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Lothar Niklas

Marokko Adieu

 

 

 

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Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: info@himmelstuermer.de

Originalausgabe, Februar 2015

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden 24.Auflage

 

Coverfoto: malestockphoto.com

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg.

www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

 

ISBN print 978-3-86361-446-1

ISBN epub 978-3-86361-447-8

ISBN pdf: 978-3-86361-448-5

 

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

 

Für meinen balinesischen Freund Ketut –

den lebenden Beweis dafür,

dass es nichts Aufregenderes gibt als Natürlichkeit.

 

Untuk temanku mempesona Ketut –

sayangku di Bali dan satu-satunya di dunia.

Unterwegs zu Tijani

Der Nachtbus nach Casablanca fuhr pünktlich um null Uhr vom Busbahnhof der Küstenstadt Essaouira auf die Hauptstraße nach Norden. Keins von diesen rollenden Wracks mit vibrierenden Holzbänken, sondern ein Komfortbus mit Bordvideo. Und noch während einige der Reisenden aus den Fenstern winkten, setzte der Fahrer die Anlage in Betrieb. Es würde eine marokkanische Komödie geben, bevor man für ein paar Stunden die Augen zumachen könnte.

Eine Dreiergruppe im hinteren Teil des Busses hatte am Busbahnhof einiges Aufsehen erregt, aber schon jetzt schenkte niemand den Männern weitere Beachtung. Denn jetzt hatte die marokkanische Komödie begonnen. – Die drei waren mit einem Polizeiwagen vorgefahren, und einer von ihnen, ein Ausländer in mittleren Jahren mit schwarzer Brille und schwarzer Lederjacke, war mit Handschellen an einen der Einheimischen gefesselt. Der andere hatte sich zum Ticketschalter durchgekämpft, und dann waren sie unverzüglich in den bereitstehenden Bus eingestiegen.

Die beiden waren von der örtlichen Kripo und hatten von ihrem Chef, Kommissar Mohammed Mengad, klare Anweisungen erhalten: „Ihr bringt den Schwulen nach Tanger und setzt ihn auf die Fähre nach Spanien. Und ihr passt höllisch auf, dass ihm nichts passiert, denn mit diesem anderen Problem ist die Sache sowieso schon heikel genug.“

Es war keine gewöhnliche Abschiebung, denn die beiden Inspektoren, Achmed Shafik und Abdelkarim Glaoui, kannten diesen Deutschen seit Jahren. Und obwohl er ein kaum diskret zu nennendes Leben geführt hatte, brachten sie ihm neben aller offenkundigen Missgunst insgeheim auch eine Art Respekt entgegen. Schließlich beherrschte er ihre Sprache und hatte sogar einen arabischen Namen angenommen. Er nannte sich Machmud.

Nein, es war bei Gott keine gewöhnliche Abschiebung. Und Shafik und Glaoui, die als marokkanische Polizisten so ziemlich alles erlebt zu haben glaubten, wussten schon jetzt, dass sie diese spezielle Geschichte niemals vergessen würden.

Und dabei hatte die Komödie gerade erst begonnen.

 

Machmud saß auf einem Fensterplatz, eingeklemmt vom massigen Leib Shafiks, und schaute unentwegt in die Schwärze der Nacht. Er hatte seit zwei Tagen nicht geschlafen, aber dennoch würde er während der fünfstündigen Fahrt kein Auge zutun.

Zwei Tage lang war er von Polizei und Staatsanwaltschaft verhört worden und hatte zwischendurch auf einem Hocker in der Wachstube gesessen. Sie hatten Anweisung, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Er hatte sich zu essen und sogar zu trinken geweigert, dafür aber die ganze Zeit Kette geraucht.

Irgendwann war per Hubschrauber einer vom Justizministerium gekommen, und es hatte einen Lokaltermin in seiner Wohnung gegeben. Dann wieder sinnlose und quälende Verhöre und schließlich, schon in den Abendstunden, einen Sonderprozess. Einen Schauprozess, in dem er zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt worden war – wegen schwerer Unzucht. Und nachher waren Shafik und Glaoui zu ihm gekommen und hatten ihm mitgeteilt, dass sie jetzt mit ihm auf eine kleine Reise gehen würden.

Was war mit Tijani? – Seit zwei Tagen gab es keine andere Frage in seinem Hirn. Sie hatten ihm gesagt ‚nur ein paar Knochenbrüche’, aber er wusste, dass sie ihn anlogen. Einen Sprung aus solcher Höhe überlebt man nicht.

Machmud kühlte seine Stirn an der Fensterscheibe und starrte noch intensiver in die Dunkelheit.

Und genau so hatte Tijani es gewollt, als sie im Morgengrauen gekommen waren und die Tür aufgebrochen hatten – und als ihm schlagartig klar geworden war, dass dies das Ende bedeutete. Das Ende für ihn und Machmud, der ihm seit vier Jahren alles gewesen war: Freund und großer Bruder – Liebhaber und Lehrer – Zukunft und Hoffnung.

