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Band 199

 

Am Ende aller Tage

 

Rainer Schorm / Rüdiger Schäfer

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Prolog: When Worlds Collide

1. Aufruhr im Halitsystem

2. Geisterstunde

3. Haluter in Not

4. Wendekreis der Hölle

5. Unter Freunden

6. Schwund

7. Der Weg ist das Ziel

8. Symptome I

9. Symptome II

10. Im Synchrofark

11. Die Sickergrube

12. ANDROS gegen ES

13. Im Reich des Molochs

14. Symptome III

15. Zwischenspiel

16. Überlebenskampf

17. Ein letzter Blick auf die Heimat

18. Zusammenprall

19. Am Ende aller Tage

20. Der letzte Flug der GARTAVOUR

21. Krankenbesuch

22. Abschied und Aufbruch

Epilog

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Damit öffnet er den Weg zu den Sternen – der Menschheit werden kosmische Wunder offenbart, sie gerät aber auch in höchste Gefahr.

2058 sind die Menschen nach schwerer Zeit mit dem Wiederaufbau ihrer Heimat beschäftigt, wobei sie langsam zu einer Gemeinschaft zusammenfinden. Nur vereint können sie den Bedrohungen aus dem All trotzen.

So wehren die Menschen mehrfach die Versuche des Geisteswesens ANDROS ab, mit einer Kriegsflotte der sogenannten Bestien die Erde anzugreifen. ANDROS will einen Durchgang in eine fremde Dimension öffnen, der zwei Galaxien verwüsten würde.

Perry Rhodan kann eine Kette von Sonnentransmittern aktivieren, womit er die Katastrophe verhindert. Aber noch ist das Ziel nicht erreicht. Im Heimatsystem von ANDROS treffen die Gegner zum Endkampf aufeinander. Nur wenn den Menschen in Andromeda der Sieg gelingt, gibt es nicht den Untergang AM ENDE ALLER TAGE ...

Prolog

When Worlds Collide

 

Vor 85 Millionen Jahren zerriss das Universum.

Aus einem Nachbarkontinuum strömte fremdartige Energie, dann fremdartige Materie in die Raum-Zeit und löste in einer kleinen Galaxienballung des Virgo-Superhaufens eine Katastrophe aus.

Zwischen zwei Kulminationspunkten, Abgründen, die sich im Innern zweier Sonnen auftaten, bildete sich ein Riss im Gefüge des Universums, der die beiden Galaxien verband. Die Sterneninseln rasten aufeinander zu und würden in ferner Zukunft nicht nur kollidieren, sondern miteinander verschmelzen. Eine riesige, elliptische Galaxis würde entstehen und das neue Schwerkraftzentrum der Lokalen Gruppe bilden. Sofern es überhaupt dazu kommen würde.

Denn die Wunde in der Raum-Zeit schloss sich nicht. Sie schwärte weiter und gebar ein Monster ...

Aus den Abgründen, die in den beiden Sonnen klafften, die später einmal Solt und Halit heißen würden, sickerte die exotische Fremdmaterie sehr viel stärker ins Universum als sonst wo. In Andromeda, der größeren der beiden Galaxien, nahm sie zuerst eine neue Form an. Auf einem Gasplaneten, der Halit umkreiste, kristallisierte die Fremdmaterie. Welcher Keim das möglich gemacht hatte, würde niemand jemals erfahren. Aus den tobenden Gasmassen wuchs an zwei Polen jeweils ein gewaltiger Keil nach oben, bis er den freien Weltraum erreichte.

ANDROS war geboren. Niemand gab dieser Existenz diesen Namen, er entstand in ihr und mit ihr, im Laufe ihrer langen Entwicklung. Die Wesenheit war von Beginn an das Kind zweier Welten. Sie war von Anfang an zerrissen, weder in dieser Dimension zu Hause noch in der, aus der ständig neue Fremdmaterie nachsickerte. Sicherheit oder gar Geborgenheit waren für das Wesen keine Kriterien. Es kannte beides nicht. Aus Unwohlsein wurde Schmerz, der seine Existenz schließlich prägte und vollständig durchzog.

Später, sehr viel später, würde jemand sagen, ANDROS habe es in diesem Universum niemals geben dürfen, die Wesenheit sei eine Unmöglichkeit.

