Warum ich?

Das lange Coming-out des Mike Bennett

 

 

 

Biographischer Roman

von

Andy Claus

 

 

 

 

Von Andy Claus erschienen unter anderem noch:

Stalker – Du gehörst mir ISBN 978-3-940818-15-7

Ben – der Fremdenlegionär ISBN 978-3-934825-90-1

Eric – Aus dem Leben eines Miststücks

ISBN 978-3-934825-82-6

Albtraumprinzen ISBN 978-3-86361-287-0

Narziss – Verbrannte Erde ISBN 978-3-86361-415-7

Die Bestie Nur als E-book

Alle Bücher auch als E-books

 

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

 

www.himmelstuermer.de

E-mail: info@himmelstuermer.de
     Originalausgabe, Print: Oktober 2007 (vergriffen)

E-book. September 2014

Cover: Alle Rechte beim Autor

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung

des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

 


      ISBN epub
978-3-86361-438-6

ISBN pdf: 978-3-86361-439-3

 

 

 

 

Gewidmet Mike und Detlef

mit Dank für die Mitarbeit

 

Du bist nicht zufällig an dem Platz,

an dem du dich befindest,

sondern, weil ich ihn für dich bestimmt habe!

Bibelspruch

 

 

KAPITEL I.

 

Eins

Köln / Sommer 2006

 

Bereits seit Stunden war Kriminalhauptkommissar Mike Bennett hier, der Anruf um sechs am Morgen hatte seiner samstäglichen Ruhe den Garaus gemacht. Er kam her und empfand diesen Raum im Flughafengebäude als vorläufige Endstation. Inzwischen war er unzählige Male von dem unbequemen Reihenplastikstuhl aufgesprungen und durch den funktional und kalt eingerichteten Raum an das Panoramafenster gelaufen, nur um kurz hinauszustarren und anschließend frustriert wieder zurückzugehen. Er hatte in seinem 49-jährigen Leben schon sehr oft geglaubt, durch die Hölle zu gehen, aber erst jetzt wusste er, wie sich das wirklich anfühlte.

Der Raum war voll von anderen Menschen. Menschen, die in der gleichen Situation festsaßen wie er. Er hörte leises Schluchzen, bittere Flüche und nervöse Fragen, auf die niemand eine Antwort wusste. Hinter den Reaktionen, die so verschieden waren wie die Menschen selbst, versteckte sich diese unbändige Angst getarnt mit den Masken unnatürlicher Ruhe oder hysterischer Ausbrüche. Es war die Angst um einen geliebten Menschen, die sie alle verband und welche Mike gleichzeitig zum einsamsten Mann auf der Welt machte.

Wieder einmal ließ sich ein Angestellter der Fluggesellschaft sehen, sofort wurde er mit Fragen bestürmt. Er hob abwehrend beide Hände und bat um Ruhe. Ungeduldig und verbissen zuversichtlich blickten ihm alle ins Gesicht, versuchten ihn und das Schicksal zu hypnotisieren und warteten in diesem winzigen Augenblick, wo alles möglich war, auf die gute, nicht auf eine schlechte Nachricht.

Aber ein weiteres Mal mussten sie die Enttäuschung schlucken wie eine bittere Pille. Es gab nichts Positives, nicht einmal etwas Neues zu berichten. Noch immer galt das Flugzeug über dem Ozean als verschollen, es gab keine Funkverbindung mehr und es war auch nicht wieder auf den Radarschirmen erschienen. Aufklärungsflüge im entsprechenden Gebiet und auch darüber hinaus brachten ebenfalls kein Ergebnis.

Auch Mike erhob sich und versuchte, über die Köpfe der anderen hinweg irgend etwas im Gesicht des Mittelsmannes lesen zu können, vielleicht etwas, aus dem er einen Anflug von Hoffnung schöpfen konnte. Aber das Gesicht des Mitarbeiters der Lufthansa wirkte unbeteiligt, zumindest nach außen hin vermittelte er den Eindruck, dass man eigentlich alles im Griff habe. Schon kurze Zeit später machte er sich dann wieder davon, ließ diese unangenehme Aufgabe fluchtartig hinter sich. Mike fragte sich, ob sie hinter den Kulissen wohl darum würfelten, wer diesen Scheißjob zu machen hatte.

Langsam und in Gedanken ließ er sich wieder auf den Stuhl nieder. Ihm war übel vor Hunger, aber er hätte jetzt nichts essen können, seine Kehle war wie zugeschnürt. Was waren die letzten Worte zu seinem Lebensgefährten Detlef gewesen, als dieser ihn aus New York angerufen hatte? Sagte er ihm, wie sehr er ihn vermisste? Oder dass seine Liebe zu ihm in den zweiundzwanzig Jahren noch inniger geworden war, weil Freundschaft und Vertrauen hinzu kamen, was den Sex nicht abgelöst, aber ergänzt hatte?

Nein, er teilte Detlef mit, dass es Ärger mit den Nachbarn gegeben hatte, weil ihr Australian Shepherd Rüde Sky die Katze jagte und auch, dass das Dach ihres Hauses an zwei Stellen undicht geworden war, wie er beim letzten Regen feststellen musste und die Reparatur wieder viel Geld verschlingen würde. Detlef war tausende Kilometer weit weg und nach all den Jahren reichte es scheinbar nur noch zu diesen gedankenlosen Banalitäten, die ihre vordergründige Macht aus der Routine zogen. Vertrautheit machte nachlässig und die Gewissheit, nicht mehr um seine Liebe kämpfen zu müssen, träge.

Der Druck in seiner Brust schien zu explodieren, einen Moment lang glaubte er, keine Luft mehr zu bekommen. Erneut sprang er auf, lief wie ein gefangenes Raubtier in seinem unsichtbaren Käfig hin und her und sein abweisender Gesichtsausdruck hielt andere davon ab, ihn anzusprechen.

Detlef!

Draußen landete ein weiteres Flugzeug und obwohl es unmöglich die vermisste Maschine sein konnte, drängten sich plötzlich wieder alle ans Fenster, schauten wie jedes Mal schweigend, aber mit einem Hauch von Optimismus hinaus. Mike hielt sich diesmal zurück. Er ging statt dessen zur Tür und öffnete sie. Die Luft draußen auf dem Gang war weitaus frischer und kühler und er blieb im Türrahmen stehen.

