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Deutsche Erstausgabe (ePub) Juni 2015

 

© 2011-2013 by Isabel Shtar

 

Verlagsrechte © 2015 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Fürstenfeldbruck

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

 

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

 

ISBN ePub: 978-3-95823-545-8

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


 

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Ihr Cursed-Team

 

 

 

 

Klappentext:

 

Nichts kann Ludwigs supertolerante Familie schocken. Grüne Haare? Homosexuell? Alles kein Problem! Wie soll ein vernünftiger Teenager da noch rebellieren?

Aber das ist nicht Ludwigs einziges Problem. Als Jungfrau auf der Suche nach der großen Liebe zu sein, ist schon eine Herausforderung. Und dann zieht auch noch Paul im Haus nebenan ein und macht das Chaos mit seinem ungesunden Drang nach Sex perfekt. Doch wenn Ludwig gedacht hat, dass nach dem Abitur alles besser wird, hat er die Rechnung ohne Paul gemacht.


 

Isabel Shtar

 

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Band 2


 

Kapitel 24

 

Tausend Tode

 

 

Samstagnacht!

Party-Time!

Raus aus dem Alltag, vergesst die Schule, vergesst, was Mama und Papa gesagt haben – so halbwegs – und ab durch die Mitte!

Yeah, Baby!

Lichter blitzen durcheinander, die Bässe dröhnen, ich tanze in meinen neuen Obergeilo-Klamotten im Zentrum der Tanzfläche wie ein junger Gott. Finde ich zumindest, und meine Meinung zählt ja wohl. Ich bin alleine los, lediglich Jasmin war nicht fest verplant, aber die kuriert gerade eine fiese Erkältung aus, da bietet sich ein Ausflug in die Schwulendisco nicht so an.

Heute ist wohl Disco-Klassiker-Nacht. Jimmy Somerville kreischt gerade You make me feel und ich gehe voll ab. Irgendwer legt seine Griffel auf meinen Arsch, ich spähe ihn kurz an. Haha! Verpiss dich, Rumpelstilzchen, das glaubst du doch wohl selbst nicht! Ich suhle mich ein bisschen in arroganter Arschlochigkeit. Hier ist das eben angesagt. Wer mir in den Hintern zwickt, kann kein Urteil anhand der inneren Werte erwarten. Es riecht etwas abstrakt, Männerschweiß fließt in Strömen und vermischt sich mit diversen Duftwässerchen. Es ist total klasse! Mein Hirn macht nur noch boing boing im Takt der Musik, mein Körper ist dran, Grübeleien haben jetzt Sendepause. Es ist krass, ich werde in einer Tour angemacht. Pauli hatte schon recht: kein Grund zur Panik, ich sehe super aus! Ist mir gerade scheißegal, ob das total arrogant klingt, denn es stimmt ja wohl! Ich bin so geil! Ich bin so was von obergeil! Das ist es, genau, so läuft das! Tschüss, Zweifel!

Pauli mag das zwar aus ziemlich traurigen Gründen so treiben. Er weiß dennoch, wovon er redet. Ich habe ihn vorhin kurz erspäht, aber hier gilt ja: Dort.

Wenn ich eins gelernt habe, dann, dass es besser ist, einen großen Bogen um ihn zu machen, wenn er so drauf ist. Tue ich auch liebend gern. Ich will ihm nicht noch mal in die Arme rennen, wenn er in seinem Kamikaze-Modus ist, in dem er zwischen Freund und Feind nicht mehr unterscheidet, in dem ich ihm eigentlich nur scheißegal bin, nur ein Schwanz auf Beinen. Nein, danke. Gut für ihn, dass hier noch genug andere rumspringen, die für seine Ziele taugen. Er hatte vorhin, als ich mal kurz in seine Richtung geguckt habe, so einen Gorilla am Haken, wie er sie ja so mag. Schön für ihn. Vielleicht schlägt seine Therapie ja irgendwann an und er lässt den Blödsinn? Wäre wahrscheinlich gut für ihn. Ich meine, er kann ja machen, was er will, aber nicht aus autoaggressiver Kompensation, sondern besser aus Spaß? Verdammt, jetzt denke ich doch wieder! Weg damit! Spaß! Ja, das war das Stichwort!

Hallo, das ist doch dieser Blonde, den Gideon neulich am Wickel hatte? Er tanzt mich an und grinst. Ich mustere ihn. Wirklich ein knackiges Kerlchen. Gideon weiß schon, was gut ist. Er tanzt ein Stückchen von mir entfernt und sieht mich erwartungsvoll an. Was soll ich machen, äh? Irgendetwas anscheinend. Stimmt ja, ich bin der Aufreißer-Top! Ran an den Speck, nicht wahr? Nicht, dass der Süße davon zu viel auf den Rippen hätte.

Ich grinse ihn also an und mache einen Schritt auf ihn zu. Er weicht nicht zurück, sondern zeigt mir freudig seine weißen Zähne. Dann kommt er mir entgegen, plötzlich habe ich ihn am Leibe, krass! Sein Bein drängt sich in Nullkommanichts zwischen meine Schenkel, dass ich gar nicht so schnell keuchen kann, wie mein Körper Jippie! schreit. Das hier ist definitiv kein Konrad, der kommt ziemlich auf den Punkt. Und er riecht gut und fühlt sich gut an und… Rest = scheißegal! So, genau so! Nicht wahr, Pauli? Tut doch echt gut.

»Du bist so heiß, ich könnte dich ablecken und fressen!«, gurrt er in mein Ohr. »Interesse?«

Wie, was, er ist ein Kannibale? Ach nein, Quatsch, das meint er, ich Hirni! Eine Gänsehaut spaziert über mich. Ich habe das Gefühl, Achterbahn zu fahren, es geht voran, aussteigen ist unmöglich, es gibt nichts anderes außer dieses irre Gepolter. Nur eine komplette Memme würde jetzt nach der Notbremse kreischen. Die bin ich aber nicht! »Aber sicher!«, gebe ich mich souverän.

