Vollständige eBook Ausgabe 2012



©2009 SPIELBERG VERLAG, Regensburg

Bildvorlage: Sophia Mehrbrey

Umschlaggestaltung: Christian Schmidt

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können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.


(eBook) ISBN: 978-3-95452-011-4

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eBook-Herstellung: GEPPCO MEDIA, Regensburg



images Eva Mehrbrey wurde 1979 in Regensburg geboren. Sie studierte Geschichte, Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Regensburg und ist seitdem im Museums- und Kulturbereich tätig.

»Die Herrin der Drachen« ist ihr Debütroman.



Für meine Schwester Sophia,

die dieses Buch nicht nur durch geduldiges Zuhören,

sondern auch auf künstlerischem Gebiet bereichert hat.


Und vielen Dank an Christian Schmidt »Spitfire57«

für die Gestaltung des Covers.




» ... Doch die süße Kriegerin

Hat mörderischen wie auch milden Sinn;

Ihr Mut, den Dampf und Trommeln nähren,


Gern vor dem Flehenden die Waffen senkt;

Ihr Herz, daran die Flammen lodernd zehren,

Dem Würdigen stets reichlich Tränen schenkt.«


Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen

(Sisina)




Die Personen



Alyssa

Tochter von Bürgermeister Rabik Ardal;


Lady Amray

Paladin; Oberste Wächterin des Ordens der Weißen Löwin;


Alagion

Hohepriester des Wintergottes und Diener von Königin Ilyáhna;

Aníra

Halbdämonin; Mitglied der Támhascer Diebesgilde; Trägerin des Sturmkelchs;


Arin Awad Bilal

Erzmagier aus Ziyara; genannt »der Meister der Nacht«;


Aruna

die Herrin der Drachen; Trägerin des Drachenkelchs;


Átra

Halb-Einhorn; Arunas Gefährtin und Reittier;


Baren Dina

kháfraische Schauspielerin in Rael`Donas Theatergruppe;


Brangwen von Greifenstein

ältere Tochter von Hendorn und Rayadés; Erbin von Tarakan;


Bromgragacht

uralter Feuerdrache; tritt auch als Graf Brogamias von Attenágo

in Erscheinung;


Sir Cedric

Paladin im Orden der Weißen Löwin;


Chi`Ra

zweiköpfiger Vogel; Arins Vertrauter;

Ciarda

Botin aus dem Geflügelten Volk der Avir;


Darcon

junger Halbling; Mitglied der Támhascer Diebesgilde;


Darnakíl mik Rahnîda Wesúnuh

halbdämonische Kriegerin; Trägerin des Stabes der Felsen;


Deborá von Löwental

Prinzessin; jüngere Tochter König Meronachs;


Deryl

Wirt des Silbernen Lindwurms in Támhasc;


Despes

Stammesälteste der Haldre im Wald von Támhasc;


Faenya Filiniqe

mondelfische Priesterin der Sternenkönigin; Trägerin des Sternenkelchs;


Fenfardil

uralter Golddrache, Arunas Mentor;


Giran von Löwental

älterer Sohn von König Meronach; Thronerbe von Dyenni;


Hendorn von Greifenstein

Paladin und Herzog von Tarakan; Vater von Brangwen und Miralda

und Onkel von Reyna; Träger des Sonnenkelchs;


Indonel

mondelfischer Krieger; Vater von Rael’Donas und enger

Freund Hendorns von Greifenstein;


Ilyáhna

Schnee-Elfe und Eishexe; Trägerin des Stabes des Eises;



Jâligan

Ikna`yahti-Alchemist und Magier; Träger des Stabes der Dornen;


Jarag

Ladenbesitzer und Hehler in Támhasc;


Jorân Enjun

Hauptmann der Támhascer Stadtwache;


Kensas

Haldre; Sohn von Despes;


Kerani

Halb-Ifriti; Trägerin des Stabes der Bilder;


Kirsig

halborkische Diebin; Schattenmeisterin der Támhascer

Diebesgilde; Trägerin des Sommerkelchs;


Lishaya

die Herrin der Schatten; Trägerin des Stabes

der Schatten;


Lisis

Haldre; Tochter von Despes;


Lukan

Küchenjunge auf Burg Greifenstein;


Mara

Halblingskriegerin; Trägerin des Wasserkelchs;


Mardschana

junge Frau aus der Wüste Sêsch; Sklavin von Arin;


Meronach von Löwental

König von Dyenni; Vater von Giran und Deborá;


Mikél

Kaufmann aus Dyenni;


Miralda von Greifenstein

jüngere Tochter von Hendorn und Rayadés;


Neehla

Oberste Feldherrin der Ikna`yahti; Trägerin des Stabes

des Blutes;


Nio

ein Eiswiesel; Rhada Kais Vertrauter;


Meister Philo

Haushofmeister von König Meronach;


Rabik Ardal

Bürgermeister von Aldéra;


Rael`Donas

Mondelfenbarde; Sohn von Indonel; Träger

des Winterkelchs;


Ragnar von Bärenfels

ehemaliger Graf von Dyenni; Träger des Stabes

der Nacht;


Rayadés von Greifenstein

Herzogin von Tarakan; Hendorns Gemahlin;


Renar Tolis

Bürgermeister von Caer Dunlaith;


Reyna von Lilienfeld

Tochter Riagans von Lilienfeld und Maeves von Greifenstein;

Erbin von Tálynghar; Trägerin des Frühlingskelchs;


Rhada Kai

Hexenmeisterin aus Kháfra; Trägerin des Feuerkelchs;


Riccin

Dieb der Támhascer Gilde; Träger des Herbstkelchs;


Sekher Nefet

genannt Sekher Nefet von den Glitzernden Schuppen;

Weiße Königin des Schlangenvolkes;


Teraxia

Medusa, Trägerin des Stabes der Nebel


Tia

Tochter des Schmiedes von Aldéra;


Xyriek

Feuer-Halbdrachin; Trägerin des Stabes der Flammen;


Yeganéh

Naga-Priesterin; Trägerin des Stabes der Schmerzen;


Zahit

Hofmagier von König Meronach; ehemaliger Meister

von Rhada Kai;



Die Göttinnen und Götter von Sildar


Akénra

die Königin der Götter; Muttergöttin und Herrscherin über den Himmel; erscheint als geflügelte und gehörnte Frau oder als geflügelte Gazelle; ihre heilige Pflanze ist der Ahornbaum;


Ándis

die Sternenkönigin; Göttin der Heilkunst, der Sterne und des Nachthimmels; erscheint als schöne, dunkelhaarige Frau oder als Einhorn; ihre heilige Pflanze ist die weiße Lilie;


Anshoé

die Prophetin; Göttin des Schicksals, der Vorhersehung, des Todes und der Nachttiere; erscheint als alte Zwergenfrau oder als Eule; ihre heilige Pflanze ist das Nachtschattenkraut;


Báran

der Weinende Gott; Gott des Regens und des Frühlings; erscheint als junger Knabe oder als Blauhäher; seine heilige Pflanze ist die Schlüsselblume;


Ewáde

die Königin der Wogen; Göttin des Meeres; erscheint als Nixe, als Delphin oder als Wasserschildkröte; ihre heilige Pflanze ist der Seetang;


Fárkan

der Gott der Träume; Mondgott; erscheint als Elf oder als Silberreiher; seine heilige Pflanze ist die Laternenblume;


