Carmen Maria Machado

Ihr
Körper
und
andere
Teilhaber

Erzählungen

Aus dem amerikanischen
Englisch von Anna-Nina Kroll

Tropen

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Her Body and Other Parties« im Verlag Graywolf Press, Minneapolis

© 2017 by Carmen Maria Machado

Für die deutsche Ausgabe

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung des Originalumschlags

© Coverdesign by Kimberly Glyder

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50397-5

E-Book: ISBN 978-3-608-11529-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für meinen Großvater
REINALDO PILAR MACHADO GORRIN,
quien me contó mis primeros cuentos,
y sigue siendo mi favorito

und für
VAL

ich habe mich umgedreht,
und du warst da

Mein Körper ist ein Geisterhaus,
in dem ich mich verlaufen habe.
Türen gibt es keine, dafür Messer
und einhundert Fenster.

JACQUI GERMAIN

Gott hätte Frauen zu Gifttieren machen sollen,
als er aus Männern Monster machte.

ELISABETH HEWER

Der Extrastich

(Wenn Sie diese Geschichte vorlesen, dann bitte mit folgenden Stimmen:

ICH als Kind: hoch, austauschbar; als Frau: genauso.

DER JUNGE, DER ZUM MANN HERANWACHSEN UND MEIN EHEMANN SEIN WIRD: durch glücklichen Zufall kräftig.

MEIN VATER: liebenswürdig, dröhnend; wie Ihr eigener Vater oder der Mann, den Sie sich immer als Vater gewünscht haben.

MEIN SOHN als Kleinkind: sanft, mit einem Anflug von Lispeln; als Erwachsener: wie mein Mann.

ALLE ANDEREN FRAUEN: ebenso austauschbar wie ich.)

Anfangs weiß ich schon vor ihm, dass ich ihn will. Eigentlich läuft das so nicht, aber bei mir schon. Ich bin mit meinen Eltern auf einer Feier bei den Nachbarn, und ich bin siebzehn. Ich trinke in der Küche ein halbes Glas Weißwein mit der Tochter, die in meinem Alter ist. Mein Vater merkt nichts. Alles ist weich, wie ein frisches Ölgemälde.

Der Junge steht mit dem Rücken zu mir. Ich sehe die Muskeln in seinem Nacken und seinen Schultern, und wie sich sein Hemd spannt, als wäre er ein Tagelöhner, der sich zum Tanzen in Schale geworfen hat, und ich werde feucht. Ich kann nicht behaupten, ich hätte keine Auswahl. Ich bin schön. Ich habe einen hübschen Mund. Ich habe Brüste, die gleichermaßen unschuldig und obszön aus meinen Kleidern hervorquellen. Ich bin ein artiges Mädchen aus gutem Hause. Er hingegen ist ein bisschen verwegen, wie Männer eben manchmal sind, und ich will. Ich glaube, er könnte das Gleiche wollen.

Ich habe einmal von einer jungen Frau gehört, die etwas dermaßen Schändliches von ihrem Geliebten verlangte, dass er sich ihrer Familie anvertraute, die sie deswegen in ein Sanatorium steckte. Keine Ahnung, welche abseitigen Gelüste sie geäußert hatte, aber ich wüsste es nur zu gern. Was kann derart wunderbar sein, dass man für das Verlangen danach von der Welt ausgeschlossen wird?

Der Junge bemerkt mich. Er wirkt nett, aufgeregt. Er begrüßt mich. Fragt nach meinem Namen.

Ich wollte mir den richtigen Augenblick immer selbst aussuchen, und jetzt ist er da.

Auf der Terrasse küsse ich ihn. Er erwidert den Kuss, am Anfang ganz sanft, dann heftiger, er stößt meinen Mund sogar etwas mit der Zunge auf, was mich überrascht, und ihn vielleicht auch. Ich habe mir vieles ausgemalt im Dunkeln, im Bett, unter meiner schweren alten Patchworkdecke, aber das hier ist besser, ich stöhne. Als er sich von mir löst, wirkt er verwundert. Sein Blick springt kurz hin und her, bevor er sich an meinen Hals heftet.

»Was ist das denn?«, fragt er.

»Ach, das hier?« Ich berühre das Band an meinem Hals. »Das ist nur mein Band.« Ich fahre mit den Fingern über den glänzend grünen Stoff und lasse sie dann vorn auf der Schleife ruhen. Er will es anfassen, aber ich packe seine Hand und wehre sie ab.

»Fass es nicht an«, sage ich. »Das darfst du nicht.«

Bevor wir wieder hineingehen, fragt er, ob wir uns wiedersehen. Ich sage, dass ich das schön fände. An diesem Abend denke ich vor dem Einschlafen noch einmal an ihn, an seine Zunge, die meinen Mund aufschiebt, meine Finger gleiten über meinen Körper, und ich stelle mir vor, er wäre bei mir, voller Muskeln und Drang, mir zu gefallen, und da weiß ich, dass wir heiraten werden.

Das tun wir auch. Später, meine ich. Aber erst nimmt er mich in seinem Auto, im Dunkeln, mit zu einem See mit sumpfigem Ufer, an den man nicht so leicht herankommt. Er küsst mich, umschließt meine Brust, und die Brustwarze zieht sich unter seinen Fingern zusammen.

Bis es passiert, bin ich mir nicht ganz sicher, was er vorhat. Er ist hart und heiß und trocken und riecht nach Brot, und als er in mich eindringt, schreie ich auf und klammere mich an ihn wie eine Schiffbrüchige. Sein Körper klinkt sich in meinen ein, und er stößt und stößt, und kurz vor dem Ende zieht er ihn heraus, klebrig von meinem Blut, und kommt. Der Rhythmus fasziniert und erregt mich, sein greifbares Verlangen, die Eindeutigkeit seines Höhepunktes. Hinterher lässt er sich in den Sitz fallen, und ich höre die Geräusche des Sees: Haubentaucher und Grillen, und etwas, das klingt wie ein Banjo. Der Wind frischt vom Wasser her auf und kühlt meine Haut.

Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Ich spüre meinen Herzschlag zwischen den Beinen. Es tut weh, aber ich glaube, irgendwann wird es sich gut anfühlen. Ich fahre mir mit der Hand über den Körper und spüre einen erregenden Schauer von irgendwo weit her. Sein Atem wird leiser, und ich merke, dass er mich beobachtet. Meine Haut leuchtet im Mondlicht, das durchs Fenster hereinfällt. Als ich sehe, wie er mich anschaut, weiß ich, dass ich an diese Erregung herankommen kann wie an die Schnur eines davonschwebenden Luftballons, die ich gerade eben noch mit den Fingerspitzen streife. Ich ziehe und stöhne und lasse mich langsam und gleichmäßig von dem Gefühl davontragen, und die ganze Zeit beiße ich mir dabei auf die Zunge.

»Ich will mehr«, sagt er, rührt sich aber nicht. Er schaut aus dem Fenster und ich auch. Da draußen in der Dunkelheit könnte alles Mögliche lauern, denke ich. Ein Mann mit Hakenhand. Der Geist eines Anhalters auf der ewig gleichen Reise. Eine alte Frau, die von Kindergesängen aus ihrem Spiegel heraufbeschworen worden ist. Jeder kennt diese Geschichten – das heißt, jeder erzählt sie, auch wenn er sie eigentlich gar nicht kennt –, aber nie glaubt jemand wirklich daran.

Sein Blick gleitet über das Wasser und kehrt dann zu mir zurück.

»Erklär mir, was das für ein Band ist«, sagt er.

»Da gibt es nichts zu erklären. Das ist einfach mein Band.«

»Darf ich mal anfassen?«

»Nein.«

»Ich will aber«, sagt er. Seine Finger zucken, da schließe ich die Beine und setze mich auf.

»Nein.«

Im See schnellt etwas aus dem Wasser und landet mit einem lauten Platsch. Er dreht sich nach dem Geräusch um.

»Ein Fisch«, sagt er.

»Irgendwann«, sage ich, »erzähle ich dir mal die Geschichten von diesem See und den Wesen, die darin leben.«

Er lächelt und reibt sich den Kiefer. Dabei schmiert er sich etwas von meinem Blut ins Gesicht, merkt aber nichts, und ich mache ihn nicht darauf aufmerksam.

»Das fände ich ziemlich gut.«

»Bring mich nach Hause«, sage ich bestimmt. Das tut er, ganz Gentleman.

Später wasche ich mich. Der seidige Schaum zwischen meinen Beinen hat die Farbe und den Geruch von Rost, dabei bin ich so neu wie nie zuvor.

Meine Eltern mögen ihn sehr. Er ist ein guter Junge, sagen sie. Er wird einmal ein guter Mann sein. Sie fragen nach seinem Beruf, seinen Hobbys, seiner Familie. Er schüttelt meinem Vater fest die Hand und macht meiner Mutter Komplimente, die sie kichern und erröten lassen wie ein junges Mädchen. Er kommt zwei-, manchmal auch dreimal die Woche zu mir. Meine Mutter lädt ihn zum Abendessen ein, und während des Essens grabe ich die Fingernägel in seinen Oberschenkel. Wenn vom Eis nur noch Pfützen in den Schälchen übrig sind, sage ich meinen Eltern, dass wir ein Stück die Straße hinunterspazieren wollen. Wir machen uns in der Dunkelheit auf den Weg, halten brav Händchen, bis wir außer Sichtweite sind. Ich ziehe ihn zwischen die Bäume, und sobald wir ein freies Fleckchen auf dem Waldboden finden, streife ich mir mit wackelnden Hüften die Strumpfhose ab und biete mich ihm auf allen vieren an.

Ich kenne die Geschichten über Mädchen wie mich, und ich scheue mich nicht, neue zu schreiben. Ich höre die metallene Gürtelschnalle, und wie seine Hose auf den Boden rutscht, und spüre ihn halb steif hinter mir. Ich bettle – »Mach schon« –, und er erhört mich. Ich stöhne und komme ihm entgegen, und dann treiben wir es auf dieser Lichtung, meine lustvollen Seufzer vermischen sich mit seinen beglückten und verflüchtigen sich in der Abendluft. Wir lernen, er und ich.

Es gibt zwei Regeln: Er darf nicht in mir kommen, und er darf mein grünes Band nicht anfassen. Er spritzt auf die Erde, es macht patsch-patsch-patsch, als würde es anfangen zu regnen. Ich will mir zwischen die Beine fahren, aber meine Finger, die sich die ganze Zeit in den Dreck gegraben haben, sind schmutzig. Ich ziehe mein Höschen und meine Strumpfhose hoch. Er gibt einen Laut von sich und zeigt auf meine Knie, die unter dem Nylon ebenfalls schmutzverkrustet sind. Ich ziehe die Strumpfhose noch einmal runter und wische den Dreck ab, dann ziehe ich sie wieder hoch. Ich streiche meinen Rock glatt und stecke mir das Haar wieder fest. Eine einzelne Locke ist seinem gegelten Haar bei der Anstrengung entkommen, und ich lege sie zu den anderen. Wir gehen am Bach entlang, wo ich mir die Hände in der Strömung sauberspülen lasse.

Wir spazieren zurück zum Haus, keusch untergehakt. Meine Mutter hat Kaffee gemacht, und wir sitzen alle beisammen, während mein Vater sich erkundigt, wie die Geschäfte laufen.

(Wenn Sie die Geschichte vorlesen, geben Sie die Geräusche der Lichtung am besten wieder, indem Sie tief einatmen und die Luft sehr lang anhalten. Dann lassen Sie alle Luft mit einem Mal entweichen, sodass Ihre Brust in sich zusammenfällt wie ein umgeworfener Turm aus Bauklötzen. Wiederholen Sie dies und verkürzen Sie jeweils die Zeit zwischen Anhalten und Entweichen.)

Ich bin schon immer eine Geschichtenerzählerin gewesen. Als kleines Mädchen musste meine Mutter mich einmal aus einem Lebensmittelgeschäft zerren, weil ich brüllte, dass Zehen in der Gemüseabteilung lägen. Besorgte Frauen drehten sich nach mir um und sahen zu, wie ich strampelnd auf den schlanken Rücken meiner Mutter eintrommelte.