Er lacht und zwinkert mir zu. »Komm!«, fordert er und greift nach meinem Arm. Ich folge festen Schrittes. Ich mach das jetzt. Basta. Egal, egal, egal! Ich habe gar keine Angst, stattdessen spüre ich den Stolz derer, die es geschafft haben. Es bedeutet doch nichts – außer Spaß eben, Aufregung und Sex! Das hier ist ein Club, es ist Samstagnacht, also auf geht's!

Ich bekomme gar nicht richtig mit, wie wir die Tür zum Darkroom passieren. Ich höre das Ächzen, das Stöhnen und Grunzen, hier geht's nur darum. Endlich mal! Das hier ist leicht, ganz anders als der Rest der Welt.

Er drückt mich gegen eine Wand ein Stücken weiter drinnen, nicht in eine der Nischen wie die, in der ich mit Gideon war. Sicher ist es hier dunkel, wie der Name schon sagt, aber auch nicht zappenduster. Sobald sich die Augen gewöhnen, erkennt man schon was. Aktuell starre ich nach unten. Seine Hand – keine Ahnung, wie er heißt – massiert meinen Schritt, er sagt: »Na, geil!« Damit meint er wohl meine Kronjuwelen. Vielen Dank, das hört man gern. Und dann ist er weg. Natürlich nicht wirklich weg, sondern vor mir auf den Knien und öffnet im Affenzahn meinen Hosenstall. Ehe ich piep sagen kann, hat er mir schon ein Kondom übergestreift, das irgendwo vom Himmel gefallen sein muss. Mein Kopf kippt in den Nacken, als seine Zunge heiß und echt über mich leckt, dort, wo ich besonders empfindlich bin. Es ist einfach so ein irres Gefühl und wie er da vor mir kniet und… uahhhh! Mein Herz rast, ich bin völlig benebelt. Es ist fast wie ein durchgedrehter Traum, aber ich bin wach! So gut… das fühlt sich so gut an… Mir ist gerade alles total schnuppe, Hauptsache er macht weiter. Und das macht er, kann das richtig gut, Himmel… Er saugt an mir, es ist so unfassbar heiß, seine Finger kneten meine Hoden und ich fliege. Scheiße, ist das geil! Scheiße, bin ich geil!

Mit der freien Hand besorgt er es sich selbst, es scheint ihn total anzumachen, was er da mit mir tut. Sehe ich genauso! Darum geht es hier doch, allen anderen geht es doch genauso, das hier ist der Ort, wo nur dieses Gefühl zählt, einfach nur dieses Gefühl, das nur Ich! Ich! Ich! kennt. Ich bin so megascharf! Ich will es, brauche es, gib es mir, gib's mir! Ich will kommen, fühlen, wie es aus mir schießt! Ich will! Will! Will!

Genau das passiert dann auch. Kurz bin ich einfach weg. Mein Körper verselbstständigt sich und schenkt mir ein paar endlose Herzschläge lang diese absolute Ekstase, während Bilder vor meinem inneren Auge zucken, gegen die ein Porno harmlos ist. Finde ich. Dann bin ich wieder da, schwer atmend, verschwitzt, und der Raum setzt sich wieder zusammen. Der andere steht wieder vor mir und drückt mir ein Papiertuch in die Hand.

»Wow!«, keuche ich.

»War mir ein Vergnügen«, erwidert er. »Man sieht sich!«

Weg ist er. Dieses Mal bedeutet weg auch wirklich weg. Das war's. Ganz einfach. Kein blödes Gelabere. Ich muss mir kein süßes, nicht schlampiges Kleid kaufen, da hat Vanessa verdammt recht. Ich muss auch keinen auf Pseudo-Beziehung machen! Genau. Obwohl… von vielem habe ich ja leider in der Praxis keine Ahnung. Es wäre taktisch wahrscheinlich wirklich nicht so schlau, das hier sofort in die Tat umsetzen zu wollen. Aber zu Übungszwecken ist der Darkroom doch auch nicht so schlecht? Anschauungsunterricht?

Ich spähe zur Seite, mich mit der rechten Hand versonnen abputzend.

Ich bin echt so was von verflucht! Ein Teil von mir möchte sich die Haare raufen, der andere Teil auf Käfergröße schrumpfen und durch das nächstgelegene Loch in der Wand abhauen. Es sind hunderte Männer im Club und auch nicht wenige davon hier im Darkroom. Und wen sehe ich in flagranti? Genau. Ich ergänze: Nicht nur Napoleon ist ein Arschloch, mein Schicksal ist es auch. So ungefähr dürfte sich Ersterer bei Waterloo gefühlt haben. Angefangen voller Überzeugung, der Allergrößte zu sein, und dann tierisch verloren.

Pauli krallt sich vornübergebeugt an eine in die Wand eingelassene Stange, die garantiert nicht für Ballettübungen hier montiert wurde. Seine Hose hängt ihm um die Knöchel, der Riesentyp von vorhin fickt ihn wie ein Irrer. Anders lässt es sich leider nicht beschreiben. Bevor ich noch mehr Details registrieren kann, reiße ich meinen Kopf herum.

Scheiße…

Ich habe das Gefühl, dass mir jemand eins mit einer Keule vor die Stirn verpasst hat. Eben war alles noch so leicht gewesen und jetzt… Ich weiß auch nicht. Jetzt ist alles total beschissen. Ich will das nicht gesehen haben! Habe ich aber. Hören tue ich es noch immer, jetzt ist es aber keine anonyme Geräuschkulisse mehr. Jetzt ist das Paulis Stimme. Und sie sagt nicht »Moin, Ludwig! Kaffee?« oder »Hast du Chemie verstanden?« oder »Ich bin dein Freund!« Nein, ganz und gar nicht, sie summt und brummt, wie sie es immer tut, aber in einem völlig anderen Tonfall und Rhythmus und feuert diesen dämlichen, grunzenden Halbaffen an, der in ihm steckt. Ich glaube, mein Herz ist einfach stehen geblieben. Ich bin tot. Mausetot.

Trotzdem renne ich plötzlich los wie Störtebeker ohne Kopf. Raus! Nichts wie raus hier! Hoffentlich hat er mich nicht bemerkt. Er ist ja beschäftigt. Seine Augen waren geschlossen. Ich breche mir fast das Genick, als ich durch die Lounge stolpere, aber das muss mich jetzt ja nicht mehr interessieren. Man kann ja nicht zwei Mal sterben.

