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Epikur zur Einführung

Carl-Friedrich Geyer

Epikur zur Einführung

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Junius Verlag GmbH

© 2000 by Junius Verlag GmbH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Inhalt

1. Einleitung

2. Herkunft, Voraussetzungen und Überlieferung

Zum historischen Hintergrund

Methodologische und inhaltliche Vorentscheidungen

Quellenlage, Textüberlieferung und Biografie

3. Physik – Meteorologie – Ethik. Die Lehrbriefe

Die Naturlehre

Die Lehre von den Himmelserscheinungen

Die Morallehre

Die Kyriai doxai (Hauptlehren)

4. Systematischer Ertrag

Die Götter Epikurs

Der Hedonismus Epikurs

Die epikureische Lebensform

5. Wirkungsgeschichtliche Perspektiven

Von Cicero zu Nietzsche – Stadien der Rezeptionsgeschichte

Im »Garten Epikurs« – Aufklärung und Naturalismus

6. Ausblick: Orientierung an Epikur? Perspektiven einer Ethik in der Postmoderne

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

1. Einleitung

Der »kepos«, die Schule Epikurs, schrieb ihrem Begründer, dem entschiedenen Leugner aller metaphysischen Gewissheiten und Unvergänglichkeiten, den wenig wahrscheinlichen Mahnsatz zu: »Handle so, als ob Epikur dir zusähe«, ein kategorischer Imperativ, der sich auch in seiner konjunktivischen Abschwächung nicht in das Schema epikureischer Skepsis einfügt.1 Die Vorbildfunktion wie die Vorstellung von einem latenten Gewissen, die dem Schulhaupt darin zugesprochen werden, zitieren nicht nur den Toten als Vorbild und Ideal der Lebenden, auch dies, wenn der Satz mehr als nur eine Metapher sein soll, eine Denkunmöglichkeit; sie binden Person und Werk in einer Weise zusammen, die dem, der das »lathe biosas« (Lebe im Verborgenen!) zur Maxime erhoben hat, nicht hätte recht sein können. Gleichwohl hat dieser konjunktivische Imperativ etwas Bestechendes. Das könnte daran liegen, dass trotz der programmatischen Selbstrücknahme Epikurs seine Person und das ihr zugeschriebene Werk doch in einer Weise aufeinander bezogen sind, wie es im Raum des antiken Schrifttums allenfalls noch für den platonischen Sokrates gilt, wenn auch mit der Einschränkung, dass Letzterer eine Kunstfigur ist, die in einem nicht näher wissbaren Maße von der historischen Person unterschieden ist. Der platonische Sokrates, der auf Märkten und Plätzen unterwegs ist und durch »missionarische« Aktivitäten auffällt, ist gerade wegen dieser Aktivitäten der genaue Antityp zu Epikur, der auf das Leben im Verborgenen setzt und sich durch ein solches Leben selbst verbergen will. Epikur ist in allem das Gegenteil eines Propagandisten. Dies macht es schwer, das, was jeweils für die Lehre Epikurs gehalten wird, zu tradieren, zu reformulieren und in situative Empfehlungen zu verwandeln. Die Zahl der missverständlichen und unbeholfenen Bezugnahmen belegt dies hinlänglich. Epikur selbst hätte sie vermutlich alle in den Bereich der »doxa«, der bloßen Meinung, verwiesen. – »Epikur hätte …«?