Die Wahrheit war eine andere. ANDROS mochte das Ergebnis von zutiefst unwahrscheinlichen Vorgängen sein – und ohne den Riss im Universum würde er tatsächlich niemals existiert haben. Aber die Chasmen in den Sonnen Halit und Solt waren real, ebenso wie die Große Ruptur, die sich zwischen ihnen durch die Raum-Zeit zog.

ANDROS wuchs, im Laufe von Jahrmillionen, und während in der zweiten Galaxis, der Milchstraße, auf dem vierten Planeten der Sonne Solt ein gewaltiger Meteorit die vorherrschende Lebensform aus der Realität fegte, begann ANDROS, ein Bewusstsein und eine Persönlichkeit auszuformen.

Es war eine Bewusstwerdung der eigenen Art – und einzigartig im wortwörtlichen Sinn. Es gab nur ANDROS, niemanden, der ihm glich oder auch nur entfernt ähnlich war; daher war das Wesen alsbald davon überzeugt, etwas Besonderes zu sein. Das Maß aller Dinge.

ANDROS war die vielleicht erste anorganische Intelligenz, die das Universum hervorgebracht hatte. Ihre Interessen waren nicht die von organischem Leben und ihre Absichten ebenso wenig:

ANDROS wollte nicht mehr leiden.

Der Schmerz, hin- und hergerissen zu sein zwischen zwei Dimensionen, war der Wesenheit Motivation und Rechtfertigung für alles, was sie tun würde.

ANDROS streckte seine Fühler aus. Seine Welt – Palagola – lag in einem riesigen Raumgebiet, das auf die eine oder andere Weise eine Wüste war. Die Energie, welche die Sonnen produzierten, sickerte zum Teil hinüber: dorthin, wo die Zeit sehr viel schneller ablief. Statt zu strahlen, glommen die Sterne wie müde Funken. Kränklich. Schwächlich. Dem Untergang geweiht.

ANDROS wuchs. Auf einer der Nachbarwelten hatte sich eine ihm völlig fremde Art des Lebens gebildet. Die Wesen nannten sich Sitarakh, und im Schatten von ANDROS reiften sie im Laufe der Jahrmillionen zu einer eigenen Kultur. Sie entwickelten eine enge Beziehung zu ANDROS, und sie passten sich der sonderbaren Umwelt in ihrem Raumsektor an.

ANDROS machte sie sich untertan, verschaffte sich Hände, viele Hände, und damit wuchs seine Macht. Sein Einflussbereich wucherte wie ein Krebsgeschwür.

Weitere Jahrmillionen vergingen.

Bis die Memeter erschienen. Ihre Zivilisation entstand und wuchs beim Ort des zweiten Chasmas, im System der Sonne Solt. Die Memeter nutzten die Materie, die ins Universum diffundierte; sie nannten sie Halatium und schufen daraus die Halatiumtechnik. Das aus dem Halatium geschaffene Metall war bewusstseinsfähig, für ANDROS eine unerträgliche Provokation, eine Nachäffung und damit eine Herabsetzung.

Also begann der Krieg, den keiner so nannte. ANDROS' Pläne, gewachsen in einer Zeitspanne jenseits memetischer Vorstellungskraft, waren bedroht.

Die Allianz entstand: ein Zusammenschluss vieler Helfer, die ANDROS rekrutierte, wo auch immer er jemanden fand, der seinen Anforderungen entsprach. Es waren zumeist Lebensformen, die sich von den Memetern unterschieden. Die Erkenntnis, dass Lebewesen dieser Existenzstufe eine andere Motivation benötigten als ANDROS selbst, kam sehr schnell. Kaum etwas war besser geeignet, unterschiedliche Gruppen zu einen, als ein gemeinsamer Gegner, also schuf ANDROS die Legende vom ewigen Ringen – zwischen Humanoiden und Nichthumanoiden.

Die Memeter entwickelten sich weiter, trotz oder vielleicht nachgerade wegen des Drucks, den ANDROS auf ihre Zivilisation ausübte. Aus großen Teilen der memetischen Bevölkerung entstand etwas, mit dem ANDROS niemals gerechnet hatte: eine neue, komplexe Multiintelligenz, die sich ES nannte. ANDROS hatte das Gegenteil von dem erreicht, was er geplant hatte: einen Gegner auf Augenhöhe.

