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Band 205

 

Der Geminga-Zwischenfall

 

Rüdiger Schäfer

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

1. Abyssus abyssum invocat

2. Quaere et invenies

3. Aliquid stat pro aliquo

4. Cessante causa cessat effectus

5. Quaere et invenies

6. Omnia tempus habent

7. Male parta, male dilabuntur

8. Potius sero quam numquam

9. Imago est animi vultus

10. Qui audet adipiscitur

11. Vide, cui fidas

12. Ut sementem feceris, ita metes

13. Dum spiro, spero

14. Etiam tacere est respondere

15. Vivere est militare

16. Manus manum lavat

17. Nam quod in iuventus non discitur, in matura aetate nescitur

18. Bene docet, qui bene distinguit

19. Sol lucet omnibus

20. Carpe noctem

21. Prudentia potentia est

22. Omne initium difficile est

23. Contra vim mortis non est medicamen in hortis

24. Dies diem docet

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Fünfzig Jahre nachdem der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff entdeckt hat, ist eine neue Epoche der Menschheit angebrochen. Die Solare Union steuert den Aufbruch ins All.

Die Menschen haben Kolonien nicht nur auf dem Mond und Mars, sondern auch in fernen Sonnensystemen errichtet. Doch auf die terranischen Pioniere warten ungeahnte Herausforderungen und Gefahren. Ende 2088 wird eine Kolonie sogar vollständig ausgelöscht.

Verantwortlich ist offenbar Iratio Hondro, der über unheimliche Gaben verfügt. Es gelingt ihm, den Planeten Plophos in seine Gewalt zu bringen. Ein halbes Jahr später will er sich sogar eine weitere Welt aneignen.

Sein Versuch, den Schaltmeister von Rumal auszutauschen, scheitert jedoch, und Hondro muss fliehen. Perry Rhodan setzt ihm an Bord der CREST II nach. Im Zielsystem lauert Hondro auf seine Verfolger – es beginnt DER GEMINGA-ZWISCHENFALL ...

1.

Abyssus abyssum invocat

 

»Das funktioniert so nicht!«

Bumipol na Ayutthaya aktivierte per Blickschaltung zwei zusätzliche Analysegeräte. Das bleistiftdünne Band der Holobrille, das als schmaler Strich über seinen Augen lag, vibrierte kaum merklich. Die energetische Blase der Versuchsanordnung, die im Zentrum des Hauptlabors inmitten von starken elektromagnetischen Feldern schwebte, veränderte sich hingegen nicht. Zumindest nicht so, dass man es optisch wahrnehmen konnte. Aber auch die Messergebnisse der Multiscanner ließen nicht erkennen, dass irgendetwas geschah.

»Kein Substanzverlust«, sagte Sianuk na Ayutthaya. Er stand auf der anderen Seite der Blase und regelte die Feldstärken der Schutzschirme auf Basis der Beobachtungsergebnisse dynamisch nach. Seine Stimme wurde vom dumpfen Summen der Energieerzeuger untermalt und klang seltsam verzerrt. »Keine Übertragungen. Die infizierte Zellkultur ist strukturell unverändert. Das Dunkelleben reagiert auf keinen Stimulus.«

»Hab ich doch gerade gesagt!«, stieß Bumipol hervor. »Das funktioniert so nicht.«

»Wir haben erst sechzig Prozent der verfügbaren Hyperfrequenzen ausprobiert«, wandte sein Zwillingsbruder ein. »Es ist viel zu früh, um eine verlässliche ...«

»Der bekannten verfügbaren Hyperfrequenzen«, verbesserte ihn Bumipol und strich sich eine Strähne seines schütteren, grauen Haars aus der Stirn. »Wir brauchen ultrahohe Schwingungsmuster; mindestens im Peta-, besser noch im Exabereich.«

»Du weißt genau, dass sämtliche Meiler der CREST II nicht ausreichen würden, um die Energie zu erzeugen, die für derartige Emissionswellen nötig wäre. So etwas könnte höchstens NATHAN in den Laboratorien der Lunar Research Area hinkriegen.«

