Verscharrt

auf

Wangerooge

 

Petersens zweiter Fall

 

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Kriminalroman

von

Malte Goosmann


Copyright: © 2016 Malte Goosmann

Cover Design & Layout : Monika Goosmann

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7418-0040-5

Deutsche Bucht - März 1945

 

Trotz der alliierten Offensive am Rhein war der deutschen militärischen Führung nicht klar, ob noch ein Landeunternehmen von See aus bevorstand. Der Kommandeur im Führungsbereich Bremen ordnete eine erhöhte Aufmerksamkeit an. Jegliche Wahrnehmung über Luft- und Seelandungen waren zu melden. Hinter den Deichen sollten Panzergräben ausgehoben werden. Die Versorgungslage war jedoch schon derart desolat, dass diese Arbeiten auf Grund von Material- und Personalengpässen nur sehr beschränkt durchgeführt werden konnten. Augenscheinlich hatte man Hinweise über Aktivitäten feindlicher Marineaufklärungseinheiten vor den Ostfriesischen Inseln erhalten. Die Personalstärke im Bereich des Admirals Deutsche Bucht (Bereich von der dänischen bis zur niederländischen Grenze) betrug 82.000 Personen, zu ihnen gehörten etwa 10.000 Marinehelfer- und helferinnen.

Die Nordseeinsel Wangerooge hatte im 2.Weltkrieg eine hohe militärische Bedeutung. Von hier aus konnte der seewärtige Zugang zu Deutschlands bedeutendstem Kriegshafen Wilhelmshaven kontrolliert werden. Aber auch in der Luftverteidigung hatte Wangerooge einen hohen Stellenwert. Die alliierten Luftangriffe auf die deutschen Seehäfen und auf das Hinterland wurden häufig über den Bereich Wangerooge geflogen, somit spielte Wangerooge eine große Rolle bei der Luftverteidigung des Deutschen Reiches. Entsprechend waffenstarrend präsentierte sich die kleine Insel im 2.Weltkrieg. Vom Westturm bis zur Ostspitze der Insel war der Strand mit seinen Dünen zum Teil verbunkert und mit zahlreichen Flak- und Artilleriestellungen versehen. Man geht davon aus, dass sich auf Wangerooge ca. 100 Bunker befanden. Neben den Marineeinheiten befanden sich auch Abfangjäger vom Typ Me109/110 und Minensuchflugzeuge vom Typ Ju 52 auf der Insel, die über einen Flugplatz verfügte. Neben den Geschützstellungen befanden sich neuartige Funkmessgeräte, Vorläufer der späteren Radartechnik, die sehr früh feindliche Flugzeuge erfassen konnten. Diese Geräte trugen die Namen Würzburg, Freya oder Wassermann. Das heutige Café Pudding, ein Wahrzeichen Wangerooges, ist auf einem Bunker gebaut, auf dem eine solche Funkmessantenne stand. Neben den Antennen waren in der Regel große Suchscheinwerfer installiert. Diese Scheinwerfereinheiten sollten den Luftraum erhellen, um anfliegende Maschinen zu erfassen und gegnerische Flieger zu blenden.

Die Besatzungen dieser Stellungen bestanden auf der einen Seite aus älteren Marineoffizieren und auf der anderen Seite aus jungen Marinehelfern, die aus den Höheren Schulen und Mittelschulen im Küstenraum rekrutiert wurden. Betroffen waren die Jahrgänge 1926 und 1927. Nach etwa einem Jahr wurden diese Jugendlichen in den Reichsarbeitsdienst überführt, um dann später noch Dienst in der Wehrmacht zu absolvieren. Der Jahrgang 1928 verbrachte seine gesamte Dienstzeit bis zum Kriegsende auf der Insel. Durch den vermehrten Einsatz der Marinehelfer war es möglich, weitere Soldaten an die Front zu schicken. Für die durchweg schulpflichtigen Jugendlichen bedeutete die Einberufung zu den Marine-helfern erst einmal eine willkommene Abwechslung vom Schulalltag. Ein Minimum an schulischer Ausbildung sollte beibehalten werden. Dieses bedeutete für die Marinehelfer, dass neben dem Einsatz bei der Luftverteidigung auch Schulunterricht auf der Tagesordnung stand. Dieses hieß konkret, dass die Jugendlichen häufig nachts, wenn die Alliierten ihre Angriffe flogen, Gefechtsdienst absolvierten und am Tage dem  Schulunterricht folgen mussten. Gegen Ende des Krieges wurde die geforderte Mindeststundenzahl von 18 Unterrichtsstunden deutlich unterschritten, da die Alliierten sowohl am Tag als auch in der Nacht ihre Angriffe flogen. In den Gefechtspausen mussten die Artilleriewaffen gereinigt werden. Die Zeit für Schlaf und Nahrungsaufnahme verkürzte sich zunehmend. Freizeitgestaltung, wie sie die Richtlinien für den Einsatz von Marinehelfern vorsahen, blieb die Ausnahme.

Nordseeinsel Wangerooge - März 1945

Erste Sonnenstrahlen zeigten sich am späten Vormittag. Die drei Marinehelfer, die in Höhe der Stellung 2 in den Dünen lagen, spürten schon die wärmende Kraft der Frühlingssonne. Sie hatten ihre Uniformjacken aufgeknöpft und sich in Richtung Osten aufgereiht, um ein wenig von der wärmenden Sonne abzubekommen. Alle drei rauchten eine Zigarette, obwohl ihnen dies offiziell verboten war. In einer Anweisung zur gesundheitlichen Betreuung von Flak-Helfern waren die Jugendlichen von allen Genussgiften wie z. B. Tabak und Alkohol auszuschließen. Als Ausgleich erhielten sie größere Mengen von Drops, die sie wiederum mit den älteren Soldaten gegen Zigaretten tauschten. Diese Praxis wurde in der Regel von den Vorgesetzten toleriert. Nur die Lehrer der Marinehelfer meldeten schon manchmal den einen oder anderen Schüler bei den Offizieren, wenn die Jungen rauchend erwischt wurden. Richtig Ärger gab es einmal, als am Strand mehrere Fässer englischen Vollbieres angeschwemmt wurden und in der Kantine dann ältere Soldaten die Jugendlichen, die die Fässer geborgen hatten, mit ein paar Gläsern Bier belohnten.