Fílreth

die Feuergelockte; Göttin der Morgen- und der Abenddämmerung und der Magie; erscheint als rotgelockte, junge Frau oder als Feuervogel; ihre heilige Pflanze ist der Feuermohn;


Fínwa

die Freudeschenkende; Göttin von Wohlstand und Handel, Heim und Familie; erscheint als geflügelte Frau oder als Taube; ihre heilige Pflanze ist der Apfelbaum;


Íngri

der Herr der Ströme; Gott der Flüsse und der großen Seen; erscheint als alter Mann oder als Wasserschlange; seine heilige Pflanze ist die Seerose;


Kínis

der Zerstörer; Gott der Berge, des Kampfes und der Zerstörung, durch die Neues entsteht; erscheint als orkischer Krieger oder als Steinbock; seine heilige Pflanze ist der Dornenstrauch;


Kuldán

der Geschuppte; Gott der Reptilien; erscheint als Kai Lua, als Schlange oder als Echse; seine heilige Pflanze ist der Ebenholzbaum;


Kúrno

der Scharfblickende; Gott der Greifvögel und des Handwerks; erscheint als geflügelter Mann, Falke oder Adler; seine heilige Pflanze ist die Kiefer;


Lándra

die Herrscherin über alle Herzen; Göttin der Liebe und der Schönheit; erscheint als schöne Frau oder als Katze; ihre heilige Pflanze ist die Rose;


Líka

die Schwester des Schattens; Göttin alles Heimlichen und Versteckten und Schutzherrin der Diebe; erscheint als verhüllte, junge Frau oder als Rabe; ihre heilige Pflanze ist die Brennnessel;


Lórad

der Hüter der Erde; Gott der Erde und der Haustiere; erscheint als Halbling, als Bauer oder als Ziegenbock; seine heilige Pflanze ist die Gerste;


Mélwa

die Strahlende; Sonnengöttin; erscheint als Elfe oder als Sonnenvogel; ihre heilige Pflanze ist die Goldnarzisse;


Minéa

die Lebensspenderin; Göttin der Natur, des Wildvolks und der wilden Tiere; erscheint als Nymphe oder als Hirschkuh; ihre heilige Pflanze ist der Farn;


Nílat

die Herrin der Stürme; Göttin der Drachen, des Gewitters und der Stürme; erscheint als Drachin; ihre heilige Pflanze ist die Drachenklaue;


Páiko

die Malerin; Göttin des Herbstes und des Nebels; erscheint als schöne Frau mittleren Alters oder als Füchsin; ihre heilige Pflanze ist der Wein;


Pránja

die Herrin der Vögel; Göttin der Sing- und Wasservögel sowie der Wissenschaften; erscheint als ältere Frau, als Gnomin oder als Storch; ihre heilige Pflanze ist der Walnussbaum;


Ráhla

die Bardin; Göttin der Musik, des Schauspiels und der Kunst; erscheint als junge Tänzerin oder als Nachtigall; ihre heilige Pflanze ist die Silberdistel;


Rális

der Frostbringer; Gott von Schnee und Winter; erscheint als alter Mann oder als Eisbär; seine heilige Pflanze ist die Schneerose;


Ranshé

die Herrin des Lachens; Göttin des Sommers und des Lachens; erscheint als junge Frau oder als Satyra; ihre heilige Pflanze ist der Löwenzahn;


Taránis

der Strahlende; Gott der Hoffnung, der Freude, des Neubeginns und des Lichts; erscheint als schöner, junger Mann oder als Tiger; seine heilige Pflanze ist der Goldregen;



Tíab

der Alchemist; Feuergott und Schutzpatron der Schmiede und Alchemisten; erscheint als Ifrit oder als Greif; seine heilige Pflanze ist der Weihrauch;


Yothála

die Herrin der Schlachten; Göttin der Schlachten und der Gerechtigkeit; erscheint als Kriegerin oder als weiße Löwin; ihre heilige Pflanze ist die Schwertlilie;



Prophezeiung der

Hohepriesterin Helariel


Die Herrin der Drachen wird kommen zu Beginn der Fünften Dämmerung,

Und in ihren Adern fließt das Blut der Sonne wie geschmolzenes Gold.

Neun Kelche verteilt sie an ihre Gefährten,

Dreimal drei Pfeile, zu treffen das Herz der Finsternis.

So treten ein in den Kreis des Schicksals Dunkelheit, Dämmerung und Licht,

Um das, was trennt zu vereinen, wie es einst die Herrin den Drachen befahl.


Ein edler Krieger, vom Schicksal selbst und der Löwin geliebt,

Vor dessen Namen Nyathár in Ehrfurcht sich neigt.

Er trägt die Ehre im Herzen und in der Hand das Schwert,

Das die Schatten vertreibt und die Schwachen beschützt.

Für ihn küsst das Morgenlicht mit seinen Strahlen die Erde.


Ein liebliches Mädchen mit goldenem Haar.

Voller Anmut und wie Quellwasser so rein,

Tritt sie aus den Wäldern der Elfen hervor,

Ein weißer Vogel, der nach Norden fliegt.

Für sie leuchtet am Himmel der Morgenstern.


Eine tapfere Kämpferin von edler Gesinnung und großem Mut.

Aus dem Land der Halblinge zog sie hinaus in die Welt,

Um für Gerechtigkeit zu streiten, für Freiheit und Glück.

Doch ereilt sie ihr Schicksal auf der Onyxinsel im Knochenmeer.

Für sie fällt in der Hitze des Sommers der erfrischende Regen.


Eine stolze Hexe, hochmütig und dennoch von betörendem Reiz,

Deren Seele dem Meer gleicht, das der Sturmwind zerreißt.

In Finsternis taucht sie ein und folgt dem lockenden Ruf der Dunkelheit,

Wenn ihr Wille schmilzt vor den Worten des verrufenen Meisters der Nacht.

Für sie brennt das Feuer im Schlund des Vulkans.


Eine entzückende Jungfrau aus ehrbarem Haus, Erbin von Titeln und Macht.

Doch mehr als ihre Zukunft liegt ihr die Freiheit am Herzen,

Und für das Glück ihres Volkes gibt sie ihr eigenes hin.

Huldreich, von Sanftmut und Güte erfüllt, lebt sie für andere, nicht für sich.

Für sie erheben sich im Frühling die Schmetterlinge zum ersten Flug.


Ein Dämonenkind mit des Blauen Volkes Blut,

Ein einsames Mädchen voller Zweifel und Zorn.

In ihrer Seele liegt große Macht verborgen,

Mit der die Tochter den eigenen Vater besiegt.

Für sie zuckt der Blitz aus den Wolken hernieder.


Ein gerissener Spitzbube mit scharfer Zunge und voller List,

Einst versunken, tief in den Abgründen der Großen Stadt,

Erhebt er sich über das Schicksal seiner Geburt

Und erklimmt die Höhen, einzufangen den Goldenen Schwan.

Für ihn färben sich im Herbst die Blätter der Bäume.


Ein schelmischer Barde, ein Kind der Elfen und der Sterne zugleich,

Von spöttischem Wesen und gesegnet mit der Gabe von Lied und Gedicht.

Dennoch zerreißt ihn sein zweifaches Blut und er öffnet sein Herz dem Leid.

Heilig ist die Luft, die seine Worte von Trauer und Sehnsucht trägt.