 

Auf der anderen Seite des Ganges döste Abdelkarim Glaoui, mit vierzig der jüngere der beiden Inspektoren. Er kaute Pistazienkerne und schaute zum Monitor, aber in Gedanken war er nicht bei der Sache.

Der alte Mengad, seit zwanzig Jahren Polizeichef der Provinz Essaouira, hatte sich gründlich verkalkuliert. Und das nicht zum ersten Mal. Noch keine drei Monate waren vergangen, seit schon einmal ein Hubschrauber aus Rabat gekommen war – mit einer ganzen Sonderkommission. Und damals war Mengad – der ehrwürdige Mekkapilger und Repräsentant einer Familie, die seit Generationen im Dienst des Königshauses stand selbst in stundenlangen Verhören gegrillt worden. Sie hatten ihn sogar vom Dienst suspendiert, ihn und Chefinspektor Boulane, diesen Karriereschnösel von der Uni.

Hassan Sebki – genannt Hassan Haschisch – hatte ausgepackt, was es mit seinen Geschäftsbeziehungen zur Polizei auf sich hatte. Als Vorsteher der örtlichen Dealer-Zunft hatte er ein ruhiges und ehrbares Leben geführt, denn großzügiges Bakschisch war immer pünktlich zum Sammelbecken ‚Kommissariat’ geflossen.

Dann aber hatte die Regierung mit diesem Schwachsinn losgelegt: ‚Marokko räumt auf! Marokko macht gründlich sauber!’ – Und dann waren Erfolge gefragt. Erfolge, die sich gut in der westlichen Presse machen würden. Denn der König träumte vom Anschluss an die Europäische Union.

Erfolge waren gefragt – und Schuldige mussten her. Und Mengad hatte beschlossen, ausgerechnet die Goldgrube Sebki für die königlichen Träume zu opfern. Er ließ ihn verhaften, und der Drogenmann erhielt zehn Jahre.

Dann aber war Sebki am Zug. Über seinen Anwalt erstattete er Anzeige gegen Polizeichef nebst Stellvertreter – wegen Korruption. Der Skandal war perfekt, und für einige Tage war es im Kommissariat zugegangen wie bei Alarm im Wespennest. Und der Alte hatte in Rabat alles angerufen, was mächtig und einflussreich war – und korrupt. Am Ende hatte er gewaltig bluten müssen, aber die Sonderkommission rückte wieder ab. Und Sebkis Gefängnisstrafe wurde eine weitere Null angehängt.

Erfolge waren aber auch in anderen Bereichen gefragt. In all diesen Bereichen, die dem Westen seit jeher Nahrung für Vorurteile geboten hatten. Wie beispielsweise Korruption. – Was, wie gesagt, nicht ganz so einfach war. – Oder Unzucht. Und was diesbezügliche Erfolge anbetraf, so hatten die Kollegen in Casablanca den besten Start erwischt.

Dort war ein Mann überführt worden, in großem Stil junge Frauen erpresst und zu Pornoaufnahmen gezwungen zu haben. Und der Mann war – Polizeikommissar. Und da seine Telefonate in die Hauptstadt erfolglos blieben, wurde er zum Tode verurteilt und gehenkt.

Glaoui spuckte angewidert eine bittere Pistazie aus und warf einen Blick auf die Nachbarsitze. – Wann würde der beschissene Westen es endlich begreifen? Dass ein arabischer Würdenträger alles vögeln darf, was er vögeln will: Die Tochter des Nachbarn – oder deren Bruder – oder dessen Ziege. Das war einfach eine Frage von Kultur und Tradition.

Der alte Mengad beispielsweise bevorzugte die Söhne der Stadt. So wie manch anderer Mengads Sohn Habib bevorzugte. Eine pompöse Tunte, aber all das interessierte niemanden – aus Tradition.

Und was wusste der Westen von der wirklichen Ungerechtigkeit bei der ganzen Sache? Dass ein einfacher Inspektor zwar gewisse Macht besaß, aber nur einen Hungerlohn erhielt. Dass er kein Würdenträger war, der aus dem Vollen schöpfen konnte. Dass er sich mit einer gelegentlichen Nutte begnügen musste, die von Kollegen für eine Nacht verhaftet worden war, damit keine Langeweile aufkam.

Oder mit einem von diesen ganzen Herumtreibern, die sich bei irgendwas hatten erwischen lassen. Und die – aus gewisser Perspektive – das Pech hatten, noch jung und knackig zu sein. Wie der Junge, mit dem sie diesen Deutschen in den Federn erwischt hatten. Ein einladender Sportlerarsch, den Glaoui und seine Kollegen sich gern einmal gründlich vorgenommen hätten. Aber dann scheißt sich dieser Idiot in die Hose und dreht durch.