Wie sahen die Chancen aus, dass das Flugzeug wieder auftauchte? War es ein Triebwerksschaden oder ein Blitz, der es aus der vorgeschriebenen Flughöhe holte und dem Radar entriss? Oder waren es Terroristen, die den Flieger entführten? Was war über dem Ozean passiert, dass es nicht mal mehr eine Funkverbindung gab?

Mike spürte, wie seine Knie zitterten, er fühlte eine eigenartige Schwäche, die ihm fremd war. Schweiß brach ihm aus, obwohl ihm mit jeder Minute kühler wurde. Er musste sich setzen, aber alles in ihm wehrte sich dagegen, wieder in den Raum zurückzukehren. Deswegen ging er auf den Gang und zum gegenüberliegenden Fenster, wo er sich auf der unbequem niedrigen, schmalen Fensterbank aus dunklem Metall niederließ. Alles war besser, als dort drin noch zusätzlich die ungefilterten Schwingungen der Verzweiflung aller anderen in sich aufzunehmen.

Vorübereilende Mitarbeiter des Flughafens schauten ihn auffordernd an, so als habe er das Ghetto der erschöpften Angehörigen unerlaubt verlassen. Aber die Marter dauerte schon dreizehn Stunden und es war ihm egal, ob irgendwer ihn und seine Angst lieber wegsperren wollte, wie man eine Krankheit eingrenzte, damit sie sich nicht ausbreitete. Es war jetzt neunzehn Uhr und er wusste, es würde sich eine fürchterliche Nacht anschließen.

Wieder nahm er das ,Rauchen verboten' Schild wie einen persönlichen Angriff wahr. Stundenlang kämpfte er bereits seine Schmacht herunter, was ihn nicht gerade ruhiger werden ließ. Jetzt war es genug! Er stand auf und lief wie gehetzt den Gang hinunter, die Rolltreppe hoch und Richtung Flughafenbistro. Ein paar Mal rannte er ihm entgegen kommende Personen beinahe um. Sie schauten ihm befremdlich nach, wenn er fluchend auswich. Er konnte nicht fassen, wie normal hier alles ablief, während für ihn gerade die ganze Welt zusammenbrach.

Im Bistro angekommen bestellte er einen irischen Whisky, schaute sich noch einmal um und entdeckte, nachdem er die Packung Lucky Strike schon in der Hand hatte, wieder ein Verbotsschild. Er kippte den Drink, der wie Feuer durch seine Kehle rann, stand auf und verschwand auf der Toilette. Es ärgerte ihn maßlos, wie ein Kind heimlich in der Kabine stehen zu müssen und zwei Stäbchen direkt hintereinander zu inhalieren. Überhaupt merkte er, wie seine Hilflosigkeit sich in Wut über Kleinigkeiten verwandelte. Er war jemand, der in Krisensituationen niemals die Hände in den Schoß legte, sondern versuchte, etwas zu ändern und genau das war hier und jetzt nicht möglich. In einer Art Übersprungverhalten zog er sein Handy aus den Tasche. Er sah eine lange Anrufliste, von denen er keinen einzigen angenommen hatte. Es waren Freunde und Kollegen, die wussten, dass Detlef in diesem Flieger saß. Mike war nicht rangegangen, weil er keine Ahnung hatte, was er sagen sollte und auch Angst vor den Gesprächen hatte. Jetzt rief er jedoch endlich seine drei Jahre jüngere Schwester Susi an. Bisher hatte er sie absichtlich nicht informiert, aber da er und Detlef sich mit ihr, ihrem Mann Andre und deren vierzehnjährigem Sohn Dennis das Haus teilten, hatte sie seine ungeplante, stundenlange Abwesenheit sicher bereits bemerkt, vor allem, weil heute zur Begrüßung von Detlef ein Grillabend im Garten geplant gewesen war. Da es nicht so aussah, als würde sich die Situation in den nächsten Stunden positiv lösen, kam er nicht daran vorbei, ihr reinen Wein einzuschenken. Susi sagte nicht viel, aber er spürte durch das Telefon beinahe körperlich, wie geschockt sie war. Er murmelte ein paar beruhigende Worte, an die er selbst nicht glauben konnte und versprach, sich bald wieder zu melden.

Wieder zurück an der Bistrotheke trank er noch einen Whisky auf seinen nüchternen Magen und spürte den Alkohol schon, während er zurückging. Immerhin war er zwanzig Minuten weg gewesen, in dieser Zeit konnte alles mögliche passiert sein. Angekommen im Warteraum empfingen ihn immer noch die schlechte, warme Luft und verzweifelte Anverwandte. Es gab keine neuen Nachrichten und er machte auf dem Absatz kehrt, ging zu seiner Fensterbank zurück. Warten!

Er stützte die Unterarme auf seine Knie, seine Hände verkrampften sich ineinander und er ließ den Kopf hängen. Obwohl er es in dieser Situation gerne verhindert hätte, machten sich seine Gedanken automatisch selbständig, glitten aus der qualvollen Gegenwart in die Vergangenheit zurück, wo Stück für Stück Teile seiner Kindheit aus den Nebeln seiner Erinnerung auftauchten. Der Zeit, als er Detlef noch nicht kannte und die Probleme eines heranwachsenden Lebens erst begannen.

 

Zwei

 

- Mike -

 

Mike Bennett wurde am 26.07.1956 als Sohn seiner deutschen Mutter und eines US-Amerikaners geboren. Sein Vater war Angehöriger der Army und als Pilot auf der Rhein Main Airbase in Frankfurt stationiert. Später zogen sie von Frankfurt nach Köln, da sein Vater zur Nato Airbase in Geilenkirchen versetzt wurde. Mit zur Familie gehörte sein Großvater mütterlicherseits, ein Philosoph und Menschenfreund mit christlichen Werten, der jedoch kein Kirchgänger war. Er blieb lange Zeit Mikes engste Bezugsperson und Vorbild. Von ihm übernahm er viele seiner heutigen Werte, ohne zwangsläufig die Strukturen der katholischen Kirche anerkennen zu müssen. Christliches Verhalten hatte nichts mit der Verinnerlichung einer teilweise menschenverachtenden Doktrin zu tun, das erkannte Mike schon sehr früh. Das innige Verhältnis zu seinem Großvater änderte sich erst, als der Junge in die Pubertät kam und seine harmonische Kindheit in die ersten Identitätsprobleme mündete ...