Für ihn funkeln im Winter die Kristalle im Schnee.


Eine kluge Diebin von orkischem Blut

Mit geschickten Händen und offenem Geist.

Líkas Rabenflügel beschirmen sie stets,

Wenn sie zusammenführt Ebene, Ödland und Wald.

Für sie kitzeln im Süden die Palmen den Himmel.


Und jene, die aus uralten Zeiten in ewiger Schönheit wieder erschien,

Die Herrin der Drachen im Herzen des Feuers.

Auf ihren Lippen Worte, tödlicher als ihr Schwert.

Auf ihren Wangen Tränen, bitter vom Schmerz.

In ihren Augen der Glanz einer anderen Welt.

Für sie tanzen die Drachen in Ewigkeit.


Auch die vier Elemente stehen ihr bei.

Das Feuer in Form einer schönen Frau.

Die Erde in Gestalt von Horn und Huf.

Das Wasser mit Schwimmhaut und blauem Haar.

Die Luft mit weiß gefiederten Schwingen. -

Sie und die schnelle Átra, Arunas Schwester im Licht.


Erobert werden bleiche Knochen aus Dunklem Berg.

Befreit wird ein Kind von Himmel und Hölle aus Ewigem Eis.

Geschenkt werden uralte Zeichen aus den Gemächern der Nacht.

Gefunden wird der Zahn der Drachen im Brennenden Turm.

Erst dann erhebt sich die Sonne zweimal am selben Tag.


Denn wenn der Bote der Göttin nach Osten fliegt,

Wenn die Sternblumen unter südlicher Glut erblühen,

Wenn eine neue Königin sich im Norden erhebt,

Und wenn im Westen das Meer voller Sterne ist,

Dann kehrt die Herrin der Drachen zurück.

Die Geheimnisse von Sildar


Über die Drachen


Die Drachen von Sildar sind unsterbliche, mächtige und hochintelligente Wesen, die wie Engel und Dämonen auf einer Stufe direkt unter den Göttern stehen. Sie unterteilen sich in neun Arten: Die dem Licht nahestehenden Sonnen-, Mond- und Sternendrachen, die neutralen Wald-, Wasser- und Regenbogendrachen und schließlich die eher der Dunkelheit zugewandten Feuer-, Eis- und Nachtdrachen. Jede dieser Drachenarten steht für zwei hauptsächliche Prinzipien, die ihre Wesenszüge und ihren Charakter bestimmen. Die Sternendrachen zeichnen sich beispielsweise vor allem durch Harmonie und Ausgewogenheit aus, die Monddrachen durch Treue und Vertrauen und die Sonnendrachen durch Leidenschaft und Begeisterung. Die Wasserdrachen stehen für Geduld und Hoffnung, die Regenbogendrachen für Heiterkeit und Liebe und die Walddrachen für Stärke und Entschlossenheit. Auf der dunklen Seite symbolisieren die Feuerdrachen Zorn und Aufruhr, die Eisdrachen Zweifel und Angst und die Nachtdrachen schließlich Leid und Schmerz.

Allen Drachen aber gemeinsam ist ihre Liebe zur Freiheit, ihr Stolz und ihre Unabhängigkeit. Keinem Sterblichen, ja nicht einmal den unsterblichen Wesen ist es bisher gelungen, sie irgendeiner Form der Kontrolle zu unterwerfen. – Mit einer Ausnahme: der Herrin der Drachen.


Über die Tore der Götter


Viele Reisen auf der Welt Sildar sind recht beschwerlich, man muss sie zu Fuß, zu Pferd oder mit dem Schiff zurücklegen. Wer sehr viel Glück hat, kann durch die Gabe des Fliegens manchmal auch durch die Lüfte reisen, wie zum Beispiel die Drachen oder das geflügelte Volk der Avir. Es gibt jedoch auch andere Wege: die Tore der Götter. Als Geschenk an die Sterblichen platzierten alle Götter magische Portale auf ganz Sildar, durch die man große Entfernungen überwinden kann. Sie führen von einem Land in ein anderes oder sogar zu einem anderen Kontinent und manchmal sogar in andere Welten. Nicht durch alle dieser Tore kann man wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren, manche von ihnen sind Sackgassen, sogenannte Einweg-Portale, die zu einem weit entfernten Ort führen, auf der anderen Seite aber ein totes Ende haben. Andere Portale dagegen führen hin und wieder zurück, einige haben sogar mehrere mögliche Ein- und Ausgänge. Diese nennt man Zwei- oder Mehrweg-Portale. Es gibt nur zwei Einschränkungen für das Benutzen dieser Portale: Man muss einerseits den Schlüssel besitzen, mit dem sie sich aktivieren lassen, und zum anderen kann man ein Portal nur in seiner wahren Gestalt durchschreiten, darf also nicht in irgendeiner Weise verwandelt sein.

Jedes dieser Tore hat einen eigenen Namen und ein ganz eigenes Aussehen, abhängig von der Gottheit, die es erschaffen hat. Wenn man sie geschickt benutzt, kann man in recht kurzer Zeit große Entfernungen überwinden, doch nicht alle Portale sind einfach zu erreichen. Viele liegen in abgelegenen und äußerst gefährlichen Gebieten, so dass mancher lieber die längere, aber sicherere Reise auf den Straßen oder per Schiff auf sich nimmt.



Über die Fünf Göttlichen Gaben


Als sich zuerst die Elfen, und danach die Menschen und Zwerge, Gnome und Halblinge, Orks, Oger, Trolle und viele andere zu intelligenten Völkern entwickelten, verspürten einige der Gottheiten, die über Sildar wachen, den Wunsch, diesen Sterblichen, die sie verehrten, ein Geschenk zu machen. So brachten sie ihnen die Fünf Göttlichen Gaben, wie man sie später nannte, um den Sterblichen ihr mühsames und zum Teil recht kurzes Leben auf Sildar ein wenig zu erleichtern. Als erstes schenkte Ándis, die Sternenkönigin, die Göttin der Heilkunst, der Sterne und des Nachthimmels, den Sterblichen die Gabe des Heilens. Diese Sterblichen wurden Heiler und häufig auch Priester mit der Macht, Wunden und Krankheiten auf wundersame Weise zu kurieren, schneller als es einem Medicus je möglich wäre. Dies ist die Gabe, die von den Sterblichen am meisten gepriesen wird. Um ihrer Schwester nicht nachzustehen, schenkte Fílreth, die Göttin der Morgen- und der Abenddämmerung und der Magie den Bewohnern von Sildar die Gabe des Zauberns, aus der die Magier und Hexenmeister hervorgingen. Anshoé, die Prophetin, die Göttin des Schicksals, der Vorhersehung, des Todes und der Nachttiere, schenkte den Sterblichen daraufhin die Gabe des Sehens. Jene, die damit gesegnet sind, können in Träumen und Visionen ein Stück der Zukunft erblicken. Damit die Natur bei all dem nicht zu kurz käme, schenkte Minéa, die Lebensspenderin, die Göttin der Natur, des Wildvolkes und der wilden Tiere, den Völkern Sildars die Gabe der Tier- und Pflanzensprache, damit die Sterblichen mit den Wesen der Natur in engeren Kontakt treten konnten. So entstanden die Druiden, und vor allem bei den Elfen ist diese Gabe weit verbreitet. Schließlich wollte auch Tíab, der Alchemist, der Gott des Feuers und der Alchemie, den Sterblichen noch ein Geschenk machen und gewährte einigen von ihnen die Gabe der Gestaltwandlung. Diese ermöglicht es, sich in die Gestalt eines oder auch mehrerer Tiere zu verwandeln, abhängig von der Stärke der Gabe. Mächtige Wandler können ein Dutzend oder mehr verschiedene Gestalten annehmen. Von diesen Wandlern stammen auch die Lykanthropen ab, Werwesen, die ihre Gabe schlecht oder gar nicht zu kontrollieren vermögen und dadurch zu einer Gefahr werden können.