Auch dieser leichthin formulierte Einspruch bedient sich der konjunktivischen Mahnung, auf die schon der »kepos« nicht glaubte verzichten zu können und die nach allem, was wir von Epikur wissen, ein Selbstwiderspruch ist. Liegt das Bestechende an diesem kategorischen Konjunktiv nicht gerade darin, dass wir bei allem Wissen um seine Widersprüchlichkeit nicht auf ihn verzichten können? Und wenn es sich so verhält, aus welchen Gründen können wir nicht auf ihn verzichten? Noch die fragwürdigsten Bezugnahmen verraten eine Faszination, die offensichtlich weniger dem Werk gilt, dessen Überlieferung problematisch ist – wo sind die über vierzig Bücher, die Epikur angeblich geschrieben haben soll? –, als vielmehr der Person, wobei das Wenige, das wir von der Person wissen, offensichtlich das »Werk« autorisiert. Zu dem Wenigen, das wir zu wissen glauben, gehören Erzählungen wie die, dass sich Epikur mit Wasser und ein wenig Brot zufrieden gab und ihm vor allem an der Freiheit von körperlichen Beschwerden und Beunruhigungen der Seele gelegen war, oder das Selbstzeugnis Epikurs unmittelbar vor seinem Tod, wie es Diogenes Laertius2 mit dem Brief an Idomeneus überliefert: »Es ist der gepriesene Festtag und zugleich der letzte Tag meines Lebens, an dem ich diese Zeilen an euch schreibe. Harnzwang und Dysenterie haben sich bei mir eingestellt mit Schmerzen, die jedes erdenkliche Maß überschreiten. Als Gegengewicht gegen alles dies dient nur die freudige Erhebung der Seele bei der Erinnerung an die zwischen uns gepflogenen Gespräche. Du also sorge, entsprechend deiner von jung auf mir und der Philosophie entgegengebrachten herzlichen Gesinnung, für die Kinder des Metrodoros.« (DL X, 22 [232f.])

Man darf eine Wendung in diesem Brief, die leicht überlesen werden kann, verräterisch nennen, nämlich die Wendung: »die mir und der Philosophie entgegengebrachte Gesinnung«. Diese Formulierung lässt eine Identifikation ahnen, die aus Epikur eine singuläre Gestalt der Weltgeschichte zu machen geeignet ist. Sie verdeutlicht unmissverständlich, wie sehr die Person die Plausibilisierung des Programms ist und dass dieses Programm der Bestätigung durch die Lebensleistung bedarf. So erinnern die von Diogenes Laertius zusammengetragenen Selbstzeugnisse Epikurs bisweilen an christliche Heiligenviten, wobei auch die latente Frontstellung gegenüber dem platonischen Sokrates nicht übersehen werden darf. Beider Faszination resultiert daraus, dass sie sind, was sie lehren, vorausgesetzt, es gibt überhaupt so etwas wie eine tradierbare Lehre – denn auch bei Epikur ist ja, so widersprüchlich dies nach allem Gesagten klingen muss, von »dogmata«, von Lehrsätzen, die Rede. Die Lehre wäre dem zitierten Selbstzeugnis zufolge zwar nicht sekundär gegenüber der Person, erzielte umgekehrt aber ihre ganze und nachträgliche Bedeutsamkeit erst aus dem Fehlen der Person, wäre Substitution eines Ursprünglichen, des unmittelbar gelebten Lebens. In der Tat ist Epikur all das, was der »kepos« nach seinem Tode zu sein empfiehlt. Epikur ist derjenige, der diesseits allgemein gültiger Ordnungen und Gesetze durch sein einfaches Leben gut ist, der durch Gesundheit und geistig-seelische Ausgeglichenheit gleichmütig und frei erscheint, der Glückseligkeit, körperliches Wohlbefinden und vernunftgemäß gelebtes Leben zu einer Einheit verbindet, die er in seiner Person repräsentiert. So stehen Epikur und sein Bild in der Geschichte.

