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Lektorat: Gabriele Vogel

Die Wissenschaftliche Reihe im Archiv der Jugendkulturen
Alljährlich entstehen an Universitäten und Fachhochschulen Hunderte von wissenschaftlichen Arbeiten, die zumeist nur von zwei Gutachtern gelesen werden und dann unbeachtet in den Asservatenkammern der Hochschulen verschwinden. Dabei enthalten viele dieser Arbeiten durchaus neues Wissen, interessante Denkmodelle, genaue Feldstudien. Das Archiv der Jugendkulturen, Fachbibliothek und Forschungsinstitut zugleich zu allen Fragen rund um Jugendkulturen, hat deshalb damit begonnen, wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Jugend zu sammeln und öffentlich zugänglich zu machen. Mehr als 500 solcher Arbeiten enthält die Präsenzbibliothek des Archivs inzwischen – für jedermann kostenlos und frei zugänglich.

In der Wissenschaftlichen Reihe publiziert das Archiv der Jugendkulturen seit 2007 zudem qualitativ herausragende wissenschaftliche Arbeiten zu jugendkulturellen Zusammenhängen. Die Arbeiten werden von fachkundigen GutachterInnen gelesen und vor der Veröffentlichung professionell lektoriert. Da pro Jahr von 20 - 25 eingereichten Arbeiten nur zwei veröffentlicht werden, kann bereits die Aufnahme in den Verlagskatalog als Auszeichnung verstanden werden. Doch für die AutorInnen lohnt sich die Veröffentlichung auch materiell. Die Archiv der Jugendkulturen Verlag KG verlangt von ihren AutorInnen keinerlei Kostenbeteiligungen! Im Gegenteil: AutorInnen, deren Arbeiten wir in unserer Wissenschaftlichen Reihe veröffentlichen, erhalten bereits für die Erstauflage ein Garantiehonorar von 2.000 Euro!

Seit 2011 wird diese Reihe durch eine elektronische Schwester ergänzt. Denn immer wieder mussten wir hervorragende Manuskripte ablehnen, da ein kleiner Verlag wie der unsrige sich nicht mehr als zwei wissenschaftliche Titel mit den gesetzten Qualitätsstandards (großformatige Hardcover, alle Bände sind reichlich illustriert, oft in Farbe) und dem bewusst sehr niedrig angesetzten Ladenpreis (um möglichst viele Menschen zu erreichen) leisten kann. Die E-Book-Reihe soll dieses Manko nun ausgleichen. Was für die Printreihe gilt, gilt auch für unsere E-Books: Sie werden ebenfalls unter der Fülle eingereichter Arbeiten sorgfältig ausgewählt und lektoriert, die AutorInnen erhalten ein kleines Garantiehonorar und werden am Umsatz beteiligt.

Das Archiv der Jugendkulturen e.V.
Das Berliner Archiv der Jugendkulturen e. V. existiert seit 1998 und sammelt – als einzige Einrichtung dieser Art in Europa – authentische Zeugnisse aus den Jugendkulturen selbst (Fanzines, Flyer, Musik etc.), aber auch wissenschaftliche Arbeiten, Medienberichte etc., und stellt diese der Öffentlichkeit in seiner Bibliothek kostenfrei zur Verfügung. Darüber hinaus betreibt das Archiv der Jugendkulturen eine umfangreiche Jugendforschung, berät Kommunen, Institutionen, Vereine etc., bietet jährlich bundesweit rund 80 Schulprojekttage und Fortbildungen für Erwachsene an und publiziert eine eigene Zeitschrift – das Journal der Jugendkulturen – sowie eine Buchreihe mit ca. sechs Titeln jährlich. Das Archiv der Jugendkulturen e. V. hat derzeit 230 Mitglieder weltweit (darunter viele Institutionen). Die Mehrzahl der Archiv-MitarbeiterInnen arbeitet ehrenamtlich.