»Knoblauchzehen!«, verbesserte sie mich, als wir wieder zu Hause waren. »Keine echten Zehen!« Zur Strafe sollte ich so lange auf meinem Stuhl – in Kindergröße, eigens für mich angefertigt – sitzen bleiben, bis mein Vater nach Hause kam. Aber ich hatte wirklich Zehen gesehen, blasse, blutverschmierte Stümpfe zwischen den weißen Knollen. Der, den ich mit spitzem Zeigefinger berührt hatte, war eiskalt gewesen und hatte sich eindrücken lassen wie eine Blase. Als ich meiner Mutter von diesem Detail erzählte, huschte etwas durch das Flüssige ihrer Augen wie eine aufgeschreckte Katze.

»Du bleibst schön da sitzen«, sagte sie.

Am Abend kam mein Vater von der Arbeit und hörte sich meine Geschichte haarklein an.

»Du kennst doch Mr. Barns, oder?«, fragte er mich nach dem älteren Herrn, der das Lebensmittelgeschäft führte.

Einmal war ich ihm begegnet, das sagte ich meinem Vater. Er hatte Haare, die so weiß waren wie der Himmel, kurz bevor es schneit, und eine Frau, die ihm die Angebotsschilder fürs Schaufenster schrieb.

»Wieso sollte Mr. Barns Zehen verkaufen?«, fragte mein Vater. »Woher soll er die denn haben?«

Jung, wie ich war, hatte ich von Friedhöfen und Leichenhallen natürlich noch nichts gehört und wusste darauf keine Antwort.

»Und selbst, wenn er sie irgendwoher bekäme«, fuhr mein Vater fort, »was hätte er dann davon, sie im Knoblauch zu verstecken?«

Sie waren da gewesen. Ich hatte sie mit eigenen Augen gesehen. Doch im Licht der Logik meines Vaters machten sich Zweifel in mir breit.

»Und vor allem«, sagte mein Vater, der nun bei seinem letzten Beweisstück angelangt war, »warum sind die Zehen dann außer dir niemandem aufgefallen?«

Als erwachsene Frau hätte ich meinem Vater entgegnet, dass es Wahres auf der Welt gibt, das nur ein einziges Paar Augen je bezeugt hat. Als Mädchen stimmte ich seiner Version der Geschichte zu und lachte, als er mich vom Stuhl hob, um mir einen Kuss zu geben, und mich fortscheuchte.

Es ist nicht normal, dass ein Mädchen seinen Freund anleitet, aber ich zeige ihm auch nur, was ich will, was sich vor dem Einschlafen unter meinen Lidern abspielt. Er lernt, das Flackern in meinem Blick zu lesen, wenn mich ein Verlangen packt, und ich enthalte ihm nichts vor. Als er sagt, dass er meinen Mund will, meine Kehle, trainiere ich mir den Würgereflex ab und schlucke ihn ganz, stöhne um seine Salzigkeit herum. Als er nach meinem dunkelsten Geheimnis fragt, erzähle ich ihm von dem Lehrer, der mich im Schrank einsperrte, bis alle anderen weg waren, und mich dann zwang, ihn anzufassen, und wie ich hinterher zu Hause meine Hände mit einem Stahlschwamm blutig schrubbte, obwohl die Erinnerung so viel Wut und Scham aufwühlt, dass ich einen Monat lang Albträume habe. Und als er mir einen Antrag macht, wenige Tage vor meinem achtzehnten Geburtstag, sage ich: Ja, ja, bitte, und dann setze ich mich auf der Parkbank auf seinen Schoß und breite meinen Rock um uns herum aus, sodass im Vorbeigehen niemand ahnt, was darunter vor sich geht.

»Ich kenne so viele Seiten von dir«, sagt er, die Finger tief in mir, und versucht, ein Keuchen zu unterdrücken. »Und jetzt werde ich sie alle kennen.«

Es gibt eine Geschichte, die man sich erzählt, über ein Mädchen, das von seinen Freunden herausgefordert wurde, nach Einbruch der Dunkelheit auf den Friedhof zu gehen. Ihr Fehler war folgender: Als die Freunde behaupteten, wenn man sich nachts auf ein Grab stelle, werde man von dem Verstorbenen gepackt und unter die Erde gezerrt, machte sie sich darüber lustig. Sich lustig zu machen, ist der erste Fehler, den eine Frau begehen kann.

»Das Leben ist zu kurz, um sich vor so einem Quatsch zu fürchten«, sagte sie, »und das werde ich euch zeigen.«

Stolz ist der zweite Fehler.

Es sei nichts dabei, beteuerte sie beharrlich, es werde ganz sicher nichts passieren. Die Freunde gaben ihr also ein Messer, das sie in die frostige Erde stecken sollte, um ihre Anwesenheit und damit ihre Theorie zu beweisen.

Also ging sie auf den Friedhof. Manche Geschichtenerzähler sagen, sie habe das Grab zufällig gewählt. Ich glaube allerdings, dass sie absichtlich ein sehr altes aussuchte, getrieben von Selbstzweifeln und der unbewussten Annahme, eine frische Leiche mit intaktem Fleisch und intakten Muskeln sei gefährlicher als eine, die schon jahrhundertelang tot war.

Sie kniete sich auf das Grab und versenkte die Klinge tief in der Erde. Doch als sie aufstand, um wegzurennen – schließlich war niemand da, der ihre Furcht hätte bezeugen können –, kam sie nicht von der Stelle. Etwas hielt ihre Kleidung gepackt. Sie schrie und stürzte zu Boden.

Am nächsten Morgen kamen ihre Freunde auf den Friedhof. Sie fanden sie leblos auf dem Grab, das Messer steckte in der robusten Wolle ihres Rocks und hielt ihn fest an die Erde geheftet. Am Schreck oder der Kälte gestorben, würde das noch einen Unterschied machen, wenn ihre Eltern eintrafen? Sie hatte nicht unrecht gehabt, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Hinterher gingen alle davon aus, dass sie habe sterben wollen, dabei war sie doch gestorben, um gerade das Gegenteil zu beweisen.

Es zeigt sich also: Recht zu haben, ist der dritte und schlimmste Fehler.

Meine Eltern sind glücklich über die Hochzeit. Meine Mutter sagt, heutzutage werde es zwar zunehmend üblich, dass Mädchen später heiraten, aber sie habe meinen Vater mit neunzehn geheiratet und sei froh darum.