2. Herkunft, Voraussetzungen und Überlieferung

Zum historischen Hintergrund

Im Jahre 336 v. Chr. wurde Alexander König von Makedonien. Er setzte die Expansionspolitik seines Vaters Philipp II., der von 359 bis 336 v. Chr. den Nordosten Griechenlands regierte, fort. Seit dessen Herrschaft zog Makedonien, bis dahin eher rückständig und unbedeutend, an die Spitze der griechischen Stadtstaaten (poleis); eine der ersten Eroberungen Philipps waren die im Besitz Athens befindlichen thrakischen Goldminen. Ziel Philipps war die uneingeschränkte Herrschaft über Griechenland. Zwar suchten Athen und Theben sich ihm entgegenzustellen, wurden aber 338 v. Chr. in der Schlacht bei Cheironeia geschlagen. Der von Philipp 337 v. Chr. errichtete Korinthische Bund, eine Vereinigung der griechischen Stadtstaaten unter makedonischer Vorherrschaft, hatte nicht lange Bestand. Bereits 334 v. Chr. sah sich Alexander gezwungen, eine erneute Rebellion der Städte Griechenlands niederzuschlagen. Ihre Autonomie – das gilt auch für die athenische Demokratie – war teils ausgehöhlt, teils nur noch bloße Fiktion im Dienste der makedonischen Expansionspläne.

Nach der Niederschlagung der Rebellion der griechischen Städte brach Alexander nach Kleinasien auf und »befreite« die sich als griechisch verstehenden Städte Ioniens an der kleinasiatischen Westküste: Milet, Ephesus, Kolophon, Priene und Halikarnassos sowie die vorgelagerten Inseln, darunter Samos, die Heimat Epikurs. Diese Inseln waren seit alters von Griechen besiedelt. Mit den genannten ionischen Inselstädten bildeten sie – nicht zuletzt durch die aus den Handelsbeziehungen mit der gesamten damals bekannten Welt resultierende Brückenfunktion – den frühesten kulturellen Mittelpunkt Griechenlands und die Wiege der Philosophie. Thales von Milet, Pythagoras von Samos und Xenophanes von Kolophon sind hier ebenso zu nennen wie Heraklit von Ephesos und Anaximander, der ebenfalls aus Milet stammt. Die Orientierung an der Natur, die dieses frühe wissenschaftsförmige Denken charakterisiert, findet sich trotz der Abkehr des platonischen Sokrates von der Natur und seiner Hinwendung zur »polis« und zum Einzelnen auch noch bei Epikur. Gemessen an der Unterscheidung zwischen Vor- und Nachsokratik ist Epikur in gewisser Weise ein Vorsokratiker3, obwohl er chronologisch der nachsokratischen Periode zugeordnet werden muss.

Im Anschluss an die »Befreiung« der griechischen Städte Ioniens, die in die frühe Kindheit Epikurs fällt – er wurde 341 v. Chr. geboren –, besiegt Alexander im Jahre 333 v. Chr. Dareios III. und beginnt mit dem Zug ins Innere des persischen Reiches, der 331 v. Chr. siegreich beendet wird. Alexanders erbittertste Gegner bei diesem Feldzug sollen die griechischen Söldner im Dienste des persischen Heeres gewesen sein. Auf den Sieg über die Perser folgt ein weiterer Vorstoß nach Osten, der bis an den Indus führt. Im Jahre 324 v. Chr. kehrt Alexander nach Babylon zurück. Er stirbt dort im Alter von 32 Jahren. Alexanders Anspruch auf die legitime Nachfolge der persischen Könige musste zwangsläufig zu Spannungen mit den griechischen Stadtstaaten führen. Noch nach dem Tod Alexanders organisierte Demosthenes einen Aufstand gegen die makedonische, nunmehr »großpersische« Herrschaft, der blutig niedergeschlagen wurde. Das Jahr 321 v. Chr. gilt allgemein als das Ende der athenischen Demokratie.