Schon mit einem Jahresbeitrag von 48 Euro können Sie die gemeinnützige Arbeit des Archiv der Jugendkulturen unterstützen, Teil eines kreativen Netzwerkes werden und sich zugleich eine umfassende Bibliothek zum Thema Jugendkulturen aufbauen. Denn als Vereinsmitglied erhalten Sie für Ihren Beitrag zwei Bücher Ihrer Wahl aus unserer Jahresproduktion kostenlos zugesandt.

Weitere Infos unter www.jugendkulturen.de

Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin

Diplomprüfung

Sommersemester 1995

Diplomarbeit

Politisch-administrative Strategien bei besetzten

Häusern in Ostberlin

vorgelegt am: 29. 5. 1995

vorgelegt von: Jiri Wittmann

Erstgutachter: Prof. Dr. Peter Grottian

Zweitgutachter: Dr. Wilhelm Fehse

INHALT

1 EINLEITUNG

2 STAAT, GESELLSCHAFT UND NEUE SOZIALE BEWEGUNGEN

2.1 STAAT UND GESELLSCHAFT

2.1.1 Der Staat

2.1.2 Die Gesellschaft

2.1.3 Die Beziehung Staat-Gesellschaft

2.1.3.1 Die Verflechtung von Staat und Gesellschaft

2.1.3.2. Die Enthierarchisierung der Beziehung Staat – Gesellschaft

2.1.3.3 Netzwerk-Verhandlungssysteme

2.1.4 Staatliche Steuerung

2.2 STAAT UND NEUE SOZIALE BEWEGUNGEN

2.2.1 Neue soziale Bewegungen

2.2.1.1 Institutionalisierung von Bewegung

2.2.1.2 Integration von Bewegung

2.2.1.3 Verflechtung von Bewegung und Staat

2.2.2 Der Staat

2.2.3 Die Beziehung Staat – Neue soziale Bewegungen

2.3 STAAT UND HAUSBESETZERBEWEGUNG – THESEN

3 STAAT UND HAUSBESETZERBEWEGUNG

3.1 DIE HAUSBESETZERBEWEGUNG VON 1980/1981 IN WESTBERLIN

3.1.1. Verlauf der Bewegung

3.1.2 Die Verhandlungen zwischen Staat und Bewegung

3.1.3 Resümee

3.2 ENTWICKLUNGEN IN DEN ACHTZIGER JAHREN/VERÄNDERUNG DER RAHMENBEDINGUNGEN

3.2.1 Die behutsame Stadterneuerung

3.2.2 Die Beziehung Staat – Bewegung

3.2.3 Die Rot-Grüne Koalition

3.2.4 Die Wiedervereinigung

3.3 DIE HAUSBESETZERBEWEGUNG VON 1990/1991 IN OSTBERLIN

3.3.1 Verlauf der Bewegung

3.3.2 Vergleich der Bewegungen von 1980/1981 und 1990/1991

3.3.3 Politisch-administrative Strategien

4 RESÜMEE

QUELLEN

ANHANG

1 Einleitung

Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Die Grenze zwischen West- und Ostberlin war damit wieder offen für alle Berliner.1 In der folgenden Zeit der politischen Entwicklung in Richtung Wiedervereinigung beider deutscher Staaten, also vom 9.11.1989 bis zum 3.10.1990, zeigten sich die Regierenden und die Verwaltung der DDR hochgradig von der Situation überfordert und in vielen Bereichen handlungsunfähig. Daraus resultierte auf dem Hoheitsgebiet der DDR der zeitweise Zustand eines quasi-rechtsfreien Raumes. Zumindest in bestimmten Bereichen wurden Rechtsüberschreitungen nicht mehr – oder nur in sehr eingeschränktem Maße – geahndet.