Mir ist ganz, ganz komisch zumute. Was soll das? Ich weiß doch schließlich, was Pauli hier treibt! Es so im Detail zu sehen, ist anscheinend etwas ganz anderes. Oh, Scheiße, Scheiße, Scheiße! Was regt mich das bloß so auf? Hilfe! Ich will den Kerl umbringen! Nein, nicht Pauli, sondern dieses Monster, das ihn da bearbeitet hat! Ich weiß doch, dass der da eigentlich absolut nichts für kann, aber das ist mir gerade so egal! Ich lasse mich in einen Sessel in der hintersten Ecke der Lounge fallen, der mir plötzlich vorkommt wie eine rettende Insel. Ich muss mich setzen, mich wieder einbekommen!

Ich spüre, wie meine Hände zittern. Habe ich jetzt auch noch Parkinson? Bitte nicht! Mir ist so kalt und übel, mir Jammergestalt. Der coole Aufreißer-Ludwig erscheint mir plötzlich wie eine Fantasygestalt aus einer ganz anderen Geschichte, die garantiert nicht meine ist. Das ist doch Blödsinn! Vorhin war doch alles ganz toll und locker und… egal.

Aber es ist nicht egal! Irgendetwas ist hier nicht egal! Das sollte doch auch egal sein, ist es aber nicht, es lacht dem »egal« frech ins Gesicht und hängt an mir wie ein blutsaugender Ekelparasit aus den Tiefen des Amazonasdelta! Aua! Heule ich? Nein, ich heule nicht, das ist nur die Zugluft, die brennt in den Augen, dämliche Klimaanlage!

Was soll das nur? Warum drehe ich hier so durch? Das ist doch bloß sein… wie hieß der schlaue Begriff… ach ja: Autoaggressive Kompensationsdingsda, genau! Pauli macht sich selbst zur Minna wegen dieser Horrorsache mit seiner Mutter. Er sah jedoch nicht so aus, als litte er gerade Schmerzen, sondern… Kann er doch machen! Ist doch seine Sache! Ich fand das doch auch superklasse, als Blondschopf mir eben einen geblasen hat. Da war es aus mit dem blöden Denken, das kann Pauli garantiert auch gut gebrauchen. Einfach mal weg damit.

Dennoch ist irgendetwas mit mir. Vielleicht bin ich krank? Ich habe mich erschrocken und jetzt erleide ich gerade einen verfrühten Schlaganfall? Vielleicht habe ich von Geburt an einen bisher unentdeckten Herzfehler, der mich gerade um die Ecke zu bringen droht? Das würde zumindest erklären, warum es gerade da so wehtut.

Ich halte mir die Brust. Es ziept da drin. Ich will nicht sterben! Kann mal wer diese Drecks-Musik ausmachen, die nervt mich gerade total! Ich taste nach meinem Puls und konzentriere mich. Er geht schnell, aber regelmäßig. Puh! Dennoch geht es mir gerade gar nicht gut. Ich will hier weg, nichts wie weg!

Gesagt, getan.

Draußen regnet es in Strömen. Ich fühle mich wie der letzte Trottel, während ich auch noch nass werde. Warum bin ich jetzt ein Trottel? Kann mir das mal einer erklären? Wahrscheinlich nicht, es macht null Sinn. Ich meine, er ist ja immer noch Pauli, den der Primatenanteil meines Hirns nun mal klasse findet. Der hatte gerade Auslauf – und dann bekomme ich Pauli in Aktion verpasst, das war wahrscheinlich der Overkill? Da war der Schild sozusagen gerade runter? Eigentlich war ich in dem Augenblick selbst bedient. Offensichtlich nicht so ausreichend, als dass mich dieser Anblick kaltgelassen hätte. Mist, elender Mist. Wie kann ich nur, ich Vollidiot! Ich bin ein Scheiß-Freund!

Ich lege eine Vollbremsung hin. McDonald’s! Ich brauche einen Burger! Oder auch fünf davon! Ich stelle mich in die Schlange. Es ist rammelvoll. Ob ich hier stumpf rumstehe oder woanders, ist doch egal. Woanders gibt es bloß keine Cheeseburger. Irgendwelche kreischigen Tussis vor mir bestellen sich Salat und Diätcola. Leute, das hier ist McDonald’s! Geht woanders rumhungern! Ich nehme zwei Cheeseburger, zwei Hamburger und eine große Pommes, das muss ich mir jetzt gönnen, schnappe mir meine Tüte und laufe zur Bahn. Was sind die alle so gut gelaunt hier? Arschlöcher! Geht doch feiern und saufen und rumficken, mir doch egal! Habt ihr sonst keine Hobbys? Ich weiß, dass ich fies bin. Auch fies kann mich mal! Ich stopfe mir im Laufen einen der Hamburger rein. Lecker! Lecker! Mjamm!

Ich schaffe es, auf den letzten Drücker in die Bahn zu springen. Dann sitze ich da, sehe mein Spiegelbild in der Scheibe und füttere es mit Cheeseburgern. Ich baue mir Vampirzähne aus Pommes und bewundere das Ergebnis im Glas. Wahrscheinlich halten mich die anderen Leute im Waggon für einen Irren und damit haben sie vermutlich auch recht. Meine linke Hirnhälfte ist ein Schwamm.

Das wird echt nie was mit mir. Ich bin unfähig. Totaler Loser. Ich kann das nicht. Nicht wirklich. Selbst wenn ich es mal für drei Minuten hinbekomme, kommt dann garantiert Pauli an und ruiniert es mir.

Es ist aber leider nicht mal Paulis Schuld, sondern meine eigene, weil ich es mir so leicht von ihm versauen lasse. Ein bisschen mehr Rückgrat, ein bisschen mehr Coolness, ein bisschen mehr Biss, dann könnte Pauli auch nichts anrichten. Habe ich aber nicht. Ich bin nur ein Vorortstyp mit phasenweise Größenwahn. Ich bin kein Prinz. Nicht mal ein verzauberter. Ich bin lediglich ein Frosch.