Die Memeter versuchten, die Große Ruptur zu stabilisieren. Sie bewegten Sonnen und erschufen Konstruktionen, die so großartig waren, dass selbst ANDROS beeindruckt war. Zunächst nah an ihrer Wiege, dann entlang der gesamten Ruptur, entstanden Sonnentransmitter und etwas, das ANDROS zunächst als misslungene Versuche ansah – die Transmitterruinen. Es dauerte lange, bis er begriff, dass die scheinbar verkümmerten Sonnen dieser Konstruktionen im Nachbarkontinuum Masseschatten erzeugten. Die interuniverselle Wirkung der von diesen Sonnen erzeugten Gravitation verhinderte wie eine Vornaht ein weiteres Aufreißen der Schwachstelle zwischen den Dimensionen.

ANDROS' Plan änderte sich. Die Memeter selbst wurden weniger, die ihnen nachfolgenden Liduuri, vielen anderen Zivilisationen noch immer weit überlegen, waren schwächer, und sie boten ein leichteres Ziel. Die Verseuchung des Soltsystems und anderer Sonnensysteme, in denen Liduuri siedelten, mit dem Taalvirus war der erste Schritt. Die Halatontechnik war anfällig dafür, und mit den Goldenen verfügte die Allianz über fähige Strategen. Die Naiir, die ursprünglich aus der anderen Dimension in das Primärkontinuum verschlagen worden waren, führten die Armee aus dem Verborgenen. Sie wussten um die Crea und die Gefahr, die diese Lebensformen für ANDROS darstellten. In seinem Auftrag erschufen die Goldenen und die Sitarakh Lebensformen, die für ANDROS' Strategie notwendig waren: Die Maahks wurden geboren und die Bestien. Beide würden den Druck auf die Liduuri erhöhen und gleichzeitig eine Ablenkung sein.

Die Liduuri mussten schließlich fliehen. Sie verließen das System der Sonne Solt und verbargen sich. Einige allerdings flohen sehr viel weiter. Sie überquerten den Abgrund zwischen den großen Inseln, und in Andromeda entstand die Zivilisation der Thetiser. Das Sternenreich von Andrumidia war wie Wachs in ANDROS' fiktiven Händen. In seiner unmittelbaren Nähe manipulierte er die Führungselite, wie er das bereits mit einigen Liduuri getan hatte. Eine Frau, Anathema di Cardelah, war wie geschaffen für die Rolle, die ANDROS für sie vorgesehen hatte. Sie wurde mächtig, so mächtig wie niemand zuvor in ihrer Kultur. Sie wurde zu Faktor I, und die anderen, die ihr folgten, wurden zu den Meistern der Insel.

Wie die Allianz die Milchstraße, waren die Meister diejenigen, die Andromeda in weiten Teilen beherrschten. ANDROS führte sie vorsichtig und heimlich ans Ziel. Sie erschufen einen Riegel, ein militärisches Bollwerk, das nur einem Zweck diente: die eventuell durchbrechenden Crea zu stoppen. Aus einer Bedrohung hatte ANDROS einen Helfer geschaffen.

Immer wieder kam es zu Katastrophen, wenn sich an den besonders durchlässigen Stellen der Großen Ruptur ungeheure Mengen Fremdmaterie sammelten. Der dramatischste Kreelleinbruch in der jüngeren Vergangenheit hatte die Welt Modul heimgesucht und eine ganze Zivilisation ausgelöscht. Das alles überstrahlende, verheerendste Ereignis indes war Millionen Jahre zuvor die Geburt einer supraheterodynamischen Existenz gewesen, die eine Vernichtungsspur durch Andromeda zog, dabei ein gigantisches Sterngebiet dramatisch ausdünnte und praktisch entvölkerte: Damals entstand die Ödnis.

Dieses erste Suprahet blieb nicht, wo es entstanden war. Es ging auf eine Jahrmillionen dauernde Reise und erreichte schließlich die Milchstraße. Eine kleine Gruppe memetischer Wissenschaftler stoppte das Verhängnis. Sie bemerkten, wie das Monstrum sich durch den Leerraum näherte, und handelten. Sie schufen eine Planetenmaschine aus 42 Welten, die nach ihrer Aktivierung das schlafende Suprahet umkreisten wie Monde. Moloch war entstanden.