»Natürlich weiß ich das«, erwiderte Bumipol ungehalten. »Eben deshalb ist das, was wir hier tun, nichts als Zeitverschwendung. Seit Monaten arbeiten wir nun schon an diesem verdammten Zeug und kommen keinen Schritt weiter.«

»Du übertreibst.« Wie so häufig war Sianuk der Besonnenere der beiden Wissenschaftler. »Wir wissen schon eine ganze Menge mehr als vor einem halben Jahr. Grundlagenforschung ist nun mal oft ein Geduldsspiel.«

Bumipol stieß ein undefinierbares Grunzen aus. Mit rationalen Argumenten war seiner Gereiztheit nicht beizukommen. Er brauchte Ergebnisse. Vor wenigen Tagen erst hatte sich der Protektor höchstpersönlich nach den Fortschritten ihrer Untersuchungen erkundigt, und es hatte Bumipol körperliche Schmerzen bereitet, Perry Rhodan nichts Konkretes mitteilen zu können. Zwar hatte der sich verständnisvoll und scheinbar gleichmütig gegeben, doch seine Enttäuschung war unterschwellig zu spüren gewesen.

Sianuk sah das anders. »Wenn Rhodan enttäuscht wäre, würde er uns das sagen«, behauptete er jedes Mal. »Aber ihm ist ebenso wie allen anderen klar, dass sich solche Dinge nicht erzwingen lassen. Es dauert so lange, wie es dauert.«

»Ich schalte den Bunsenbrenner zu«, kündigte Sianuk in diesem Moment an.

Bumipol nickte nur. Ein Warnton machte ihn darauf aufmerksam, dass sein Bruder den inneren der drei Schutzschirme, welche die Blase gegen die Außenwelt abschirmten, desaktiviert hatte. Der Bunsenbrenner, wie ihn Sianuk salopp nannte, war in Wahrheit ein Emissionsgenerator. Das Gerät war in der Lage, ein breites Spektrum von Strahlung zu erzeugen, angefangen von Gamma- und Röntgenwellen über sämtliche Frequenzen des sichtbaren Lichts bis hin zu Infrarot-, Mikro- und Radioimpulsen.

»Auf Gammastrahlung hat das Zeug nicht reagiert«, sagte Sianuk und verschob einige seiner holografischen Steuerelemente. »Versuchen wir also einen Beschuss mit Alpha- und Betateilchen.«

Vor Bumipol leuchtete ein Holo mit einer Reihe von Messwerten auf. Sianuk bestrich die Proben zunächst mit einer vergleichsweise geringen Dosis von wenigen Millisievert und erhöhte die Intensität dann Schritt für Schritt. Es dauerte nicht lange, bis die ersten neutralen Zellkulturen Wirkung zeigten. Die ionisierende Strahlung brach die chemischen Verbindungen auf und erzeugte hochreaktive Radikale, die sofort ihr zerstörerisches Werk begannen und das Gewebe rasch zersetzten.

»Die mit Dunkelleben infizierte Probe zeigt weiterhin keine Reaktion. Die schwarze Masse schirmt die Zellen komplett ab. So etwas habe ich noch nie gesehen ...«

Bumipol nahm die Worte seines Bruders nur unterbewusst auf. Gleichermaßen fasziniert wie beunruhigt, starrte er auf die rasant wechselnden Zahlen und Buchstaben des Hologramms. Seit er sich mit der Substanz beschäftigte, die vor etwa sechs Monaten erstmals in der chinesischen Denebkolonie entdeckt worden war, hatte er mehr als einmal an den Prinzipien der Wissenschaft gezweifelt, jenen Prinzipien, die sein Leben bestimmten und ihm Halt und Sicherheit gaben.

Dark Life – Dunkelleben. Ein ebenso dramatisch klingender wie passender Name. Das schwarze Material erinnerte in seiner Struktur an ein Virus, verfügte jedoch über rudimentäre DNS. Es war eine Chimäre, eine Fusion eigentlich nicht kompatibler evolutionsbiologischer Elemente. Wenn Bumipol seinen Emotionen nachgab, statt sich von nüchtern akademischen Überlegungen leiten zu lassen, verspürte er eine bohrende, nie zuvor gekannte Angst. Irrational, ja, aber nicht wegzudiskutieren.