 

... Mike war gerade vierzehn geworden. Anders als viele Jungen in diesem Alter war er noch nicht voll entwickelt, seine Sexualität bisher nicht erwacht. Deshalb fiel ihm nicht wirklich auf, dass er sich nicht für Mädchen interessierte. Er verbrachte seine freie Zeit mit lesen oder seinen Freunden, die er ausschließlich unter Jungs fand. Dabei ging es noch um kindlichen Zeitvertreib, unschuldig und ohne Hintergedanken. So kamen ihm auch die Einladungen des gleichaltrigen Nachbarsjungen sehr gelegen, den er öfter besuchte. Er hieß Martin und besaß eine Eisenbahn, ein unbedingter Anreiz für Mike.

Auch heute war Mike wieder zu Martin unterwegs. Zwar hatte er nicht ganz verstanden, wieso sein Freund an diesem Tag Wert darauf legte, dass er eine kurze Sporthose trug, weil man das Spiel an der Eisenbahn nicht unbedingt als Sport betrachten konnte, aber er machte sich keine weiteren Gedanken darum. Die Mutter begrüßte ihn wie meist aus der Küche heraus und die beiden Jungs gingen durch die Diele in Martins Zimmer.

Dass Martins Mutter gleich einkaufen gehen wollte, war die erste Information, die Mike an diesem Tag erhielt. Sein Interesse daran hielt sich in Grenzen, viel lieber wollte er sich jetzt sofort mit der Eisenbahn beschäftigen, was sie auch taten. Es machte Spaß, auch wenn Martin sich jedes Mal ein wenig als Besserwisser aufspielte, der lieber alles vormachte und erklärte, als Mike selbst heran zu lassen. Nach ungefähr einer Stunde brachte die Mutter Limo und verabschiedete sich anschließend. Und genau damit wurde alles anders. Mike bemerkte es nicht sofort, aber nach und nach fiel ihm doch auf, dass Martins Verhalten sich geändert hatte. Er stand oft sehr nah bei ihm, zupfte an seinem T-Shirt wie an der Sporthose herum und hatte hektische, rote Flecken im Gesicht.

Mike hätte es an nichts wirklich festmachen können, aber unangenehm war ihm das alles ganz und gar nicht. Vielleicht gab es irgendwo in seinem Geist bereits eine Gewissheit, von der sein Körper noch nichts ahnte oder umgekehrt, jedenfalls wich er nicht aus. Martins anfänglich eher schüchternen Annäherungsversuche wandelten sich ziemlich schnell, als er nicht auf Widerstand stieß und wurden offenkundig. Dabei kam es Mike nicht in den Sinn, zu leugnen, dass er interessiert war. Er überließ es dem anderen, zu bestimmen, was geschah. Zwar hatte auch Martin nicht wirklich eine Ahnung von dem, was er tat, jedoch wenigstens eine eindeutige Vorstellung davon.

So standen sie später voreinander, zum ersten Mal berührte Mike einen anderen Jungen mit bestimmten Absichten und wurde berührt. Sie spielten aneinander herum, begannen, sich gegenseitig zu stimulieren. Irgendwann gingen sie zu Martins Jugendbett aus hellem Holz und noch immer war das alles für Mike irgendwie folgerichtig. Er ließ sich treiben und wartete neugierig auf das, was passieren würde. Und es passierte, Martin hatte seinen Höhepunkt. Mike war wohlig erschrocken, erstaunt und anschließend auf eine angenehme Weise zufrieden, als er die Kontraktionen und dann die Feuchtigkeit in seiner Hand und auf dem Bettzeug spürte und sah. Natürlich hatte er davon gehört, allerdings war die hautnahe Umsetzung doch etwas vollständig Neues. Es gab kaum Zärtlichkeit, nur die wissbegierige Abenteuerlust der beiden Jungs und den Willen, Grenzen zu überschreiten.

Mike selbst fühlte den Höhepunkt nur als angenehmes Kribbeln des noch nicht voll entwickelten Kindes, hatte keine Ahnung, dass es diese Empfindung war, welche man Orgasmus nannte. Aber auch, wenn er sich zu dieser Zeit noch keine größeren Gedanken über das Schwulsein an sich und die Auswirkungen auf sein Leben machte, prägte ihn dieses Erlebnis, mit dem er noch ganz natürlich umgehen konnte. Er erzählte sogar seinen Eltern davon. Die Reaktion war weder negativ noch positiv, sondern abwartend. Sie machten ihm keinerlei Vorwürfe, sondern rechneten ganz einfach damit, dass sich das wieder legen würde. Und so konnte er erst einmal davon ausgehen, dass alles in Ordnung war.

Aber auch in den folgenden Jahren, als viele der Jungs, mit denen er erste Erfahrungen gesammelt hatte, sich bereits auf das andere Geschlecht fixierten, änderte sich für ihn nichts. Er wollte Jungs, nur bei ihnen stellte sich das Gefühl ein, von dem er wusste, die anderen empfanden es für Mädchen.

Erst nach und nach schlichen sich allmählich erste Zweifel und die unterschwellige Angst, anders zu sein, in sein Leben. Hinterhältig überfiel ihn die Widersprüchlichkeit dessen, was er empfand und was er seiner Meinung nach eigentlich empfinden sollte. Immer öfter tauchte der Begriff „schwul" auf, dieser Stempel, dem er sich noch entzog.

Mit sechzehn dann flog er zusammen mit einem Klassenkameraden und Freund in die USA, besuchte seine Großeltern väterlicherseits. Die beiden Jungs schliefen in einem Bett und wieder rannte er gegen eine dieser Mauern, die ihn immer öfter nachdenklich werden ließen. Er griff nach dem im Schlaf hart gewordenen Ständer seines Freundes und es war für ihn das Natürlichste auf der Welt, dass er begann, ihn zu berühren. Sein Bettnachbar erwachte, verlangte, dass er aufhörte und fragte mit diesem besonderen Ton in der Stimme, den Mike noch öfter hören sollte, ob er vielleicht schwul sei.