ANDROS hatte aus alldem etwas gelernt. Nur durch ein von ihm selbst geschaffenes Suprahet, größer als alle, die es zuvor gegeben hatte, würde er Frieden finden. Eine ungebremst ausbrechende Supraheterodynamische Existenz würde die Realität ändern können, unter der ANDROS so sehr litt. Es würde die Natur der Realität ändern ... hin zu einer Welt, in der ANDROS frei sein würde. Frei von Schmerz, frei von Angst.

Doch die Brut der Liduuri war nicht auszurotten. In einem kleinen Kugelsternhaufen, weit oberhalb der Milchstraßenhauptebene, errichteten die Arkoniden ihr Imperium.

ANDROS handelte. Bevor die Arkoniden ihm und seinen Interessen gefährlich werden konnten, initiierte er die sogenannten Methankriege. Der Blutzoll, den das arkonidische Imperium zahlen musste, war furchtbar. Nur durch ein Eingreifen seines Widersachers, der den Arkoniden die Pläne einer Hochleistungswaffe, der Konverterkanone, zugänglich machte, entging das Große Imperium dem Untergang.

Und dann, wie aus heiterem Himmel, betraten die Menschen das Spielfeld des Kosmischen Schachspiels. Nie hätte ANDROS damit gerechnet, dass von der Heimatwelt der Liduuri noch einmal Gefahr für ihn ausgehen könnte.

Die Menschen waren der unberechenbare Faktor. Sie überstanden eine Annektierung durch die Arkoniden. Kaum dass sie ihre Heimatwelt verlassen hatten, drangen sie bis nach Arkon vor, und sogar ein direktes Eingreifen der Sitarakh blieb erfolglos.

Kurz darauf überwand dieses Volk aus Emporkömmlingen den Abgrund zwischen den Inseln. Die Menschen erschienen in Andromeda, und die Meister der Insel erkannten schließlich, dass der Weg, den sie eingeschlagen hatten, falsch gewesen war. Das Unglaubliche geschah, und sie wechselten die Seite. Für ANDROS war dies nicht nur eine Überraschung, ein Rätsel, es war eine Katastrophe.

Geradezu hektisch beschleunigte die Wesenheit ihre Pläne. Angst beherrschte ANDROS wie nie zuvor, seit er sich in einem schmerzerfüllten Universum seiner selbst bewusst geworden war. Als die Menschen das Heimatsystem von ANDROS erreichten, wurde aus Angst Panik.

Es war Zeit, neu geboren zu werden.

1.

Aufruhr im Halitsystem

 

»Sieht aus wie gegessen und wieder ausgespuckt!« Mischa Petuchow hatte nur kurz den Kopf gehoben und das Chaos betrachtet, das sich im Holodom abspielte. Nun wandte er sich wieder den Projektionen über seiner Positronikkonsole zu und verschob die dreidimensionalen Darstellungen mit tausendfach geübten Bewegungen.

»Danke, Mister Petuchow«, sagte Conrad Deringhouse. Die sonore Stimme des hochgewachsenen Manns erfüllte die Zentrale des Expeditionsraumers wie immer bis in den letzten Winkel. »Haben Sie Ihrer poetischen Analyse eventuell noch etwas Substanzielleres hinzuzufügen?«

Weder Thora noch dem angesprochenen Funk- und Ortungschef entging die Warnung im Tonfall des Kommandanten der MAGELLAN. Deringhouse ließ seinen Führungsoffizieren stets die lange Leine – sofern diese zu erkennen in der Lage waren, wann sie ihren Spielraum ausgereizt hatten.

»Ich messe überall Verzerrungen der Raum-Zeit-Struktur in erheblichem Ausmaß an, Sir«, ergänzte Petuchow seine flapsige Bemerkung. »Die Daten zeigen eine auffällige Ähnlichkeit mit den Mustern, die wir damals im Ovisystem aufgezeichnet haben. Und während der Manipulationen, die ANDROS im Sonnensystem vorgenommen hat.«

Thora erschauerte innerlich. Sie fühlte sich nach wie vor wie benebelt. Vor wenigen Minuten war Tuire Sitareh unvermutet in der Zentrale der MAGELLAN aufgetaucht und kurz darauf mit ihrem Ehemann verschwunden. Perry Rhodan hatte ihre verzweifelten Proteste zwar zur Kenntnis genommen, doch ihm wie ihr war klar gewesen, dass er so kurz vor dem vermeintlichen Ziel keinen Rückzieher mehr machen konnte.