Unwillkürlich wanderte sein Blick von den Datenreihen zum Zentralholo, das die infizierte Zellprobe in zwanzigfacher Vergrößerung zeigte. Das Dunkelleben hatte zahllose Filamente ausgebildet, die sich wie die Wurzeln einer Pflanze tief in die Gewebeschichten hineinschoben. Er kniff das rechte Auge zusammen. Sofort baute sich ein Ausschnittszoom auf und fokussierte auf eine einzelne Zelle.

Gespenstisch, zuckte es durch seinen Kopf. Einer der dünnen Fäden hatte die Zellmembran durchstoßen und war direkt in den Zellkern eingedrungen. Die Scanner registrierten eine Reihe von chemischen Verbindungen, die in einer normalen Zelle nichts zu suchen hatten. Der Faden sonderte also etwas ab. Dafür war die Menge an ATP – Adenosintriphosphat – im Zellwasser stark rückläufig.

Dieses Zeug entzieht dem ATP-Molekül den Zucker und wandelt ihn in Energie um, dachte Bumipol. Dadurch destabilisiert sich die molekulare Struktur, und das ATP zerbricht in einen Adeninrest und ein paar Phosphate.

Dieses Verhalten des Dunkellebens hatten sie bereits mehrfach beobachtet. Es entsprach dem Aktivitätsmuster extrem aggressiver Virenstämme, doch im Gegensatz zu herkömmlichen Viren hielt sich die schwarze Substanz von den Erbanlagen fern.

Es erobert den Zellkern, lässt die DNS dann aber in Ruhe. Warum?

»Erreichen zwei Sievert«, meldete Sianuk.

Bumipol fuhr sich nervös über den Hinterkopf. Seine Finger strichen über die kaum spürbare Erhebung der positronischen Schnittstellenbuchse, die in seine Schädelplatte implantiert war. Zehn Jahre lang waren er und Sianuk an dieser Stelle scheinbar untrennbar miteinander verwachsen gewesen. Die Ärzte hatten behauptet, dass eine Trennung der siamesischen Zwillinge nicht möglich sei, weil die beiden Brüder bestimmte Hirnareale gemeinsam benutzten.

Doch dann war NATHAN ins Spiel gekommen. Es war ein langer und kräftezehrender Prozess gewesen, aber schließlich hatten die Mediziner auf Mimas das Unmögliche vollbracht. Man hatte Bumipol und Sianuk operativ getrennt und Teile des Zwillingsgehirns durch von NATHAN zur Verfügung gestellte Posbi-Implantate ersetzt.

Damals waren Bumipol und sein Bruder erst zehn Jahre alt gewesen, doch die Erinnerungen an die nachfolgenden Monate waren auch nach über zwei Jahrzehnten noch so frisch wie am ersten Tag.

»Gehe auf zehn Sievert.«

Bumipols Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. Zehn Sievert brachten einen Menschen binnen weniger Wochen auf qualvolle Weise um. Angespannt verfolgte er, wie sich eine der Kontrollproben nach der anderen in einen formlosen Brei aus Wasser und Aminosäuren verwandelte. Lediglich die Petrischale mit dem Dunkelleben zeigte sich nach wie vor unbeeindruckt.

»Schneller!«, forderte Bumipol. »Du erhöhst viel zu langsam.«

»Ich will den Point of no Return nicht verpassen«, protestierte Sianuk. »Grundlagenforschung erfordert nicht nur Geduld, sondern auch Sorgfalt.«

»Große Güte.« Bumipol schüttelte den Kopf. »Wenn du mit dem Zitieren deiner goldenen Regeln der allgemeinen Wissenschaften fertig bist, tritt bitte endlich aufs Gas.«

»Meinetwegen.« Sianuk klang beleidigt, aber solche Zustände hielten bei ihm selten länger als ein paar Minuten an. Wenn sich Bumipol später bei ihm entschuldigte, war alles wieder in Ordnung.