Als ich nach einem Hochzeitskleid suche, muss ich an die Geschichte von der jungen Frau denken, die mit ihrem Geliebten auf einem Ball tanzen wollte und sich kein Kleid leisten konnte. Also kaufte sie ein wunderschönes gebrauchtes weißes Kleid, doch sie wurde krank und schied aus dem Leben. Ein Arzt, der sie in ihren letzten Tagen untersuchte, diagnostizierte eine Vergiftung mit Balsamierflüssigkeit. Wie sich herausstellte, hatte ein skrupelloser Bestattergehilfe das Kleid einer toten Braut entwendet und verkauft.

Die Moral von der Geschichte lautet, glaube ich, dass Armut tödlich ist. Ich gebe für mein Kleid mehr aus, als ich eigentlich geplant hatte, aber es ist so wunderschön und besser, als tot zu sein. Als ich es in meine Aussteuertruhe lege, denke ich an die Braut, die an ihrem Hochzeitstag auf dem Dachboden Verstecken spielte und in eine alte Truhe schlüpfte, die über ihr zuschnappte und sich nicht mehr öffnen ließ. Sie saß in der Falle und musste darin sterben. Alle glaubten, sie wäre weggelaufen, bis Jahre später ein Dienstmädchen das Skelett fand, zusammengerollt im weißen Kleid in der Dunkelheit. Bräuten ergeht es in solchen Geschichten nie gut. Die Geschichten können das Glück riechen und pusten es aus wie eine Kerze.

Wir heiraten im April, an einem für die Jahreszeit ungewöhnlich kalten Nachmittag. Er sieht mich vor der Hochzeit, in meinem Kleid, und küsst mich innig, ehe er mir unters Mieder greift. Er wird steif, und ich sage ihm, dass er mit meinem Körper machen kann, was er will. Ich hebe meine erste Regel auf, zur Feier des Tages. Er drückt mich an die Wand und stützt sich mit einer Hand neben meinem Hals auf den Fliesen ab. Sein Daumen streift mein Band. Er zieht die Hand nicht zurück, und als er Zentimeter für Zentimeter in mich eindringt, raunt er: »Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich.« Ich weiß nicht, ob ich wirklich die erste Frau bin, die in St. George vor den Altar tritt, während ihr Sperma die Beine hinabrinnt, aber ich stelle es mir zumindest gern vor.

In unseren Flitterwochen machen wir eine Rundreise durch Europa. Wir sind nicht reich, aber wir haushalten gut. Europa ist ein Kontinent voller Geschichten, und wenn wir nicht gerade unsere Ehe vollziehen, lerne ich sie kennen. Wir gelangen von geschäftigen antiken Metropolen in verschlafene Dörfer und abgelegene Alpenorte und wieder zurück, schlürfen Hochprozentiges, nagen gebratenes Fleisch vom Knochen, essen Spätzle und Oliven und Ravioli und ein sämiges Getreide, das ich nicht zuordnen kann, nach dem ich aber jeden Morgen lechze. Das Schlafwagenabteil im Zug können wir uns nicht leisten, doch mein Mann besticht einen Schaffner, der uns eine Stunde in einem leeren Abteil verschafft, und so lieben wir uns über dem Rhein, mein Mann presst mich auf das klapprige Bettgestell und heult aus Tiefen, die abgründiger sind als die Berge, die wir durchfahren. Ich weiß, dass das nicht die ganze Welt ist, aber es ist der erste Teil, den ich zu Gesicht bekomme. Ich bin elektrisiert von den Möglichkeiten.

(Wenn Sie diese Geschichte vorlesen, ahmen Sie das Geräusch des Betts unter der Last von Zugreise und Liebesspiel nach, indem Sie einen Metallklappstuhl überspreizen. Wenn Sie nicht mehr können, singen Sie dem Menschen, der Ihnen am nächsten ist, die bruchstückhaft erinnerten Verse alter Lieder vor, denken Sie dabei an Kinderschlaflieder.)

Meine Regel bleibt kurz nach unserer Rückkehr aus. Ich sage es meinem Mann eines Abends, als wir beide gekommen sind und uns auf dem Bett räkeln. Er strahlt voller echter Freude.

»Ein Kind«, sagt er und lehnt sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen zurück. »Ein Kind.« Er schweigt so lange, dass ich glaube, er wäre eingeschlafen, doch als ich ihn anschaue, hat er die Augen geöffnet und blickt an die Decke. Er dreht sich auf die Seite und schaut mich gebannt an.

»Wird das Kind auch ein Band haben?«

Mein Kiefer verkrampft, und meine Hand fährt unwillkürlich an die Schleife. Ich schwanke zwischen mehreren Antworten und entscheide mich für diejenige, die mich am wenigsten wütend macht.

»Das kann man noch nicht sagen«, erwidere ich schließlich.

Da erschreckt er mich, er fasst mir an den Hals. Ich will ihn abwehren, doch er nutzt seine Kraft und hält mir mit einer Hand beide Handgelenke fest, während er das Band mit der anderen anfasst. Er drückt den Daumen in das seidige Gewebe. Vorsichtig berührt er die Schleife, als würde er mein Geschlecht massieren.

»Bitte«, flehe ich. »Bitte nicht.«

Er scheint mich gar nicht zu hören. »Bitte«, wiederhole ich, lauter diesmal, aber auf halber Strecke bricht meine Stimme.

Er hätte es in dem Augenblick tun können, hätte die Schleife aufziehen können, wenn er gewollt hätte. Doch er lässt mich los und rollt sich auf den Rücken, als wäre nichts gewesen. Meine Handgelenke tun weh, ich reibe sie mir.

»Ich brauche ein Glas Wasser«, sage ich. Ich stehe auf und gehe ins Bad. Ich drehe den Hahn auf und inspiziere dann hektisch mein Band, Tränen verfangen sich in meinen Wimpern. Die Schleife sitzt noch fest.

Es gibt eine Geschichte, die ich besonders gern mag. Sie handelt von einem Pionier und seiner Frau, die Wölfen zum Opfer fielen. Nachbarn entdeckten die zerfleischten und in ihrer winzigen Blockhütte verstreuten Leichen, ihre kleine Tochter jedoch wurde nie gefunden, weder tot noch lebendig. Manche behaupteten, sie hätten das Mädchen in einem Wolfsrudel gesehen, und sie sei ebenso wild und ungezähmt durchs Gelände gejagt wie ihre Gefährten.