Es tut mir unendlich leid, hörte sie die Stimme von ES in ihrer Erinnerung. Aber wenn wir ANDROS ein für alle Mal besiegen wollen, müssen Tuire Sitareh und Perry Rhodan sterben ...

Thora hatte diese Prophezeiung vernommen und war augenblicklich entschlossen gewesen, ein Wahrwerden mit allen Mitteln zu verhindern. Doch dann ... Als es so weit war, als der so lange verschollene Aulore plötzlich vor ihnen gestanden und Perry zum Mitkommen aufgefordert hatte, war sie zu wenig mehr als ein paar schwachen Einwänden fähig gewesen. Ein nicht mal halbwegs überzeugender Protest, der angesichts dessen, was auf dem Spiel stand, geradezu lächerlich gewirkt hatte.

Die MAGELLAN hatte vor ein paar Augenblicken eine Kurztransition beendet und war wenige Lichtstunden von Halit entfernt in den Einsteinraum zurückgekehrt. Nun raste sie mit rund zehntausend Kilometern pro Sekunde auf den in dunklem Orange glühenden Stern zu, dem einzigen neben der heimischen Sonne im Solsystem, der in seinem Innern ein sogenanntes Chasma barg, eine stabile Verbindung zum Creaversum.

Halit wirkte in der Vergrößerung verwaschen, ihre Ränder schienen auseinanderzufließen und in der Schwärze des umgebenden Weltalls zu versickern. Es sah aus, als verlöre sie in gewaltigem Ausmaß Substanz, eine Vermutung, die sich durch die empfangenen Messdaten jedoch nicht bestätigen ließ.

»Wo sind die Doktor Leydens dieser Welt, wenn man sie braucht?« Gabrielle Montoya, die Erste Offizierin der MAGELLAN, schwamm vor ihrer Steuerkonsole förmlich durch einen Ozean an Holos, die allesamt aus den wissenschaftlichen Abteilungen – hauptsächlich der Astrometrie – stammten. Bei den meisten handelte es sich um Auswertungen und Extrapolationen der unvorstellbaren Informationsmengen, die von den Sensoren und Messinstrumenten des Expeditionsraumers in jeder Sekunde aufgefangen und verarbeitet wurden.

Thoras Gedanken schweiften kurz ab. Eric Leyden, der ebenso geniale wie exzentrische Hyperphysiker, war gemeinsam mit seinen Teammitgliedern Luan Perparim und Abha Prajapati im Zuge eines Einsatzes auf Orcus verschwunden. Der Zwergplanet im Kuipergürtel des Solsystems hatte der Bestie Tro Khon als Versteck gedient und war Schauplatz einiger höchst brisanter Entwicklungen gewesen, die mit zu der aktuellen Krisensituation beigetragen hatten.

»Es gibt nur einen Doktor Leyden«, kommentierte Petuchow trocken. »Und ich fürchte, dass selbst er uns im Moment nicht helfen könnte ...«

Die Positronik ergänzte die hochgerechneten optischen Darstellungen der Außenbeobachtung mit zusätzlichen Markierungen, um auffällig die Positionen der fünf Planeten des Systems anzuzeigen, allen voran Palagola, die Heimatwelt von ANDROS. Wie Thora aus den eingeblendeten Begleitdaten ersah, waren allerdings sämtliche Messungen mit einer hohen Unsicherheit behaftet. Die Werte sprangen oft völlig willkürlich entlang der Skalen und änderten sich im Sekundentakt. Die Experten der einzelnen astrogatorischen Spezialgebiete versuchten ihr Bestes, um etwas wie Ordnung in das Chaos zu bringen, hatten damit aber nur mäßigen Erfolg.

»Der Magnetar pulsiert«, stellte Montoya fest. Mit einer beiläufigen Handbewegung beförderte sie eines der 3-D-Bilder über ihrer Positronikkonsole auf den Holodom.

Thora betrachtete den roten Punkt, der in stetigem Rhythmus aufleuchtete und wieder erlosch. Ein dünner, weißer Ring repräsentierte die Umlaufbahn des Objekts um Halit. Der Magnetar umlief die Sonne in einem mittleren Abstand von fünfundzwanzig Lichtstunden.

»Sonstige Aktivitäten?«, erkundigte sich Deringhouse.