Bereits im Dezember 1989 kam es aufgrund dieser Tatsache in Berlin und Potsdam zu ersten Hausbesetzungen. Im Winter 1989/1990 kamen weitere Hausbesetzungen dazu und im Frühjahr 1990 setzte dann eine regelrechte Welle von Hausbesetzungen ein. Um dieselbe Zeit formierten sich auch Bewegungsstrukturen. Im Juli 1990 waren schon über 100 Häuser in Ostberlin besetzt. Am Tag der Wiedervereinigung, dem 3.10.1990, waren es schließlich rund 150 besetzte Häuser. Diese Entwicklung wurde von den politisch Verantwortlichen des bis dahin weiterexistierenden DDR-Staates nicht bzw. nur schwach behindert. Die Besetzungen wurden geduldet und es fanden ab Juni 1990 auch Verhandlungen zwischen der Hausbesetzerbewegung, dem Ostberliner Magistrat und der Kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV) statt.

Nach der Wiedervereinigung am 3.10.1990 und der Machtübernahme des Westberliner Senats wurden allerdings keine neuen Hausbesetzungen mehr geduldet. Einzelne Versuche von Neubesetzungen wurden verhindert, und es kam in den folgenden Monaten auch zu einer Reihe von Räumungen. Besondere Erwähnung verdient hier die spektakuläre Räumung von 12 besetzten Häusern in der Mainzer Straße im Bezirk Friedrichshain am 14.11.1990, bei der es zu den schwersten Ausschreitungen in Berlin seit Jahren kam. Nach diesem dramatischen Höhepunkt des Konflikts zwischen Staat und Bewegung verlagerte sich die Auseinandersetzung aber sehr schnell an Verhandlungstische. Innerhalb des folgenden halben Jahres, etwa von Dezember 1990 bis Juli 1991, gelang es dann, in diesen Verhandlungen fast alle besetzten Häuser in Ostberlin zu legalisieren, im Bezirk Prenzlauer Berg rund 70 besetzte Häuser oder Gebäudeteile, im Bezirk Mitte rund 30 und im Bezirk Friedrichshain ebenfalls rund 30 Häuser oder Gebäudeteile.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Auseinandersetzung zwischen Staat und Bewegung vergleichsweise konfliktarm verlaufen ist und dass die Verhandlungen am Ende zu einem relativen Erfolg für beide Seiten führten. Der Erfolg für den Staat war die Wahrung des sozialen Friedens und die Befriedung der Bewegung, für die Bewegung war der Erfolg die langfristige Absicherung der gewonnenen Freiräume in den Häusern und der Aufbau dauerhafter Strukturen, also einer oppositionellen Gegenmacht in den Stadtteilen. Darin unterscheidet sich der Konflikt Staat – Hausbesetzerbewegung 1990/1991 entschieden von dem Konflikt zwischen Staat und Hausbesetzerbewegung 1980/1981.

Damals gestaltete sich die Auseinandersetzung zwischen Staat und Bewegung viel härter und aggressiver. Die Bewegung musste massive staatliche Repression erdulden. Zahllose Hausdurchsuchungen, Räumungen, Verhaftungen, eine enorme Zahl von Ermittlungsverfahren gegen Hausbesetzer und Sympathisanten sowie eine Reihe von Verurteilungen mit unverhältnismäßig hohen Strafmaßen gegen Einzelne machten lange Zeit jeden Versuch unmöglich, durch Verhandlungen eine friedliche Lösung zu erzielen. Die Bewegung reagierte auf die staatliche Repression mit verstärkter Militanz und einer Kette von Krawallen. Das Ergebnis dieser konfliktdominierten Auseinandersetzung zwischen Staat und Bewegung fiel für beide Seiten entsprechend negativ aus: Von den 165 besetzten Häusern (Stand Juni 1981) wurden mehr als die Hälfte geräumt, lediglich 78 wurden legalisiert, die Legalisierungen zogen sich teilweise bis 1984 hin, die Vertragskonditionen blieben bei vielen Häusern erheblich hinter den Wunschvorstellungen der Bewohner zurück. Dem Staat brachte dieser Konflikt nicht nur enorm hohe monetäre Kosten, sondern auch einen erheblichen politischen Schaden (Verlust von Glaubwürdigkeit und Vertrauen, Legitimationskrise).

