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Brauchen wir Gott?

Von Hanne Tügel

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Denkschulen: Typologie des (Un-)Glaubens

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BRAUCHEN WIR GOTT?

Eher nicht, befinden immer mehr Menschen. Ihren Glauben aber geben sie deshalb nicht auf. Sie suchen für ihn nur neue Formen: als spirituelle Atheisten, als Erfinder von Ritualen, in Gemeinden ohne Religion

Von Hanne Tügel

Heute Abend ist der Papst Muslim. Sedat Cukadar, 44 Jahre alt, bärtig, geschieden, zwei Kinder, tagsüber Kraftfahrer bei der Hamburger Stadtreinigung, lässt sich den brokatverzierten Ornat anlegen und begrüßt das Kirchenvolk. Neben ihm setzt Volker Schröder, 27, einen steifen Hut mit angeklebten Schläfenlocken auf seinen modisch kahl rasierten Kopf und wird zum orthodoxen Rabbiner. Und Dalila Ferrec, die Lippen im schwarzen Gesicht knallrot geschminkt, gibt in dunkler Soutane plus magentafarbenem Scheitelkäppchen eine katholische Bischöfin. Eine Frau? Der übergroße Jesus von Nazareth an der Kirchenwand schaut mit undeutbarem Gesichtsausdruck zu, wie sich schließlich auch sein irdischer Botschafter verwandelt: Pastor Ulfert Sterz erscheint mit Turban und Fransenbart-Perücke als Ajatollah.

„Die Insel“ heißt das Stück von Björn Bicker, das Laienschauspieler zusammen mit Profis im Herbst 2014 in der Immanuelkirche in Hamburg-Veddel aufführen. Es ist eine Multimedia-Collage über Identität, Heimat, Vorurteile, Stolz, Hoffnung. Die Eingangsszene ist nur ein Denkanstoß – und ein passender Auftakt für diesen Artikel, der um Gott und die Welt kreisen wird. Nicht von Fundamentalismus und Hass soll die Rede sein, sondern von der Sehnsucht nach Spiritualität jenseits erstarrter Rituale. Von Gläubigen und Ungläubigen, deren Antworten auf die großen Fragen zwischen Himmel und Erde sich oft erstaunlich ähneln. Von Einstein, Sigmund Freud, dem Dalai Lama und einem englischen Comedian-Paar, das dabei ist, so etwas wie eine Weltreligion ohne Gott zu stiften.

Geprobt wird hier ein noch unausgegorener Choral voller Dissonanzen, mal provokant, mal fröhlich, mal besinnlich. Den Refrain predigt das Multikulti-Ensemble von der Veddel: „Kommt, die neue Stadt wartet auf euch!“