»Schwer zu sagen, Sir«, antwortete Petuchow. »Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass da vor uns einiges los ist, aber von hier aus bekommen wir nichts davon mit. Wir müssen näher ran.«

»Das müssen wir so oder so«, mischte sich Thora ein. »Wir machen weiter wie geplant.«

»Rotalarm und volle Gefechtsbereitschaft bleiben bestehen!«, sagte der Kommandant.

Die MAGELLAN hatte sich bereits kurz vor Erreichen des Systems in eine fliegende Festung verwandelt. Die fünf Waffenringe mit ihren überschweren Impulskanonen, Thermostrahlern, Desintegratoren, Torpedowerfern und Paralysatoren waren komplett geöffnet – bereit, auf Kommando Tod und Verderben zu spucken. Thora wusste, dass ihr Mann diese Facette des großartigen Raumschiffs stets mit Skepsis betrachtet hatte, auch wenn ihm bewusst gewesen war, dass ein Vorstoß in unbekanntes Territorium ohne die entsprechende Offensivbewaffnung schlicht Selbstmord war. Trotzdem hatte ihn das Vernichtungspotenzial der MAGELLAN nie auch nur halb so sehr begeistert wie die übrigen Leistungsdaten des Kugelriesen – ganz im Gegensatz zu Thora selbst. Als ehemalige Kommandantin der Arkonidischen Flotte wusste sie die militärische Stärke eines Schiffs einzuordnen.

»Schirmbelastung bei dreiundsechzig Prozent«, meldete Waffenchefin Tya Sentaku.

»Dreiundsechzig Prozent?«, wiederholte Montoya ungläubig. »Und das so weit draußen?«

Die Schiffsführung der MAGELLAN hatte die jüngste Kurztransition nicht ganz freiwillig vollzogen. Im Halitsystem schaukelten sich die Auswirkungen des auf Volllast arbeitenden Synchrofarks immer schneller in unvorhersagbare Höhen. Bereits zweimal war die MAGELLAN in schwere Turbulenzen geraten, weshalb sich Deringhouse entschlossen hatte, einen größeren Abstand zwischen den Expeditionsraumer und das Zentrum des Geschehens zu bringen.

»Was Halit und sein Magnetar da zusammenmischen, ist ein ziemlich aggressiver Cocktail«, ergänzte die Japanerin am Waffenpunkt. »Jede Menge Hyperemissionen – und das auf Frequenzbändern, die unsere Eierköpfe bisher nur aus ihren Lehrbüchern kannten.«

»Funksignale?«, fragte Deringhouse.

»So viel Sie wollen, Sir«, antwortete Petuchow. »Aber nichts, was man isolieren und in etwas Verständliches verwandeln könnte. Weitaus mehr erstaunt mich, dass ich keinerlei Schiffsverkehr orten kann. Wo sind die Wachflotten?«

»Nach allem, was wir derzeit wissen, entsteht im Halitsystem ein neues Suprahet«, sagte Thora. »ANDROS wollte ursprünglich das Solsystem für die Genese dieser Existenz nutzen, doch das haben wir zweimal verhindert. Nun drängt offenbar die Zeit, also muss er auf die einzige Alternative zurückgreifen, die ihm zur Verfügung steht: seine eigene Heimatsonne, denn nur dort findet er das Chasma, das für eine stabile Verbindung ins Creaversum unabdingbar ist.«

»Sie glauben also, ANDROS hat seine Streitkräfte abgezogen, um sie nicht zu gefährden, Miss Thora?« Petuchow wandte die Augen nicht von den Holowolken, die ihn wie zarte Schleier umschwebten und seiner Erscheinung etwas Unwirkliches verliehen.

»Wenn es diese Streitkräfte gegeben hat, wäre das eine Möglichkeit«, bejahte die Arkonidin. »Wir wissen aus eigener Anschauung, was die Aktivierung eines Synchrofarks und die Entstehung eines Transfernexus in einem Sonnensystem anrichten. Hier geschieht sogar noch viel mehr. Das Suprahet, das ANDROS erschaffen will, ist um ein Vielfaches größer als das Exemplar, das wir aus der Eastside der Milchstraße kennen. Und schon das trägt den Namen Moloch.«

Die MAGELLAN wurde von einer Reihe von Erschütterungen durchlaufen. Von einer der Arbeitsstationen klang ein Situationsalarm herüber, wurde aber sofort wieder abgeschaltet.