Für Dietrich Reimers, Meinhard Siems und Gerd Fehrensen lag dieses Ereignis weit zurück. Sie ließen sich nicht mehr von ihren Vorgesetzten und Lehrern erschrecken. Im Laufe ihrer Dienstzeit war ihr Selbstbewusstsein enorm angewachsen. Sie spürten, dass man auf sie angewiesen war. Neues Personal war nicht in Sicht und im Laufe der Zeit waren sie eine funktionierende Einheit geworden. Alle drei waren Oberschüler, mit einer schnellen Auffassungsgabe, die ihnen eine Art Sonderstellung unter den Marinehelfern bescherte. Die Schüler waren allesamt sehr gute Mathematiker. Sie konnten die Daten des Funkmessgeräts Würzburg Riese in ihrer Stellung 2 sehr schnell auswerten, in den entsprechenden Planquadraten darstellen und an die Flakstellungen weiterleiten. Ihr Vorgesetzter, der schon etwas ältere Batterieoffizier Heinz Behnken, wusste, was er an „seinen Jungs“ hatte und ließ ihnen viele Freiheiten. Er selbst war schon häufig belobigt worden wegen der hohen Abschussquoten, aber auch die drei Marinehelfer wurden auf Vorschlag von Behnken mit den Flak-Kampfabzeichen ausgezeichnet.

Obwohl sie so gut im militärischen Alltag harmonierten, waren sie völlig unterschiedliche Charaktere. Dietrich Reimers, der große schlaksige Junge mit den blonden Haaren und den wasserblauen Augen, kam aus Bremen. Sein Vater war Lehrer, langjähriges SPD-Mitglied, wurde aber wegen seiner nazikritischen Äußerungen im Jahre 1938 aus dem Schuldienst entlassen. Er hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Im Jahre 1942, Reimers Vater war mittlerweile 62 Jahre alt, wurde er von der NSDAP-Kreisleitung Bremen verpflichtet, als Lehrer an der deutschen Nordseeküste Marinehelfer zu unterrichten. Zu diesem Zweck wurde er an die Hermann-Lietz-Schule auf Spiekeroog versetzt. Er musste eine Erklärung unterschreiben, die ihm jegliche Art von politischer Äußerung verbot. Da sein Sohn noch schulpflichtig war, wurde dieser somit zum Schüler auf Spiekeroog.

Meinhard Siems, geborener Wangerooger, war der Sohn eines Kapitäns, der jetzt im Krieg als Kommandant eines U-Boot-Versorgungsschiffes seinen Dienst tat. Seine Mutter war im Lazarett auf der Insel als Krankenschwester tätig. Meinhard war der kleinste der drei, dunkelhaarig und von etwas gedrungenem Körperbau. Beim Sport hatte er meist das Nachsehen, war aber wegen seines ausgleichenden Wesens sehr beliebt bei seinen Kameraden, zumal er jedes Versteck auf der Insel kannte.

Gerd Fehrensen kam wie Dietrich Reimers aus Bremen. Sein Vater war Polizeibeamter, überzeugter Nationalsozialist, der jetzt bei der Gestapo (Geheime Staatspolizei) in Bremen tätig war. Zu seinem Zuständigkeitsbereich gehörten auch die Lager der Fremdarbeiter auf Wangerooge. Um seinen Sohn vor den ständigen Bombenangriffen auf Bremen zu schützen, brachte er ihn auf Spiekeroog in der Hermann-Lietz-Schule unter. Gerd war mittelgroß, hatte dunkelblonde Haare und einen sehr sportlichen Körperbau. Sein recht freundliches Gesicht wurde durch seine sehr schmalen Lippen etwas beeinträchtigt. Es kam durchaus vor, dass er von einigen Kameraden als „Rasierklingenlippe“ gehänselt wurde. In solchen Situationen konnte er sich auf Dietrich und Meinhard verlassen, die eine solche Verunglimpfung sofort unterbanden und, wenn es sein musste, auch mit körperlicher Gewalt.

Meinhard zog tief an seiner Zigarette: „Habt ihr schon gehört, der Major will für uns zu Ostern 150 Ostereier in den Dünen verstecken lassen?“

„Will der uns veralbern?“, grinste Dietrich, „das ist doch ein Scherz oder?“

„Ruhig Blut“, mischte sich jetzt Gerd ein, „die haben immer noch nicht kapiert, dass wir keine Kinder mehr sind. Aber sie wollen uns halt eine Freude machen, so muss man das seh‘n.“

Dietrich verzog sein Gesicht:

„So soll wohl die Kampfmoral der Truppe gestärkt werden, wo wir jetzt Tag und Nacht ran müssen und die Zahl der feindlichen Flieger ständig zunimmt.“

„Hör auf mit der Schwarzmalerei. Wir haben doch schon ‘ne Menge von diesen Schweinen runtergeholt“, Gerds Stimme wurde schärfer, „gestern wurde ein Vorpostenboot und ein Minensuchboot von mehreren „Mosquitos“ versenkt. Was die bei uns zerstören, das werden wir denen alles heimzahlen!“

Meinhard hob seine rechte Hand: „Lasst es gut sein. Wir brauchen uns doch hier jetzt nicht zu streiten. Bringt sowieso nichts.“

Meinhard stand auf, klopfte sich den Sand aus der Uniform und auch die beiden anderen standen jetzt auf. Langsam trotteten sie zu ihrer Mannschaftsbaracke. Eigentlich hätte jetzt Schulunterricht stattfinden müssen, aber auf Grund der nächtlichen Gefechte, konnte kein Unterricht abgehalten werden, denn die Flakmannschaften brauchten dringend eine Erholungspause. In der Mannschaftsbaracke der Stellung Ost herrschte munteres Treiben. In der Kantine wurde Essen ausgegeben und die jungen Marinehelfer lärmten wie auf einem Schulhof. Die älteren Offiziere  hatten sich in eine Ecke der Baracke verzogen, sie fühlten sich genervt, wollten das muntere Treiben der Jugendlichen aber auch nicht unterbinden. Sie wussten, dass jederzeit mit einem neuen Alarm zu rechnen war.