Beim Tod Alexanders des Großen ist Epikur siebzehn Jahre alt. Diogenes Laertius, der in seinem Werk über Leben und Meinungen berühmter Philosophen, wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr. entstanden, Bausteine zu einer Biografie Epikurs überliefert, berichtet, Epikur sei im Alter von achtzehn Jahren nach Athen gekommen, nachdem er im Anschluss an die Vertreibung der Athener aus Samos zu seinem Vater nach Kolophon übergesiedelt sei. In Athen habe er zunächst in regem Austausch mit den Philosophen der verschiedensten Schulen gelebt, dann aber, wie Hermippos berichte, nach zufälliger Bekanntschaft mit den Schriften Demokrits eine eigene Schule gegründet. (Vgl. DL X, 2 [223]) Der Kauf des berühmten Gartens (kepos) fällt in die Zeit um 306 v. Chr.

Die Situation der Philosophie zu Beginn des hellenistischen Zeitalters spiegelt weithin die politische Großgemengelage wider. Für das klassische griechische Denken gilt eine Identität von »kosmos« und »polis«, wie sie vor allem aus den Werken von Platon und Aristoteles spricht. Die Bestimmung des Menschen als eines vernunftbegabten Lebewesens (logon echon) wird ergänzt durch die andere, der Mensch sei dasjenige Lebewesen, »das in einer Stadt lebt«4. Auch der platonische Kosmos ist unvollständig ohne die Vorstellung von einer auf den Kosmos bezogenen Polisordnung, an deren Spitze Platon den Philosophenkönig sieht. Es ist sicher kein Zufall, dass sich die entscheidenden Passagen zur Begründung der Ideenlehre, Kernstück der platonischen Philosophie, in der Politeia, einem staatsphilosophischen Text, finden. Die Idee der Gerechtigkeit beispielsweise erfährt ihre Konkretisierung in jenem Aufbau der »polis«, die in ihrem Anspruch auf Autonomie und Autarkie Spiegel des »kosmos« (wörtl.: die schöne Ordnung) ist. Ungeachtet der Differenzen zwischen Platon und Aristoteles, die aus verschiedenen systematischen Zugriffen resultieren, sind ihre kosmologischen Entwürfe von der Vorstellung geleitet, die Kosmologie habe nicht nur über Entstehen und Aufbau der Welt zu belehren, sondern halte auch Normierungen bereit, die sowohl das individuelle wie das gemeinschaftliche Leben zu leiten hätten. Entsprechend schließen beide von der historisch vorfindlichen Polisgesellschaft und ihren Ordnungen auf die Kosmosordnung an sich, wie sie umgekehrt in dem rational gegliederten und geordneten Ganzen des Kosmos jene Ordnungsschemata vorgebildet sehen, nach denen die Menschen ihr Leben einrichten sollen. Beide Entwürfe sind einer soziomorphen, d.h. einer an den gesellschaftlichen Verhältnissen orientierten Weltdeutung verpflichtet, deren dem Mythos entlehnte Maßstäbe durch den Rückgriff auf rationale Begründungsschemata zu unerschütterlichen Gewissheiten werden. Nur vor diesem Hintergrund war es Aristoteles beispielsweise möglich, den Menschen als einen »Mikrokosmos«5 zu bezeichnen.

Zur Zeit des Hellenismus ist die griechische Stadt, auch wenn sie hier und dort noch autark und autonom erscheinen mag, nicht mehr wirklich frei. Nicht nur die fremden Einflüsse haben zugenommen. Die Stadt selbst wird Teil eines größeren politischen Ganzen und zuletzt des Imperium Romanum.