»Entfernung bis Halit ... zehn Komma acht Lichtstunden«, meldete Petuchow. »Die hyperphysikalischen Turbulenzen verstärken sich weiter. Ich fürchte, es wird ziemlich holprig, wenn wir wirklich noch näher heranwollen ...«

Thora und Deringhouse wechselten einen schnellen Blick.

Autum Legacy, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, trat an die Seite der Arkonidin. »Vielleicht sollten wir in sicherer Entfernung warten und darauf hoffen, dass er sich meldet«, sagte die Sicherheitschefin der MAGELLAN leise.

Thora atmete tief ein und wieder aus. »Nein«, sagte sie dann. »Wenn er da irgendwo drinsteckt ...« Sie deutete auf das Gewirr aus Linien und farbigen Flächen, mit dem die Positronik das energetische Wirrwarr vor ihnen visualisierte. »... will ich ihm so nah wie möglich sein.«

Legacy senkte verstehend den Kopf. Für einen Moment berührte sie Thora an der Schulter. Der sanfte Druck, den sie spürte, gab der Arkonidin augenblicklich neue Kraft.

Sie trug ihren Zellaktivator noch nicht lange, doch in Momenten wie diesen wurde ihr klar, dass ihre eigentliche Energiequelle nicht das eiförmige Ding war, das um ihren Hals hing, sondern die Menschen um sie herum, die sie mit den Jahren kennen, schätzen ... und lieben gelernt hatte. Allen voran einen sturen, träumerischen, humorvollen, wunderbaren Mann namens Perry Rhodan.

Der Gedanke, dass sie ihn vor ein paar Minuten womöglich zum letzten Mal gesehen hatte, fuhr ihr wie ein glühender Dolch ins Herz. Sie spürte die bedauernden Blicke der Umstehenden, die womöglich zu wissen glaubten, was in ihr vorging. Doch sie hatten keine Ahnung. Niemals zuvor in Thoras Leben war es ihr so schwergefallen, Haltung zu bewahren und die Maske der stolzen, unbeugsamen Arkonidin aufrechtzuerhalten.

»Wir empfangen einen Notruf!«, beendete Petuchows scharfe Stimme ihren kurzen Gedankenausflug, und sie war dem Funk- und Ortungschef dankbar dafür. »Es sind Icho Tolot und die DOLAN!«

Der Haluter!, durchzuckte es Thora. Er war der MAGELLAN vorausgeflogen. Seitdem hatten sie nichts mehr von ihm gehört.

»Taktische Analyse!«, forderte Conrad Deringhouse.

»Die DOLAN wirkt angeschlagen«, informierte Petuchow. »Ihr machen die hyperphysikalischen Verhältnisse offenbar ebenso zu schaffen wie uns. Wenn ich die verstümmelten Funksprüche richtig interpretiere, ist ein Großteil der Schiffssysteme ausgefallen und die Manövrierfähigkeit ist stark beeinträchtigt.«

»Entfernung?«

»Zwei Lichtstunden. Also mittendrin im Schlamassel ...«

Der Kommandant der MAGELLAN traf seine Entscheidung wie immer schnell und entschlossen. »Ein Freund ist in Gefahr!«, sagte er laut. »Also holen wir ihn da raus. Ich will Klarmeldungen aus allen Abteilungen in dreißig Sekunden! Und Gucky soll sich sofort bei mir melden; vielleicht brauchen wir ihn!«

2.

Geisterstunde

 

»Es ist zum Wahnsinnigwerden!« Alfred Parlinger spürte den Blick seines Kollegen, als kröchen kleine Käfer über seine Haut. Matthew Abercombie war ein ganz und gar phantasieloser Mensch. Ein ausgezeichneter Astrometriker, ganz ohne Frage, aber gleichzeitig derart auf Standardverfahren fixiert, dass sich Parlinger ihn häufig mit einem Paar gewaltiger Scheuklappen vorstellte. Da Abercombies Kopf einem Kürbis ähnelte, war das entsprechende Bild in Parlingers Kopf zum Schreien komisch.

Und dafür hat er noch weniger Sinn ... wenn das überhaupt möglich ist!, dachte Parlinger.