Über das Wildvolk


Neben den Sterblichen Völkern, also Menschen, Elfen, Orks, Zwergen und anderen, sowie den unsterblichen Wesen, zum Beispiel Drachen, Greifen und Einhörnern, sowie Tieren und Pflanzen lebt auf Sildar auch noch das Wildvolk. Von manchen auch Feenvolk genannt, leben diese Wesen in engster Verbundenheit mit der Natur, sind aber von ihrem Erscheinungsbild her sehr unterschiedlich. Es gibt Felsengnome, die wie kleine, knubbelige Figuren aus Stein wirken, zarte Feen mit Insektenflügeln, Nymphen mit Haaren aus Blättern und Blüten, Wassergeister und fast durchsichtige Sylphen in den Lüften, aber auch gefährlichere wie Feuersalamander und das irreführende Nebelvolk. Diese Wesen, die ersten und liebsten Kinder der Naturgöttin Minéa, sind überall in der Natur in großer Zahl zu finden, ja sogar in den Parks und Gärten der Städte. Die schüchterneren wie die Nymphen und Feen zeigen sich nur selten den Sterblichen, während es aber auch zutrauliche Wesen wie die Gnome gibt, die Wanderer oft vom Wegrand aus beobachten können. Die Sterblichen hüten sich, diesen Wesen zu nahe zu treten, da sie unter dem Schutz der Göttin selbst stehen. An manchen Tagen stellt man ihnen auch kleine Opfergaben hin, um sie freundlich zu stimmen. Von den zutraulicheren aus dem Wildvolk, erzählt man, dass sie den Sterblichen manchmal bei kleineren Problemen helfen, doch wirklich mit ihnen zu sprechen vermögen nur die Elfen und die Druiden.



Der Wilde Wald von Xyll


Die Herrin der Drachen blickte nach oben und blinzelte in die vereinzelten Strahlen, die die Sonne durch das dunkelgrüne Laub der Bäume schickte. Im freundlichen Licht des Morgens wirkte der Wilde Wald von Xyll recht friedlich, aber Aruna ließ sich nicht in falsche Sicherheit wiegen, denn sie wusste genau, wo sie sich befand. Der berüchtigte Wald, durch den sie wanderte, trennte das Reich der Mondelfen vom Königreich Dyenni, und so mancher, der sich hineinverirrt hatte, war nicht mehr herausgekommen. Man erzählte sich Geschichten von riesigen Wolfsrudeln, Trollen und noch schlimmeren Dingen, die die Dunkelheit des Unterholzes für ihre Beutezüge nutzten. Manchmal gingen Leute in den Wald hinein, die dann plötzlich sehr müde wurden und sich zum Schlafen hinlegten ohne je wieder aufzuwachen, an anderen Tagen vergaß man einfach, warum man den Wald überhaupt betreten hatte und wo man hinwollte oder sogar, wer man war. Es gab Zeiten, da erwachten die Bäume angeblich zum Leben und griffen nach den unvorsichtigen Wanderern, die sich hierher wagten, um sie zu erdrücken, an anderen Tagen war der Wald erfüllt von Schatten und noch schlimmeren Kreaturen der Finsternis, und die Bäume weinten Blut. Der Wald konnte sein Angesicht sehr rasch ändern, im Augenblick jedoch war die Luft erfüllt vom Gezwitscher der Vögel, und die Mittagssonne hatte senkrechte Lichtsäulen zwischen die Baumstämme gesetzt. Aruna ließ sich am Fuß einer großen Buche nieder, um eine kurze Rast einzulegen. Sie legte die Hände auf ihre mächtigen Wurzeln, schloss die Augen und versuchte, die Wogen auf dem aufgewühlten Ozean, der ihre Seele war, zu glätten. Sie konnte das Leben spüren, von dem alles, was sie umgab, erfüllt war. Die Bäume in diesem Wald waren so alt, dass ihre Wurzeln bis in den Fels der Zeit selbst hinabzureichen schienen – und genau dort lag wohl auch der Beginn ihrer eigenen Geschichte.

Sie war eine ganz gewöhnliche junge Frau gewesen. Nachdem ihre Eltern vor einigen Jahren plötzlich und unerwartet gestorben waren, hatte sie zusammen mit einer Freundin ein kleines Haus in Abella bewohnt. Sie hatte als Mitglied der dortigen Stadtwache gearbeitet, denn sie war geschickt im Umgang mit dem Schwert, den ihr Vater sie von klein auf gelehrt hatte. Nichts in ihrem Leben war besonders aufregend gewesen, nichts, was darauf hingewiesen hätte, dass ihr eine so merkwürdige Zukunft bevorstand. Doch eines Nachts hatte ein heller Lichtschein sie geweckt, und am Fuß ihres Bettes hatte die schlanke Gestalt einer schönen Frau in einem silbernen Kleid gestanden. Ihre Augen waren ebenso schwarz gewesen wie ihr Haar, ihre Haut schneeweiß und die Lippen rot wie Vogelbeeren. Aus ihrer Stirn wuchsen zwei lange, geschwungene Alabasterhörner, aus ihrem Rücken große Flügel. Der jungen Frau war der Atem gestockt, denn vor ihr hatte Akénra, die Königin der Götter selbst gestanden und sie mit einem fremden Namen angesprochen:

Aruna, Flamme des Südens und Herrin der Drachen, es ist an der Zeit, dass du dein wahres Selbst erkennst. Sie war der Göttin gefolgt durch die Abgründe von Zeit und Raum, und der Mensch, der sie gewesen war, hatte aufgehört zu existieren. Sie hatte fast alles gesehen, was man sehen konnte und auch, was man besser nicht sehen sollte. Dann hatte sie ihr Leben hinter sich gelassen und war eine andere geworden ...

Ein Rascheln im Gebüsch ließ sie augenblicklich in die wirkliche Welt zurückkehren. Sie sprang auf und zog ihr Schwert, doch das Geräusch wiederholte sich nicht. Vorsichtig, von Baumstamm zu Baumstamm huschend, schlich sie sich an die Stelle heran, von der das Rascheln gekommen war, aber sie vermochte nichts zu hören, nicht einmal ein Vogel störte in diesem Moment die lastende Stille. Der Wald ringsum atmete Hitze. So leise wie möglich schlich Aruna sich noch dichter an die Büsche heran. Wieder konnte sie eine kleine Ewigkeit lang nichts hören, dann war das Rascheln erneut da, diesmal etwas weiter oben! Der Wald tat einen weiteren, langsamen Atemzug. Arunas Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb wie ein aufgeregter Specht. Sie hatte sich ausgeruht, wäre fast eingeschlafen, und währenddessen hatte sich irgendetwas an sie herangepirscht. Sie fasste das Schwert etwas fester. Aber wenn jemand meinte, es mit der Herrin der Drachen aufnehmen zu können, dann hatte er sich auf jeden Fall geirrt! Sie holte tief Luft, sprang vor und brach an der Stelle, wo sie das Geräusch zum zweiten Mal gehört hatte, durchs Gebüsch. Ihr Fuß blieb in einer Wurzel hängen, und sie stieß einen wilden Fluch aus, fing sich aber wieder und blickte grimmig um sich. Das Geschöpf, das ihr aufgelauert hatte, wich gegen einen Baumstamm zurück, stieß einen erschrockenen Schrei aus – und Aruna erkannte, dass sie vor einer Elfenfrau stand.

