Jugend.

Der Schwarze Bacctou steuerte die Barkasse auf eines der Gerippe zu. Aus der Nähe entpuppte es sich als Trümmerkomplex. Metallwände und geborstene Maschinenaggregate, die zu einem fast hundert Meter aufragenden, skurrilen Gebilde zusammengeschweißt worden waren. An den Fassaden hingen an langen Seilen vielarmige Lebewesen, die rostrote Farbe auf die Oberfläche pinselten.

»Die Raumschiffswracks der Schiffbrüchigen?«, fragte Rhodan.

»Die Stätte Einsnullvier«, sagte der Schwarze Bacctou.

Die Barkasse verhielt in der Schwebe. Rhodan blickte am Trümmerkomplex entlang in die Höhe. An der Spitze des Gebäudes kragten zwei oder drei bauchige Gebilde aus.

Der Schwarze Bacctou folgte Rhodans Blick. »Die Transferkörbe der Siwives«, erklärte er.

»Siwives heißen die Bewohner dieser Stätte?«

»Ja.«

»Wie viele Stätten gibt es in der CHEMMA DHURGA?«

»Hunderte.«

»Und jede wird von einem anderen Volk bewohnt?«

»Im Normalfall: ja«, sagte der Sphärenpilot. »Aber es gibt ebenso Stätten, an denen verschiedene Volksangehörige zusammen wohnen. Wie es auch heterogene Schiffsbesatzungen gibt.«

Die Kristallsphäre flog am Trümmerkomplex entlang. Einige der Siwives wurden auf die Barkasse aufmerksam. Mit mehreren Armen gestikulierten sie, riefen einander etwas zu, bis alle Fassadenmaler ihre Tätigkeit unterbrachen und sie beobachteten.

»Wie stehst du zu den Siwives und den anderen Schiffbrüchigen?«, fragte Rhodan.

»Die Frage hat sich mir nie gestellt. Ich kann sie dir nicht beantworten.«

»Du bist selbst kein Schiffbrüchiger?«

»Nein.«

»Du arbeitest direkt für die Richterin Saeqaer?«

Der Schwarze Bacctou blickte Rhodan an. Ein nachdenklicher Zug umspielte seine grob gehauenen Lippen. »Ich habe meine Aufgaben, das ist alles, was ich dir sagen kann.«

Er ist sich über viele Aspekte seiner Existenz nicht bewusst, dachte Rhodan. Ein Kunstwesen, das nur über jene Informationen verfügt, die es benötigt.

Rhodan fragte sich, weshalb die Erschaffer dem Schwarzen Bacctou die philosophischen Ansätze mitgegeben hatten. Sollte er möglichst viele Informationen über seine Existenz selbst erarbeiten? Das bedeutete eine nicht zu unterschätzende Gefahr für ein Kunstwesen – zumindest aus der Sicht seiner Schöpfer.

Der Sphärenpilot ließ die Barkasse zu Boden schweben. Die Kugelhälften glitten auseinander.

Ein Schwall feuchtwarmer, leicht modriger Luft strömte in das Innere der Kugel und vertrieb den frischen Lavendelduft.

»Wir sind da«, sagte der Schwarze Bacctou.

Rhodan erhob sich, trat hinaus. Die künstliche Schwerkraft mochte leicht unterhalb der irdischen liegen, Rhodan schätzte sie auf 0,9 Gravos.

Zwei Siwives ließen sich an ihren Seilen herunter, verharrten dann aber im Abstand von zehn Metern unschlüssig.

Sie waren etwa eineinhalb Meter groß. Der eigentliche Leib bestand aus einem etwa dreißig Zentimeter langen, grob zylindrisch geformten Torso. Aus ihm wuchs ein Dutzend Extremitäten, die in jeweils vierfingrigen Händen oder Füßen endeten. Rhodan vermochte den Unterschied zwischen Armen und Beinen nicht zu erkennen. Es schien, dass die Siwives sie situationsgerecht entweder zum Gehen oder zum Greifen verwendeten.

Der Kopf war birnenförmig und bestand hauptsächlich aus drei grünlich fluoreszierenden Augen. Der Körper der Siwives war stark behaart, wobei die Farben alle Schattierungen zwischen Grau, Braun und Schwarz aufwiesen.

Eine eigentliche Kleidung trugen die beiden Siwives nicht. An den Extremitäten waren aber metallene Köcher befestigt, in denen Pinsel und andere Werkzeuge steckten.

Der Schwarze Bacctou verließ die Barkasse. Die Kristallsphäre schloss sich und schwebte mit unbekanntem Ziel davon.

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Rhodan.

»Das liegt an dir«, antwortete der Schwarze Bacctou.

2.