Ganz offensichtlich gibt es also entscheidende Unterschiede zwischen den Auseinandersetzungen von Staat und Bewegung 1980/1981 und 1990/1991. Das liegt zum einen natürlich an den veränderten Rahmenbedingungen, zum anderen allerdings auch an den veränderten Strategien der Akteure Bewegung und Staat. In meiner Arbeit soll der Zusammenhang zwischen Strategien, Rahmenbedingungen und Verlauf der Auseinandersetzung im Fokus stehen. Der Titel dieser Arbeit lautet Politisch-administrative Strategien bei besetzten Häusern in Ostberlin. Anhand der politischen Strategien im Umgang mit den Hausbesetzerbewegungen möchte ich die Entwicklung der Beziehung Staat–Neue soziale Bewegung untersuchen. Ferner möchte ich die Entwicklung dieser Beziehung in Zusammenhang setzen mit der allgemeinen staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Dabei geht es mir um den Nachweis von Veränderungen in den staatlichen Entscheidungsstrukturen und um neue Formen staatlicher Steuerung politischer und gesellschaftlicher Prozesse.

Diese Arbeit ist gegliedert in einen theoretischen und einen empirischen Teil. Der theoretische Teil befasst sich mit der Entwicklung der Beziehung Staat–Gesellschaft sowie mit der Beziehung Staat–Neue soziale Bewegungen. Die beiden Beziehungen versuche ich, miteinander zu verbinden und einen Zusammenhang herzustellen. Auf der Grundlage des theoretischen Teils, insbesondere auf der Basis von den im theoretischen Teil erarbeiteten Thesen, erfolgt dann die Analyse der Beziehung Staat–Bewegung von 1980/1981 und 1990/1991. Der Vergleich der Bewegungsverläufe miteinander ermöglicht es, Veränderungen staatlicher Entscheidungsstrukturen und politisch-administrativer Strategien zu untersuchen sowie die Folgen für die Beziehung Staat – Bewegung.

Was die Materialauswahl und die Quellen betrifft, so ist zu bemerken, dass es sowohl für den theoretischen Teil dieser Arbeit als auch über die Hausbesetzerbewegung 1980/1981 eine Fülle von Literatur gibt. Besonders hervorheben möchte ich an dieser Stelle den Band Policy-Analyse, Kritik und Neuorientierung (1993), herausgegeben von Adrienne Heritier, aus welchem ich entscheidende Anregungen für den theoretischen Teil meiner Arbeit gewann, sowie das Buch Marginalisierung und Militanz von Manuel Henrique (1990) und die Diplomarbeiten von Renate Mulhak (1981) und von Klaus Herrmann/Harald Glöde (1985) über die Hausbesetzerbewegung von 1980/1981. Des Weiteren das Buch Demokratie von Unten von Roland Roth (1994) über die aktuelle Situation der Neuen sozialen Bewegungen und das Buch Kein Abriss unter dieser Nummer von Bernd Laurisch (1981) zur Hausbesetzerbewegung 1980/1981.

Die Hausbesetzerbewegung 1990/1991 dagegen ist nur äußerst spärlich dokumentiert. Die hier fehlende Literatur ersetze ich jedoch durch die Auswertung von Presseberichten und Besetzermedien (BesetzerInnen Zeitung, Flugblätter) sowie von verschiedenen Dokumenten, wie z. B. Verhandlungsprotokolle. Darüber hinaus kann ich auch mit meinen eigenen Erfahrungen und Erinnerungen zur Darlegung des Sachverhalts beitragen, da ich selbst seit April 1990 in einem besetzten (inzwischen ehemals besetzten) Haus im Bezirk Mitte wohne, und ich an den Verhandlungen um die Legalisierung der besetzten Häuser beteiligt war. Ein Teil der von mir verwendeten Materialien befindet als Anhang am Ende dieser Arbeit.

1 Mit der grammatikalisch männlichen Formulierung sind in dieser Arbeit alle entsprechenden Personen unabhängig von ihrer Geschlechtszugehörigkeit gemeint.