Die Anzeige der Strahlungsintensität stieg in Sekundenfrist erst auf fünfzig, dann auf hundert und schließlich auf fünfhundert Sievert. Derart hohe Werte hatte man zu Beginn des 21. Jahrhunderts nur innerhalb von Atomreaktoren gemessen. Bumipol war während seines zweiten Studiums über eine Holodokumentation dieser Anlagen gestolpert, mit denen die Menschen noch bis ins Jahr 2044 Strom erzeugt hatten. Wenn man sie mit den modernen Fusionsmeilern verglich, waren diese sogenannten Atomkraftwerke tickende Zeitbomben gewesen – und tatsächlich waren sogar einige von ihnen außer Kontrolle geraten, mit verheerenden Folgen.

»Wie hoch soll ich gehen?«, fragte Sianuk.

»Mach einfach weiter. Ich sage dir schon Bescheid, wenn es genug ist ...«

Sechshundert ... siebenhundert ... achthundert Sievert. Nichts! Das war unmöglich. Kein biologisches Gewebe überstand eine derart mörderische Radioaktivität unbeschadet!

Als die Anzeige die tausend Sievert überschritt, gellte der Alarm.

Bumipol wich unwillkürlich zurück, als die Filamente des Dunkellebens wie Peitschenschnüre aus der Petrischale herausschossen und mit einem bösartigen Zischen im mittleren Schutzschirm der Isolationsblase vergingen. Der Alarm verstummte.

»Keine Gefahr«, meldete Sianuk. »Ich habe alles ...«

Er kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden. Mit einem lauten Knall brach die komplette Blase in sich zusammen. Entsetzt registrierte Bumipol, dass sich die beiden eben noch aktiven Schutzschirme abgeschaltet hatten. Die Zellproben waren somit nur noch durch eine wenige Millimeter dicke Kuppel aus Panzerglas von den Laborräumen getrennt.

»Was machst du da?«, schrie Bumipol. »Hast du den Verstand verloren? Fahr sofort die Schirme wieder hoch!«

»Das versuche ich ja«, gab sein Zwillingsbruder zurück. »Aber genauso, wie ich sie nicht abgeschaltet habe, kann ich sie auch nicht wieder einschalten.«

Erst da bemerkte Bumipol, dass sich in der Petrischale mit der infizierten Zellkultur erneut etwas tat. Aus einem handflächengroßen Stück Schwärze wucherten Dutzende dünner Tentakel hervor und tanzten zuckend durch das Kuppelinnere. Binnen Sekunden hatte das Dunkelleben seine Masse vervielfacht – und es wuchs immer schneller.

»Wir müssen hier raus!«, rief Sianuk.

»Wir müssen dieses Teufelszeug stoppen!«, korrigierte Bumipol. »Wenn es das Labor verlässt, ist die CREST verloren!«

Sein Bruder hatte längst reagiert und mit einer komplizierten Geste das Notfallprotokoll eingeleitet. Alle Laboratorien des Raumschiffs waren auf Schwierigkeiten wie diese vorbereitet. Die CREST II war permanent und an allen möglichen Orten der Milchstraße im Einsatz. Dabei stieß sie immer wieder auf unbekannte Phänomene, fremde Lebensformen und potenziell gefährliche Krankheitserreger. Deshalb verfügte sie über einen der modernsten und vor allem sichersten Forschungskomplexe der Menschheit, der in Sachen Ausstattung und Fachpersonal nur noch von den Einrichtungen auf Mimas, Luna und dem Terrania Medical Center auf der Erde übertroffen wurde.

Das Licht im Labor hatte seine Farbe in ein helles Rot geändert. Über Nanokanäle strömte das hochwirksame Dekon-Z, ein ultrastarkes Desinfektionsmittel aus den Hexenküchen von Aralon in die Panzerglaskuppel. Winzige Düsen wurden über ein im Glas integriertes Kapillarsystem mit »magischer Säure« beschickt, einer Mischung aus Fluorsulfonsäure und Antimonpentafluorid, und ließen die gefährliche Flüssigkeit als feinen Sprühnebel über den Zellproben abregnen. Zudem wurde das Innere der Kuppel in schneller Folge auf mehrere Tausend Grad Celsius aufgeheizt und dann bis knapp über den absoluten Nullpunkt heruntergekühlt. Was auch immer in den Petrischalen existiert hatte: Danach würde es nicht mehr da sein!