»Ich ... ich wollte Euch nichts antun ... ehrlich«, stotterte die Schöne bebend.

Verblüfft ließ Aruna ihr Schwert sinken.

»Na, so was. Eine Elfe. Ich hatte mindestens einen Werwolf erwartet«, sagte sie lachend.

Sie hatte gehofft, die Frau dadurch zu beruhigen, doch die stand weiterhin angespannt und mit zu Fäusten verkrampften Händen vor ihr. Obwohl ihre großen, sommerhimmelblauen Augen vor Schreck geweitet waren und ihr der Schrecken deutlich ins Gesicht geschrieben stand, konnte man ihre Schönheit unmöglich übersehen. Sie hübsch zu nennen, hätte geheißen, die Sonne mit einer Kerze zu vergleichen. Sie war schlank wie eine Weide, und ihr langes Haar war so golden wie das Morgenlicht. Ein paar Strähnen hatte sie zu dünnen Zöpfchen geflochten und Seidenschnüre und bunte Glasperlen hineingeknüpft. Das fließende, weiße Kleid, das sie trug, war an Saum, Ärmeln und Ausschnitt mit kostbarem, blauem Stoff eingefasst, und an ihrem schlanken Hals schimmerte zarter Elfenschmuck. Wie sie da so verloren zwischen den großen Bäumen stand, schien sie ganz Licht und Unschuld zu sein. Aruna steckte ihr Schwert wieder ein.

»Nun«, sagte sie besänftigend und warf ihr langes, schwarzes Haar zurück, »ich wollte Euch keine Angst machen. Ihr habt mich nur erschreckt, das ist alles.«

Jetzt lachte die Elfe, ein plätscherndes, melodisches Geräusch.

»Oh, ich bin auch sehr erschrocken«, sagte sie, und ihre Stimme war süß und so rein wie gesponnenes Silber, »Ich habe ein Geräusch hinter den Büschen gehört und wollte mich vorbei schleichen, aber ich muss wohl mit meinem Kleid irgendwo hängen geblieben sein.«

Die Herrin der Drachen lächelte.

»Ja, eine etwas ungewöhnliche Reisekleidung. Seid Ihr Priesterin?«

»Ja, ich bin Klerikerin der Syndrakay. Ihr Menschen nennt sie Ándis, wie man mich gelehrt hat.«

Ihr Gesichtsausdruck, der so unschuldig war wie frische Sahne und die unbekümmerte Art, in der sie sprach, ließen Aruna vermuten, dass sie noch sehr jung sein musste. Oft war es für Menschen sehr schwierig, das Alter der sich kaum verändernden Elfen einzuschätzen, doch je länger sie mit ihr sprach, desto mehr kam Aruna zu der Überzeugung, dass sie – nach den Maßstäben ihres Volkes - kaum das Erwachsenenalter erreicht haben konnte. Umso merkwürdiger war es, sie in einem Gebiet wie dem Wilden Wald anzutreffen.

»Aha«, sagte die Herrin freundlich, »Und habt Ihr auch einen Namen?«

»Faenya. Faenya Filiniqe. Das bedeutet Weißer Vogel, der in den Norden fliegt. – Und wie ist Euer Name?« fragte sie höflich, als die Frau, die ihr gegenüber stand, nur lächelte und schwieg.

Die Herrin musterte sie eingehend, bevor sie antwortete.

»Seryan.«

Wieder herrschte eine Zeit lang Stille, als die beiden so unterschiedlichen Frauen einander betrachteten, ruhig und gelassen die eine, unsicher und etwas nervös die andere.

»Der Wald von Xyll ist eine gefährliche Gegend«, sagte die Herrin der Drachen schließlich, »Ihr solltet hier nicht allein unterwegs sein. Was ist Euer Ziel?«

»Ich wollte nach Támhasc reisen.«

»Das trifft sich gut. Dorthin möchte ich auch.«

»Ihr meint«, sagte Faenya mit einem erfreuten Lächeln, »dass Ihr mit mir zusammen reisen wollt? Oh, das ist sehr gut. Ich würde mich gleich viel sicherer fühlen.«

Aruna nickte und hoffte bei sich, dass die junge Frau nicht jedem gegenüber so vertrauensselig war. Es gab genügend Lebewesen, die beim Anblick eines so unschuldigen Elfenmädchens auf schlimme Gedanken kommen konnten. Sie hütete sich jedoch, das, was ihr durch den Kopf ging, laut auszusprechen und bedeutete der Elfe mit einer Handbewegung, den Weg fortzusetzen.

»Was wollt Ihr denn in Támhasc?« fragte Aruna freundlich.

»Ich bin eine Mondelfe, und bei unserem Volk ist es Brauch für die Priesterinnen und Priester der Syndrakay, nach Abschluss ihrer Ausbildung alleine auf die Reise zu gehen und einen Tempel unserer Göttin zu besuchen, der außerhalb der Grenzen unseres Landes liegt. Bei den Sonnenelfen gibt es viele Tempel meiner Göttin, aber ich habe mich für den großen Tempel in Támhasc entschieden. Es ist eine der wenigen Menschenstädte, in denen es einen Elfentempel gibt, und ich wollte schon immer eine Eurer Städte sehen.«

»Warum habt Ihr nicht die Küstenstraße genommen? Die wäre auf jeden Fall sicherer gewesen.«

»Oh.« Faenya nickte sanft. »Es soll eine Reise in Ruhe und Einsamkeit sein.«

»Dann kann ich nur hoffen«, erwiderte die Herrin der Drachen, »dass der Geist Eurer Reise in meiner Gegenwart keinen Schaden nimmt, denn wo ich mich aufhalte, da sind nur selten Ruhe und Frieden zu finden.«

Die Augen der Elfe leuchteten eher interessiert als beunruhigt auf.

»Ja? Und was, wenn Ihr mir die Frage gestattet, tut Ihr so?«

»Oh, dies und das.«

»Dies und das?« Faenya runzelte verwirrt die Stirn, »Darunter kann ich mir nun nicht sehr viel vorstellen. Was macht Ihr denn genau?«

Aruna warf ihr einen bedeutsamen Blick zu, und Faenya schlug die Hand vor den Mund.

»Ach, ich verstehe. Ihr wollt nicht darüber sprechen. Wie unhöflich von mir. Bitte verzeiht!«

Die Herrin lachte.

»Schon gut. Es ist ja nichts geschehen.«

»Irgendwie«, sagte die Elfe unvermittelt, »erinnert Ihr mich ein wenig an Aruna, die Herrin der Drachen.«

Aruna warf ihr einen erstaunten Blick zu.