Schwul ... da war es wieder. Er wollte nicht in diese Schublade, wehrte sich dagegen. Hatten seine Eltern nicht gesagt, es ginge ganz von allein vorbei? Wann? Er begann, seine Lust zumindest manchmal nach außen hin zu bezwingen. Er gab sie nicht auf, nutzte sogar jede Gelegenheit zum Sex, aber er versuchte gleichzeitig, sich dem anzupassen, von dem er glaubte, man erwarte es von ihm. Seine teilweise Selbstverleugnung beinhaltete Flirts mit Frauen, wie er es bei den anderen Jungs sah und ging so weit, dass er sogar zwei Heterobeziehungen einging. In ihnen fühlte er sich jedoch weder gut aufgehoben, was die Gefühle anging, noch wurde er sexuell zufrieden gestellt. Dinge, die er anfangs noch in den Griff zu bekommen glaubte.

 

 

Drei

Köln / Sommer 2006

 

Jemand aus dem Warteraum steckte den Kopf durch den Türspalt und winkte Mike heran. Dieser benötigte einige Sekunden, um sich von seinen Gedanken freizumachen, in die Gegenwart zurückzukehren und der Aufforderung zu folgen. Dann jedoch rannte er zurück in das Zimmer, wo absolute Ruhe herrschte. Alle schauten aufmerksam zum Mitarbeiter der Lufthansa, der mit einigen Papieren vor ihnen stand.

Es hatte sich immer noch nichts getan, das Flugzeug war nicht wieder aufgetaucht. Dafür wurde den Wartenden nahe gelegt, nach Hause zu fahren. Vorher sollten sie Namen und Handy- plus Festnetznummer auf eine Liste schreiben, unter denen sie sofort und immer zu erreichen waren. Man würde anrufen, sobald sich etwas tat. Mit dieser Aufforderung stieß der Mitarbeiter nicht bei allen auf Gegenliebe, manche weigerten sich, das Flughafengebäude zu verlassen. Mike gehörte nicht dazu. Wenn er blieb, würde er weder mehr noch schneller erfahren, wenn es Neuigkeiten gab.

Er ging nach vorne, hinterließ seine Telefonnummern und vergewisserte sich anschließend, dass sein Handy auf laut stand. Dann verließ er den Raum als einer der Ersten, lief durch die Gänge und atmete tief durch, als er ins Freie trat. Er rannte zu seinem silberfarbenen Audi 80 Kombi, setzte sich hinein und merkte, dass ihm schwindelig wurde. Er musste unbedingt etwas essen. Er wartete einen Augenblick lang ab, ehe er den Wagen startete und Richtung Kölner Innenstadt nach Hause fuhr.

Am liebsten wäre er seiner Schwester ausgewichen und hätte sich in seiner Wohnung verkrochen, aber das konnte er nicht machen und ging ins erste Obergeschoss, noch bevor er seine eigene Wohnung betreten hatte. Die Tür war offen und er traf auf die dreiköpfige Familie, welche mit betretenen Gesichtern vor dem Fernseher saß, wo gerade die 20 Uhr Nachrichten liefen. Als sie ihn bemerkten, standen tausend Fragen in ihren Gesichtern, aber er konnte spüren, dass sie sich ihm zuliebe zurückhielten. Er widmete sich halbherzig Sky, der ihn mit wedelndem Schwanz und winselnd begrüßte. Damit er nicht allein sein musste, war der Hund immer, wenn beide Männer nicht daheim waren, hier oben.

Dann erst stand Susi auf und umarmte ihn stumm. Die Neuigkeiten waren danach sowieso schnell erzählt, denn es gab nichts Neues. Im TV begann ein Film, Mike nahm dies zum Anlass, sich zu verabschieden, um mit Sky in seine Wohnung zu gehen. Er drehte sich um und verlor beinahe den Boden unter den Füßen. Alles drehte sich um ihn und er musste sich am Durchgang zum Wohnzimmer festhalten, um nicht zu stürzen. Sofort war Andre an seiner Seite, stützte ihn und führte ihn zur Couch.

„Ich glaube, ich sollte irgendwas essen!", flüsterte Mike. Ihm war speiübel, was der Gedanke ans Essen jedoch noch verstärkte.

„Ich mach dir was. Bleib sitzen!"

Susi schien froh zu sein, etwas tun zu können. Sie spurtete in die Küche, bereitete Brote und Tee zu. Aber schon auf der ersten halben, liebevoll mit Frischkäse und Gurken belegten Scheibe kaute Mike herum, als habe er Gummi im Mund. Der Schluckreflex schien verloren gegangen zu sein. Mehrere Male legte er das Brot zurück auf das Holzbrett.

„Iß langsam, dann geht's ... und es ist besser, du bleibt hier bei uns", regte sein Schwager Andre besorgt an.

„Ich muss doch nachsehen, ob ein Anruf gekommen ist!", antwortete er schwach.

„Ich mach das für dich!"

Andre ging ins Erdgeschoss, während Mike sich an die zweite Hälfte des Brotes zwang.

„Da ... kommt mal her!", erklang dann plötzlich die aufregte Stimme von Dennis. Er zeigte auf den Fernseher. Unter dem Film gab es eine Laufschrift. Noch ein Flugzeug war verschwunden. Weitere Meldungen sollte es kurze Zeit später in einer Sondersendung geben. Aber Andre, der gerade mit der Nachricht zurückkam, es seien viele Anrufe auf Band gespeichert, unter anderem die von Wolfgang, einem Polizeikollegen und langjährigen Freund Mikes, schaltete sofort auf N24 um.

Diesmal ging es um eine Maschine der American Airways, sie war von Frankfurt aus auf dem Rückflug in die Staaten und befand sich noch über europäischem Festland, als sie verschwand. Auch sie war plötzlich vom Radar verschwunden, hatte sich, anders als der Lufthansaflug, also nicht über Wasser befunden.

„Das hört sich für mich nicht nach einem Absturz an!", resümierte Mike leise. Andre wollte etwas erwidern, schwieg dann jedoch. Auch ihm drängte sich der Gedanke an Flugzeugentführungen auf. Wären die beiden Maschinen so kurz hintereinander abgestürzt, war das zum einen ein großer Zufall, zum anderen hätte man über Land zumindest Trümmer finden müssen.