Die Bahn hält, ich schleppe mich hinüber zur Bushaltestelle. Hinter mir kann ich schnelle Schritte hören, die sich rasch nähern. Oh bitte, nicht auch noch das!

Selbstverständlich erhört keiner meine Gebete. »Hey, ras doch nicht so! Wie soll ein normaler Mensch da hinterherkommen?«, ruft Pauli laut. Kurz bin ich versucht, wirklich davonzurennen. Das wäre endgültig erbärmlich. Ich muss der Sache nicht noch die Krone aufsetzen.

Schicksalsergeben bleibe ich stehen, sodass er aufschließen kann. »Puh!«, sagt er und lächelt freudig. »Habe dich in der Bahn gar nicht gesehen?«

»Ich war ganz vorne drin«, murmele ich.

»Aha. Ich war hinten. Äh, dir hängt da Soße am Kinn?«, weist er mich hin.

Ich wische halbherzig mit der Hand darüber. »Habe ‘n Burger gegessen«, nuschele ich.

»Sieht eher so aus, als sei's andersherum gewesen. Was ist denn los? Du guckst so komisch?«, wundert er sich. Sieh an, im Gefühle verschleiern bin ich offensichtlich auch eine Niete.

Ich zucke hilflos mit den Schultern. »Ist nicht so mein Tag heute«, erwidere ich lediglich.

»Oh, Mist!«, bemitleidet er mich. »Dabei habe ich dich doch vorhin mit Jannes gesehen? Ihr wart ganz schön auf Tuchfühlung.«

Jannes heißt der Blonde also. Ganz ehrlich: Interessiert mich gerade gar nicht. Aber wenn Pauli so doof fragt, dann hat er mich im Darkroom nicht bemerkt. Uff!

»Macht es dir was aus, das nicht auszudiskutieren?«, frage ich bissiger als ich wollte, während wir die S-Bahn-Treppe hinabmarschieren. Der Bus steht schon da, wir sehen zu, schleunigst einzusteigen.

»Sicher. Wie du willst«, gibt er ganz den tollen, verständnisvollen Freund. Ich bin ihm dankbar – und ich könnte ihn würgen dafür! Stattdessen pflanze ich mich neben ihn und glotze auf eine im Bus angebrachte Reklametafel, die für eine Fernuniversität wirbt. Normalsein für Amöbenhirne haben sie leider nicht im Angebot, das könnten wir beide aktuell ganz gut vertragen.

Er riecht nach seinem Heini und nach Sex. Ich wahrscheinlich auch. Ich will duschen. Und dann schiebe ich Pauli unter die Brause oder noch besser: Spritze ihn mit diesem Wasserdruck-Ding ab, das Papa mal für die Gehwegplatten vor dem Haus ausgeliehen hatte und mit dem man auch Elefanten putzen kann. Ich vermute, da würde Pauli nicht mitspielen.

»Echt alles in Ordnung mit dir?«, fragt Pauli besorgt. »Du siehst irgendwie krank aus? Hast du dich bei Jasmin angesteckt?«

Schön wär's. »Nee«, erwidere ich schwächlich. »Bin nur gerade ein bisschen down. Bitte…«

»Ich halte schon den Schnabel! Wenn was ist, dann bin ich da, weiß du doch? Komm her!«, sagt er, schlingt mir einen Arm um die Schultern und drückt mich. Super, jetzt bin ich auch noch schizophren! Ich will, dass er mich knuddelt, und ich will, dass er mir vom Leibe bleibt und einfach abhaut.

Das hier ist mit Abstand der kränkste Tag in meinem Leben.

Ich linse hinab, Pauli hat den Kopf an meine Schulter gelehnt, seine Augen sind geschlossen und er lächelt glücklich. Das tut meinen Organen auch nicht gut, jetzt tut mir der Bauch weh. Toll, Abwechslung!

Trotzdem bewegt sich mein Arm, ohne dass ich das gewollt hätte, und drückt ihn jetzt auch.

»Was auch immer heute Abend war, Ludwig, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist: Du bist der Beste!«, preist er mich.

Ich sterbe schon wieder. Das geht offensichtlich doch in Serie. Ich bin ein medizinisches Wunder.

 

***

 

Am Sonntag komme ich erst dadurch aus den Federn, dass Mama mir Chrissi auf den Hals hetzt, die Bettenhopsen auf meinem Bett spielt – und auf mir. Autsch.

Meine miese Laune hat noch eine ganz andere Qualität als sonst. Es ist nicht nur die Morgenmuffeligkeit, ich bin echt total ätzend drauf.

Alles, was ich hinkriege, ist, den Mund zu halten, während wir Opa besuchen und dann beim Italiener essen gehen. Auch eine Pizza verbessert meinen Gemütszustand nicht. Ich sollte mich echt nicht so anstellen. Es ist ja nicht so, als sei wirklich etwas Schlimmes geschehen. Das ist wohl sehr relativ. Eigentlich weiß ich auch gar nicht, was da überhaupt passiert ist. Eines kapiere ich jetzt langsam: Pauli muss mit diesem Frustficken aufhören! Jawohl! Nicht nur, weil es besser für ihn wäre, sondern vor allem, weil es besser für mich ist. Da bin ich echt ein Egoist. Nach dem Anblick gestern hat es mir alles verhagelt. Ich habe gar keinen Bock mehr darauf, ins Sweet Dreams zu rennen und einen auf Superstecher zu machen. Mein großartiger Plan kommt mir plötzlich wie eine dämliche Kinderei vor. Wahrscheinlich sollte ich lieber zu Opa ziehen, da gehöre ich vermutlich viel eher hin. Die können mich gerade alle mal, diese ganzen Disco-Huschen! Ich bin frühvergreist, toll. Das kann es doch wohl auch nicht sein! Nein, alles wäre in Ordnung, wenn Paul etwas normaler wäre. Das will er schließlich selbst, oder?

Ich als sein Freund werde ihm da wohl helfen müssen. Genau!

Sicher, ich bin kein Psycho-Klempner, aber es gibt auch andere Methoden als Dauergelaber.

Zieh dich warm an, Paul Preußler, jetzt wirst du zwangskuriert, bevor ich hier noch irre werde. Noch mal gehe ich deinetwegen nicht drauf.