Jede Sichtung sorgte für Aufsehen in den umliegenden Siedlungen. Einmal bedrohte sie einen Jäger im winterlichen Wald – obwohl sich dieser von dem kleinen nackten Mädchen vielleicht weniger bedroht als vielmehr erschreckt fühlte, weil es die Zähne fletschte und so bestialisch heulte, dass ihm die Haut auf den Knochen flatterte. Eine junge Frau an der Schwelle zum heiratsfähigen Alter, die ein Pferd zu erlegen versuchte. Man beobachtete sie sogar dabei, wie sie unter großem Federstieben ein Huhn riss.

Viele Jahre später hieß es, sie sei in den Binsen am Ufer eines Flusses gesichtet worden, dort habe sie zwei Wolfsjunge gesäugt. Ich stelle mir gern vor, dass es ihre leiblichen Nachkommen waren, die Abstammungslinie der Wölfe vom Menschen gekreuzt, nur das eine Mal. Sie bissen ihr sicher die Brust wund, doch das machte ihr nichts, weil sie ihr und nur ihr gehörten. Ich glaube, die Berührung ihrer Schnäuzchen und Zähne ließen sie Geborgenheit spüren, eine innere Ruhe, die sie nirgendwo sonst gefunden hätte. Bei ihnen ging es ihr besser, als es sonst je möglich gewesen wäre. Da bin ich mir ganz sicher.

Monate ziehen ins Land, und mein Bauch wird dicker. Unser Kind in mir schwimmt energisch, es tritt und stößt und kratzt. In der Öffentlichkeit muss ich oft nach Luft schnappen und gerate ins Taumeln, halte mir den Bauch und zische dem Kleinen, wie ich es nenne, zu, es soll aufhören. Einmal strauchle ich auf einem Spaziergang im Park, dem gleichen, in dem mein Mann mir im Vorjahr den Antrag gemacht hat, und ich falle schwer atmend auf die Knie und bin den Tränen nahe. Eine Passantin hilft mir, mich hinzusetzen, und gibt mir Wasser zu trinken, sie sagt, die erste Schwangerschaft sei immer die schlimmste, danach werde es besser.

Es ist wirklich schlimm, und das liegt nicht nur an meiner neuen Körperform. Ich singe meinem Kind vor und denke an das Ammenmärchen vom hoch- oder tiefstehenden Bauch. Trage ich einen Jungen in mir, das Ebenbild seines Vaters? Oder ein Mädchen, eine Tochter, die nachfolgende Söhne milder macht? Ich habe keine Geschwister, aber ich weiß, dass ältere Mädchen ihre Brüder sanfter machen und von ihnen im Gegenzug vor den Gefahren der Welt beschützt werden – eine Einrichtung, die mir das Herz wärmt.

Mein Körper wandelt sich anders, als ich es erwartet habe – meine Brüste sind schwer und heiß, mein Bauch ist von blassen Rissen übersät, umgekehrten Tigerstreifen. Ich fühle mich grauenhaft unförmig, aber mein Mann scheint von neuem Verlangen erfüllt, als würde meine neue Körperform unsere Liste von Perversitäten erweitern. Und mein Körper reagiert entsprechend: in der Schlange im Supermarkt, beim Abendmahl in der Kirche, eine neue, zügellose Lust befällt mich, der geringste Reiz macht mich feucht und willenlos. Wenn er abends nach Hause kommt, bringt mein Mann eine Liste von Wünschen mit, die ich ihm mehr als bereitwillig erfülle, denn ich bin, schon seit ich am Morgen Brot und Karotten eingekauft habe, kurz davor, zu kommen.

»Ich bin der größte Glückspilz auf Erden«, sagt er und fährt mir mit den Händen über den Bauch.

Morgens küsst er mich und spielt an mir herum, und manchmal nimmt er mich schon vor dem Frühstück. Beschwingten Schrittes geht er zur Arbeit. Er kommt mit der ersten und dann mit der zweiten Beförderung nach Hause. »Mehr Geld für meine Familie«, sagt er. »Mehr Geld für unser Glück.«

Die Wehen setzen mitten in der Nacht ein, jeder Zentimeter meines Innern verwringt sich zu einem höllischen Knoten, zwischendurch lässt es nur kurz nach. Ich schreie wie seit der Nacht am See nicht mehr, aber diesmal aus gegenteiligen Gründen. Jetzt wird die Freude darüber, dass mein Kind kommt, von den unerbittlichen Qualen zunichtegemacht.

Ich liege zwanzig Stunden in den Wehen. Ich zerquetsche meinem Mann fast die Hand, heule Beschimpfungen, von denen die Krankenschwester wenig beeindruckt scheint. Der Arzt ist frustrierend geduldig, schaut mir zwischen die Beine, wobei die weißen Augenbrauen unlesbare Nachrichten auf seiner Stirn morsen.

»Was ist los?«, frage ich.

»Atmen«, befiehlt er.

Ich bin mir sicher, dass ich meine Zähne zu Staub zermalme, wenn es noch eine Sekunde länger dauert. Ich schaue meinen Mann an, der mir einen Kuss auf die Stirn gibt und den Arzt fragt, was denn los sei.

»Ich weiß nicht, ob wir eine natürliche Geburt schaffen«, sagt der Arzt. »Es kann sein, dass wir das Kind per Kaiserschnitt holen müssen.«

»Nein, bitte nicht«, flehe ich. »Das will ich nicht, bitte.«

»Wenn sich nicht bald etwas bewegt, machen wir es so«, sagt der Arzt. »Das ist für alle das Beste.« Er schaut auf, und ich bin mir fast sicher, dass er meinem Mann zuzwinkert, aber unter Schmerzen sieht das Hirn die Dinge anders, als sie sind.

Ich treffe im Kopf eine Vereinbarung mit dem Kleinen. Kleines, denke ich, wir sind jetzt zum letzten Mal unter uns. Bitte lass nicht zu, dass sie dich aus mir herausschneiden.