Eine halbe Stunde später verabschiedete sich Mike und ging hinunter in seine Wohnung. Jeder Gegenstand, jeder Winkel erinnerte ihn an Detlef und damit auch daran, dass er ihn vielleicht niemals wiedersehen würde. Trotzdem wollte er allein sein, verschob auch die Telefonate mit Freunden. Er konnte ihnen jetzt nicht Bericht erstatten und ihre Fragen beantworten. Er hatte ein schlechtes Gewissen deswegen, aber er brachte es einfach nicht fertig. So ließ er die Anrufe auf dem AB gespeichert und war allein mit seinen Gedanken an all das, was er von Detlef wusste und das zu seinem eigenen, zweiten Leben geworden war. Es war die Angst, dass dieses Leben bereits ausgelöscht war, die ihn in den bodenlosen Abgrund seiner Befürchtungen reißen wollte. Er versuchte sich in seinen Erinnerungen an Detlef aufzufangen.

 

Vier

 

- Detlef -

 

Detlef wurde am 20.12.1962 als fünftes von sechs Kindern geboren und war der erste Sohn und damit Stammhalter. Er war dann neun, als sich seine Eltern scheiden ließen. Anders, als es oft geschieht, war es die Mutter, welche sich von einem anderen Leben, einem Leben ohne Verantwortung und mit mehr Ichbezogenheit, locken ließ und so blieben die vier Mädels und zwei Jungs beim Vater. Für Detlef war das eine schlimme Zeit, denn seine Bezugsperson war stets die Mutter gewesen und die Plötzlichkeit, mit der sie aus seinem Leben verschwand, traf ihn hart. Auch später noch hatte er mit den Verlustängsten zu kämpfen, die sich in dieser Zeit in sein Unterbewusstsein brannten.

 

Detlef bemerkte bereits mit zwölf, dass er auf Jungs stand. Sie zogen ihn zwingend an und sehr oft wurde er zum heimlichen Beobachter. Beim Duschen nach dem Fußball, in der Jugendherberge und auch in der Nachbarschaft machte er seine visuelle Beute.

Mit knapp fünfzehn passierte es dann zum ersten Mal und nicht nur in seiner Phantasie, allerdings ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte. Er traf im Restaurant, in dem seine Mutter arbeitete, einen Oberkellner, über den man munkelte, er sei schwul. Eine Tatsache, die Detlefs Neugierde weckte. Jedes Mal, wenn er dem fünfzigjährigen Mann namens Kurt begegnete, hatte er viele Fragen an ihn, wobei er allerdings niemals wirklich zum Punkt kam. Es blieb beim allgemeinen Geplänkel, obwohl Detlef mit der Intuition des heranwachsenden, schwulen Jungen spürte, dass der Ältere Interesse an ihm hatte. Das schmeichelte ihm einerseits, andererseits schreckte ihn das Alter ab, welches man Kurt jedoch wenigstens nicht auf den ersten Blick ansah. Er hatte volles Haar, wirkte gepflegt und um einiges jünger, als er war. Trotzdem blieb er in Detlefs Augen ein älterer Mann, ein Erwachsener, der ihm eigentlich nicht ferner hätte sein können. Dessen ungeachtet besuchte er bald schon eher Kurt als seine Mutter, wenn er in dieses Restaurant ging.

Es kam die Zeit, in der Kurt zu jedem Treffen etwas mehr von seinem bevorstehenden Geburtstag sprach und davon, dass er ihn ganz allein verbringen müsse. Immer wieder lud er den Jungen ein, zog alle Register der Überredungskunst und hatte schließlich Erfolg. War es aus Mitleid oder Neugier, Detlef wusste es nicht, als er an besagtem Tag mit dem Zug in die nahe gelegene Kreisstadt, in der seine Mutter lebte und arbeitete, fuhr und Kurt diesmal fern seines Arbeitsplatzes traf. Da sein Vater sich zu dieser Zeit nach einer Magen OP in der Reha befand, musste er niemandem Rechenschaft ablegen, wo er an diesem Abend abblieb und machte sich deshalb auch kaum Gedanken darum, als es immer später wurde.

Kurt hatte ihn in eine kleine Kneipe eingeladen. Er spendierte ein Bier nach dem anderen, zwischendurch auch mal Apfelkorn und allmählich löste sich Detlefs Zunge. Er stellte Fragen über Kurts Schwulsein, erfuhr einiges aus dem Leben des anderen und versuchte, Vergleiche zu ziehen. Dabei stieg sein Alkoholpegel, senkte sich die Hemmschwelle und das ließ ihn auch weiterhin die Zeit vergessen. Schließlich war der letzte Zug nach Hause weg. Natürlich völlig selbstlos bot Kurt dem Fünfzehnjährigen an, auf seiner Couch zu schlafen und dieser hatte nicht wirklich eine andere Wahl. Zu seiner Mutter wollte er in seinem Zustand nicht, sie wusste auch gar nicht, dass er in der Stadt war. Und so ging er mit.

Nur einen Moment lang kam es ihm befremdlich vor, als sich die Wohnungstür des Älteren hinter ihm schloss und sie allein waren. Dann gewann der Alkohol wieder die Oberhand, vor allem, weil es Nachschub gab. Kurt legte einen Schwulenporno ein, begann anzügliche Bemerkungen zu machen und nahm die Handlungen im Fernseher als Grundlage dafür. Detlef allerdings bekam nur noch die Hälfte mit. Er war müde und unaufmerksam, für ihn wurden die fremde Wohnung, die Pornobilder und Kurts endlose Rederei zu einem Einheitsbrei, der ihn kaum interessierte. Er wollte schlafen, der Alkohol hielt seine Hirnwindungen fest im Griff. Immer öfter fielen ihm die Augen zu.

Endlich ließ sich Kurt erweichen, Kissen und Decke zu holen. Im Sitzen entledigte sich Detlef umständlich seiner Sachen, nur Unterhose und Socken behielt er an und legte sich hin. Halbherzig zog er die Decke über sich, er empfand die ganze Zubettgeherei als viel zu viel Aufwand. Dann lag er endlich und sofort fielen ihm die Augen zu. Kurz drehte sich alles, dann war er bereits im Reich der Träume.

Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, bis er das erste Mal wieder aufwachte, weil er Berührungen spürte. Nur halbwegs realisierte er, dass er selbst auf dem Bauch und sein Gastgeber neben ihm lag. Die Hand, die über seine Kehrseite strich, gehörte dann logischerweise zu Kurt, war Detlefs diffuse Erkenntnis, dann dämmerte er wieder weg.