 

Kapitel 25

 

Ludwig Bond

 

 

Während der Woche erhole ich mich so leidlich, vor allen Dingen, weil mich das Pläneschmieden aufrechthält. Pauli ahnt nichts. Er trötet, klimpert, kutschiert mich mit dem Smartie durch die Gegend, winkt mir vor dem Schlafengehen zu, lässt mich die Musikhausaufgaben abschreiben und ist bester Laune. Als Chrissi ihm sagt, wie gern sie sein Gehämmere mag, zeigt er ihr sogar ein paar Töne auf dem Klavier. Jetzt nervt sie rum, dass sie auch eines wolle und Unterricht. Bloß nicht! Ansonsten ist für mich bei aller Liebe der Zeitpunkt gekommen auszuziehen. Paulis Geschalle mag zwar ständig laufen, aber es ist immer noch im Nachbarhaus, und er kann spielen – Chrissi hingegen wäre hier drin und wahnwitzig viel musikalischer als ich ist sie auch nicht. Auf einmal will sie dann auch noch Geige lernen. Oder so ein quäkiges Blasinstrument! Jagdhorn zum Beispiel. Schon allein bei der Vorstellung ertaube ich prophylaktisch.

Die Lohmeiers sind nicht für die Musik gemacht, das sollte sie besser zeitig akzeptieren, bevor noch jemand zu Schaden kommt.

Die Woche hat keine besonderen Highlights zu bieten, wenn man mal von Herrn Berger absieht. Ich muss sagen, der hat echt den falschen Beruf ergriffen. Wie soll man denn bitte schön kreativ sein, wenn man ihn die ganze Zeit anschmachten muss? Vanessa labert derweil ohne Punkt und Komma vom langen Lars und ihrem irre romantischen Date inklusive Schnulze im Kino und Spaziergang an der Alster. Armer langer Lars. Vielleicht gefällt ihm das tatsächlich? Rätsel des Universums, dessen Lösung mich nicht interessiert. Janina leugnet weiterhin brav, dass sie Nathan wirklich so gut findet, wie er gerne hätte. Ich durchschaue das als ihr alter Freund natürlich sofort.

Jasmins Erkältung entpuppt sich als handfeste Grippe, Jaro wird wegen Kaugummikauerei von Frau Rainke fast einen Kopf kürzer gemacht, Manuel bekommt eine Heulattacke wegen einer Vier in Englisch und Leon bricht sich den kleinen Zeh, als ihm ein Sextaner drauftritt. Mit Absicht. Kleiner Scheißer. Hauke schaut Pauli und mich nicht mal mit dem Arsch an, offensichtlich ist er von der Heul- in die Trotzphase übergegangen. Gut so, oder? Dann hat er es hoffentlich bald verknust und kann sich was Besseres für seine Begehrlichkeiten suchen.

Während also die Routine läuft, gehe ich undercover. Sozusagen. Weniger schmeichelhaft formuliert könnte man sagen, dass ich meinen armen, arglosen Freund Paul nach Strich und Faden ausspioniere. Kaum ist er während unserer Hausaufgabensessions mal aus dem Zimmer, aufs Klo oder Kaffeekochen, kommt Ludwig Bond zum Einsatz. Ich durchforste seine Regale, filze seinen MP3-Player, stöbere in den Zeitschriften und Büchern auf seinem Nachttisch und sehe mir den Verlauf seiner Internetverbindungen an. In einigen Belangen ist das sehr aufschlussreich für mein Unterfangen, in anderen etwas irritierend oder gar ziemlich kontraproduktiv. Offensichtlich nutzt da noch jemand die Wunder der modernen Technik für Druckabbau, wenn gerade kein Darkroom zur Verfügung steht. Da muss ich selbst besser ruhig sein. Außerdem ist gucken nicht machen, wer wüsste das besser als ich? Pauli war so weise, seinen Computertisch so hinzustellen, dass ich ihn von drüben nicht sehen kann. Soll er ruhig, aber das, was mich hier interessiert, ist etwas ganz anderes.

Abends sitze ich dann daheim, recherchiere, grübele, dann hab ich's, zumindest für diese Woche. Freitag ist kein Problem, da sind wir mit der Clique bei Jaro verabredet und Pauli ist ja scharf aufs Socializing, sodass er natürlich zugesagt hat. Der Samstag, der ist das kritische Terrain. Es ist noch nicht perfekt, was ich da ausgeheckt habe, dennoch ist es ist ein Anfang. Danach heißt es: Wachsam sein! Ihn immer schön bei der Stange halten!

Am Donnerstagabend schneie ich bei ihm herein und ziehe eine gequälte Grimasse. Da muss ich nicht mal sonderlich für schauspielern, denn das, was ich ihm und mir anzutun gedenke, hat durchaus diesen Effekt auf mich.

»Was ist denn los?«, fragt er mich, während ich mich noch aus meinen Sneakers quäle, um den Preußlers nicht das Heim mit Vorgartenmatsch einzusauen.

»Das hier!«, stöhne ich und drücke ihm meinen am Nachmittag erworbenen Köder in die Hand.

Er mustert perplex die beiden Zettel, dann strahlt er plötzlich. »Nein, wie geil! Wo hast du die denn her?«, beißt er brav an.

»Meine Tante Irene. Papa hat ihr erzählt, dass ich so mies in Musik bin, da hat sie die Dinger geschickt, damit ich gefälligst was lerne. An einem Samstagabend! Ich kotze jetzt schon!«, jammere ich. Das ist zu neunzig Prozent gelogen. Ich habe eine Tante namens Irene, Papas kleine Schwester, das stimmt, der Rest nicht. Meine Musiknote ist ihr piepsegal, danach muss ich sie nicht mal fragen. Das weiß Pauli ja nicht und dass das rauskommt, ist ziemlich unwahrscheinlich, hoffe ich. Warum auch sollte er misstrauisch nachfragen? Außerdem scheint er sowieso gerade gar nicht richtig hinzuhören. Er studiert die Eintrittskarten mit leuchtenden Augen und brabbelt irgendwelches ekstatisches Zeug.