»So?«

»Ja, Ihr habt etwas ... Ich weiß nicht ... Sie könnte so ähnlich gewesen sein wie Ihr. Sie muss eine wundervolle und großartige Frau gewesen sein«, fuhr Faenya verträumt fort, »Ich wollte, ich hätte damals, vor tausend Jahren gelebt, um sehen zu können, wie sie ihr Lied sang und die Drachen vom Himmel herabkamen und sich zu ihren Füßen niederlegten. Würdet Ihr das nicht auch gerne sehen?«

»Durchaus. Nur fürchte ich, dass es auch einige Gründe gibt, warum man sich lieber nicht wünschen sollte, in jener Zeit zu leben.«

Faenya nickte.

»Oh ja, der schreckliche Krieg damals. Da habt Ihr sicher Recht. Aber wer weiß, vielleicht gibt es ja auch Dinge, die einen wünschen lassen, nicht in unserer Zeit zu leben.«

Der plötzliche Ernst in ihrer Stimme überraschte die Herrin. Sollte sie sich getäuscht haben? Wusste die junge Elfenfrau vielleicht mehr, als sie ahnte? Doch der Schatten, der sich über sie gelegt hatte, verschwand so schnell, wie er gekommen war.

»Wart Ihr schon einmal im Reich der Mondelfen, von wo ich stamme?«

»Ja«, antwortete Aruna, »Mehrmals sogar.«

»Wie schön! Erzählt mir, wo Ihr überall gewesen seid.«

»Darüber reden wir ein andermal«, sagte die Herrin der Drachen sanft, aber bestimmt.

»Natürlich. Wie Ihr meint.«

Faenya schien sich nicht daran zu stören, dass sie schon einiges über sich selbst erzählt hatte, von der Frau an ihrer Seite aber nicht mehr als ihren Namen wusste – ja, im Grunde nicht einmal diesen, obgleich ihr das natürlich nicht bewusst war.

»Ihr sagtet, Ihr hättet bereits Eure Ausbildung als Klerikerin abgeschlossen«, meinte Aruna, »Ihr scheint jedoch sehr jung zu sein. Wie alt seid Ihr?«

Die Elfe lachte etwas verlegen, aber auch mit einem Anflug von Stolz.

»Ihr habt Recht. Ich bin erst hundert und zwei Jahre alt, aber ich war die beste Schülerin im Tempel der Syndrakay. Deshalb wurde es mir gestattet, meine Reise schon jetzt anzutreten.« Sie strich mit ihrer zarten Hand über die Wedel eines hohen Farnbusches. »Doch Ihr seht aus, als wäret Ihr auch nicht so viel älter als ich. In Menschenjahren, versteht sich. Wie alt seid Ihr denn?«

Etwas Unergründliches trat in den Blick der Herrin, und die Andeutung eines Lächelns kräuselte ihre Lippen, als sie antwortete:

»Uralt.«

Auch diesmal dauerte Faenyas Verwirrung nur für einen kurzen Augenblick an, bevor sie begann, fröhlich vom bisherigen Verlauf ihrer Reise zu berichten. Aruna vermutete, dass sie in ihrer kindlichen Wesensart alle geheimnisvollen und seltsamen Dinge auf der Welt als genauso selbstverständlich hinnahm wie Pflanzen oder Tiere, was vielleicht auch damit zusammenhängen konnte, dass Elfen sich mehr Zeit ließen, um offene Fragen zu klären. Also ließ sie die junge Elfe erzählen, während sie selbst wenig von sich preisgab. So wanderten die beiden Frauen unbehelligt durch den Wald von Xyll, und das Sonnenlicht sickerte ungleichmäßig durch die Bäume wie durch ein Sieb aus grünen Blättern und sprenkelte den Waldboden wie mit einem Schauer von Messingspänen.


Der Boden war weiß. Weiß waren auch die hohen, eindrucksvollen Gebäude, die steinernen Bänke am Straßenrand, die Brücke, die sich in einem anmutigen Bogen über den Fluss spannte und die Bäume, die blattlos in den blassen Himmel ragten. Es war völlig still, kein Geräusch war zu hören, kein Windhauch zu spüren, in keinem Fenster war ein Anzeichen von Leben zu entdecken. Die junge Frau stand mitten auf der Straße und blickte an den Häusern hoch. Feine, spitz zulaufende Bögen rahmten die Türen ein, Balkone, so zart als seien sie aus dünnen Knochen geschnitzt, schienen schwerelos vor den Fenstern zu schweben. Die kuppelförmigen Dächer waren bedeckt von zierlichen, fremdartigen Mustern. Doch irgendeine Farbe in all dem Weiß konnte sie nicht entdecken, so sehr sie sich auch bemühte. Alles um sie herum war weiß, so weiß wie Milch und Schnee. Sie trat an das Geländer neben der Straße heran, ein alabasterfarbenes filigranes Geflecht, um in den Fluss zu sehen, über den die Brücke führte. Sie fuhr zurück. Der Fluss war rot. Herzblutrot war er und schien seltsam lebendig zu sein. Sie war sicher, das Wasser müsse so warm sein wie Blut, das aus einer frischen Wunde fließt. Als sie den Blick losriss und wieder aufsah, stand Akénra auf der Brücke. Die Königin der Götter bedeutete ihr, näher zu kommen, winkte ihr mit bleicher Hand zu.

»Aruna!« rief sie.

Die junge Frau war verwirrt.

»Warum nennst du mich so? Das ist doch nicht mein Name ... oder?«

Die Göttin lächelte milde.

»Lass alles, was du bisher gewesen bist, hinter dir. Komm zu mir.«

Die junge Frau tat einige Schritte auf die Brücke zu, und Akénra breitete die Arme aus.

»Geh nicht!« zischte eine warnende Stimme in ihr Ohr, »Geh nicht, oder es wird dein Verderben sein!«

»Lass dich nicht verwirren«, rief die Göttin, »Komm! Komm, bevor es zu spät ist!«

»Zu spät wofür?«

»Komm, und ich werde dir alles erklären.«

»Nein, geh nicht! Sie lügt dich an!«

»Komm!«

»Geh nicht!«

Die junge Frau schloss die Augen. In ihrem Kopf schrieen die Gedanken wie eine gewaltige Menschenmenge. Tränen der Verzweiflung quollen unter ihren geschlossenen Lidern hervor.

»Du musst dich entscheiden«, sagte Akénra.

»Ja, du musst dich für eine Seite entscheiden!« rief die Stimme.

Die junge Frau riss die Augen auf.

»Nein«, flüsterte sie, »Das muss ich nicht ...«

Und sie trat an das Geländer heran und sprang in den Fluss ...


Mit einem Keuchen erwachte die Herrin der Drachen. Einen Moment lang war sie sich nicht sicher, wo sie sich befand, aber als sie das blauweiße Auge des Mondes entdeckte, das neugierig durch die Baumwipfel blickte, beruhigte ihr Herzschlag sich wieder. Faenya, die die erste Wache übernommen hatte, saß an einen Baumstamm gelehnt da und blickte sie überrascht an.