Als er das nächste Mal zu sich kam, spürte er die Hand unter dem Stoff der Unterhose, sie befand sich auf dem Weg zwischen seine Beine. Der Schreck klärte sein Denkvermögen ein wenig und sein Körper erstarrte. Er fühlte, wie sein Couchnachbar sein linkes Bein etwas nach außen zog, um mehr Bewegungsfreiheit an der Stelle zu haben, wo er fummeln wollte. Detlef empfand die Berührungen einerseits als angenehm, andererseits passte die dazugehörende Person absolut nicht ins Bild dessen, was er sich erträumt hatte. Er stellte sich weiter schlafend und hoffte, deswegen würde Kurt aufhören. Stattdessen wurde dieser mutiger. Er rieb sich an ihm und Detlef spürte die nackte, harte Erregung an seiner Hüfte. Schließlich drehte der Ältere den vermeintlich Schlafenden herum und Detlef erkannte, dass es für Kurt inzwischen kein Halten mehr gab. Der Junge wollte weg, gleichzeitig im Boden versinken und auch ein wenig genießen. Er hörte die kehligen Laute des noch immer laufenden Pornovideos, heisere Befehle wie lustvolles Ächzen aus der Retorte und merkte, dass seine Erregung sich steigerte, er musste nur die Augen geschlossen halten. Und so geschah es dann, das erste Mal im Leben des fünfzehnjährigen Detlef und er wusste selbst nicht, was er davon zu halten hatte.

Schließlich schlief er neben Kurt ein. Es war kein ruhiger Schlaf und auch viel zu kurz, denn als er mit dem faden Geschmack eines ausgelutschten Korkens im Mund erwachte, hatte er nur noch ein Ziel ... verschwinden und das sofort. Er stand leise auf und wünschte sich, dass Kurt nicht erwachen und ihn zum Bleiben auffordern würde. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er ihm begegnen, mit ihm reden oder ihm in die Augen sehen sollte. Aber es war schon beinahe zehn Uhr am Vormittag und der Mann konnte jeden Moment die Augen öffnen, auch wenn der Abend sich bis in die tiefe Nacht gezogen hatte. Deshalb raffte Detlef nur seine Sachen zusammen und verschwand durch die Tür in die Diele. Erst dort zog er sich an. Wenige Minuten später riss er die Haustür hinter sich ins Schloss und atmete auf. Er war draußen.

Immer noch ein wenig gehetzt machte er sich auf den Weg zum Bahnhof. Er musste nicht lange warten, bis der Zug eintraf, stieg ein und schwor sich dabei, dass er diese Stadt so schnell nicht noch einmal besuchen würde. Er ging durch den Gang, um einen Sitzplatz zu finden und begegnete dabei ausgerechnet seinem Vater, der einen Tag früher von der Kur aus nach Hause fuhr. Überrascht, erschrocken und mit einer Wagenladung schlechten Gewissens wusste er nicht sofort, was er antworten sollte, als dieser ihn fragte, wo er herkäme. Dann jedoch fiel ihm automatisch die Mutter ein, es war immer noch besser, zu sagen, dass er bei ihr übernachtet hatte, auch wenn ein Kontakt vom Vater nicht so gerne gesehen wurde. Vorläufig war Detlef aus der Bredouille heraus, aber das änderte sich schnell wieder. Denn zu Hause war der erste Weg des Vaters zum Telefon, um sich die Geschichte des Sohnes durch seine Exfrau bestätigen zu lassen und Detlef war aufgeflogen. Er versuchte anschließend nicht mehr, eine andere Geschichte zu erfinden und blieb bei der Wahrheit.

Die heftige, beleidigende und abwertende Reaktion seines Vaters mit dem Höhepunkt, er wolle mit einer schwulen Drecksau nichts mehr zu tun haben, zeigte Detlef vor allem eines ... es gab das, was er innerlich wollte und das, was er nach außen hin zeigen durfte. Er nahm sich vor, seine Neigungen wie einen dummen Ausrutscher in der Vergangenheit aufzulösen und in Zukunft vorsichtiger zu sein. Um die Wogen zu glätten und nicht auch noch in seiner Clique aufzufallen, suchte er sich ein Mädchen, das er wie einen Schutzschild zwischen seine wahren Interessen und das, was die Welt wissen durfte, schob. Sie schliefen nicht miteinander, mehr als Petting passierte nie. Zwei Jahre hielt er das durch, um die Beziehung dann doch ziemlich abrupt und nicht ganz fair abzubrechen. Sein Egoismus in dieser Sache verfolgte ihn noch eine Weile, denn er wusste, er hatte sie bewusst benutzt und zugelassen, dass sie sich in ihn verliebte. Sein Rückzug von ihr beendete allerdings seine vordergründigen Probleme nicht automatisch mit, denn die Fragen holten ihn erneut ein, ob nun in der Familie oder bei seinen Freunden und er sah sich schon bald wieder in eine Ecke gedrängt. Erneut floh er in eine Alibibeziehung.

So verschenkte er die Jahre des Heranwachsens, wurde über seiner aktiven Selbstverleugnung erwachsen. Er war noch mit seiner Freundin zusammen, als er schließlich die Stelle des Kellners in einer schwul orientierten Kneipe annahm. War es Zufall oder hatte er es darauf angelegt? Er wusste es selbst nicht. Was er wusste, war, dass er mit diesem Job seine Anwesenheit unter Schwulen immerhin als berufsbedingt erklären konnte, sollte jemand blöde Fragen stellen. Also ergab es sich und das war genügend Entschuldigung, auch vor sich selbst. Doch dann, mit der Zeit begann er unter Gleichgesinnten, zu seinem Schwulsein zu stehen. Er wollte zwar immer noch kein Coming-out mit Pauken und Trompeten, aber er hatte auch nicht vor, sich selbst weiter zu verleugnen. Im Zuge dessen vertraute er sich seiner Mutter an, was genau den Rückschlag gab, den er nun gerade nicht gebrauchen konnte. Sie sagte zwar nicht viel, aber dafür schickte sie ihren neuen Lebensgefährten zu Detlef ins Inkognito. Dieser versuchte, ihm ausgerechnet auf seiner Arbeitsstelle klarzumachen, er solle nichts tun, was er bereuen könnte, denn diese Sache würde vorbeigehen wie ein Schnupfen und dann müsse er sich ein Leben lang seiner Ausrutscher schämen. Detlef fragte sich automatisch, ob sein Stiefvater diesen Schnupfen bereits hinter sich hatte, da er scheinbar so sicher wegen der Auswirkungen war.