Na gut. Sie hatten ziemlich auf den Putz gehauen, weil Mengad meinte, sie hätten einen ganz großen Fisch an der Angel: Eine Art Zuhälter für Lustknaben – und mit internationalen Verbindungen. Der Tipp war aus Europa gekommen, von der marokkanischen Botschaft in Deutschland. Danach hatten sie den Verdächtigen einige Tage observiert und ein paar Beachboys verhört, aber dabei war nichts Stichhaltiges herausgekommen.

„Monsieur Machmud hat doch dieses kleine Ausflugsboot im Hafen – oder? Na klar ist er schwul. Aber das sind doch alle Ausländer, die hier leben – oder? Ob jemand bei ihm wohnt? – Ist das nicht dieser Schneider, der immer am Strand joggt?“

Mengad jedoch wollte den Deutschen unbedingt abservieren und setzte auf Belastungsmaterial vor Ort: Pornos – Ecstasy – Kinderleichen – weiß der Teufel. Und deshalb waren sie in aller Frühe angerückt, und Shafik, in bester Razzialaune, hatte es sich nicht nehmen lassen, die Tür aufzubrechen. Und er hatte Glück, denn der Hausherr und sein Freund lagen zusammen im Bett und waren nackt.

„Schluss mit Ficki Ficki!“, hatte er gegrölt und sich den Jungen geschnappt, der hastig eine Jeans überstreifte. Shafik war jetzt ganz in seinem Element. „Hallo, mein Süßer! – Wie sieht’s aus? Ist das Löchlein noch frisch geschmiert?“

Die anderen hatten einfach mit der Haussuchung begonnen, aber Shafik war nicht zu bremsen. Er wühlte im Kleiderschrank und hielt mit spitzen Fingern eine schwarze Schnürlederhose in die Luft.

„Alle Achtung, junges Fräulein! Ihre Dienste machen sich ja bestens bezahlt. Ihr Freier muss wirklich zufrieden sein mit so einem hübschen Spielzeug. Vielleicht sogar mehr als zufrieden. – Stimmt’s? Mein feiner Herr aus Deutschland! – Nur fürchte ich für unsere beiden Turteltäubchen, dass es sich fürs erste ausgeturtelt hat.“

Während der ganzen Zeit hatte Machmud nur dagesessen, auf den Boden gestarrt und gierig eine Zigarette geraucht. Sein hübsches Spielzeug hingegen war wie aufgedreht im Zimmer auf und ab marschiert. Und dann, als er gerade mit einigen Jointfiltern vom Abfalleimer aus der Küche kam, dann hatte Glaoui plötzlich einen markerschütternden Schrei gehört: „Nein, Tijani!! Neiiin!!“

Im Rausch der gelungenen Razzia hatte niemand darauf geachtet, dass die Tür zur Dachterrasse offenstand. Glaoui hatte gerade noch mitbekommen, wie der Junge die Brüstung erreichte – und dann nicht eine Sekunde zögerte, bevor er sprang.

Machmud war zu spät aufgesprungen und hinter ihm her. Sie hatten ihn mit zwei Mann festhalten und bändigen müssen. Und er hatte minutenlang geschrien: „Ihr Monster! – Ihr Bestien!“ – In einem und einem fort. Und auf so unmenschliche Weise, dass alle glaubten, soeben Zeuge zu werden, wie jemand tatsächlich und buchstäblich – verrückt wird.

 

Machmud wandte sich zum ersten Mal vom Fenster ab und warf einen Blick auf die übrigen Reisenden. Einige waren längst eingeschlafen, obwohl es auf dem Bildschirm noch hoch herging.

„Aber nein, Aischa! Du kannst diesen Habenichts nicht heiraten. Die ganze Straße riecht nach Eselstall, wenn er vorbeigeht. Bei Allah, meine Tochter! Was ist nur in dich gefahren?“

Auch Shafik gab erste Schnarchtöne von sich, aber Glauoi war noch wach und schaute gelegentlich herüber.

Er war verraten worden. Es gab keine andere Erklärung. Während des ersten Verhörs, nur wenige Stunden nach dem Überfall, hatte Mengad ihm triumphierend eine Fotokopie vor die Nase gehalten: „Stammt das von Ihnen?“

Machmud war schockiert, weil ihm als erstes ein kleines Foto ins Auge stach. Ein erbärmlich grinsender Greis auf allen Vieren, der seinen faltigen Hintern in die Kamera hielt. – ‚Willige Stute …’ und so weiter.

Und erst dann war ihm aufgefallen, dass ein Text weiter unten mit Rotstift eingerahmt war:

‚Marokkodeutscher – seit Jahren hier ansässig – mit Landessprache und Szene bestens vertraut – bietet interessierten Männern Hilfe bei der Organisation eines erlebnisreichen Urlaubs …’

Großer Gott! – Und er hatte doch extra ‚Freizeit und Reisen’ angekreuzt.