Die Schüler der Hermann-Lietz-Schule galten bei den Offizieren als etwas aufsässiger als ihre Kameraden aus dem Binnenland. Teilweise hielten sie sich nicht an die korrekten Bekleidungsvorschriften, trugen längere Haare und zeigten in Konfliktsituationen schon mal ihre intellektuelle Überlegenheit. Es wurde gemunkelt, dass sie heimlich der amerikanischen Jazz- und- Swing Musik huldigten.

Dietrich Reimers fand zwar auch die amerikanische Musik interessant, aber wenn er heimlich feindliche Sender hörte, dann galt sein Interesse eher den Berichten zur aktuellen Frontlage. Als er eines Abends im Bett Radio Calais hörte, wurde er von Gerd Fehrensen überrascht. Zornig drohte dieser, ihn bei ihren Vorgesetzten zu melden. Wieder war es Meinhard Siems, der beruhigend auf Gerd einwirken konnte. Erst im letzten Monat waren 17 Marinehelfer wegen des Abhörens feindlicher Sender vor das Kriegsgericht gestellt worden.  Die meisten von ihnen wurden freigesprochen, nur der vermeintliche Rädelsführer mit dem Namen Ernst Jünger (Sohn des Schriftstellers) wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Die Marine versuchte diese Vorfälle herunterzuspielen, während die Gestapo sicherlich härter durchgreifen würde. Den dreien war klar, dass die meisten älteren Offiziere von dem illegalen Treiben einiger Marinehelfer wussten, aber gnädig darüber hinwegschauten. In ihrem fortgeschrittenen Alter verfolgten sie eher das Ziel, heil aus diesem Krieg herauszukommen. Zudem spielte natürlich die Tatsache eine Rolle, dass Dietrich, Meinhard und Gerd mit die höchsten Abschussquoten aufzuweisen hatten. Niemand wollte dieses erfolgreiche Trio sprengen. Die direkten Vorgesetzten gaben die Erfolge der Jugendlichen häufig als ihre eigenen Erfolge aus.

Für Gerd Fehrensen waren diese,  aus seiner Sicht, Nachlässigkeiten ein Grund dafür, dass das Deutsche Reich immer mehr in die Defensive gedrängt wurde. Das ein oder das andere Mal spielte er mit dem Gedanken, seinem Vater, dem Gestapo-Beamten aus Bremen, von diesen Schlampereien bei der Marine zu berichten. Er war sich jedoch unsicher, ob die Gestapo einen Zugriff auf die Marine hatte. Die Gestapo Bremen war lediglich für die Arbeits- und Erziehungslager auf Wangerooge zuständig. Die Rivalitäten beider Institutionen hatten sich schon bei dem Prozess gegen jene 17 Marinehelfer gezeigt.

Am Abend des 21.03.1945 hofften die Flakbesatzungen auf Wangerooge noch eine ruhige Nacht zu verleben. Der große Teil der Marinehelfer versuchte zu schlafen, einige spielten Karten oder lasen noch einmal in den Briefen ihrer Eltern. Vor der Batteriebaracke spielte ein Marinehelfer mit der Gitarre Lieder von den Comedian Harmonists, die in der Nazizeit nicht mehr auftreten durften. Niemand kümmerte sich aber darum, dass diese sehr erfolgreiche Musik der 20-er Jahre eigentlich nicht mehr gespielt werden durfte. Selbst Gerd Fehrensen fand es nicht weiter verwerflich beim Lied vom „kleinen grünen Kaktus“ mit zu summen. Diese vermeintlich friedliche Ruhe war trügerisch, so wie fast in jeder Nacht. Gegen 23:30 Uhr wurde Alarm gegeben. Von den Funkmessstationen wurden Flugbewegungen gemeldet. Die Batteriebesatzungen, die keinen Bereitschaftsdienst hatten, hetzten zu ihren Stellungen. Vereinzelt zeigten sich einige Flieger am Himmel. Die Suchscheinwerfer hatten sie erfasst. Augenscheinlich waren es Aufklärungsflugzeuge, die in Richtung Bremen flogen. Ein Feuerbefehl wurde nicht erteilt. Einzelne Maschinen durften wegen der Munitionsknappheit  nicht beschossen werden. Meinhard, Dietrich und Gerd saßen in ihrer Stellung und waren sichtlich frustriert. Sie hatten eine Maschine klar erfasst, doch sie durften nicht handeln. Laut schimpfte Gerd:

„So kann man ja keinen Krieg gewinnen, wenn man nicht einmal die eigenen Waffen einsetzen darf.“

Dietrich biss sich auf die Lippen. Er wollte jetzt nicht noch Öl ins Feuer gießen. Für seinen Geschmack waren diese Äußerungen  aus Gerds Mund, dem überzeugten Nazi, schon fast wehrkraftzersetzend. Zweifelte Gerd am Endsieg? Aber auch er musste sich eingestehen, dass er wegen des ausgebliebenen Feuerbefehls enttäuscht war.  Bis zum Morgen passierte nichts. Die Mannschaften dösten vor sich hin. Der Alarm hatte aber weiter Bestand, denn die nächtlichen Aufklärungsflüge verhießen nichts Gutes. Die Erfahrung zeigte, dass vereinzelten Aufklärungsflügen meist ein großer Angriff folgte.