Die politischen Umwälzungen führten langfristig zu einem völligen Umbau des Selbst- und Weltverständnisses des griechischen Menschen. Der erste Schritt dazu war die Erschütterung der überlieferten, im Mythos wurzelnden Religion. Wenn die Götter der Stadt nicht deren Untergang verhindern können, wird nicht nur der Glaube an die so genannten Lokalgottheiten zerstört. Vielmehr schwindet der Glaube an ein innerweltliches Handeln jenseitiger Mächte überhaupt. An die Stelle der Vorsehung (pronoia) tritt, wie gerade bei Epikur deutlich wird, die Auseinandersetzung mit dem Gedanken des Zufalls (tyche). Die idealistische Metaphysik der klassischen Autoren (die wahre Welt ist eine geistige, begründet in einem An-sich-Sein, den Ideen) wird mit materialistischen Erklärungsversuchen konfrontiert, wie zum Beispiel der Rückgriff Epikurs auf den Atomismus Demokrits sehr eindrücklich belegt. Auch die Stoa ist im Prinzip materialistisch, etwa in der Lehre vom »logos spermatikos« (dem letzten universalen Prinzip alles Entstehens und Vergehens), und darin ebenfalls Demokrit verpflichtet. Wenn die in einer unveränderlichen Kosmosordnung gründende Polisgemeinschaft keine verpflichtenden Handlungsschemata mehr vorgeben kann, liegt es nahe, dass die Individuen solche Konstanten in sich selbst suchen. Dadurch kommt ein individualistischer Zug in die neuen philosophischen Bewegungen der Stoa und des Epikureismus, der nicht zufällig zu einem Vergleich mit dem Existenzialismus des 20. Jahrhunderts angeregt hat.6 Es erstaunt daher auch nicht, dass Epikur zum Inbegriff politischer Abstinenz werden konnte, obzwar er durchaus von der Notwendigkeit der Beziehungen der Menschen untereinander und einer entsprechenden Ordnung solcher Beziehungen ausgeht. Allerdings bilden in seinen Augen die Menschen keine natürlichen Gemeinschaften, wenn man unter »natürlich« Gebilde wie den platonischen oder aristotelischen Staat versteht, die als in einem vorgegebenen Sein verankert gedacht werden; Vergemeinschaftungen entspringen ausschließlich dem rationalen Kalkül, berechnet auf den jeweiligen Nutzen für das individuelle Wohlergehen.

In sich widersprüchlich sind auch viele der Urteile, die auf ein Gesamtbild der hellenistischen Epoche, vor allem aber auf ihre veränderten philosophischen Konturen abzielen. Auf der einen Seite wird die scharfe Konkurrenz der einzelnen philosophischen Schulen hervorgehoben, andererseits spricht man von der an den klassischen Autoren gemessen großen Armut an wirklich philosophischen Gedanken. Man beklagt das Heraufziehen des Spezialistentums, das an die Stelle der Spekulation Gelehrsamkeit setze und eine Arbeitsteilung innerhalb der Wissenschaften vorangetrieben habe, im Verhältnis zu der die Vergewisserung der Tradition epigonenhafte Züge trage. Andere wieder sprechen von einem gänzlichen Verzicht auf wissenschaftliche Erkenntnis zugunsten der Herausbildung bloßer Techniken der Lebensauffassung und -gestaltung.7 Sehr viele Darstellungen des Denkens in der Periode des Hellenismus, der Epikureer ebenso wie der Stoiker, wählen Titel, die den Terminus der Lebenskunst in der einen oder anderen Weise variieren.

Methodologische und inhaltliche Vorentscheidungen

Es war vor allem Epikur, durch den der Atomismus Demokrits, ursprünglich nur eine, wenn auch die bedeutendste Variante der vorsokratischen Naturphilosophie, den Status einer Basistheorie erringen konnte, deren Präsenz sich noch in den modernen Naturwissenschaften nachweisen lässt. Das propositionale Element allerdings, das den Atomismus in der Antike kennzeichnete, weicht einem eher heuristischen bzw. paradigmatischen Charakter, ohne dass seine Bedeutung dadurch geringer geworden wäre.

Die Atomtheorien reduzieren die Vielfalt und die Veränderlichkeit der sichtbaren Erscheinungen auf die Komposition bzw. Dissoziation letzter, als unveränderlich und unteilbar gedachter Bausteine, von denen her die Empirie als vollkommen erklärbar angesehen wird, ohne dass diese letzten Bausteine ihrerseits dem empirischen Zugriff erreichbar wären.