„Ja, das hier stammt von mir“, hatte er schließlich geantwortet und dabei entschieden auf die eingerahmte Anzeige gedeutet. Es hatte keinen Sinn zu leugnen. Sie hatten einige der über hundert Zuschriften gefunden, die ihm in kürzester Zeit zugegangen waren. Die meisten waren nach einem Kopfschütteln in den Papierkorb gewandert.

‚Gibt es davon auch Videos?’

‚Wie kann ich denn sicher sein, dass es bei dir wirklich was zu Ficken gibt?’

‚Tausche Bilder von Araberboys gegen welche von meinen Nachbarbengeln. – Gruß von Horst aus Leipzig.’

Neben einer ganzen Reihe von korrekten – fand sich sogar eine Zuschrift, die ihm auf eigenartige Weise nahegegangen war. Von einem österreichischen Adligen, mit Goldprägewappen und handgeschrieben.

‚Lieber Herr, vor zwei Jahren habe ich meinen brasilianischen Freund durch einen Autounfall verloren. Seither werde ich meines Lebens nicht mehr froh. Ich war schon völlig verzweifelt, aber nun habe ich Ihre Anzeige gelesen und daraus Hoffnung geschöpft. Vielleicht könnten Sie mir helfen, doch wieder einen lieben braunhäutigen Freund zu finden.’

Einen lieben braunhäutigen Freund.

‚Ach, lieber Herr aus Innsbruck! – Wie gern hätte ich alles andere in den Papierkorb geworfen, nur um Ihnen helfen zu können. Und wie einfach wäre es mit etwas Geduld und Fingerspitzengefühl gewesen, Sie wieder glücklich zu machen. – Nur war leider die Polizei schneller. So schnell, dass ich nicht eine einzige Zuschrift habe beantworten können. Aber seien Sie versichert, wie unendlich tief ich mit Ihnen mitempfinden kann.’

Einen lieben braunhäutigen Freund verloren.

Einen lieben braunhäutigen Freund.

Einen lieben – braunhäutigen – Freund …

Aufbruch und Ankunft im gelobten Land

Machmud hatte früher einmal Markus geheißen. Früher – das war vor sechs Jahren gewesen. Damals hatte er plötzlich mit unbändiger Macht weg gewollt. Weg von Deutschland – weg von Europa – weg vom ganzen trostlosen Westen.

Seine besten Freunde hatten gemeint, er selbst sei nicht ganz bei Trost.

„Sie werden dich von vorne bis hinten ausnehmen!“, orakelten sie wirklich bedrohlich. „Da unten gibt’s nichts als Prostitution!“

Er wollte dem etwas entgegenhalten, etwas für ihn typisch Abgedrehtes – wie etwa den Gedanken, dass auch aus Sumpf und Morast die schönsten Blumen wachsen können. Aber da holte einer von ihnen schon zum entscheidenden Schlag aus.

„Du wirst dir den Virus holen“, meinte er – eher spöttisch als besorgt, und jetzt war es auch bei Markus aus mit schönen Blumen.

„Ich lass mich von einem Virus nicht verarschen!“, rief er wütend und schlug womöglich sogar auf den Tisch. Und dann ließ er sein Plädoyer gegen diese geballte freundschaftliche Vernunft vom Stapel.

Dass er leider nicht wie sie das Glück gehabt hatte, in seiner sogenannten Jugend von irgendwem wachgeküsst zu werden. Es gab da einfach nicht diesen Nachbarjungen oder jenen Schulfreund. Ja nicht einmal einen guten Onkel, der ihm seine Briefmarkensammlung hätte zeigen wollen.

Stattdessen gab es da irgendwann nur ein paar Frauen, mit denen er ein paar Jahre vertrödelte, aber dann flog der Korken endlich raus, und er feierte sein Coming-out. Das war Mitte der Achtziger, und er war in bester Gesellschaft. Auch Aids nämlich kam gerade groß heraus und wurde schnell zum häufigen Gast – speziell in der Schwulenszene.

Also bitte! – Da fehlt einem jegliche sexuelle Erfahrung in der Jugend, dann quält man sich eine Zeitlang am falschen Ufer herum, und kaum hat man den Mut zum richtigen gefunden, da reden dort alle nur noch über Angst, Angst und nochmals Angst.

Was tut man? – Sagt man sich ‚schlecht gelaufen’ oder ‚shit happens’? – Oder aber sagt man sich ‚Ich lass mich von einem Virus nicht verarschen!’ – und nennt das Ganze seine Philosophie?