Um 10:35 Uhr wurden sie aufgeschreckt. Die Informationen waren eindeutig. Ein großer feindlicher Verband bewegte sich in Richtung deutsche Nordseeküste. 70 bis 80 Flugzeuge wurden ausgemacht: Überwiegend amerikanische „Fortress“ Bomber, die von Jagdflugzeugen des Typs „Mustang“ und „Thunderboldt“ begleitet wurden. Ihr Kurs war klar: Bremen. Die Feuerfreigabe wurde schnell erteilt, doch nur ein Bomber wurde getroffen. Gefechtspause. Allen war klar, dass der Verband wieder zurückfliegen musste. Die Munition wurde nachgeladen, dann Zigarettenpause. Gegen 11:45 Uhr hörte man schon von weitem das Dröhnen der Motoren. Die Flakbesatzungen ließen die Maschinen kommen, bis sie in ihrer Reichweite waren. Es wurde Befehl für Vernichtungsfeuer gegeben, hunderte von Granaten abgefeuert. 6 Maschinen werden getroffen. Mit bloßem Auge beobachten Meinhard, Dietrich und Gerd, wie direkt über Schillig ein Besatzungsmitglied aus einer getroffenen „Fortress“ ausstieg. Durch den starken Nordwind wurde er mit seinem Fallschirm in Richtung Watt, Höhe Strandbake, abgetrieben. Auf ihrem Leitstand läutete das Telefon. Heinz Behnken nahm ab, er nickte zweimal, dann ertönte kurz und knapp: „Zu Befehl Herr Major!“ Behnken wandte sich an die drei Marinehelfer:

„Jungs, wir sollen ins Watt und nach dem Amerikaner suchen. Meinhard, du bist hier geboren, du wirst uns führen. Holt eure Waffen!“

Alle drei sprangen auf, nahmen ihren Karabiner 98 und schulterten das Gewehr. Heinz Behnken griff neben seinem Gewehr noch 2 Stielhandgranaten und steckte diese in seinen Gürtel. Schnell durchschritten sie den Dünengürtel in Richtung Watt. Bevor sie über die Eisenbahnschienen stiegen, die zum Ostanleger führten, suchte Heinz Behnken mit dem Feldstecher das Watt ab. Ungefähr in Richtung Schillig sah er an einem Priel Reste eines Fallschirms liegen.

„Diese Richtung Jungs“, rief er und zeigte mit seinem Arm in Richtung Schillig.

„Gut, dass wir ablaufend Wasser haben. So haben wir eine Chance den Amerikaner zu kriegen.“

Meinhard hatte das Jagdfieber gepackt, auch den beiden anderen war die Aufregung ins Gesicht geschrieben. Heinz Behnken wirkte gelassener, fast desinteressiert. Für ihn war klar, dass eine solche Suche auch mit Gefahrenen und Unannehmlichkeiten zu tun haben könnte. Scherereien waren jetzt das Letzte, was er gebrauchen konnte. Durch sein Fernglas konnte er jetzt eine Person erkennen, die sich in Richtung Ostspitze der Insel bewegte. Wollte der Amerikaner in Richtung Minsener Oog abhauen?

„Wir müssen ihm den Weg abschneiden, ohne nasse Füße wird das aber nicht gehen“, erklärte Meinhard, sichtlich stolz auf seine Rolle als Führer der Gruppe.

„Macht nix, wir folgen dir mein Führer“, Dietrich lachte dabei und fing sich einen bösen Blick von Gerd ein.

Minsener Oog ist eine Insel, die südöstlich von Wangerooge liegt. Zwischen den beiden Inseln verläuft die Blaue Balje, eine tiefgehende Strömungsrinne. Der amerikanische Pilot blieb jetzt stehen und sah in die Richtung der drei Marinehelfer und ihres Offiziers. Augenscheinlich hatte er die Sinnlosigkeit seines Unterfangens erkannt. Langsam hob er die Arme.

„Achtung, der bleibt stehen, der ergibt sich“, rief Dietrich.

„Den holen wir uns jetzt, der wird keine Bomben mehr auf Deutschland werfen“, das Gesicht von Gerd Fehrensen war vor Aufregung stark gerötet. Heinz Behnken war mittlerweile zurückgefallen. Er konnte dem Tempo der Jungen nicht folgen. Schwer atmend  blieb er stehen und beobachtete, wie die drei ihre Karabiner von der Schulter nahmen und sie entsicherten………….


 

1

 

Nordseeinsel Wangerooge - März 2014

Kurz nach Abschluss der Ermittlungen im  Fall der Lehrerin Brigitte Dunker hatte sich das Inselleben merklich beruhigt. Lars Petersen spürte, dass sein Ansehen bei den Insulanern gestiegen war. Die musikalische Unterstützung des Shantychores tat ein Übriges, um den von Bremen verstoßenen Kommissar zu integrieren. Auch sein Verhältnis zu Bürgermeister Depken hatte sich, seit der ihn beim Neujahresempfang der Gemeinde ausgezeichnet hatte, verbessert.

Im Dezember 2013 wurde die Aufmerksamkeit der Freiwilligen Feuerwehr, aber auch die der Polizei, auf die Auswirkungen des Orkans „Xaver“ gerichtet. In der Nacht auf den 6. Dezember hatte sich der starke Wind zu einem Orkan mit Windgeschwindigkeiten von 146 km/h aufgebaut. Die Vorhersage meldete 2,50 bis 3 Meter Wasserstand über Normalnull. Petersen, der zu diesem Zeitpunkt allein auf der Insel Dienst tat, wurde von Harm Gerdes, dem Leiter der Freiwilligen Feuerwehr, in die Kommandozentrale des neuen Feuerwehrhauses eingeladen. Gemeinsam beobachteten sie die Wetterlage und die Pegelstände auf den Monitoren. Im Westen der Insel, dort wo Petersen damals Angela Remmers aus den Fluten gerettet hatte, wurde das Deckwerk von den Fluten überspült. Salzwasser lief in den Westinnengroden, dem Wiesengebiet hinter den Dünen. Das Schullandheim „Haus am Meer“ meldete Sturmschäden, etliche Bäume wurden umgeweht. Die Dünenketten, ein wichtiger Schutz für die Insel, wurden bedenklich von den Fluten angenagt. Der Bade- und Burgenstrand war vollständig von der See weggespült. Die Hauptlast in dieser Sturmnacht hatte die Freiwillige Feuerwehr zu tragen. Petersen nahm eher  eine beobachtende Rolle ein. Er musste lediglich sicherstellen, dass die Kinder des Kindergartens und der Grundschule unversehrt in ihren Einrichtungen ankamen. Der Besuch war den Eltern freigestellt. Ein Betreuungsangebot wurde in beiden Einrichtungen vorgehalten.