Die Atome, von denen erstmals Leukipp und Demokrit im 5. Jahrhundert v. Chr. sprechen, bezeichnen die unendliche Anzahl unsichtbarer, qualitativ gleicher, je für sich betrachtet jedoch quantitativ sehr verschiedener Teilchen, ein Begriff, der auch dann noch beibehalten wurde, als die modernen Naturwissenschaften zeigen konnten, dass auch diese kleinsten, vermeintlich unveränderlichen und unteilbaren Bausteine der stofflichen Wirklichkeit sich teilen lassen. Der Begriff »Atomismus«, mit dem die antiken Atomtheorien gemeinhin belegt werden, will den Rigorismus dieser ältesten Atomtheorien unterstreichen, denen nicht nur die stoffliche, empirische Wirklichkeit, sondern das Sein überhaupt, also auch das, was in idealistischen Kontexten als geistige Wirklichkeit aufscheint, als das Ergebnis bestimmter Atomkompositionen gilt. Man darf in diesem Rigorismus das Charakteristikum der demokritischen Theorie sehen, und diese Behauptung ist es auch, die den Atomismus für die Lehre Epikurs so bedeutsam macht.

Parmenides formulierte einen Seinsbegriff, im Verhältnis zu dem das Nicht-Sein sich nicht einmal denken lassen sollte. Dieses wirkliche Sein verglich er mit einer festen, unveränderlichen Kugel. Die empirisch wahrnehmbaren Veränderungen, die den Schluss von einem Übergang vom Sein zum Nicht-Sein nahe legen, stellen danach in Wahrheit einen Widerspruch zum logischen Denken dar. Sie können nur Täuschung und Illusion sein. Demokrit versucht diesen Widerspruch dadurch aufzulösen, dass er einerseits mit Parmenides die Existenz dieses unveränderlichen Körpers betont, dann aber ergänzt, dass es eine Vielzahl solcher Körper gebe, und zwar Körper von solcher Kleinheit, dass sie sich unserer Wahrnehmung entziehen. Auf den ersten Blick ist also der demokritische Atomismus der Versuch einer bis ins Unendliche gehenden Pluralisierung des parmenideischen Seinsbegriffs. In dieser Pluralisierung umfasst er auch das Nichts, nämlich in Gestalt des leeren Raumes, innerhalb dessen sich die Atome verbinden und wieder voneinander trennen. Auf der anderen Seite kann man aber auch sagen, Demokrit habe den Gegensatz von Sein und Nichts noch unbedingter als Parmenides gefasst, im Sinne eines radikalen Dualismus zwischen körperlich gedachten Atomen und leerem Raum, und dies so, dass auch das Seelische, der Geist und die menschlichen Willensäußerungen aus der Zusammensetzung und der Bewegung der Atome erklärt werden sollten. Daher rührt sein grundlegendes Dogma (Lehrsatz/Axiom), es existiere nichts außer den Atomen, der Bewegung (bzw. der Zeit, deren Voranschreiten die Bewegung ausmache) und dem leeren Raum; alles übrige sei »doxa«, bloße Meinung (also mehr oder weniger willkürliche Interpretation dieser drei Grundgegebenheiten und ihres Zusammenspiels). Hinter dieser Konzeption steht die Vorstellung von einer unabänderlichen Notwendigkeit, weshalb Leukipp in seiner Schrift Über den Geist gleichsam als Präambel der Atomtheorie formulierte: »Kein Ding entsteht aufs Geratewohl, sondern alles infolge eines Verhältnisses und durch Notwendigkeit.«8 Mit diesem Satz liegt die Urform des in der Antike und darüber hinaus vielfach angeführten »Ex nihilo nihil fit« (aus Nichts kann nichts entstehen) vor, die ursprüngliche Fassung des Kausalitätsprinzips, auch bei Epikur einer der Kernpunkte der Lehre.