Wie auch immer, er lebte endlich schwul, und bald stellte sich heraus, dass sein Infektionsrisiko ohnehin ein geringes war – ganz einfach aus Mangel an Gelegenheiten. Das hing wohl mit seiner kaum zu überbietenden Naivität zusammen. Er wollte sich nämlich an jedem beliebigen Ort und zu jeder beliebigen Zeit – verlieben können. Und nur um dieses Privileg beneidete er die ansonsten bedauernswerten Heteros.

Stattdessen sollte er umdenken, sollte lernen, sich an bestimmte Orte und bestimmte Zeiten zu halten. Nur gingen ihm diese Orte und Zeiten einfach gegen seine Natur. Außerdem hatte er das meiste davon ja ausprobiert, wohl zu neugierig, um auf einschlägige Erfahrungen ganz zu verzichten.

In einer Kölner Sauna hätte er beispielsweise gern einmal am Geschehen im Darkroom teilgenommen und kam mit blutender Nase wieder heraus. – War er etwa jemandem zu aufdringlich gekommen? Oder wollte er sich aussagekräftig als tabulos devoter Haussklave an den Mann bringen? – Nein, keineswegs! Er hatte einfach nicht damit gerechnet, dass es im Innern nicht nur dunkel, sondern irgendwie auch künstlich verwinkelt zugehen konnte, und hatte unsanft mit einer Trennwand Bekanntschaft gemacht.

Bei anderer Gelegenheit hatte er einem sympathisch wirkenden jungen Mann in einer Kreuzberger Bar verraten, dass dieser dort die einzige natürliche Erscheinung sei, und musste sich dafür anbrüllen lassen: „’Ne blödere Anmache hast’e wohl nich auf Lager!?“

Sogar mit einer Kontaktanzeige hatte er es versucht. Und weil Liebe ohne Humor für ihn nur ein schlechter Witz war, hatte er dies in seinem Text zum Ausdruck bringen wollen: ‚Homosexualität ist heilbar. – Über diese interessante Theorie möchte ich gern des Öfteren mit attraktiven jungen Männern diskutieren.’

Und tatsächlich ruft einer an und kommt sofort vorbei. Und Markus fällt fast in Ohnmacht, denn vor ihm steht jung Siegfried – Karate-Schwarzgurt und was nicht alles. Aber dann stellt sich heraus: Familie – Zeugen Jehovas. Und im Königreichssaal gehen allerlei Gerüchte um. Und der Oberprediger hat ihm sogar schon eine Gardinenpredigt gehalten.

Ja, ist es zu fassen? – Dieser junge Gott hatte den Text ernst genommen. Und jetzt saß er ihm gegenüber und bat ihn unter Tränen, ihm bei der Heilung zu helfen. Aber Markus wollte weder Religionskrieg noch Familienfehde. Er wollte keinen Patienten – er wollte einfach nur einen Lover.

Nein, nein, mit diesen ganzen Orten und Zeiten und Herangehensweisen war er von Natur aus nicht kompatibel. – Aber damit nicht genug, denn außerdem stand sein Wettrennen gegen die Zeit einfach Scheiße. Da hat man Mitte zwanzig sein Coming-out – und erfährt bei der Gelegenheit, dass man mit dreißig ‚draußen’ ist.

Dabei hielt er sich fit und pumpte die Eisen und sah nicht nur passabel, sondern wirklich knackig aus. Aber wenn auch noch nicht mit dreißig, so empfand er den Gedanken, irgendwann draußen zu sein und nicht mehr frei wählen zu können, als sehr reale Bedrohung.

Mit solcher Bestandsaufnahme nervte er seine Freunde also Anfang der neunziger Jahre. Er war dreißig und Fachautor, und er wollte nichts wie weg – nach Marokko. Weil er hoffte – nein, weil er spürte, dass sein unbeschwertes Verständnis von Homosexualität dort zu einem entsprechend unbeschwerten Ausdruck finden könnte.

Wenn er andrerseits so weiterleben würde wie bisher – so mahnte er sich, bevor es eines Tages zu spät dafür wäre – würde ihm bei Erreichen der Zielgeraden nur ein letzter Gedanke bleiben – der quälende Gedanke an ein unerträgliches Versäumnis. Er würde sich bis zum letzten Atemzug den Vorwurf machen, nicht hinter seinen Träumen hergelaufen zu sein. Und für dieses Versäumnis würde er sich selbst verachten. Und er würde sich zu Recht verachten.

 

Wenn man schon zu viel seiner spärlichen Zeit auf Erden mit halben Sachen verschwendet hat, sollten gewisse Dinge sehr schnell über die Bühne gehen. In seinem Fall war es von Vorteil, dass es an Organisatorischem ohnehin nicht viel zu erledigen gab: Apartment auflösen, Auto verkaufen, Flug buchen – und fertig. Oder fast fertig, denn für zwei Details nahm er sich im Sinne einer reibungslosen Umsiedlung doch noch die Zeit.