In den Weihnachtsferien wurde der Polizeiposten auf drei Mann aufgestockt. Die Lage um Silvester herum blieb aber erstaunlich ruhig. Petersen hatte mit mehr Arbeit gerechnet, aber nicht einmal eine richtige Kneipenschlägerei war dabei. Ab Januar trat auch der alte Leiter der Dienststelle, Onno Siebelts, seinen  Dienst wieder an. Er hatte seine Reha-Maßnahme beendet und sollte nun mit halber Stundenzahl wieder eingegliedert werden, wie es im Amtsdeutsch hieß.

Keinen Kontakt hatte Petersen zu der Polizeianwärterin Mona Behrens, die ihn im November bei der Lösung des Falls Dunker, aber auch bei einer anderen spektakulären Festnahme, geholfen hatte. Die Beziehung zu dieser jungen Frau hatte ihn emotional sehr aufgewühlt. Standhaft hatte er sich zu Beginn ihrer Zusammenarbeit gegen emotionale Nähe gewehrt, war aber zuletzt dem Charme dieser jungen Frau erlegen. Am letzten Tag vor ihrer Abreise landeten sie in dem Bewusstsein, dass ihre Beziehung keine Zukunft hatte, im Bett.  Petersen litt bis heute unter dieser Tatsache. Er verkroch sich in seine Wohnung über der Dienststelle und intensivierte sein Gitarrenspiel. Am 2. Weihnachtstag hatte der Shantychor noch einen Auftritt gehabt, danach kehrte erst einmal Ruhe im Wangerooger Kulturleben ein. Auch sein alter Kumpel aus Bremer Drogenfahnder-Zeiten, der in Wangerooge die Kneipe „Zum Störtebeker“ betrieb, war für 2 Wochen zu seiner Mutter nach Twistringen gefahren. Der Name „Störtebeker“ war aber nicht nur eine Bezeichnung für seine Kneipe, sondern auch Programm für den Besitzer. Er nannte sich „Magister“ in Anlehnung an den Gefährten des Seeräubers „Störtebeker“, der sich selbst Magister Wigbold genannt hatte.

Jetzt im März erwachte die Insel langsam wieder aus ihrem Tiefschlaf. Der Badestrand, der während der Sturmflut weggespült worden war, sollte nun wieder aufgefahren werden. Bürgermeister Depken schätzte die Kosten für die Sandfahrmaßnahmen zur Wiederherstellung der Strände auf 500.000 Euro. Die Arbeiten dazu liefen nun an. Von der Ostspitze der Insel wurde mit riesigen Tiefladern, sogenannten Dumpern, der Sand für den Badestrand aufgefahren. Diese Maßnahmen rissen immer wieder ein großes Loch in die Gemeindekasse. Zwischen Bund, Land und Gemeinde gab es ständig Differenzen, wer denn die Kosten hierfür zu tragen habe. Letztlich blieb die Gemeinde aber auf den Kosten sitzen. Auch die umstrittene Bautätigkeit an der Promenade nahm ihren weiteren Verlauf, eine große Appartementanlage war im Entstehen. Die Bürgerproteste hiergegen waren vergebens gewesen.

Anfang März saßen Onno Siebelts und Lars Petersen wie an jedem Morgen bei einem Morgenkaffee in ihrer Dienststelle in der Charlottenstraße. Bis Siebelts wieder mit voller Stundenzahl arbeitete, war Lars Petersen der kommissarische Dienststellenleiter. Intern lehnte Petersen diese Regelung ab. Siebelts war seit 20 Jahren der leitende Beamte auf der Insel und für Petersen sollte das auch so bleiben. Intern hatten sie sich darauf geeinigt, dass Siebelts den Bürokram erledigte und Petersen mehr draußen unterwegs sein sollte. Siebelts rührte in seinem Kaffee:

„Die haben wohl gestern im Finanzausschuss beschlossen, dass noch zwei zusätzliche Fahrzeuge für den Personentransport zugelassen werden. Wir kriegen da ein Problem, wir sollen nämlich die Geschwindigkeit kontrollieren.“

Petersen stutzte:

„Wie soll das denn gehen? Kriegen wir ‘ne Radarpistole und stehen dann damit in der Zedeliusstraße? Das kann doch nicht deren Ernst sein oder?“

„Nee, so ist das nicht gemeint. In die Elektrokleinbusse wird ein Fahrtenschreiber eingebaut und wir sollen dann die Dinger auslesen und nachschauen, wie schnell die gefahren sind.“

„Gut, das könnte man ja machen, aber dazu brauchen wir doch so ein Lesegerät oder?“

„Genau, das ist der Punkt. Wer bezahlt so ein Gerät? Glaubst du, dass Wilhelmshaven uns so ein Gerät anschafft?“

„Nee, nie und nimmer. Ich werd‘ natürlich offiziell anfragen, aber die Antwort kenn‘ ich schon.“

„Wenn wir ständig Unfälle mit E-Fahrzeugen hätten, könnt‘ ich das ja verstehen, aber das steht doch in keinem  Verhältnis zum Nutzen?“

„Seh‘ ich genauso, wenn die das unbedingt wollen, dann muss die Gemeinde das eben bezahlen.“

„Dann wird das nichts, die haben doch kein Geld, wie zu Hause in Bremen, nur immer Ankündigungspropaganda.“