Demokrit geht wie später auch Epikur weiter davon aus, dass es ohne trennende Leere zwischen den einzelnen Dingen keine Bewegung geben kann, da sich kein Gegenstand an einen Ort bewegen kann, den bereits ein anderer innehat. Ohne die trennende Leere zwischen den Dingen gäbe es auch keine Vielheit der Dinge, denn alles wäre eins. Es gäbe aber auch keine Teilung, die nur möglich ist, wenn das Teilende die Zwischenräume ausfüllt. Aus alledem folgt die These von der Existenz eines letzten vorhandenen Unteilbaren, denn gäbe es dieses nicht, dann wäre eine unendliche Teilung die Folge, die auf eine letzte unendliche Leere hinausliefe und Existenz überhaupt unmöglich machte. Daraus schließt Demokrit, dass die Welt aus Atomen, also unteilbaren Materiekernen, und aus der Leere, der Abwesenheit von Existenz, bestehen muss. Aus dem Zusammenspiel beider erklärt sich der Aufbau des gesamten Kosmos.

Die atomistische Kosmologie setzt an den Anfang den Zufall in Gestalt einer willkürlichen Abweichung. Der unendlich gedachte Fall der Atome wird dadurch gestört, dass ein einziges Atom die Regelhaftigkeit des Falls durchbricht, »aus der Reihe fällt« und Kollisionen provoziert, in deren unabsehbarer Folge die Welt entsteht. Diese Abweichung (Deklination) wird Epikur dazu dienen, trotz aller Kausalität an der menschlichen Freiheit festzuhalten. Gleich der Urknallhypothese der modernen Physik basiert die Kosmologie Demokrits und auch Epikurs auf einem nicht weiter begründbaren singulären Ereignis. Die Entstehung der Welt ist daher nicht, wie in der aristotelischen Metaphysik, das Resultat einer bewusst ins Werk gesetzten Kausalität, sondern das Ergebnis eines einmaligen, allerdings nachhaltigen und folgenreichen Durchbrechens des Kausalitätsgesetzes, auch wenn dieses Resultat sich im Weiteren wiederum den Gesetzen der Kausalität zu fügen hat. Eine Parallele in der modernen Naturwissenschaft findet diese Erklärung in J. Monods provokanter Verschränkung von Zufall und Notwendigkeit.9 Gerade sie hat jüngst zu Vergleichen mit der epikureischen Variante des antiken Atomismus angeregt.10 Epikur habe, so dieser Versuch einer Parallelisierung, den Atomismus Demokrits zur Basistheorie gewählt, um jedwede teleologische Vorstellung aus der Kosmologie zu verbannen: Die Welt und mit ihr der Mensch sind nicht das Werk einer sinnvoll planenden Natur, sondern das Produkt einer den jeweiligen Atomverbindungen innewohnenden Stimmigkeit, die allenfalls eine »Kausalität« kennt, die den Prinzipien eines auf Versuch und Irrtum aufbauenden Evolutionsprozesses verpflichtet ist, wobei selbst noch die Rede von einer derartigen Verpflichtung nur metaphorisch gemeint sein kann.

Epikur sieht im Kosmos eine »Welt aus Atomen«, bar jeder zwecksetzenden Planmäßigkeit. Der Rückgriff auf Demokrit und seine anfängliche Atomtheorie dient der Untermauerung der These von der Zufälligkeit der Welt. Der immanente, d.h. eigentlich der »hineingelesene« Sinn der zufällig entstandenen und existenzfähigen Atomverbindungen ist das Ergebnis eines langwierigen Prozesses wechselnder, jede für sich genommen zielloser Atomverbindungen, die zu zahllosen Kombinationen führen, die sich irgendwann zu Konglomeraten mit einer relativen Selbstständigkeit herausbilden, ohne dass diese einen bestimmten vorgegebenen Plan verrieten. Das moderne Prinzip der Selbstorganisation der Materie käme, suchte man erklärende Parallelen in der Gegenwart, der epikureischen Variante des antiken Atomismus noch am nächsten.