Seine Mutter übernahm die Aufgabe, die komplette Familie mit ihren eigenen Worten von der ,Krankheit' des ältesten Sohnes zu unterrichten und gleich als nächstes erfreute sich Detlef an der Aussage seiner Schwester, welche Angst um ihre beiden Kinder hatte. Sie hielt es für zweckmäßig, dass er sie nicht mehr besuchte, damit ihr Nachwuchs kein AIDS bekam. Detlef lernte irgendwann, die dummdreisten, aus Ignoranz und Unkenntnis zusammengesetzten Sprüche nur noch zu belächeln. Denn selbst, wenn er zu erklären suchte, wie es wirklich war, er kam gegen die Vorurteile einfach nicht an. Sie waren in den Hirnen wie festgesaugt, wurden wie das Vaterunser heruntergebetet, egal wie unlogisch sie sich anhörten. Trotzdem behauptete Detlef sich das erste Mal in seinem Leben als schwuler Mann und war nicht mehr bereit, auch nur einen Zentimeter des neuen Bodens wieder abzugeben.

Wirklich akzeptiert wurde er in der Familie letztendlich nur von seinem jüngeren Bruder. Der Grund ergab sich einfach ... auch er war schwul. Sicher hätte man Detlef die Schuld daran gern gegeben, allerdings verschonte man ihn persönlich zumindest mit diesem allem die Krone aufsetzenden Vorwurf.

Sechs Kinder, von denen vier Mädchen und zwei schwule Söhne waren, das war zuviel für den übrig gebliebenen Zusammenhalt der ohnehin entzweiten Familie. Der Kontakt zu seinem Vater brach komplett ab, auch ansonsten kapselte er sich ab. Das Inkognito wurde für Detlef zum Synonym für eine neue Familie, er fühlte sich wohl, blühte auf. Langsam und immer noch vorsichtig begann er, seine schwule Identität aufzubauen. Anfangs pflegte er noch sporadisch den Kontakt zu seiner alten Clique und blieb auch in der Beziehung zu seiner Freundin. Allerdings wurde ihm mit jedem Tag, fast schon mit jeder Stunde klarer, dass diese Sackgasse für ihn bald zu eng für eine Durchfahrt werden würde. Er war beinahe zweiundzwanzig Jahre alt und hatte einiges nachzuholen, was er bislang versäumte.

Und dann kam der St. Patricks Day 1984. Detlef kellnerte, die Kneipe war gut besucht und er hatte eine Menge zu tun. Als ein weiterer Gast durch die Tür kam, registrierte er das nicht gleich. Doch als er sich auf den Weg zu ihm machte, um die Bestellung aufzunehmen, merkte er bei sich selbst einige Merkwürdigkeiten. Sein Blutstrom schien sich zu erhitzen, er wurde verlegen. Dieser Mann sah aber auch verdammt gut aus!

„Was möchtest du trinken?" fragte Detlef und räusperte sich anschließend, weil er der Meinung war, seine Stimme käme etwas dünn rüber. Hoffentlich hatte der attraktive Gast das nicht bemerkt.

„Ein Kölsch für mich und was trinkst du?", antwortete Mike und sein schüchternes Lächeln wirkte auf Detlef überwältigend.

 

 

Fünf

Köln / Sommer 2006

 

Mike hatte nicht bemerkt, dass er über seinen Erinnerungen an das, was Detlef ihm aus seiner Jugend erzählt hatte, auf seinem Fernsehsessel eingeschlafen war. Handy und schnurloses Festnetztelefon lagen noch immer auf seinem Schoß und Sky hatte sich zu seinen Füßen zusammengerollt, als er hoch schreckte. Es war beinahe Mitternacht. Er griff nach der Fernbedienung, schaltete den Fernseher und N24 ein. Im nächsten Moment traute er seinen Augen und Ohren nicht. Die Berichterstattung drehte sich ausschließlich um die verschwundenen Flugzeuge. Und es kamen inzwischen fast zeitgleich noch zwei weitere Maschinen hinzu. Ein Passagierflugzeug der französischen Air France und eines der russischen Aeroflot waren auf Inlandsflügen plötzlich und spurlos verschwunden. Nun waren es vier Maschinen mit insgesamt fast fünfzehnhundert Passagieren und Besatzungsmitgliedern und man sprach offen die Vermutung aus, dass es sich um Entführungen, vielleicht auch um terroristische Anschläge handelte. Bisher hatte sich jedoch noch niemand dazu bekannt.

Mike sprang auf und begann, im Wohnzimmer auf und abzulaufen. Er hatte, seit er aufwachte, starke Kopfschmerzen und massierte seine Schläfen. Sky spürte wohl den Ausnahmezustand, er hatte begonnen, mit hin und her zu gehen und manchmal leise zu winseln.

„Hast du überhaupt schon gefressen?", fragte Mike, blieb stehen und sie schauten sich kurz an, dann ging er in die Küche. Sky folgte ihm, aber das Futter, das er ihm kurze Zeit später hinstellte, wollte er nicht. Mike ging in die Hocke, zog den Hund an den Vorderbeinen hoch.

„Du weißt, was geschehen ist, richtig? Ich hab solche Angst um Detlef", flüsterte er in das weiche Fell des Tieres hinein. Sky blieb ganz ruhig auf den Hinterfüßen stehen, nur kurz leckte er über Mikes Ohr und es war wie eine Bestätigung, dass er tatsächlich alles verstanden hatte. Mike streichelte den flauschigen Kopf des Hundes und richtete sich wieder auf. Wie um die Stille zu vertreiben, sagte er laut in die Küche hinein:

„Ich kann unmöglich die ganze Nacht allein hier bleiben, ich werde wahnsinnig. Ich glaube, ich sollte noch einmal zum Flughafen fahren, vielleicht gibt es ja doch Neuigkeiten, die im Fernsehen nicht gebracht werden!"

Sky fühlte sich angesprochen, bellte verhalten und folgte Mike in die Diele, wo dieser sich eine Jacke überzog. Der Hund sprang hin und her, rechnete damit, dass trotz der ungewöhnlichen Zeit ein Spaziergang bevorstand.

„Ich kann dich nicht mitnehmen!"

Aber als er nach der Klinke griff, sich noch einmal umsah und in die bittenden Hundeaugen schaute, griff er nach der Leine und nahm ihn doch mit. Er fuhr langsam und vorsichtig, war sich durchaus im Klaren darüber, dass seine Konzentration nach allem nicht die Beste sein konnte. Erst mehr als eine halbe Stunde später kam er vor dem Flughafengebäude an.