„Du immer mit deinem Bremen, ist doch eigentlich eine tolle Stadt.“

„Ich bin der Letzte, der das nicht unterschreiben würde, aber es läuft eben einiges schief.“

„Okay, ich beantrage das Ding mal. Noch was anderes, die Gemeinde hängt in zwei Wochen wieder die Schilder für die Fußgängerzone auf, bald sind Osterferien. Du weißt, unser

Dauerthema, Kontrolle der Fahrradfahrer.“

„Ja, ja nun nerv nicht. Ich werd‘ mich dann da wieder ein paar Mal aufbauen. Mal sehn, was die Gemeinderatsmitglieder machen, wenn ich denen ein Bußgeld aufdrücke, die fahren doch auch mit dem Rad durch die Fußgängerzone.“

„Mach‘ ruhig, dann sehen sie, dass wir was tun.“

Ihre Unterhaltung wurde durch das Läuten des Telefons beendet. Siebelts nahm ab. Es war nur ein kurzes Gespräch. Er nickte ein paar Mal und legte dann auf.

„Unsere Verstärkung für Ostern hat sich angekündigt. Leider keine schöne blonde Kollegin namens Mona Behrens.“

Siebelts grinste Petersen an, der über diesen Gag überhaupt nicht lachen konnte. Siebelts fuhr fort:

„Entschuldigung, ich wollte dich nicht ärgern. Ich war ja nicht dabei als die Kollegin hier war, aber der Inselfunk…“

„Ist ja gut, hör auf damit. Die Sache ist Vergangenheit.“

Petersens Stimme klang verärgert.

„Nichts für Ungut, also da kommt ein älterer Kollege aus Wardenburg, der war schon mal häufiger hier, ein bisschen langsam in allem, der ist auch bei Beförderungen mehrfach übergangen worden. Walter Haake hat noch 5 Jahre, der reißt sich kein Bein mehr aus, aber besser als nichts.“

„Okay, wenn es Ostern genauso ruhig bleibt wie Weihnachten und Silvester, dann kriegen wir das hin.“

Petersen räumte die Kaffeetassen weg und verabschiedete sich zu einem Streifengang. Auf der Promenade angekommen, atmete er erst einmal tief ein. Die frische Meeresluft, die Brandungsgeräusche, alles das hatte er mittlerweile lieb gewonnen. Der Ärger über seinen unfreiwilligen Abschied aus Bremen und die Demütigungen durch das Disziplinarverfahren waren zwar noch nicht vollständig verflogen, aber mittlerweile fühlte er sich auf Wangerooge recht wohl. Vom Osten her sah er die gelben Dumper, die den Sand für den Hauptstrand auffuhren. Für die Spaziergänger war das eine lästige Störung bei der Strandwanderung, aber es gab keine Alternative zu dieser Maßnahme. Der Strand musste wieder her, so dass die Insel vor den nächsten Sturmfluten geschützt werden konnte. Die Touristen brauchten ihn ebenso, damit sie um ihre Strandkörbe schöne Burgen bauen konnten. Petersen grinste bei diesem Gedanken.

Auf dem Weg Richtung „Café Pudding“ kam er an der großen Baustelle nahe der Polizeiwiese vorbei und was er so beobachten konnte, ließ architektonisch nichts Gutes für die Insel erwarten. Mittlerweile hatte auch das Regionalfernsehen von Radio Bremen in einer Wochenserie mit dem Titel „Ausverkauf einer Insel“ über die starke Bautätigkeit fremder Investoren auf der Insel berichtet. Die Gegnerin dieser Bautätigkeit im Gemeinderat war Opfer eines Verbrechens geworden. An der Aufklärung dieses Verbrechens hatte er einen großen Anteil gehabt. Die Entwicklung für die Insel war jetzt nicht mehr zu stoppen.  In Höhe des „Strandkorbs“ wurde Petersen aus seinen Gedanken gerissen. Die Bedienung aus der Kneipe, ein netter Kerl aus Polen, mit dem er sich schon häufig unterhalten hatte, stürzte aus der Kneipe, als er Petersen vorbeigehen sah:

„Sheriff, ich hätte sowieso gleich bei dir angerufen. Bei mir sind eben zwei Typen einfach abgehauen, ohne zu zahlen. Die hatten 50 Euro auf dem Deckel.“

Die Bezeichnung „Sheriff“ hatte Petersen nun auf der  ganzen Insel weg, seitdem der Magister angefangen hatte ihn so zu nennen.

„Warte, ich komm mal eben rein, ich brauch eine vernünftige Beschreibung von denen.“

Petersen ging langsam die Treppe zur Kneipe hoch, setzte sich rechts an den runden Tisch unter dem Fernseher, zückte sein Notizblock und nahm die Beschreibung der Zechpreller entgegen. Ein weiterer Gast mit Namen Friedel steuerte noch bei, dass beide gesuchten Personen Kölner Dialekt sprachen. Petersen fand es schon etwas außergewöhnlich, dass morgens schon die Zeche geprellt wurde. Er kannte dieses Phänomen nur aus  der späten Nacht oder dem frühen Morgen, wenn die Kneipengänger voll waren und nicht mehr ein und aus wussten. Er verabschiedete sich aus dem „Strandkorb“ und bog in die Zedeliusstraße ein. Ein Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Wenn jemand morgens die Zeche prellte, dann wollte er womöglich in den nächsten Stunden abreisen. Im Schaukasten der Deutschen Bahn am Rosengarten suchte er nach den Abfahrtzeiten. In 10 Minuten würde ein Zug gehen. Sein Schritt wurde jetzt schnell. Vielleicht hatte er Glück und die beiden Rheinländer saßen im Zug. Er las beim Gehen noch einmal die Beschreibung der beiden Männer durch: Beide groß, einer mit ‘ner blauen Vliesjacke, der andere mit einem roten Segelparka. Der Zug  war schon am Bahnsteig bereitgestellt worden. Die meisten Fahrgäste saßen bereits im Zug. Schnell ging Petersen in das Büro des Fahrdienstleiters und bat um einige Minuten Aufschub, da er den Zug kontrollieren wollte. Der Beamte willigte ein. Er kannte Petersen vom „Störtebeker“. Dieser hatte schon mal einen Graffitischaden an einem Waggon aufgeklärt. Petersen las kurz seine Personenbeschreibung vor. Der Bahnbeamte ging mit ihm auf den Bahnsteig. Petersen kontrollierte den Zug vom Ende her, der Eisenbahner vom Zuganfang. Im dritten Waggon hörte er schon sehr laut Stimmen mit Kölner Dialekt. Die Beschreibung passte auf die leicht angetrunkenen Männer.