»Was ist los?« fragte sie, »Hattet Ihr einen schlechten Traum?«

»Äh ... ja« erwiderte die Herrin der Drachen, »Aber es war nicht so schlimm. Soll ich jetzt die Wache übernehmen?«

»Nein«, wehrte Faenya ab, »Ihr habt erst eine Stunde geschlafen, und es ist noch eine lange Nacht. Ich wecke Euch, wenn Ihr an der Reihe seid.«

Aruna nickte, legte sich zurück und blickte in die fast erloschene Glut des längst heruntergebrannten Feuers. Sie lauschte den Geräuschen der Nacht und versuchte, die letzten Fetzen des Traums aus ihrem Gedächtnis zu vertreiben. Als sie die Augen schloss und unter ihren Fingern den kühlen Boden des Waldes spürte, wurde sie überschwemmt von den Gerüchen der mitternächtlichen Welt des Waldes – feuchte, pilzbewachsene Erde, der milde, doch raue Duft der Steine. Und wie sie so in den schweren, atmenden Gerüchen von Moos und Wurzeln schwamm, trieb sie wieder hinaus in die trüben Gewässer des Schlafes.


Als sie am nächsten Morgen aufbrachen, versprach der Tag ebenso schön zu werden wie der vorangegangene, denn schon früh funkelte die Sonne durch die überhängenden Äste und schmückte den Boden mit kleinen Lichttümpeln. In den Bäumen konnten sie Rinden- und Borkentrolle entdecken, die sie aus ihren faltigen, schiefen Gesichtern neugierig beobachteten. Felsentrolle saßen zwischen den Steinen, mit ihren gefleckten Rücken kaum von diesen zu unterscheiden, und Moostrolle blickten grün und verschmitzt unter den Farnbüschen hervor. Das Wildvolk, wie diese scheuen Naturgeister von den größeren Völkern genannt wurden, war friedlich und verspielt. Sobald die beiden Frauen in ihre Nähe kamen, wichen die Geschöpfe etwas zurück und hüpften dann wieder näher, um den Großen nachzublicken.

»Ich kann gar nicht verstehen«, sagte Faenya, »warum alle solch üble Geschichten über den Wald von Xyll erzählen. Er ist genauso schön wie unsere Wälder daheim.«

»Schönheit und Gefahr liegen oft nah beieinander«, erwiderte die Herrin der Drachen.

»So wie bei Euch?«

Überrascht blieb Aruna stehen.

»Wie bei mir? Was meint Ihr damit?«

»Oh, bitte versteht mich nicht falsch. Ihr seid sehr freundlich zu mir gewesen, die ganze Zeit über, und Ihr seid wirklich sehr schön. Aber manchmal ist da etwas in Euren Augen, das mich glauben lässt, dass Ihr auch sehr gefährlich sein könnt. Nur für Eure Feinde natürlich.«

»Aha«, sagte die Herrin der Drachen langsam und musterte die Elfe mit einem äußerst intensiven Blick, »Und was seht Ihr in solchen Momenten?«

»Etwas ...«, Faenya wand sich, denn ihr war ein wenig unwohl unter dem Blick dieser glühenden, dunklen Augen, »Etwas ... Ich weiß nicht, ich sehe etwas ... Wildes ... Aber ich nehme an, ich sehe wohl nicht sehr viel«, fügte sie schnell hinzu.

Der Gesichtsausdruck der Herrin wurde wieder weich.

»Vielleicht blickt Ihr tiefer, als Ihr glaubt.«

Das erste Mal seit ihrem Zusammentreffen sagte Faenya für eine längere Zeit nichts. Allmählich begann sie sich doch Gedanken zu machen über die geheimnisvolle Frau an ihrer Seite, doch sie war zu höflich, die Fragen, die ihr durch den Kopf gingen, auch zu stellen. Die Herrin schwieg ebenfalls, und so war eine Weile nichts als das Zwitschern der Vögel und das leise Geschnatter der Erdtrolle zu hören.

Als die Sonne schon hoch am Himmel stand, traten auf einmal die Bäume vor ihnen auseinander, und über ihnen wurde der freie Himmel sichtbar. Die Lichtung, die sich vor ihnen ausbreitete, war so hell wie ein frisch geschmiedeter Morgen und ganz mit zarten, weißen Sternblumen übersät. Ein Schwarm von kleinen roten Vögeln saß dösend in einem Busch, dessen gelbe Beeren in der Sonne einladend leuchteten, und in der Luft lag der geduldige, zufriedene Geruch des Grases und ein schwacher Duft von würzigem Harz.

»Oh, wie schön!« sagte Faenya ergriffen, »Das erinnert mich sehr an zu Hause.«

Aruna nickte zustimmend.

»Ja, es scheint, als habe Báran selbst diese Lichtung geschmückt.«

Faenya legte kurz den Kopf schief.

»Báran, so heißt der Gott des Regens und des Frühlings bei Euch Menschen, nicht wahr? Wir nennen ihn Endavel.«

Sie tat einen Schritt nach vorne, doch die Herrin hielt sie am Arm fest.

»Wartet.«

Faenya blieb stehen, lauschte angestrengt und suchte mit den Augen den gegenüberliegenden Rand der Lichtung ab.

»Was ist?« fragte sie nach einer Weile, »Ich kann nichts Ungewöhnliches entdecken.«

Aruna schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich mich auch geirrt. – Kommt, ich möchte mir das da mal ansehen.«

Sie deutete auf ein steinernes Gebilde, das in der Mitte des freien Platzes aus dem hohen Gras hervorlugte. Beim Näherkommen erkannten sie, dass es sich um einen großen Steinquader handelte. Er war mit feinen, eingemeißelten Verzierungen bedeckt, und die verwitterten Zeichen, die sich auf der Vorderseite befanden, konnten Buchstaben einer fremden Schrift sein. Dahinter stand auf einer breiten Säule eine Statue, die einer Schlange glich und hoch aufgerichtet, nur mit der Schwanzspitze den Stein berührend, dastand. Dort, wo bei einem Menschen der Brustbereich gewesen wäre, wuchsen zwei Arme aus dem Leib, die nach vorne gestreckt waren, als ob sie etwas in den Händen hielten. Auf dem schmalen Kopf des Reptils mochte, dem ringförmigen Abdruck im Stein nach zu urteilen, einmal eine Krone oder etwas Ähnliches gesessen haben.

»Das sieht aus wie ein Altar«, sagte Faenya.

Aruna nickte, streckte die Hand aus und fuhr vorsichtig über den rauen Stein.

»Wahrscheinlich ist es Kuldán, der Gott der Reptilien und auch der Schutzgott des Schlangenvolkes, das südlich von den Ländern der Sonnenelfen lebt«, sagte sie.

Faenya nickte.

»Ja, die Kai Lua. Sie sollen sehr aggressiv und gefährlich sein, aber«, sie blickte nachdenklich auf die Statue, »sieht dieses Wesen nicht auch sehr schön aus?«

»Schön und gefährlich, in der Tat«, sagte Aruna lächelnd, »Ich frage mich nur, wie es kommt, dass hier im Wald von Xyll ein Altar von ihnen steht. Das ist schon ziemlich weit von ihrem Gebiet entfernt.«