Parlinger und seine Kollegen hatten einiges zu tun. Der Flug der MAGELLAN durch die Ödnis von Andromeda hatte ihnen Gelegenheit geboten, die Datenspeicher bis obenhin mit Messergebnissen zu füllen. Die Astrometriker, Astrophysiker und Astronomen wussten nur zu gut, dass Besuche in diesem Bereich des Weltraums sich kaum noch einmal ergeben würden. Zumindest nicht zu ihren Lebzeiten.

Die MAGELLAN hatte Andromeda über die beiden zentralen Sonnensechsecktransmitter erreicht. Parlinger erinnerte sich ausgesprochen ungern an seinen Zustand nach dem Sprung. Nie zuvor hatte er sich dermaßen elend und zerschlagen gefühlt – und er hatte während seiner Zeit als Student der Astrophysik so manches Besäufnis erlebt. Die Auswirkungen am nächsten Tag leider ebenso. Parlinger glaubte, das Sodbrennen wieder zu spüren. Wie damals.

Abercombie schnaufte verächtlich und wandte sich den zweidimensionalen Projektionen zu: Monitoren, in denen endlos Zeilen mit Messdaten durchliefen. Die Astrometrische Abteilung befand sich auf mittlerer Höhe der Zentralkugel und bestand aus einer Reihe grob keilförmiger Sektionen. Eine direkte Anbindung an die Zentralpositronik verschaffte den Wissenschaftlern Zugang zu maximaler Rechenleistung, um ihre Datenauswertung in Echtzeit zu schaffen.

Die exotischen astrophysikalischen Verhältnisse in der Ödnis waren gerade für die Theoretiker eine Herausforderung. Parlinger war daher froh, dass er kein rein theoretischer Physiker war. Die praktische Umsetzung war für ihn eine besondere Art der Erdung. Aber nicht einmal das half ihm in dieser unheimlichen Umgebung weiter. Da stimmte nichts! Seit sie das Halitsystem erreicht hatten, wurde alles sogar noch schlimmer.

»Wahnsinnig ... ich sag's doch«, murmelte er. Die Struktur der lokalen Raum-Zeit glich auf bizarre Weise einem multidimensionalen Schwamm.

»Es ist ein Wunder, dass wir hier überhaupt fliegen können«, pflichtete Françoise Dubois ihm trocken bei. »Wäre ich der Pilot, ich würde durchdrehen.«

»Hört mir überhaupt jemand zu?«, murmelte Parlinger.

»Nein, warum auch?«, antwortete die Hyper-D-Mathematikerin amüsiert.

»Zum Beispiel, weil das, was auf uns zukommt, weitaus schlimmer sein dürfte als alles Bisherige«, sagte Parlinger gereizt. »Im Zentrum des Systems steht eine Sonne, in der ein Chasma lauert. Das wird Folgen haben, verlass dich drauf!«

Parlinger war in der Steiermark aufgewachsen und hatte sich nach Terrania aufgemacht, um der Enge seiner Heimat zu entkommen. Das hatte er geschafft. Er hatte einige Male sogar mit Eric Leyden zusammenarbeiten können. Diesem verdankte er auch den Posten auf dem modernsten Fernraumschiff, das die Menschheit je gebaut hatte. Und nun war er in Andromeda, zweieinhalb Millionen Lichtjahre von der Milchstraße entfernt.

Weniger Enge geht kaum!, schoss es ihm durch den Kopf. Er hatte einen Riecher, was Schwierigkeiten betraf.

Etwas lenkte ihn ab. Ein Geräusch.

»Was hast du gesagt?«, fragte er Dubois.

Die hagere Französin sah ihn erstaunt an. »Ich? Nichts. Was soll ich denn gesagt haben?«

»Hätte ich's verstanden, hätte ich wohl kaum gefragt, oder?«, gab Parlinger knurrig zurück. Sein Bart juckte, und er kratzte sich ausgiebig.

»Läuse?«, fragte Dubois spitz.

Prompt verstärkte sich der Juckreiz. »Du bist wirklich eine große Hilfe.«

Dubois lachte laut. »Ja, bin ich. Ganz zweifellos.«

Wie immer, wenn sie lachte, fühlte er sich enorm von ihr angezogen. »Sag bloß, dir macht diese Ödnis nicht zu schaffen. Wir stehen zwar im Halitsystem, und das ist noch mal eine Spur heftiger, aber ich kann die Gegend insgesamt nicht leiden. So spannend es auch ist.«