»Ich muss da ja hin, sonst wird sie sauer«, muffele ich. »Willst du vielleicht mitkommen? Dann hat wenigstens einer was davon?«

»Samstag…?«, zögert er kurz, dann schaltet er um: »Egal! Ja! Klar! Super!«

Wenn er das so super findet, könnte er das doch auch einfach mal von sich selbst aus machen, statt sein dämliches Programm abzuziehen. Diese Erleuchtung kommt hoffentlich noch.

Er hat rote Flecken auf den Wangen vor Aufregung, dieser durchgedrehte Kerl. »Wagner!«, jubiliert er. »Und das in dieser Inszenierung! Mit Blablubschlu und Fifafo in der Inszenierung von Lalala! Und…«

So geht es noch weiter, er schmeißt mit irgendwelchen Namen um sich, die für mich nur Kauderwelsch sind, obwohl ich sie in meinem Spionageblock notiert habe, um gemäß meiner Recherche was Passendes zu finden. In meinem Hirn werden sie sich trotzdem wahrscheinlich nie auf Dauer verankern.

»Na, dann bügel schon mal den Frack«, empfehle ich ihm säuerlich.

»Ludwig!«, kichert er. »Warst du schon mal in der Oper?«

»Nee«, gestehe ich. Ich hatte auch gedacht, das lebenslang vermeiden zu können. So kann man sich irren.

»Schick sollte man sich schon machen, aber man muss auch nicht rumrennen wie James Bond«, klärt er mich auf.

Ich hoffe, er bemerkt nicht, wie ich ertappt zusammenzucke. Tut er nicht, er starrt schon wieder die Karten an. Gleich tanzt er vor Begeisterung, viel kann nicht mehr fehlen. »Cool! Cool! Cool!«, singsangt er, dann breitet er die Arme aus und drückt mich. Irgendwie scheint er auf den Geschmack gekommen zu sein in letzter Zeit. Vielleicht hat Bär ihn ja inspiriert, der versteht viel davon. Er löst sich wieder von mir, grinst, dann hopst er tatsächlich beschwingt herum. Ich hatte ja darauf spekuliert, dass er das toll finden würde. Mit so viel Begeisterung hatte ich auch nicht gerechnet. Ist schon witzig, die Opernkarten waren mit Schülerrabatt billiger als solche fürs Kino. Dank meiner mich ab und zu in den Schlaf treibenden Nachforschungen weiß ich jetzt auch, dass das daran liegt, dass die Dinger hochsubventioniert sind, damit die Jugend schon früh ihren Hang zur hohen Kunst entdecken möge. Ich zweifle an dem Konzept, trotzdem danke für den Dumpingpreis.

»Lass uns Mathe machen«, fordert er, »dann haben wir es hinter uns. Götterdämmerung! Geil!«

Wie man's nimmt.

 

***

 

So stehen wir jetzt da, direkt vor der Hamburger Staatsoper. Der Kasten ist für mein Empfinden von außen besehen potthässlich, aber Hamburg ist auch nicht Mailand. Um uns herum wuselt die aufgemotzte Menge. Wir sind nicht die Einzigen unter achtzig hier, stelle ich verblüfft fest. Es scheinen sich doch wirklich auch jüngere Leute für das Gekreische begeistern zu können. Vielleicht wollen die nur schlau wirken, obwohl sie lieber Star Wars 3D gucken würden? Oder sie konnten sich nur die Kinokarten nicht leisten.

Mamilein und Papa waren so perplex wie entzückt, als ich ihnen gesagt habe, dass ich mit Pauli »für Musik« in die Oper gehen würde. Das ist ja auch nicht komplett geflunkert, es geht schließlich um Musik. Ich wurde in ein Sakko gestopft, das ich für Cousine Laras Konfirmation vor einem Dreivierteljahr verpasst bekommen habe und das so eng sitzt, dass ich auf Niesen, Gähnen oder Husten verzichten sollte. Atmen geht gerade noch so. Papa hat mir sogar einen seiner wenigen Schlipse geliehen und umgeknotet. Ich fühle mich etwas verkleidet.

Pauli trägt eine legere Cordkombination in Dunkelblau. Wenn er jetzt noch eine Fliege trüge, könnte ich Geld kassieren von jeder Oma, die ein Foto mit diesem süßen Fratz haben möchte. Der süße Fratz stürzt sich, kaum sind wir im Foyer, auf den Stand mit den Programmheften, kauft sich eins und beginnt sofort wild darin herumzublättern und mir komische Dinge zu referieren. Ich tue so, als würde ich sie irgendwie verstehen und nicke immer dann, wenn er eine bedeutungsschwangere Pause einlegt. Ihm dürfte eigentlich klar sein, dass ich nur Bahnhof verstehe. Das bremst ihn nicht. Irgendwann gongt es und wir sehen zu, die Treppen zum vierten Rang hochzuflitzen. Hier oben sind wirklich eher jüngere Leute, viele Studenten nehme ich an, wahrscheinlich wegen der Preise und weil sonst niemand ohne Herzkasper bis hier oben kommt. Mir wird leicht schwindelig, als ich in den riesigen Saal hinabstarre. Wenn's zu schlimm wird, kann ich mich notfalls runterstürzen.

Und es wird schlimm. So viel Musik habe ich noch nie in meinem Leben abbekommen. Ist das laut und die haben noch nicht mal ein Mikro! Die singen total krankes Zeug! Immerhin ist das Bühnenbild toll, das hält mich aufrecht. Pauli im Sitz neben mir zuckt genauso wild wie ich, allerdings aus anderen Gründen. Als eine der Frauen eine gefühlte Sonnenumrundung lang irgendetwas kreischt, heult er sogar, so hingerissen ist er. Ich reiche ihm diskret ein Taschentuch, in das er geräuschvoll rotzt. Irgendwann wird es wieder hell. Ich habe ein Quietschen im Ohr und ein Dröhnen im Kopf.

»Wundervoll!«, keucht Pauli. Er hängt schlaff in seinem Sitz.

»Folter!«, hauche ich so leise, dass er mich nicht verstehen kann, und tue mein Bestes zu lächeln. Ich hab's ja überstanden.