Zwanzig Minuten später ist das Kleine geboren. Ein Schnitt muss gemacht werden, aber nicht auf dem Bauch, wie ich befürchtet habe. Stattdessen setzt der Arzt das Skalpell weiter unten an, und ich spüre wenig, nur ein Zupfen, aber das liegt vielleicht an den Medikamenten, die man mir gegeben hat. Als mir das Baby in den Arm gelegt wird, suche ich seinen zerknautschten Körper von Kopf bis Fuß ab, er hat die Farbe des Himmels bei Sonnenuntergang und ist mit roten Striemen überzogen.

Kein Band. Ein Junge. Ich fange an zu weinen und drücke das ungezeichnete Baby an meine Brust. Die Schwester zeigt mir, wie ich ihn stille, und ich bin so glücklich, als ich spüre, wie er trinkt, und die gekrümmten Fingerchen streichle, jedes für sich ein kleines Komma.

(Wenn Sie diese Geschichte vorlesen, geben Sie den Zuhörern Schälmesser und fordern sie auf, den weichen Hautlappen zwischen Ihrem Daumen und Zeigefinger durchzuschneiden. Bedanken Sie sich anschließend.)

Es gibt eine Geschichte über eine Frau, deren Wehen einsetzen, als der zuständige Arzt müde ist. Es gibt eine Geschichte über eine Frau, die selbst zu früh geboren wurde. Es gibt eine Geschichte über eine Frau, deren Körper so sehr an ihrem Kind festhielt, dass man sie aufschneiden musste, um es auf die Welt zu holen. Es gibt eine Geschichte über eine Frau, die eine Geschichte über eine Frau gehört hat, die im Verborgenen Wolfsjunge zur Welt gebracht hat. Wenn man darüber nachdenkt, laufen alle Geschichten am Ende zusammen wie Regentropfen in einem Teich. Jeder entspringt den Wolken einzeln, aber wenn sie erst einmal alle beieinander sind, kann man sie unmöglich auseinanderhalten.

(Wenn Sie diese Geschichte vorlesen, ziehen Sie die Gardinen auf, um Ihren Zuhörern den letzten Punkt zu veranschaulichen. Es wird regnen, das verspreche ich Ihnen.)

Man nimmt mir das Baby ab, damit ich genäht werden kann, wo geschnitten wurde. Durch eine Maske, die mir sanft auf Mund und Nase gedrückt wird, bekomme ich ein Mittel, das mich schläfrig macht. Mein Mann hält mir die Hand und scherzt dabei mit dem Arzt.

»Für wie viel machen Sie den einen Extrastich?«, fragt er. »Das haben Sie doch im Programm, oder?«

»Bitte«, sage ich zu ihm. Aber es kommt verwaschen und lallend heraus, und möglicherweise ist es nicht mehr als ein leises Stöhnen. Keiner der beiden Männer schaut mich an.

Der Arzt schmunzelt. »Sie sind nicht der Erste …«

Ich rutsche durch einen langen Tunnel, und dann tauche ich wieder auf, aber ich liege unter etwas Schwerem, Dunklem, wie Öl. Ich glaube, ich muss mich übergeben.

»… man hört ja, es wäre fast wie …«

»… wie eine Jungfr…«

Und dann bin ich wach, hellwach, und mein Mann ist weg, und der Arzt auch. Und das Baby, wo ist …

Die Schwester steckt den Kopf zur Tür herein.

»Ihr Mann ist gerade Kaffee holen«, sagt sie, »und das Baby schläft in seinem Bettchen.«

Der Arzt kommt hinter ihr herein, wischt sich die Hände an einem Tuch ab.

»Alles bestens vernäht, keine Sorge«, sagt er. »Schön festgezurrt, alle sind zufrieden. Die Schwester erklärt Ihnen gleich noch was zur Wundpflege. Sie müssen sich jetzt eine Weile schonen.«

Das Baby wacht auf. Die Schwester nimmt es aus seinem Nestchen und legt es mir wieder in den Arm. Er ist so hübsch, dass ich mich ermahnen muss zu atmen.

Ich erhole mich jeden Tag etwas mehr. Ich bewege mich langsam und unter Schmerzen. Mein Mann will mich anfassen, aber ich schiebe seine Hand weg. Auch ich will zurück in unser altes Leben, aber das ist jetzt nicht zu machen. Ich stille schon rund um die Uhr mit diesen Schmerzen und stehe mitten in der Nacht auf, um für unseren Sohn zu sorgen.

Eines Tages bringe ich ihn mit der Hand zum Orgasmus, und hinterher ist er glücklich. Ich merke, dass ich ihn befriedigen kann, auch wenn ich dabei unbefriedigt bleibe. Um den ersten Geburtstag unseres Sohnes herum bin ich so weit wiederhergestellt, dass ich meinen Mann in mein Bett lassen kann. Ich weine vor Glück, als er mich berührt, mich ausfüllt, wie ich es mir so lange gewünscht habe.

Mein Sohn ist ein gutes Kind. Er wächst und wächst. Wir versuchen, ein zweites Baby zu bekommen, aber ich habe den Verdacht, dass der Kleine so viel Schaden in mir hinterlassen hat, dass mein Körper kein weiteres mehr beherbergen kann.

»Du warst ein schlechter Mieter, Kleiner«, sage ich, als ich ihm das feine Haar schamponiere, »die Kaution bekommst du von mir nicht zurück.«

Er plantscht in der Küchenspüle und jauchzt vor Freude.

Mein Sohn fasst mein Band an, aber nie so, dass ich Angst haben muss. Für ihn ist es ein Teil von mir, er geht damit nicht anders um als mit einem Ohr oder einem Finger. Es bereitet ihm Vergnügen, ein Vergnügen, das keine Ansprüche birgt, und das finde ich schön.

Ich weiß nicht, ob mein Mann traurig ist, dass wir kein zweites Kind bekommen können. So offen er über seine Begierden spricht, so verschlossen ist er, wenn es um seine Sorgen geht. Er ist ein guter Vater, und er liebt seinen Jungen. Wenn er von der Arbeit kommt, spielen sie Fangen und tollen durch den Garten. Unser Sohn ist noch zu klein, um einen Ball fangen zu können, aber mein Mann rollt ihn geduldig über den Rasen, und der Kleine hebt ihn auf und lässt ihn wieder fallen, und mein Mann ruft: »Da, guck! Hast du gesehen? Das war fast geworfen!«

Von allen Geschichten, die ich über Mütter kenne, ist diese hier am nächsten an der Realität. Eine junge Amerikanerin kommt mit ihrer Mutter nach Paris, als diese plötzlich krank wird. Sie beschließen, ein paar Tage in einem Hotel zu bleiben, damit die Mutter sich erholen kann, und die Tochter ruft einen Arzt.