Zunächst verschaffte er sich per Kleinanzeige wichtige Insiderinformationen. Ein beneidenswerter Frührentner, der den Rest seiner Zeit auf Erden mit einem Campingmobil in Marokko unterwegs war, riet ihm von Agadir ab. Sein Geheimtipp lag ein Stück weiter nördlich, hieß Essaouira und stellte sich schon bald als goldrichtig heraus. Auch den Hinweis, besser nicht in Hotels zu logieren, beherzigte Markus so früh wie möglich.

Und dann beherzigte er noch einen Geheimtipp seiner Intuition und absolvierte einen Intensivkurs ‚Arabisch’. Denn obwohl er mit Französisch hätte zurechtkommen können, hielt er es angesichts seiner delikaten Absichten für äußerst zweckmäßig, die Landessprache zu erlernen. Eine Entscheidung, die sich als so goldrichtig herausstellen sollte, dass der Erfolg seiner Mission eigentlich schon vorprogrammiert war.

Da er dies zwar ahnen, aber noch nicht wissen konnte, machte sich kurz vor dem Tag X eine diffuse Nervosität in ihm breit. Und rechtzeitig zum Abflug hatte er sogar eine wohl psychosomatische Grippe ausgebrütet. Nach seiner Medikation – zwei, drei Aspirin, runtergespült mit zwei, drei Fläschchen Rouge von Royal Air Maroc – erreichte er Agadir in keinerlei Hochgefühl, sondern mit der dumpfen Schwere von Fallobst.

Entsprechend hatte der Taxifahrer leichtes Spiel mit seinem astronomischen Fahrpreis zur Stadt, aber den Aussiedler interessierte es viel mehr, in den draußen vorbeiziehenden Menschenmassen junge Männer zu entdecken, in die man sich hier und jetzt verlieben konnte.

In einem Billighotel wollte er schon dem dringlichen Wunsch nachgeben, sich zwanzig Stunden lang auszuschlafen, aber für einen kleinen Erkundungsgang sollten die Kräfte wohl noch reichen. Von einer benachbarten Moschee quäkte ein heiserer Megaphon-Muezzin. Es ging auf den Abend zu, und da es bis zum Strand sowieso zu weit war, drehte er ein paar Runden in dem trostlosen Viertel, in das es ihn verschlagen hatte.

Irgendwie geriet er auf ein weitläufiges Baugelände, wo offenbar ein Hotelkomplex aus dem Boden gestampft wurde. Dort erblickte er einen jungen Mann, der inmitten von Baumaterial am Boden hockte, und da dieser gerade in seine Richtung schaute, nahm er spontan Kurs auf ihn. Und da er die Anmache ‚Du bist hier die einzige natürliche Erscheinung’ nach jener Kreuzberger Nacht aus seinem Repertoire gestrichen hatte, sagte er einfach: „Bon soir. – Ça va?“

Es war ein junger Mann Anfang zwanzig, dem die Verschlagenheit aus jeder Pore sprach und in den Markus sich nicht einmal unter Folter hätte verlieben können. Aber er wollte sich endlich einmal mit einem Einheimischen unterhalten, der von Beruf nicht Grenzbeamter, Taxifahrer oder Hotelportier war.

Seine Entdeckung hieß Omar und ließ sich für ein paar Zigaretten erklären, dass Markus ab morgen die Küste weiter nördlich nach einem netten Ort absuchen wollte. Gleich war Omar mit Rat und Tat zu Diensten. Keine zwanzig Kilometer von Agadir läge das traumhafte Fischerdorf Taghazout. Und sein Onkel habe dort ein Zimmer mit Blick aufs Meer zu vermieten. Wenn Markus wollte, könnte er ihn gleich am nächsten Morgen hinführen.

Nach fünf Sekunden Bedenkzeit sagte er zu, schließlich musste er ja irgendwo anfangen. Bei Einbruch der Dunkelheit begleitete Omar ihn zurück zum Hotel, und als er kurz davor eigenartig nah herankam und flüsternd verriet, in der Nähe kenne er eine ruhige Stelle, wo sie es jetzt tun könnten, simulierte Markus plötzliche Sprachschwierigkeiten und vertröstete beide auf später.

Früh am nächsten Morgen erreichten sie das wirklich zauberhafte Fischerdorf. Auch fand Omar rasch einen Berber, der die Rolle des Onkels übernahm und seinem Gast das Zimmer zeigte. Dieses zeichnete sich durch absolute Leere aus, aber das einzige Fenster stand weit offen, und zum Greifen nah leuchteten Strand und Ozean in übernatürlichem Licht.

Dies allein hätte dem sexuellen Asylanten auf Dauer kein Mobiliar ersetzen können, aber draußen waren Fischer damit beschäftigt, ein Boot an Land zu wuchten. Augenblicklich vergaß er alles andere um sich herum und versank in dem rhythmischen Muskelspiel der Männer, auf deren brauner Haut der Schweiß perlte.