»Dann lass uns fix einen Sekt trinken gehen«, sagt er und rafft sich auf, »bevor es weitergeht.«

Ich erstarre. Dann blicke ich auf die Uhr. Es ist halb zehn und immer noch dasselbe Datum. Das ist unmöglich! Mir wird schlecht. Ich weiß ja, wie lange die Aufführung dauert, das stand im Internet, und habe mir dafür gratuliert, weil die späte Stunde Pauli vielleicht bremsen würde. Da war mir noch nicht klar, was das live und in Farbe bedeutet. Ich habe gerade mal ein knappes Drittel hinter mir. Ach, du Scheiße!

Ich komme auf die Beine und hetze an Pauli vorbei. Er schließt auf, sodass wir vor der Masse am Getränkestand stehen. Es gibt kein Bier. Scheiß-Service.

Ich überschlage kurz die Finanzen. Das ist es mir wert, ich brauche diesen Monat sowieso keinen neuen Fummel mehr. »Drei Sekt!«, ordere ich.

Pauli starrt mich entgeistert an, als ich ihm sein Glas reiche. »Ludwig, hast du das Zählen verlernt?«, wundert er sich.

»Nein«, stöhne ich. »Das hier treibt mich etwas in den Suff.«

»Kotz ja nicht von der Empore«, empfiehlt er breit grinsend und sieht dabei so aus, als würde er sich das gerade bildlich vorstellen.

»Von zwei Sekt doch nicht«, erwidere ich beleidigt, obwohl ich zugeben muss, dass dieses Spektakel mich echt an meine Grenzen treibt. Warum mache ich das noch mal? Das Bild von Pauli im Darkroom blinkt vor meinem inneren Auge auf. Ich straffe mich. Pauli geht heute in keinen Darkroom. Pauli hört sich brav diese Oberscheiße hier an und ist happy, genau!

»Na gut. Die nächste Runde geht dann auf mich. In der nächsten Pause«, hält er den Finger in die Wunde.

Es gibt noch eine Pause? Ade, Hoffnung auf ein Ende.

»Ach Ludwig, was ist denn mit dir? Gib der Sache doch eine Chance, es ist fantastisch! Die blabliblubbläblöplubblögagafff…«, schwafelt er.

»Ich gebe mir Mühe«, verspreche ich ihm kläglich, obwohl das ziemlich aussichtslos ist. Eines weiß ich bereits jetzt: Ich hasse Oper! Ich wusste es schon vorher, aber jetzt weiß ich's aus Erfahrung. Nächstes Mal muss ich mir was Besseres einfallen lassen, das stehe ich nicht noch mal durch. Verflucht sei Richard Wagner!

Und dieser rächt sich noch ordentlich an mir. Götterdämmerung von wegen – Hölle auf Erden ist der passende Titel! Ich will David Guetta, wenn ich mir schon was anhören muss. Wahrscheinlich weiß das Wagner und zeigt mir auch noch von jenseits des Grabes, was er von mir hält. Pauli ist dafür begeistert für zwei. Ich winde mich vor Schmerz, er vor Wonne. Stundenlang. Jahrelang. Kein Wunder, dass Hitler das mochte. Ich sollte in den Spiegel schauen, mein Haar ist garantiert nicht mehr grün, sondern schlohweiß.

Irgendwann nach Mitternacht ist es vorbei. Alle klatschen, Pauli tobt und jubelt. Lethargisch mache ich mit. Mir tun die Handflächen weh.

Auf dem Weg nach draußen zwitschert Pauli ohne Gnade in diesem Kauderwelsch rum und schließt: »Danke Ludwig, das war der beste Abend seit Ewigkeiten!«

Toll. Mission erfüllt, Agent tot. Oder fast tot. Oder wäre gern tot. Ich bin mir nicht sicher.

»Freut mich«, erwidere ich entkräftet.

Auf dem Weg zur Bahn späht er auf die Uhr. »Es ist schon fast eins. Lohnt wohl nicht mehr loszuziehen. In diesem Aufzug können wir uns kaum in der Szene blicken lassen, da lacht sich doch jeder krank und fragt sich, ob wir gerade von unserer eigenen Konfirmation kommen. Morgen ist ja auch noch ein Tag! Darf ich dich noch auf einen Schmerzens-Burger einladen?«, bietet er mir an.

Da sage ich nicht nein.

 

***

 

Ich bin froh, noch jung und bei Kräften zu sein, denn nach einer Nacht gesunden Schlafs in Bärs Armen habe ich mich von Wagner so halbwegs erholt. Nimm das, Richard!

Es sind keine Schlappheiten meinerseits erlaubt. Ich zupfe am Vorhang, sodass ich durch einen kleinen Spalt spähen kann. In Paulis Zimmer ist es noch dunkel. Ich warte wie ein Indianer auf der Pirsch – fast, denn denen schlafen garantiert nicht nach fünf Minuten die Beine ein. Verdammt! Zumindest ist Pauli so nett, mich zu erlösen, indem er die Nachttischlampe anmacht und zerwuselt aus dem Bett gekrochen kommt. Er gähnt ausgiebig und streckt sich nichtsahnend. Dann kratzt er sich an der Nase, da, wo die Sommersprossen sind. Ob die manchmal jucken? Keine Ahnung, vielleicht frage ich ihn mal.

Frohgemut marschiert er ins Bad. Ich flitze auch los, ziehe mir rasch was über, schaufele hektisch das Frühstück in mich rein, preise den tollen Opernbesuch, dann bin ich schon draußen. Das Wetter spielt mit, das hatte ich nach den Vorhersagen bereits mit einkalkuliert. Ich renne kurz in die Garage, dann bin ich schon auf der Straße. Skateboard, oh yeah! Eine Zeitlang bin ich völlig besessen von diesem Teil gewesen, bin überall damit hin, habe mir Blessur über Blessur geholt, während ich Tricks geübt habe, und kam mir obercool vor. Das ist nicht mehr so ganz der Fall. Spaß bringt es dennoch. Mir wurst, wenn alle denken, dass ich eine infantile Phase habe, Hauptsache ich habe ein Auge auf das Haus der Preußlers. Pauli geht mir nicht durch die Lappen!