Nach kurzer Untersuchung sagt der Arzt zur Tochter, ihre Mutter benötige lediglich ein bestimmtes Medikament. Er setzt sie in ein Taxi, gibt dem Fahrer Anweisungen auf Französisch und erklärt ihr, der Fahrer werde sie zu ihm nach Hause bringen, wo seine Frau ihr dann das richtige Mittel aushändige. Die Fahrt dauert lang und immer länger, und als die Tochter endlich ankommt, ärgert sie sich über die unerträgliche Langsamkeit der Arztgattin, die die Tabletten mit größter Sorgfalt aus Pulver presst. Als sie zurück ins Taxi steigt, bummelt der Fahrer durch die Gegend, ein paarmal kommt er sogar auf der gleichen Straße heraus. Frustriert steigt die Tochter aus und geht zu Fuß zum Hotel zurück. Doch als sie schließlich ankommt, behauptet der Rezeptionist, sie noch nie gesehen zu haben. Und als sie hinauf zu dem Zimmer läuft, in dem ihre Mutter sich ausgeruht hat, haben die Wände eine andere Farbe, die Einrichtung ist eine andere als in ihrer Erinnerung, und von ihrer Mutter fehlt jede Spur.

Das Ende dieser Geschichte hat viele Varianten. Einmal ist die Tochter bewundernswert hartnäckig und sich ihrer selbst sicher, mietet ein Zimmer in der Nähe und observiert das Hotel, verführt schließlich einen jungen Wäschereiangestellten und deckt die Wahrheit auf: dass ihre Mutter an einer hochansteckenden, tödlich verlaufenden Krankheit gestorben ist und dahinschied, kurz nachdem der Arzt die Tochter losschickte. Um eine Massenpanik in der Stadt zu verhindern, entfernten und beerdigten die Hotelangestellten die Leiche, strichen das Zimmer und möblierten es neu und bestachen alle Beteiligten, damit sie leugneten, den beiden je begegnet zu sein.

In einer anderen Version dieser Geschichte irrt die Tochter jahrelang durch die Straßen von Paris und glaubt, verrückt zu sein, sich ihre Mutter und das Leben mit ihr in ihrem kranken Kopf nur eingebildet zu haben. Sie stolpert von Hotel zu Hotel, verwirrt und trauernd, auch wenn sie nicht sagen kann, um wen eigentlich. Jedes Mal, wenn sie wieder aus einer Edellobby geworfen wird, weint sie um etwas, das sie verloren hat. Ihre Mutter ist tot, und sie weiß nichts davon. Sie wird es nicht erfahren, bis sie selbst stirbt, gesetzt den Fall, man glaubt an ein Paradies.

Die Moral der Geschichte muss ich Ihnen nicht erklären. Ich glaube, Sie kennen sie bereits.

Mit fünf Jahren wird unser Sohn eingeschult, und ich erkenne seine Lehrerin wieder. Sie ist diejenige, die sich damals im Park neben mich hockte, um mir zu helfen, und mir einfachere Schwangerschaften für die Zukunft voraussagte. Sie erinnert sich auch an mich, und wir unterhalten uns kurz auf dem Flur. Ich erzähle ihr, dass wir keine weiteren Kinder bekommen haben und meine Tage nun, da unser Sohn in die Schule geht, von Trägheit und Langeweile geprägt sein werden. Sie ist nett. Wenn ich Beschäftigung bräuchte, sagt sie, gebe es am hiesigen College einen wunderbaren Zeichenkurs für Frauen.

Abends auf dem Sofa, als mein Sohn im Bett liegt, fährt mein Mann mir mit der Hand unter den Rock.

»Komm her«, sagt er, und ich spüre eine stechende Lust. Ich gleite vom Sofa, streiche mir den Rock hübsch glatt und rutsche auf Knien zu ihm hinüber. Ich küsse sein Bein, fahre mit der Hand bis zum Gürtel hinauf und befreie ihn aus seinen Fesseln, ehe ich ihn in voller Länge schlucke. Er fährt mir mit der Hand durchs Haar, streichelt meinen Kopf, stöhnt und reckt sich mir entgegen. Ich merke gar nicht, wie seine Hand in meinen Nacken wandert, bis er versucht, die Finger unter meinem Band hindurchzustecken. Ich schnappe nach Luft und lasse von ihm ab, falle rückwärts und taste hektisch nach meiner Schleife. Er sitzt nur da, von meiner Spucke glänzend.

»Komm zurück«, sagt er.

»Nein«, sage ich, »dann fasst du es an.«

Er steht auf, richtet sich und zieht den Reißverschluss seiner Hose zu.

»Eine verheiratete Frau sollte keine Geheimnisse vor ihrem Ehemann haben«, sagt er.

»Ich habe keine Geheimnisse vor dir«, protestiere ich.

»Das Band!«

»Das Band ist kein Geheimnis; es gehört einfach zu mir.«

»Wurdest du schon damit geboren? Warum um den Hals? Warum ist es grün?«

Ich antworte nicht.

Er schweigt. Dann:

»Eine verheiratete Frau sollte keine Geheimnisse haben.«

Meine Nase wird heiß. Ich will nicht weinen.

»Ich habe dir alles gegeben, was du dir je von mir gewünscht hast«, sage ich. »Darf ich denn nicht diese eine Sache für mich behalten?«

»Ich will es wissen.«

»Du denkst, du willst es wissen«, sage ich, »aber das stimmt nicht.«

»Warum versteckst du es vor mir?«

»Ich verstecke es nicht. Aber es gehört nun mal nicht dir.«

Er kommt ganz nah zu mir herunter, und ich weiche seiner Bourbonfahne aus. Ich höre ein Knarren, und als wir beide aufschauen, sehen wir die Füße unseres Sohnes die Treppe hinaufhuschen.