Faenya hob ratlos die Schultern und wollte sich gerade bücken, um die Schriftzeichen näher zu untersuchen, als hinter ihnen ein Geräusch zu hören war, und der kleine Vogelschwarm sich kreischend, wie eine purpurfarbene Wolke, in den Himmel erhob. Gedankenschnell zog Aruna ihr Schwert. Zwei Büsche auf der anderen Seite der Lichtung raschelten und zitterten, dann wurden sie auseinander gebogen, und ein riesiges Wiesel schlüpfte hindurch. Es war so groß wie ein Wolf, größer vielleicht, sein Körper lang, schlank und ungewöhnlich gelenkig. Einen Moment lang stand es nur regungslos da und musterte sie mit stechenden, bernsteingelben Augen, dann zog es die Lefzen hoch und gab ein leises, zischendes Fauchen von sich. Die scharfen Zähne glänzten im Sonnenlicht, der lange Schwanz peitschte gereizt hin und her. Plötzlich machte das Tier einen Satz nach vorn. Faenya schrie kurz auf und sprang hinter den Altar, während Aruna ganz still stehen blieb und dem Tier entgegen sah. Hätte Faenya nicht hinter, sondern vor ihr gestanden, hätte sie nun zum ersten Mal etwas wirklich Wildes in den Augen der Herrin erblicken können. Das Wiesel duckte sich leicht und setzte zum Sprung an, um Aruna die Kehle durchzubeißen, dann schoss es durch die Luft, so schnell wie ein Pfeil von der Bogensehne fliegt. Die Herrin der Drachen wich zur Seite, indem sie sich mit einer fast graziös anmutenden Bewegung aus der Flugbahn des Raubtieres herausdrehte. Gleichzeitig führte sie einen kräftigen Stoß in Richtung des Angreifers, so schnell, dass ihr Schwert nur als kurzes, silbernes Aufblitzen zu erkennen war. Sie bohrte die Waffe direkt in den Brustkorb des Tieres, und Faenya vernahm das grässliche Knirschen von berstenden Rippen. Das Wiesel jaulte kurz auf, dann fiel es wie ein nasser Sack zu Boden. Es sah aus, als hätte man einer Marionette mitten in einer kraftvollen Bewegung die Fäden durchgeschnitten. Die Elfe kam langsam hinter dem Altar hervor und starrte das tote Wiesel an, das vor der Herrin am Boden lag. Eine Weile herrschte tiefes Schweigen auf der kleinen Lichtung, und nur das weit entfernte Krächzen eines erbosten Blauhähers befleckte die reine Stille. Mit großen Augen blickte Faenya auf das Blut, das von Arunas Schwert tröpfelte, um sogleich zwischen den langen Grashalmen im Erdboden zu versickern.

»Was für ein Biest«, sagte die Herrin erstaunt, »Ich wusste gar nicht, dass es so große Wiesel im Wald von Xyll gibt. Sehr interessant.«

»Interessant?« wiederholte Faenya fragend, »Nun ja, wenn Ihr meint, könnte man es wohl auch als interessant bezeichnen.«

Aruna lachte, während sie einen alten Lumpen aus ihrem Rucksack kramte, um ihr Schwert damit zu putzen.

»Entschuldigt, Faenya. Ich hoffe, Ihr seid nicht zu sehr erschrocken.«

»Erschrocken?« Die Elfe war beherrscht, schien aber noch ein wenig blasser zu sein als gewöhnlich. »Das soll wohl ein Witz sein. Ich dachte, das Tier frisst uns beide auf.«

»Macht Euch keine Sorgen. Mich aufzufressen ist gar nicht so einfach.«

»Aber mich vielleicht schon, befürchte ich.« Faenya setzte sich auf die schon halb verfallenen Stufen des steinernen Schlangenaltars. »Als ich gestern Vormittag in den Wald von Xyll kam, da dachte ich wirklich, er wäre so wie unsere Elfenwälder. Aber nun sehe ich, dass all die Geschichten wohl doch wahr sind. Und das hier könnte erst der Anfang gewesen sein. Wie gut, dass ich Euch begegnet bin!«

Aruna blickte die junge Elfe nachdenklich an.

»Aber in Euren Wäldern gibt es doch auch gefährliche Tiere, nicht wahr?«

»Schon. Aber die sind nur für Fremde eine Bedrohung, nicht für uns, versteht ihr? Die Tiere in unseren Wäldern kennen die Elfen und wissen, dass wir in Frieden miteinander leben.«

Die Herrin der Drachen lächelte.

»Natürlich. Das hatte ich gar nicht bedacht. Und ich wollte schon lange einmal fragen, warum das so ist. Könnt Ihr es mir erklären? Aus welchem Grund greifen die wilden Tiere, die in den Wäldern der Elfen leben, Euch niemals an?«

Faenyas Gesichtsausdruck war ein wenig verwirrt, als sie nach den angemessenen Worten suchte, um etwas zu erklären, das offenbar noch nie einer Erklärung bedurft hatte.

»Ich weiß es nicht«, gab sie schließlich zu, »Es ist einfach so. Viele glauben, wir verdanken es einem uralten Zauber, den die Götter selbst über unsere Wälder gelegt haben.«

»Und Ihr? Glaubt Ihr es auch?«

»Ja, sicher, ich ... ich denke schon ...« Arunas eindringlicher Blick irritierte die Elfe. »Warum wollt Ihr das denn so genau wissen? Es gibt Dinge, die man nicht erklären kann. Und in solchen Fällen muss man einfach an die alten Geschichten glauben. Glaube ist wichtig. Man kann nicht alles mit dem Verstand erfassen.«

Das intensive Funkeln verschwand aus den Augen der Herrin, und ihr Blick wurde wieder liebenswürdig und herzlich.

»Ihr werdet eine gute Priesterin sein. Und wahrscheinlich habt Ihr Recht.« Sie packte das blutige Tuch, mit dem sie ihr Schwert gereinigt hatte, wieder in ihren Rucksack, steckte die Waffe aber nicht ein. »Kommt, wir wollen uns mal umsehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier, mitten im Wald von Xyll, ein einzelner Altar von Kuldán herumsteht. Da muss doch noch mehr sein.«

»Ihr meint, es gibt hier einen Tempel?« fragte Faenya.

»Es wäre möglich. Früher erstreckte sich das Reich des Schlangenvolkes bis hinauf an die Küste des Kristallmeeres. Seht Ihr, wie zerfallen der Altar bereits ist? Vielleicht mussten sie ihr Heiligtum zusammen mit den nördlichen Gebieten ihres Reiches aufgeben.«

»Aber zwischen dem Wald von Xyll und der früheren Grenze des Schlangenreiches liegen die Länder der Mondelfen«, gab Faenya zu bedenken.

Aruna nickte.

»Das ist wahr, doch der Wilde Wald wurde seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden von niemandem mehr beansprucht. Sie könnten über das Meer dorthin gelangt sein. Ihr wisst, dass sie auch heute noch ein Volk von großen Seefahrern sind, obwohl ihre beiden großen Hafenstädte im Norden nur noch aus Ruinen bestehen.«

Langsam und mit wachsamem Blick ging die Herrin um den Altar herum und auf den dahinter liegenden Rand der Lichtung zu. Die Bäume schienen hier jünger zu sein und lichter zu stehen als an den übrigen Stellen, so als wäre nicht immer ein Baumbewuchs an dieser Stelle gewesen. Faenya legte Aruna zögernd eine Hand auf den Arm.

»Seryan, vielleicht sollten wir lieber nicht weiter gehen«, sagte sie ernst.

»Warum nicht?«

»Na ja, wenn da wirklich ein Tempel ist, sollen wir dann tatsächlich die Ruhe eines fremden Gottes stören?«

»Macht Euch keine Sorgen«, beruhigte die Herrin sie, »Kuldán ist nicht der grausame Herr des Giftes, als der er bei uns oft gesehen wird. Es wird uns nichts geschehen. Nun, auf jeden Fall nicht von ihm.«