Es dauert auch nicht lange, dann hat Pauli mitbekommen, dass hier etwas vor sich geht. Bewaffnet mit zwei Kaffeetassen kommt er herausspaziert.

Er grinst und pustet gegen den aufsteigenden Dampf, als wolle er Witterung geben. »Komm, Ludwig, Kaffee, putput!«, verarscht er mich.

Pauli-Kaffee ist der Beste. Es ist mir egal, ob er mich damit verscheißert, solange ich was davon kriege. Ich brettere heran und springe gekonnt ab, das Board mit der Hand fangend. Ich grapsche gierig nach der Tasse und er sagt: »Yo, Digga! Was geht?«

»Haha!«, erwidere ich unbeeindruckt und inhaliere das Getränk. »Nur kein falscher Neid.«

»Darauf? Garantiert nicht«, schaudert er.

»Ach was, gib der Sache eine Chance. Es ist doch so wundervoll!«, zitiere ich ihn böse.

»Ich? Nee, vergiss es. Ich mag meine Knochen und ich bin auch nicht mehr vierzehn«, schüttelt er sich.

»Hast du je auf einem Skateboard gestanden?«, frage ich.

»Niemals!«, erwidert er entrüstet, als hätte ich ihn gefragt, ob er in seiner Freizeit Hundebabys vergifte.

»Tja, das sieht man«, erwidere ich herablassend.

»Wie bitte?«, fragt er empört.

»Na ja, du bist wohl eben der schmächtige, unsportliche Typ. Es ist halt jeder anders. Macht ja nichts«, tröste ich ihn.

Er knirscht mit den Zähnen. »Allerdings!«, giftet er.

»Auch als Bewegungslegastheniker kommt man durchs Leben. Man verfettet zwar früh und bekommt dann einen Bandscheibenvorfall oder einen Herzkasper, weil man zu feige und zu faul ist, es trotzdem zu versuchen, aber das kann ja jeder selbst entscheiden«, flöte ich.

»Ludwig, du Arsch! Du willst mich nur auf dieses Mordinstrument kriegen!«, durchschaut er mich.

»Mann, Pauli. Sieh's locker! Ist doch nur Spaß! Macht nichts, wenn man nicht gut ist, ist eben eine Erfahrung. Nicht immer derselbe Kram«, rede ich auf ihn ein.

Er beäugt mich äußerst misstrauisch. »Ich will aber nicht hinfallen«, trotzt er.

»Ich fange dich auf. Ich habe auch noch Knie- und Ellenbogenschoner und 'nen Helm«, locke ich.

»Damit sieht man doch aus wie ein Idiot!«, protestiert er.

Ich ziehe die rechte Braue hoch. »Seit wann interessiert es dich so sehr, was andere denken?«, haue ich ihn in die Pfanne.

»Kacke, was läuft hier? Was soll das? Was hast du davon, wenn ich diesen Scheiß mitmache?«, eiert er herum.

»Ich bin doch dein Freund«, verkünde ich inbrünstig. »Ich will nur dein Leben bereichern.«

Er starrt mich an, dann, etwas feindselig, das Skateboard. »Na gut«, gibt er nach. »Ich muss verrückt geworden sein, aber meinetwegen. Mache ich mich eben zum Affen, was soll's. Wehe, ich tu mir was!«

Kurz habe ich die Vision von wochenlanger Ruhe, weil Pauli sich einen Finger gebrochen hat. Aber dann fängt er wahrscheinlich an zu singen, möglichst noch Wagner, bloß nicht!

»Super!«, lobe ich ihn. »Dann zieh dir mal was halbwegs Sportliches an, falls du das besitzen solltest. Ich hole die Schoner.«

Mit den leeren Tassen in den Händen trottet er zurück zum Haus und wirkt ein wenig so, als wisse er nicht, wie ihm gerade geschieht. Sehr gut!

Knapp zwei Stunden später muss ich mir eingestehen, dass es vielleicht gar keine doofe Idee ist, beruflich in Papas Fußstapfen zu treten. Pauli kullert friedlich neben mir her über den Schneewittchenweg. Der hysterische Gesichtsausdruck ist etwas geschwunden. »Super machst du das!«, lobe ich.

Er antwortet nicht, das kann er wahrscheinlich auch nicht, sonst fällt er doch wieder runter. Er ist echt ein Depp. Selbst den schaulustigen Nachbarskindern ist es irgendwann zu öde geworden, Pauli schon wieder kreischend auf mich fallen zu sehen, und sie haben sich verzogen. Es stimmt, er sieht bescheuert aus in seiner Montur. Das sage ich ihm lieber nicht. Ich bin sehr stolz auf uns, dass wir das so lange durchgehalten haben. Ein Meister der Halfpipe wird niemals aus ihm, doch vielleicht schafft er es mit ein bisschen Training, nicht mehr so eine totale Nullnummer beim Sport zu sein.

An der Grenze unserer beiden Häuser stoppe ich ihn und lasse ihn absteigen. Er torkelt ein wenig, dann lässt er sich auf den Kantstein fallen und kippt hintenüber auf den Boden.

»Aua!«, stößt er hervor.

Ich setze mich neben ihn. Er schnauft. Er ist klatschnass geschwitzt. »Geiles Feeling, nicht?«, grinse ich ihn zufrieden an.

»Ja, ganz toll. Wann kommt der Notarzt?«, keucht er.

»Ach was, du bist nur richtig ausgepowert«, nehme ich ihn nicht für voll.

»Na klasse. Ich sag dir eines: Mit mir geht heute gar nichts mehr. Sauna, ade, es sei denn, jemand fährt mich im Rollstuhl dahin. Herzlichen Dank!«, jammert er.

»Gern geschehen«, erwidere ich süßlich und meine es auch so. Wusste ich's doch, ein bisschen körperliche Ertüchtigung löst so manches Problem. »Lust auf The Big Bang Theory? Habe ich von Jasmin geliehen«, heitere ich ihn auf.

»Sofa!«, folgert er. »Sofa ist gut. Rest egal. Hauptsache Sofa!«

Ich helfe ihm auf. So ein Jammerlappen, aber gut für meine Mission.

Letztlich amüsiert er sich doch noch prima über die Serie.

Und bleibt brav daheim.