Diebe und Konstrukteure

 

»Es liegt an mir?«, gab Rhodan zurück. »Willst du damit sagen, dass du keinen klaren Befehl erhalten hast, was mit mir geschehen soll?«

»Mein Auftrag lautet, in deiner Nähe zu bleiben.«

»Das ist alles?«

»Das ist alles.«

»Und ich bin vollkommen frei darin, wohin ich in der CHEMMA DHURGA gehe, mit wem ich spreche, was ich unternehme?«

Der Schwarze Bacctou zögerte. »In Globus Zwei steht es dir völlig offen, was du unternimmst«, sagte er vorsichtig, als wäge er jedes einzelne Wort ab.

»Dann wäre es mir nicht erlaubt, in Globus Eins überzuwechseln?«

»Die Frage ist müßig. Die Heimstätte der Richterin ist für dich tabu. Aber selbst wenn du dieses Tabu umgehen wolltest, würde es dir nicht gelingen, in den Globus Eins vorzustoßen.«

»Weshalb?«

»Weil es die Richterin so will.«

Rhodan verschränkte die Arme. »Wenn ich zusammenfassen darf: Dein Auftrag lautet, mich bei den Siwives abzusetzen und mich fortan zu begleiten, während ich innerhalb von Globus Zwei der CHEMMA DHURGA tun und lassen darf, was mir beliebt?«

»Ja.«

Rhodan kratzte sich an der kleinen Narbe am Nasenflügel. »Die Richterin gewährt mir nach den psychischen Strapazen in der SPINYNCA einen kleinen Erholungsurlaub bei Schiffbrüchigen. Sehr nett von der Dame.«

Der Schwarze Bacctou rieb ebenfalls an der Nase. »Ich werte deine Aussage als sarkastisch. Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.«

»Wenigstens bist du ehrlich.« Rhodan seufzte. Das Unternehmen CHEMMA DHURGA wurde mit jeder Minute mysteriöser und bizarrer. »Kannst du mir wenigstens sagen, weshalb du mich hier bei den Siwives abgesetzt hast?«

»Dein Metabolismus ist überprüft worden. Die Siwives bevorzugen ungefähr die gleichen Lebensbedingungen wie du, was die Luftzusammensetzung, die Gravitation und die Nahrung anbelangt. Deshalb ging ich davon aus, dass die Stätte Einsnullvier für dich ein gutes Startgebiet wäre.«

»Dann sind die Schwerkraft und die Atemluft nicht überall in Globus Zwei gleich?«

»Die WIEGE DER LIEBE soll allen Schiffbrüchigen optimale Bedingungen bieten«, antwortete der Schwarze Bacctou. »Die meisten wählen Atemgasgemische und Schwerkraftverhältnisse, die auch für dich erträglich sind. Andere atmen Wasserstoff und bevorzugen eine ungleich höhere Schwerkraft. Daneben gibt es einzelne Völker, die in vollkommen anderen Verhältnissen existieren. Für alle findet die CHEMMA DHURGA eine auf sie abgestimmte Lösung.«

»Schön«, sagte Rhodan. »Das ist sehr nobel von der CHEMMA DHURGA. Da stellt sich mir aber die Frage, wie sich all die Schiffsunglücke ereignet haben. Fand ein Krieg statt? Wie direkt waren die Onryonen oder die Atopen für diesen Krieg verantwortlich? Und weshalb wurden die Schiffbrüchigen nicht einfach auf ihre Ursprungswelten zurückgebracht? Wozu dient die WIEGE DER LIEBE?«

»Viele Fragen. Ich bin sicher, dass du die Antworten darauf im Verlaufe der Zeit finden wirst.«

»Du wirst sie mir nicht geben?«

»Ich kann nicht.«

Rhodan seufzte. »In Ordnung. Dann scheine ich keine andere Wahl zu haben, als bei diesem Spiel mitzumachen. Was könnte also mein erster Schritt sein?«

Der Schwarze Bacctou runzelte die Stirn. »Ich nehme an, dass du früher oder später Nahrung zu dir nehmen musst. Dann würde ich dir raten, mit dem Werten Thivinne in Kontakt zu treten. Er ist der Sprecher der Stätte Einsnullvier. Es liegt an ihm, ob dir das Gastrecht gewährt wird oder nicht.«

Rhodan zuckte mit den Schultern und ging auf die beiden Siwives zu, die ihn nach wie vor unbeweglich musterten.

Wie er es Tausende Male zuvor getan hatte, hob er die Arme und zeigte den beiden Wesen die leeren Handflächen. »Mein Name ist Perry Rhodan, und ich komme in Frieden«, sagte er auf Onryonisch. Mittlerweile beherrschte er dieses Idiom recht gut.

Die beiden Siwives blinzelten aufgeregt. Unterhalb der drei Augen öffnete sich bei einem der beiden eine Öffnung, ein kleiner, lippenloser Mund. Hastig stieß er ein paar Worte aus, die Rhodan nicht verstand. Eine Art abgehackter Gesang. Der andere Siwiv hob mehrere Extremitäten, fuchtelte mit ihnen durch die Luft, während er ebenfalls auf Rhodan einsprach.