Als mein Mann ins Bett geht, tut er es mit einem glühenden Zorn, der erst von ihm abfällt, als er tief im Traum ist. Ich liege lange wach, lausche seinem Atem und frage mich, ob Männer vielleicht auch Bänder haben, die bloß nicht wie Bänder aussehen. Vielleicht tragen wir alle irgendeine Art Mal, selbst wenn es unsichtbar ist.

Am nächsten Tag fasst unser Sohn mir an den Hals und fragt nach meinem Band. Er will daran ziehen. Und sosehr es mich schmerzt, ich muss es ihm verbieten. Als er die Hand danach ausstreckt, schüttle ich eine Dose mit Pennys. Es scheppert fürchterlich, und er lässt von mir ab und fängt an zu weinen. Zwischen uns geht etwas verloren, das ich nie wiederfinden werde.

(Wenn Sie diese Geschichte vorlesen, füllen Sie eine Getränkedose mit Münzen. Wenn Sie an die entsprechende Stelle kommen, schütteln Sie sie möglichst laut und nah vor jenen, die Ihnen am nächsten sind. Beobachten Sie die verschreckten Gesichter, und wie sich langsam Enttäuschung darauf breitmacht. Achten Sie darauf, wie man Sie bis ans Ende Ihrer Tage nie wieder mit den gleichen Augen sehen wird.)

Ich melde mich in dem Zeichenkurs für Frauen an. Wenn mein Mann arbeitet und mein Sohn in der Schule ist, fahre ich auf den weitläufigen grünen Campus, wo in einem gedrungenen grauen Gebäude die Kunstseminare stattfinden.

Ich nehme an, die männlichen Aktmodelle bekommen wir aus Gründen der Schicklichkeit nicht zu sehen, aber der Kurs hat seine ganz eigene Dynamik – es gibt reichlich zu entdecken an der nackten Gestalt einer fremden Frau, reichlich in Betracht zu ziehen, während man Zeichenkohle zwischen den Fingern rollt oder Farben mischt. Ich sehe, wie mehr als eine Frau auf ihrem Sitz herumrutscht, um das Blut wieder umzuleiten.

Eine Frau kommt immer und immer wieder. Ihr Band ist rot und um ihr schmales Fußgelenk geknotet. Ihre Haut hat die Farbe von Oliven, und eine Spur aus dunklem Haar führt von ihrem Bauchnabel zu ihrem Venushügel. Ich weiß, dass ich sie nicht begehren sollte. Nicht, weil sie eine Frau ist, und nicht, weil sie eine Wildfremde ist, sondern weil es ihr Job ist, sich hier auszuziehen, und ich schäme mich dafür, dass ich diese Situation ausnutze. Mein wandernder Blick löst erhebliche Schuldgefühle in mir aus, doch wenn mein Stift ihre Konturen nachzeichnet, tut meine Hand es ihm in den Tiefen meiner Fantasie gleich. Ich bin nicht einmal sicher, wie so etwas genau ablaufen sollte, aber die Möglichkeiten treiben mich schier in den Wahnsinn.

Eines Tages biege ich nach dem Zeichenkurs um eine Ecke, und da ist sie, die Frau. Angezogen, verhüllt von einem Regenmantel. Ihr Blick lässt mich versteinern, auf die kurze Distanz erkenne ich einen goldenen Rand um ihre Pupillen, als trüge sie zwei Sonnenfinsternisse in ihren Augen. Sie begrüßt mich, und ich begrüße sie.

Wir setzen uns in ein nahes Diner, wo sich unsere Knie unter dem Resopaltisch hin und wieder berühren. Sie trinkt ihren Kaffee schwarz, was mich stutzen lässt, ich weiß gar nicht, warum. Ich frage, ob sie Kinder hat. Ja, sagt sie, eine Tochter, ein hübsches kleines elfjähriges Mädchen.

»Elf ist ein grauenhaftes Alter«, sagt sie. »Ich erinnere mich an nichts, bevor ich elf war, aber dann war auf einmal alles da, das pure, grelle Grauen. Diese eine Zahl«, sagt sie, »die totale Katastrophe.« Dann schweift ihre Miene kurz ab, als wäre sie in einem See abgetaucht, und als sie wieder bei mir ist, erzählt sie kurz von den Erfolgen ihrer Tochter im Bereich Gesang und Musik.

Wir sprechen nicht über die spezifischen Ängste, die man als Mutter eines Mädchens hat. Ehrlich gesagt, traue ich mich nicht, zu fragen. Ich frage auch nicht, ob sie verheiratet ist, und von sich aus erzählt sie es nicht, sie trägt jedenfalls keinen Ring. Wir sprechen über meinen Sohn, über den Zeichenkurs. Mich interessiert brennend, aus welcher Not heraus sie sich vor uns auszieht, aber vielleicht frage ich nicht nach, weil die Antwort, wie die Pubertät, zu grauenerregend wäre, um sie je vergessen zu können.

Sie fesselt mich, nur so kann man es ausdrücken. Sie hat eine Leichtigkeit an sich, aber anders als ich früher – als ich jetzt. Sie ist wie ein Brotteig, der unter knetenden Händen nachgibt und seine Zähigkeit, sein Potenzial verbirgt. Als ich den Blick kurz abwende und wieder hinschaue, wirkt sie doppelt so groß wie vorher.

»Vielleicht können wir uns ja demnächst noch mal treffen«, sage ich. »Ich hatte einen sehr schönen Nachmittag.«

Sie nickt. Ich zahle ihren Kaffee.

Ich will meinem Mann nicht von ihr erzählen, aber er spürt eine unerschlossene Lust in mir. Eines Abends fragt er, was mich so aufwühlt, und ich gestehe alles. Sogar ihr Band beschreibe ich ihm ganz genau, was eine zusätzliche Welle der Scham in mir auslöst.

Er ist so erfreut über diese Wendung, dass er sich eine lange und ausführliche Fantasie zusammenmurmelt, während er seine Hose auszieht und in mich eindringt, ich verstehe nicht alles, aber wahrscheinlich schlafen sie und ich darin miteinander, vielleicht auch wir beide mit ihm.

Ich habe das Gefühl, sie irgendwie verraten zu haben, und gehe nicht mehr zu dem Kurs. Ich finde andere Dinge, mit denen ich mir die Zeit vertreibe.