„Und nun? Was mach ich jetzt mit dir?", wandte er sich Sky zu, der das Einparken mit aufgeregtem Hin- und Herspringen auf der Rückbank quittierte. Er stieg aus und griff nach der Leine. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als mit ihm ein wenig draußen herumzulaufen. Auch ihm tat die frische Nachtluft gut, half ihm dabei, wieder klarer zu denken.

Schließlich ließ er Sky wieder ins Auto und ging ins Flughafengebäude. Den Weg kannte er nur zu gut und nur einmal wollte man ihn aufhalten, aber er hatte nicht die geringste Lust, zu erklären, dass sein Lebenspartner mit im vermissten Flugzeug saß. Die richtigen Argumente, um weitergehen zu können, hatte er in Form seines Dienstausweises trotzdem dabei. So kam er schon kurze Zeit später vor der Tür des Raumes an, in welchem er beinahe den ganzen vergangenen Tag verbracht hatte. Das Verlangen, sie zu öffnen, hielt sich jedoch stark in Grenzen. Warum war er eigentlich zurückgekommen?

Er öffnete und abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Kurz kämpfte er mit Brechreiz und etwas in ihm wehrte sich dagegen, weiterzuatmen. Er trat trotzdem ein. Es war nur noch ein harter Kern von Angehörigen im Raum, Mike schätzte die Personenanzahl auf fünfzehn bis zwanzig. Einige saßen oder lagen schlafend auf den Stuhlreihen, andere standen herum und redeten. Als er kam, herrschte plötzlich Schweigen, kurz starrten sie ihm entgegen, um dann wieder an das Gespräch anzuknüpfen, das sie geführt hatten. Ein großes Tablett mit Brötchen stand halb geleert auf dem vorhandenen Tisch, Pappbecher standen oder lagen in einer Lache schwarzer Flüssigkeit daneben. Eine Kaffeemaschine, teilweise verschüttete Milch und klebriger Zucker rundeten das unordentliche Bild ab. Zwei Kästen Wasser standen auf dem Boden neben dem Tisch, die leeren Flaschen waren überall im Raum verteilt. Auf der Fensterbank lief auf einem kleinen Flatscreen N24.

Mike ging zu einem Dreiergrüppchen und stellte sich dazu, bis sie schwiegen und ihm entgegenblickten.

„Gibt es etwas Neues?"

„Es sind inzwischen vier Flugzeuge, die einfach so verschwunden sind!"

„Ja, das weiß ich. Ich meinte, haben sie irgendetwas gesagt, was nicht in den Nachrichten gebracht wird?"

„Nur, dass sie jetzt von einem terroristischen Angriff ausgehen. Sie haben uns dahingehend beruhigt, dass nun nicht mehr angenommen wird, die Flugzeuge wären abgestürzt. Aber was soll uns das bringen? Die Vorstellung, dass unsere Leute sich in der Gewalt von Terroristen befinden, macht die Sache nicht unbedingt besser."

„Immerhin leben sie in diesem Falle noch und wenn die Forderung erfüllt wird, haben die Entführten eine Chance."

„Das muss eine verdammt große Forderung sein, wenn sie vier Passagierflugzeuge aus vier unterschiedlichen Ländern entführen!", mischte sich jetzt ein weiterer Mann ein, der geschlafen hatte, als Mike eintrat. „So wie es aussieht, muss es etwas sein, das die ganze Welt betrifft, nicht nur ein Land, nicht einmal nur Europa."

Mike nickte. Diese Gedanken hatte er sich auch bereits gemacht.

„Und wohin bringt man vier große Flugzeuge? Das muss doch auffallen! Man braucht zwingend einen großen Flughafen, man kann die Dinger nicht irgendwo im Wald landen und parken."

„Seid mal ruhig!"

Eine Frau wies auf den kleinen Fernseher. Der Bericht war für eine neue Sondermeldung unterbrochen worden. Diesmal besagte die Meldung, dass seit einer halben Stunde eine Maschine der British Airways vermisst wurde. Es folgte ein Bericht, dass immer mehr Flüge auf der Welt storniert wurden, die Reservierungen waren sprunghaft zurückgegangen, weil die Auswahl der entführten Flugzeuge scheinbar wahllos geschah und Menschen aller Nationen Angst hatten, zu fliegen. Man sprach von einem Millionenschaden, der die Unternehmen bereits jetzt nach einem Tag schädigte.

„Als ob das wichtig ist!", brummte Mike, drehte sich um und ging zum Tisch. Er fand noch einen sauberen Becher und goss sich Wasser ein. Der Mann von vorhin war ihm gefolgt und stellte sich jetzt als Robert vor.

„Auf wen warten Sie?", fragte er Mike.

„Auf meinen Lebensgefährten."

„Meine Frau und mein Sohn sind an Bord."

Sie schwiegen einen Moment, dann begann Mike:

„Es war Blödsinn, dass ich noch einmal hergekommen bin. Aber ich habe es zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten. Diese Unsicherheit macht mich wahnsinnig."

„Genau aus diesem Grund bin ich auch noch hier. Die leere Wohnung ist der absolute Horror, das halte ich nicht durch. Und hier habe ich außerdem wenigstens das Gefühl, ich würde irgendwas tun. Auch wenn ich weiß, dass das Unsinn ist", antwortete Robert und kurz sah es aus, als kämpfe er mit den Tränen. Aber er fing sich wieder.

Mike dachte einen Moment lang nach. Hier zu bleiben war müßig, nach Hause und allein sein wollten sie beide nicht. Aber es gab einen Ausweg.

„Sollen wir gemeinsam einen Kaffee trinken? Ich meine nicht hier, sondern oben im Bistro."

„Meinetwegen gern, mir fällt sowieso die Decke auf den Kopf."

Gemeinsam verließen sie den Raum und wenig später hatten beide einen Cappuccino vor sich. Das Bistro war bis auf einen weiteren Gast leer und die Frau hinter der Theke wirkte müde und lustlos.

„Was denken Sie, wird es noch weitere Entführungen geben?", fragte Robert.

„Der bisherige Verlauf lässt das vermuten."

„Das hieße, wir werden noch länger nicht erfahren, mit welchen Forderungen wir rechnen müssen?!"