2 Staat, Gesellschaft und Neue soziale Bewegungen

In diesem Kapitel möchte ich die Veränderungen in der Beziehung zwischen Staat und Neuen sozialen Bewegungen untersuchen. Ferner möchte ich versuchen, einen Zusammenhang zu allgemeiner staatlicher und gesellschaftlicher Entwicklung herzustellen. Denn – so ist meine These – die Beziehung Staat–Neue soziale Bewegung steht in enger und direkter Beziehung zur allgemeinen staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Es bestehen wechselseitige Abhängigkeiten.

Im ersten Abschnitt dieses Kapitels setze ich mich mit der staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklung auseinander. Darauf aufbauend untersuche ich dann im zweiten Abschnitt die Entwicklung Neuer sozialer Bewegungen und ihrer Beziehung zum Staat. Dabei geht es mir insbesondere um die Veränderung staatlicher Entscheidungsstrukturen und ihre Auswirkung auf die Beziehung des Staates zu Gesellschaft und Neuen sozialen Bewegungen. Im dritten Abschnitt fasse ich dann eine Reihe von Schlussfolgerungen aus den ersten beiden Abschnitten zusammen, die mir bei meiner Untersuchung der Hausbesetzerbewegungen als Grundlage dienen sollen.

2.1 Staat und Gesellschaft

Die Entwicklung von Staat und Gesellschaft ist seit jeher Gegenstand von politik- und sozialwissenschaftlicher Forschung. Insbesondere die in den sechziger und siebziger Jahren geführte ideologische Auseinandersetzung um Sozialismus und Kapitalismus auf wissenschaftlicher Ebene führte zu einer Fülle von neuen Theorien.

Für eine angemessene Darstellung dieser Theorieentwicklung ist aber im Rahmen dieser Arbeit leider nicht genügend Raum. Ich werde daher in der folgenden Darstellung staatlicher und gesellschaftlicher Entwicklung Elemente der verschiedensten Theorien verarbeiten, ohne dabei die Herkunft dieser Elemente zu präzisieren oder die Problematiken zu vertiefen. Mir ist die Tatsache bewusst, dass durch diese zwangsläufig oberflächlich bleibende Darstellung eine Verkürzung entsteht. Es sei jedoch berücksichtigt, dass hier keine Theoriegeschichte betrieben werden soll. Ziel meiner Arbeit ist es, mich auf diese Weise dem Kern einer konkreten Problematik anzunähern. Unvermeidliche Auslassungen und Verkürzungen sind daher lediglich der Stringenz dieser Arbeit geschuldet. Dasselbe gilt für die Tatsache, dass ich die Darstellung staatlicher und gesellschaftlicher Entwicklung und die Darstellung der parallel dazu stattfindenden politikwissenschaftlichen Diskussion nicht inhaltlich voneinander getrennt, sondern zusammen behandle.

2.1.1 Der Staat

In den ersten Jahren des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland wurde das bundesdeutsche Modell staatlicher Ordnung kaum in Frage gestellt.2 Erst ab Mitte der sechziger Jahre, als strukturelle Fehlentwicklungen politische und soziale Ungleichheiten und damit die Widersprüche zwischen normativem Modell und Verfassungswirklichkeit unübersehbar machten, wurde diese „unkritische Akzeptanz“ durchbrochen.3 Aus der Kritik an bestehenden Verhältnissen wuchs die Forderung nach umfassender Demokratisierung von Gesellschaft und Staat. Diese eingangs von politik- und sozialwissenschaftlicher Seite (Kritische Theorie, Frankfurter Schule) formulierte Forderung wurde von der Studentenbewegung, den Gewerkschaften und mit der Zeit immer breiteren Teilen der Bevölkerung aufgegriffen, bis sie schließlich in einem sozialliberalen Reformprogramm unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ mündete.4

Für die Politikwissenschaft bedeutete das Ende der unkritischen Akzeptanz den Beginn einer Staatsdebatte, die sich mit schwankender Intensität bis heute fortgesetzt hat und in deren Mittelpunkt ganz grob formuliert folgende Fragestellungen standen:

• Wie funktioniert der Staat eigentlich?

• Wie sollte er funktionieren?

• Was muss getan werden, damit der Staat so funktioniert, wie er funktionieren sollte?