Derweil redeten seine Begleiter pausenlos aufeinander und auf ihn ein, aber er hörte erst wieder hin und war wie elektrisiert, als die Information ‚sofort eine Matratze bringen’ aus ihrem Geplapper herausstach. Der Onkel verschwand, und Omar meinte, es sei an der Zeit für einige Einkäufe. Er sei ein ausgezeichneter Koch und würde zu Mittag ein großartiges Fischgericht zaubern. Bis dahin würde auch die Matratze da sein, und dann könnten sie es sich ‚so richtig schön bequem machen’.

Als er endlich verschwand, kehrte Markus ans Fenster zurück – und zurück zu seiner Vorstellung, wie sich die nächste Zukunft vor dieser Kulisse gestalten würde. Nach einer Weile kam der Onkel und bugsierte eine halbwegs korrekte Matratze herein, aber der Voyeur ließ nur für eine Sekunde von dem Naturschauspiel vor seinem Fenster ab, denn dort gab es jetzt Netze und Taue zu ordnen.

So verging eine zeitlose kleine Ewigkeit, bis dieser Onkel erneut in der Tür stand, nur hatte er diesmal, statt weiterer Möbel, das Material für einen dekorativen kleinen Dialog mitgebracht.

„Es geht nicht.“

„Was geht nicht?“

„Er sagt, es geht nicht.“

„Wer ist er, und was geht nicht?“

„Ich kann dir das Zimmer nicht vermieten.“

„Wer sagt das?“

„Der Polizeichef.“

„Wo ist Omar?“

„Wer ist Omar?“

„Dein Neffe.“

„Ach der. Ich glaube, auf der Wache.“

„Was macht er denn da?“

„Ich weiß nicht. Jedenfalls sollst du verschwinden.“

„Sagt wer?“

„Der Polizeichef.“

„Was soll der Unsinn? Ich will genau dieses Zimmer, und wenn …“

„Du solltest besser den nächsten Bus nehmen.“

„Sagt der Polizeichef?“

„Nein, ich.“

„Aber wieso sollte ich …?“

„Sie haben bei dem Jungen Haschisch gefunden, und der Chef meint, du solltest die Chance nutzen, dass er nicht herkommt und Fragen stellt.“

„Wohin fährt der nächste Bus?“

„Nach Norden.“

„Was heißt Norden?“

„Essaouira.“

Unterwegs zu Tijani

Irgendwann war diese Komödie tatsächlich einmal zu Ende gegangen – irgendwann gegen zwei. Danach waren auch die letzten Fahrgäste eingeschlafen – alle außer Machmud. Er hatte Kopfschmerzen und spürte auch im Magen ein bohrendes Stechen.

Shafik hingegen schnarchte wie daheim neben seiner Frau und ließ gelegentlich sogar seinen Kopf auf Machmuds Schulter kippen. Der wich noch weiter zum Fenster aus und schaute voll Ekel diese Tragödie von einem Gesicht an.

Wovon Monster und Bestien wohl träumen mochten? – Wovon träumen Sie, Inspektor Shafik? Von der nächsten flotten Razzia? Oder träumen Sie vielleicht von diesen denkwürdigen Umständen, unter denen wir uns vor einigen Jahren kennengelernt haben? – Was denn? Sie erinnern sich schon nicht mehr daran? Aber ich bitte Sie! Eine solch famose Geschichte kann man doch nicht so einfach vergessen. Vielleicht sollte ich Ihnen auf die Sprünge helfen, mein feiner Herr Inspektor!?

Ich hatte damals in aller Frühe Ihre Dienststelle angerufen, von der Telefonzelle draußen an der Ausfallstraße nach Agadir. Ich hatte nämlich bei meinem morgendlichen Strandspaziergang eine Leiche im Wasser gefunden. – Na also! Jetzt erinnern Sie sich wieder, nicht wahr? – Sie hatten Dienst und sind sofort mit einem Kollegen rausgekommen, und ich habe Sie zu der Stelle geführt.

Sie waren von Anfang an mächtig irritiert, weil ich Sie nicht mit ‚Bon jour’ begrüßte, sondern mit ‚Salam u aleikum’. Und dann waren Sie beeindruckt, weil Sie noch keinen Ausländer getroffen hatten, der Ihre Sprache beherrschte. – Sprachen sind wirklich ungeheuer wichtig, wissen Sie? Nur leider nicht immer einfach zu erlernen.

So habe ich zum Beispiel mit Abdelmallik, meinem ersten Freund in Essaouira, nicht nur Ficki Ficki gemacht, sondern jeden Tag auch zwei Stunden Arabischunterricht. Und als ich vor vier Jahren Tijani traf, da war er Analphabet und konnte auf Französisch nur ‚Oui Monsieur’ sagen und ‚Non Madame’. Und dann habe ich ihm nicht nur Französisch beigebracht, sondern auch Englisch und etwas Lesen und Schreiben.