„Haben wir nicht was vergessen, meine Herren?“, sprach  er die Männer an, „oder handeln Sie nach dem Motto, die Karawane zieht weiter, der Sultan hat Durst, aber ohne zu bezahlen?“

Die Männer schauten sich verdutzt an.

„Heinz, er kennt unser Liedgut, der Wachtmeister is jot. Isch glaub‘ mer haben tatsächlich wat vergessen.“

„Zahlemann und Söhne“, mischte sich jetzt der andere Kölner ein.

Petersen musste grinsen:

„Wenn nicht jetzt, wann dann?“

Dann forderte er sie auf, den Zug zu verlassen. Der Spaß war vorbei. Erst gab es ein Murren, als aber der Fahrdienstleiter sich zur Unterstützung zu Petersen gesellte, kletterten beide Männer aus dem Zug.

Onno Siebelts staunte nicht schlecht als Petersen mit den beiden  auf der Wache erschien. Nach eingehender Befragung taten beide ihren Zechbetrug als Versehen ab. Sie zahlten sofort ihre 50 Euro. Siebelts nahm die Personalien auf, während Petersen mit dem „Strandkorb“ telefonierte. Auf eine Anzeige wurde verzichtet, aber beide Kölner bekamen Hausverbot. Nachdem der notwendige Bericht geschrieben wurde, verabschiedete sich Siebelts, der auf Grund seiner verminderten Arbeitszeit in der Regel nachmittags frei hatte. Er hatte aber Petersen mehrfach versichert, dass, wenn Not am Mann wäre, er jederzeit abrufbar wäre. Petersen wusste diese Zusage zu schätzen, wollte aber wirklich nur im Notfall davon Gerbrauch machen. Im Übrigen würde demnächst ja noch die Verstärkung vom Festland eintreffen. Was ihm wirklich Sorgen machte, war die Zunahme von Vandalismus und Sachbeschädigungen auf der Insel. Blumenkübel wurden umgeschmissen, Fahrräder demoliert und erst kürzlich wurden ein Teil der Außenbestuhlung des Bahnhofkiosks und eine gläserne Tischplatte zerstört. Brauchbare Spuren: Fehlanzeige. Auch die auf der Insel kursierenden Spekulationen brachten keine neuen Erkenntnisse. Siebelts und er hatten eine Liste mit Täter-Szenarien aufgestellt, aber letztlich stocherten auch sie im Nebel der Vermutungen. Alkoholisierte Schüler aus den Schullandheimen, von denen die Insel einige hatte, und die große Anzahl meist osteuropäischer Arbeiter von diversen Baustellen standen an der Spitze der Liste. Siebelts hatte mit rotem Filzstift quer auf die Liste „Suff“ geschrieben. Petersen musste hierüber immer wieder grinsen, wenn er sich die Liste ansah, aber irgendwie lag der liebe Onno mit seiner großen Erfahrung wahrscheinlich richtig. Die Zahl der sogenannten „Getränkeunfälle“, wie es die Insulaner nannten, war erheblich. In den letzten zwei Monaten musste der Rettungshubschrauber fünfmal die Opfer von „Getränkeunfällen“ ins Nordwest-Krankenhaus nach Sande fliegen.

Es klingelte an der Außentür des Reviers, Petersen hatte schon abgeschlossen, denn die offizielle Öffnungszeit des Reviers war vorbei. Über die Sprechanlage meldete sich Sönke Meiners, der Leiter des Shantychores. Petersen betätigte den Öffner:

„Moin Sönke, ich hoffe nicht, dass du mir Arbeit bringst?“

„Nee, keine Angst, ich bin privat hier, in sozusagen musikalischer Absicht. Der Shantychor macht mir Sorgen, ständig fehlen Leute und wir finden keinen Nachwuchs mehr. Es kann gut sein, dass das in diesem Jahr unsere letzte Saison wird.“

„Oha, damit hätte ich jetzt nicht gerechnet. Du weißt ja, ich bin nicht unbedingt ein Freund dieser Musik, aber irgendwie hat mir das ganze Spaß gemacht, auch weil du die Sache ja moderner aufgezogen hast, wir haben da doch jetzt einen ganz guten Sound reingebracht.“

„Stimmt, vor allem mit deiner Gitarre sind wir rockiger geworden und deshalb will ich einen Plan B mit dir machen. Ich denke, da wir beide ohne Musik als Hobby kaum leben können, dass wir eine kleine Band gründen, die der Insel noch ein bisschen einheizt.“

Petersen grinste:

„Der Vorschlag könnte von mir sein. Ich bin dabei, wenn du genug andere Leute hast und wir uns über das Repertoire verständigen können.“

„Ich hab‘ nichts anderes von dir erwartet. Gib mir noch ein wenig Zeit und dann machen wir einen Termin, okay?“

„Na, klar, ich werd‘ mir auch schon mal ein paar Gedanken machen. Man, wir auf unsere alten Tage, ich glaub‘ es nicht.“

Beide lachten und sehr gut gelaunt verließ Sönke Meiners die Polizeidienststelle.