In dieser Debatte standen sich anfangs konservative, reformistische, marxistische und rein empirisch-analytische Theorien konkurrierend gegenüber.5 Die ursprünglich starke ideologische Prägung dieser Debatte verlor sich mit der Zeit in dem Maße, wie klar wurde, dass keine dieser Theorien alleine allgemeingültige Erklärungen und Antworten auf o. g. Fragen bieten konnte. Durch gegenseitige Befruchtung der Theorien nahm das Denken in Radikalalternativen (Kapitalismus – Sozialismus, Demokratie – Kommunismus) mehr und mehr ab zugunsten von mehr empirischer Forschung und pragmatischeren Theorieansätzen, u. a. Neopluralismus, Neokorporatismus, demokratischer Sozialismus.6 Die ideologische Auseinandersetzung versetzte der politikwissenschaftlichen Forschung einen wichtigen Schub, welcher zu einer Reihe von Erkenntnissen führte, die heute weitgehend als unstrittig gelten. Von diesen sind im Kontext dieser Arbeit vor allem folgende von Bedeutung:

Der normative und stark von konservativen Vorstellungen geprägte Staatsbegriff, welcher den Staat als einen nach innen und außen souveränen, vom Volk eingesetzten und den Volkswillen vollziehenden Regenten sieht, spiegelt nicht die Realität wieder.7 Ebenso wenig trifft die marxistische Vorstellung des kapitalistischen Staates als abhängiges Instrument mächtiger Kapitalinteressen ohne eigene Handlungskapazitäten zu.8 Vielmehr ist eine realistische Beschreibung des bundesdeutschen Staates gewissermaßen zwischen diesen beiden Polen anzusiedeln. Denn der Staat ist zwar de facto tatsächlich stark der Einflussnahme mächtiger Wirtschaftsverbände ausgesetzt (Theorie des selektiven Korporatismus), aber er verfügt auch über eine eigene Machtbasis und damit auch über eigene Handlungskapazitäten, u. a. eben dadurch, dass er von Verfassung und Volk legitimiert ist.9 Der Staat steht also nicht in einer hierarchischen Ordnung über der Gesellschaft oder unter dem Kapital sondern quasi in einer horizontalen Ordnung neben Wirtschaft und Gesellschaft als eigenständiger Akteur mit ordnender und koordinierender Funktion.10 Diese neue Vorstellung vom Staat löste den bisherigen, sich auf Hobbes, Locke und Rousseau berufenden Staatsbegriff ebenso ab wie den sich auf Marx, Engels und Lenin berufenden Begriff des kapitalistischen Staates. Auf der Basis dieses neuen Staatsbegriffs folgten in der politik- und sozialwissenschaftlichen Staatsforschung weitere Ausdifferenzierungen.

Eine der bedeutendsten Veränderungen in der politik- und sozialwissenschaftlichen Sichtweise von Staat und Gesellschaft verursachte die funktionalistische Systemtheorie Luhmanns, von Prittwitz als die einflussreichste sozialwissenschaftliche Theorie der Gegenwart bezeichnet.11 Die Entwicklung moderner Gesellschaftssysteme stellt sich für die Politikwissenschaft unter Einbeziehung dieser funktionalistischen Systemtheorie folgendermaßen dar:

Zunächst bewirkt Modernisierung die Zunahme der Komplexität gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge und Probleme sowie auch eine „Globalisierung von Problemen“12. Das heißt, dass der Regelungs- und Steuerungsbedarf politischer und gesellschaftlicher Entwicklung durch die Zunahme der Regelungsdichte rapide ansteigt.13 Im Sinne des neuzeitlichen Staatsbegriffs – der Staat als übergeordneter und verantwortlicher Herrscher – wurde die Regelung dieser Prozesse bzw. die Lösung der neuen gesellschaftlichen Probleme als Aufgabe des Staates betrachtet. Die Zunahme von Komplexität führt daher vorerst zu einer Ausweitung staatlicher Funktionen und zur Konzentration politischer Macht. Für die Ausweitung des staatlichen Einflusses auf immer mehr Bereiche der Gesellschaft hat die Politik- und Sozialwissenschaft eine Vielzahl verschiedener Begriffe gefunden, so z. B. „Kolonialisierung der Lebenswelten“ (Habermas), „Strukturelle Gewalt“ (Marcuse) und „Durchstaatlichung der Gesellschaft“ (Hirsch).14 Das Ergebnis dieser Entwicklung – ein Staat mit monopolisierter politischer Macht und umfassenden Steuerungsanspruch – wird als „Wohlfahrtsstaat“ oder noch kritischer als „Sicherheitsstaat“ bezeichnet.15