Epikur teilt mit Demokrit weiter die Vorstellung, das All bestehe nur aus zwei Bestandteilen, den Körpern und dem leeren Raum, während alles, was darüber hinausgehe, »doxa«, also bloße Meinung oder Mutmaßung, sei. Die Körper und der leere Raum sind ewig. Aus diesem Grunde war das All immer schon so, wie es gegenwärtig ist, und es wird auch immer so sein. Dass es verschiedenartige Gestalten annehmen könnte und so einem Wandel, Metamorphosen unterworfen wäre, ist nichts weiter als eine Irreführung durch die »doxa«. Über die Tatsache des Vorhandenseins von Körpern, Resultat der Atomverbindungen im All, belehrt uns unmittelbar die sinnliche Erfahrung, die auch das Vorhandensein des leeren Raums (chora) einsichtig vor Augen führt, sofern die Tatsache, dass die Körper sich in ständiger Bewegung befinden, auf einen Ort schließen lässt, der den sich in ständiger Bewegung befindlichen Körpern Raum gibt. Auch wenn sie sich der unmittelbar sinnlichen Wahrnehmung entzieht, muss der räumlichen Ausdehnung eine zeitliche entsprechen. Richtig wäre es, hier von abgeleiteten Erfahrungen zu sprechen, wenn wir beispielsweise ein vermeintlich objektives Auf und Ab von Tag und Nacht, von Jahreszeiten und Lebensaltern sowie den subjektiven Wechsel von Lust und Unlust in Bewegungsabläufe transponieren, eine Konstruktion, die überraschenderweise vieles von dem vorwegnimmt, was Kant meint, wenn er in der Kritik der reinen Vernunft von Raum und Zeit als notwendigen subjektiven Anschauungsformen spricht.

Wichtig für das Verständnis des genuinen Beitrags Epikurs im Hinblick auf den antiken Atomismus und zugleich ein Gradmesser seiner Weiterentwicklung des demokritischen Ansatzes sind seine Überlegungen zum Körper und die daraus folgenden Differenzierungen bezüglich Status und Funktion des Atoms. Epikur unterscheidet zwischen zusammengesetzten und einfachen Körpern, wobei Letztere als die Bedingung der Möglichkeit solcher Zusammensetzungen, Konglomerate, d.h. als unzusammengesetzt und nicht weiter teilbar (a-tomos) bestimmt werden. Aus ihrer Unteilbarkeit folgt ihre Unwandelbarkeit und Unvergänglichkeit. Von ihnen können daher nur die verbliebenen Körpereigenschaften wie Ausdehnung, Größe und Schwere angegeben werden. Sie sind keine virtuellen Gebilde, vielmehr wirkliche Substanzen. Es ist offensichtlich, dass mit dieser Annahme ein schwer auflösbarer Widerspruch die epikureische Atomtheorie belastet, denn wenn die Variationsbreite der wahrgenommenen Körper aus der Tatsache resultiert, dass sie unterschiedliche Konglomerate letzter, unteilbarer Substanzen darstellen, dann müsste von diesen Substanzen gelten, dass sie, da nicht zusammengesetzt, keine unterschiedlichen Merkmale aufweisen dürfen. Gerade weil letztere, ihrerseits nicht mehr zusammengesetzte Körper als Substanzen betrachtet werden, müssen sie sich voneinander unterscheiden lassen, sollen sie in ihrer je eigenen Substanzialität wahrgenommen werden, denn auch hier gilt: Wahrnehmbarkeit impliziert Verschiedenartigkeit, die wiederum auf benennbare Kriterien solcher Unterscheidungen wie Gestalt, Größe, Gewicht und Ausdehnung, d.h. auf Eigenschaften verweist, die eine weitere Teilung einschließen.