Petersen schloss nun die Dienststelle  ab und begab sich in seine Dienstwohnung, die über der Wache lag. Er hatte in den letzten Monaten die unpersönlich möblierte Wohnung etwas stärker nach seinem Geschmack gestaltet. Neben einem Ole West-Poster mit den Leuchttürmen der deutschen Bucht hatte er ein Konzert-Poster der Rolling Stones von der Voodoo Lounge-Tour 1995 aufgehängt. Auch andere sehr persönliche Gegenstände schmückten jetzt die Wohnung, kein Vergleich mehr mit den ersten Wochen seiner Dienstzeit auf der Insel, als er sich noch innerlich gegen die Versetzung in die Provinz gesperrt hatte und das Ganze als persönliche Niederlage empfunden hatte. Was natürlich nicht fehlen durfte, war das legendäre Portrait von Klaus Störtebeker. Das Interesse an den Seeräubern um Klaus Störtebeker, Godeke Michels und Magister Wigbold verband ihn mit dem Magister aus seiner Stammkneipe dem „Störtebeker“ in Wangerooge. Auch dieser hatte ein Portrait des berühmten Seeräubers in seiner Kneipe hängen. Daneben hing ein Auszug aus einer Chronik über die Seeräuber: „Magister Wygbold, een mester an den seven kunsten.“ Mit diesem Spruch nervte der Magister seine Gäste. Vor allem die allabendliche Knobelrunde heulte auf, wenn der Magister wieder seinen Spruch aufsagte. Mit der Figur eines vermeintlichen  akademisch gebildeten Seeräubers identifizierte er sich und bei genügend Jever Pils hielt er sich selbst für diese Figur. Petersen konnte hierüber immer wieder lachen, aber er musste sich die Sprüche des Magisters auch nicht jeden Abend anhören.

Heute Abend, beschloss er, würde er beim Magister mal wieder vorbeischauen. Er hatte nämlich einen interessanten Artikel aus dem Bremer Weser-Kurier zum Thema Piraten ausgeschnitten und wollte ihn dem Magister zeigen.

 

Als Petersen die Kneipe gegen 20:00 Uhr betrat, war die Knobelei anscheinend zu Ende. Diverse geöffnete Jever Flaschen standen auf dem Tresen. Einige davon waren noch vollständig gefüllt, was darauf hindeutete, dass einige Spieler mit dem Trinken nicht mehr nachkamen, ein sicheres Zeichen dafür, dass das Knobeln sich dem Ende näherte. Der „Schwede“, ein erklärter BVB Fan, dozierte gerade darüber, dass Robert Lewandowski bei den Bayern scheitern würde. Als er Petersen sah, rief er rüber:

„Werder steigt diese Saison ab.“

„So ein Blödsinn“, konterte der Magister, der genauso wie Petersen Werder-Fan war, „eher steigt der HSV ab.“

Nach dem kurzen Fußballgeplänkel wandte sich der Magister Petersen zu:

„Moin, Sheriff, warst lange nicht mehr da, weinst du deiner Mona nach? In unserem Alter hat man doch keinen Liebeskummer mehr?“

Petersen war über diese Anspielung wenig begeistert:

„Hör auf mit dem Scheiß, ich musste nach dem Stress mit dem Fall Dunker mal etwas kürzer treten und die Alkoholquote senken.“

„Nun mach‘ mal halblang, du kannst doch auch Jever-Fun trinken, mach ich doch auch, wenn ich trocken bin.“

„Nee, in die Kneipe gehen und alkoholfreies Bier trinken, das ist nich‘ mein Fall.“

„Wir haben auch schöne Säfte hier, mit vielen Vitaminen drin.“

Brüllendes Gelächter, der Magister konnte sich über seinen eigenen Spruch gar nicht mehr einkriegen. Trocken konterte Petersen mit einem Spruch, der eigentlich das Markenzeichen des Magisters war:

„Wir sind hier nicht auf Sylt!“

„Der war gut Sheriff, du hast bei mir gelernt.“

Petersen kramte jetzt seinen Zeitungsausschnitt aus der Jackentasche und legte ihn auf den Tresen.

„Hier stand im Weser-Kurier, du kennst doch noch Rainer Büsing vom „Stubu“ in Bremen, der will ‘ne neue Kneipe an der Schlachte aufmachen, ‚Hollemanns Keller, soll ‘ne Piratenkneipe werden.“

„Hollemann, wer soll das denn sein?“

Der Magister nahm den Artikel und überflog ihn.

„Ich hab mal bei Schwarzwälder, dem Bremer Historiker, nachgeschlagen. Johann Hollemann war ein Bremer Kaufmann, der tatsächlich im 14. Jhdt.  Seeräuberei betrieb. Der soll sogar bei einer Revolution 1358 das Bremer Rathaus besetzt haben. Er ist dann vor seinem Haus, der Hollemannsburg, aufgehängt worden. Diese Geschichte soll ein Grund mit dafür sein, dass Bremen in die Hanse eintreten musste, so schreibt es jedenfalls Schwarzwälder. Und Büsing glaubt nun, dass er im Kellergewölbe unter dem „Paulaner“ in Bremen die Reste des Hollemann-Hauses gefunden hat.“

Der Magister stutzte, zapfte dabei, ohne zu fragen, noch ein Bier für Petersen.

„Das ist eine geniale Geschäftsidee, in so einem Gewölbe einen Piratenkeller zu eröffnen. Warum hatten wir nicht diesen genialen Einfall?“

„Weil dem Büsing der Keller gehört. Du hättest ihn ja auch kaufen können.“

„Dazu musst du aber ein paar Bier mehr trinken, Sheriff.“

Beide steigerten sich jetzt in die Idee der Ausstattung des Piratenkellers. Von der Musik bis zur Kleidung der Bedienung wurde alles besprochen. Petersen nahm noch ein Bier, bevor er zahlte und die Kneipe verließ. Die Nacht war sternenklar, vom Strand her hörte er die Motorengeräusche der Dumper, die den Sand vom Osten der Insel ankarrten. Es war Niedrigwasser, deshalb fuhren die Sandfahrer auch nachts, denn nur bei Ebbe konnte gefahren werden.