Die Theorie besagt aber, dass fortschreitende Modernisierung und damit zunehmende Komplexität und zunehmende Regelungsdichte den Prozess der Machtkonzentration ab einem bestimmten Grad von Komplexität wieder umkehrt. Denn Systeme reagieren auf Komplexität mit Komplexitätsreduktion, d. h. Strukturanpassung an komplexe Zusammenhänge durch die funktionale Ausdifferenzierung in Teilsysteme. Die Systembildung wird innerhalb von Systemen wiederholt.16 Das bedeutet, sobald die Komplexität von Problemen oder Prozessen es aus organisatorischen Gründen erforderlich macht, differenziert sich ein Gesamtsystem in verschiedene Teilsysteme aus, welche voneinander getrennt verschiedene Teilfunktionen des Systems erfüllen. Bezogen auf ein politisches System heißt das, dass für verschiedene Politikbereiche verschiedene „Policy-Subsysteme“ entstehen.17 Die zunächst konzentrierte, politische Macht wird dadurch z. T. wieder von einem Zentrum in verschiedene, funktional voneinander getrennte Subsysteme ausgelagert. Die für den Erhalt des Gesamtsystems notwendige Komplexitätsreduktion durch funktionale Ausdifferenzierung hat daher ihren Preis:

Die politische Macht wurde so zuerst im modernen Staat konzentriert und zentralisiert; dieser begann sich aber mit zunehmender Expansion intern zu differenzieren und ist nun ebenfalls ein komplexes System, das aus vielen korporativen Akteuren besteht; Akteure, die nicht länger eine einzige, integrierte Hierarchie bilden.18

Die Ausdifferenzierung nach Funktionen führt zu hochgradiger Spezialisierung innerhalb der Subsysteme. Dies hat zur Folge, dass die Interessenlagen und die politischen Prozesse und Probleme innerhalb der Subsysteme für Außenstehende, inklusive nichtinvolvierte, hierarchisch übergeordnete Entscheidungsträger, nicht mehr ohne Weiteres durchschaubar sind. Dementsprechend reduzieren sich Eingriffs- und Steuerungsversuche von „außen“ und „oben“ zwangsläufig, und im Vertrauen auf die höhere Kompetenz der Entscheidungsträger innerhalb der Subsysteme wird mehr und mehr Verantwortung und Macht in das Subsystem hinein, d. h. nach unten, delegiert.

Dies führt zur „Fragmentierung staatlicher Macht“19 einerseits und zu einer relativen „Autonomie der Subsysteme“20 andererseits. Die Ausdifferenzierung in Teilsysteme, die relative Autonomie dieser Teilsysteme und die Fragmentierung staatlicher Macht haben entscheidende Konsequenzen für die weitere staatliche Entwicklung:

• Intern, also innerhalb staatlicher Strukturen und zwischen den einzelnen staatlichen Institutionen entsteht ein immer größer werdender Koordinations- und Kooperationsbedarf, sowohl horizontal als auch vertikal.

• Nach außen bedeutet die Fragmentierung staatlicher Macht den Verlust staatlicher Souveränität gegenüber anderen Akteuren aus Wirtschaft und Gesellschaft.

• Daraus resultiert auch das in den siebziger Jahren wiedererwachte politikwissenschaftliche Interesse an Korporatismus- und Pluralismustheorien und die Entwicklung von Neopluralismus und -korporatismus.