Jawohl, Herr Inspektor! Ich habe einem Achtzehnjährigen die Hand geführt wie einem Schulbuben, damit er A schreiben lernte und B und C. – Und einmal hat er mir gesagt, ich hätte ihm damit Schlüssel für diese Welt geschenkt. – Schlüssel für diese Welt, Herr Inspektor. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was er damit gemeint hat.

Aber zurück zu unserer Wasserleiche. – Schon damals waren Sie mehr als nur beeindruckt. Sie waren eifersüchtig. Geben Sie es ruhig zu: Sie waren neidisch und eifersüchtig, weil Sie spürten, dass Sie es bei mir mit einem Menschen zu tun hatten. Und wie so etwas funktioniert, ich meine, Mensch zu sein, das war Ihnen unbegreiflich.

Wie auch immer, Sie haben sich in Ihrer Haut nicht wohlgefühlt. Und weil Sie diesen Druck nicht lange aushielten, haben Sie begonnen, sich jovial und wichtig zu geben. Sie haben den Mann im Wasser – er wird Mitte dreißig gewesen sein und trug nur einen Slip – Sie haben ihn mit dem Fuß herumgedreht und ihm mit einem Stück Holz den Mund geöffnet. Und dann haben Sie einer Autopsie vorgegriffen und mir erklärt, es sei keinerlei Fremdeinwirkung zu erkennen, so dass der gute Mann wohl freiwillig das Zeitliche gesegnet habe.

In einem Slip im Atlantischen Ozean? – Sagen Sie, Herr Inspektor, denken Sie gelegentlich auch schon mal nach, wenn Sie nicht gerade Razzia halten oder davon träumen? – Na klar, Sie verwechselten mich plötzlich doch wieder mit einem Touristen, den man nicht unnötig beunruhigt. Dabei wusste ich so gut wie Sie, dass nicht nur Tanger ein mörderisches Pflaster ist. Erinnern Sie sich denn wenigstens noch daran, wie unlängst in einer Plastiktüte ein abgetrennter Kopf gefunden wurde? Direkt unter dem großen Südtor der Stadt. Der Stadt Essaouira!

Und zum guten Schluss haben Sie dem Touristen noch den gottesfürchtigen Moslem verkaufen wollen, mit Hilfe eines kleinen Vortrags, wieso der Koran Suizid verbietet, und wieso Allah einem Selbstmörder den Eintritt ins Paradies verwehrt. Ich habe Ihnen geduldig zugehört, aber am Ende habe ich Sie mit einer meiner kleinen Fragen überrumpelt. Ich habe Sie gefragt, wieso ein Gott, der solche Regeln geschaffen hatte, als barmherzig und gerecht angebetet wird. – Und das hat Ihnen endgültig die Sprache verschlagen.

Nein, nein, verehrter Herr Inspektor. Selbstverständlich hat jeder Mensch von Natur aus das Recht, über den Zeitpunkt seines Todes frei zu entscheiden. Und nicht nur das Recht, sondern in gewissen Fällen sogar die Pflicht. – Jedenfalls ist das meine unmaßgebliche Überzeugung. Und in ganz speziellen Fällen hat er sogar das Recht, über den Zeitpunkt des Todes eines anderen Menschen frei zu entscheiden. Das Recht – und die Pflicht.

Leider kann ich Ihnen nicht veranschaulichen, was genau ich meine. Denn unglücklicherweise sind die Verhältnisse hier so beengt, dass ich nicht an Ihre Dienstwaffe herankomme, die Sie vorhin im Kommissariat – um sich schon wieder wichtig zu machen – vor meinen Augen geprüft und ins Schulterhalfter gesteckt haben. Ich würde halt – statt nur einer Kugel für den persönlichen Bedarf – eine zweite verbrauchen. Um Sie von diesem Schandfleck zu erlösen, den Sie Ihr Gesicht nennen.

Machmuds Herz klopfte bis in die Kehle. Er atmete mehrmals tief durch und fühlte sich für einen Moment wie erleichtert, aber dieses Gefühl hielt nicht lange an. – Nach einer Weile nahm er plötzlich seine Brille ab und versuchte mit aller Kraft, ein Glas aus der Fassung zu drücken, und er wurde geradezu wütend, weil sie so scheißsolide war. Und so ließ er seinen Kopf zur Seite rollen und starrte wieder aus dem Fenster.

Eine Rasierklinge, dachte er mit plötzlicher Klarheit. ‚Ich brauche eine Rasierklinge.’ – Und diesen Gedanken wiederholte er unablässig und beschwörend wie ein Mantra, während der Bus in tiefster Nacht nach Norden hielt.