Ein leises Knacken ließ Bumipol zusammenzucken. Als er den haarfeinen Riss sah, der sich über einen Teil der Kuppelwandung zog, war es wieder so weit. Das Dunkelleben hämmerte mit elementarer Wucht auf die Grundfesten seiner Überzeugungen als Wissenschaftler ein – und stand kurz davor, sie endgültig einzureißen.

Wie jeder ernsthafte irdische Physiker hatte auch Bumipol die Arbeiten von Eric Leyden gelesen, seine bahnbrechenden Abhandlungen über das Creaversum und die Grundlagen der Interdimensionalität, die Werke über das Halatium und dessen an Magie erinnernde Eigenschaften, die man nie vollständig hatte ergründen können. Hatte Leyden damals, als er diese Forschungen betrieb, ebenfalls jene völlige geistige Leere empfunden, die Bumipol nun in ihrem Bann hielt?

Die schwarzen Tentakel waren noch zahlreicher als zuvor. Beinahe schien es, als hätten die Strahlung, Säure, Höllenglut und Weltraumkälte sie bloß zu noch größerer Aktivität angeregt, als wären die für jedes andere Leben absolut tödlichen Bedingungen, denen man sie ausgesetzt hatte, für sie ein Paradies. In das Klatschen, mit dem die Filamente auf das Panzerglas trafen, mischte sich das Knirschen und Klirren der zerberstenden Kuppel. Splitter zischten wie Geschosse durch die Luft. Die Positronik gab Rotalarm: Kontamination der CREST II mit einem unbekannten Erreger. Der Super-GAU!

»Das kann nicht sein«, sagte Bumipol na Ayutthaya leise. »Unsere Daten müssen falsch sein. So etwas ist nicht möglich ...«

Dann schossen mehrere Tentakel direkt auf ihn zu.

 

Zwei Stunden später hockte Bumipol mit seinem Zwillingsbruder in der kleinen Klause, die sie sich im Hauptlabor für den Fall eingerichtet hatten, dass sie während eines laufenden Experiments nicht in ihr gemeinsames Quartier zurückkehren wollten. Sianuk studierte ein Datenpad, schüttelte dabei immer wieder den Kopf und murmelte unverständliche Worte.

»Wenn das keine Simulation gewesen wäre«, sagte Bumipol düster, »wären jetzt alle tot. Oder schlimmer: wie ein gewisser Iratio Hondro mit Dunkelleben infiziert!«

Sianuk na Ayutthaya sah von seinem Pad auf und musterte Bumipol mit einem Stirnrunzeln. »Genau deshalb simulieren wir unsere Experimente ja«, gab er zurück. »Was soll dieses fatalistische Geschwätz? Es bestand zu keinem Zeitpunkt eine ernsthafte Gefahr.«

»Dass dieses schwarze Zeug überhaupt existiert, ist für mich Gefahr genug. Es macht mich wahnsinnig, dass wir nach wie vor nicht wissen, was es ist. Seit wir auf der Denebkolonie zum ersten Mal darauf gestoßen sind, rätseln wir daran herum. Die Daten, die wir über Hondro auf Mimas gewonnen haben – zumindest bis er sich aus dem Staub gemacht hat –, sind zwar umfangreich, aber eben nicht eindeutig.«

»Es ist organisch.« Sianuk legte das Pad weg, lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es enthält DNS, wenn auch keine vollständige Doppelhelix. Es ist extrem aggressiv. Es kann sich selbst replizieren. Es verbindet sich mit so gut wie jedem biologischen Gewebe. Es ist chemisch enorm reaktiv. Ich finde, wir wissen bereits eine ganze Menge.«

»Das ist die Sichtweise eines Idealisten«, erwiderte Bumipol. »Wo kommt es her? Warum finden wir es ausschließlich in den Geminga-Drusen? Warum tötet es Tausende chinesischer Kolonisten, aber nicht diesen Iratio Hondro? Zu viele Fragen und zu wenige Antworten.«

»Geduld und Sorgfalt«, mahnte Sianuk und hob sofort beide Hände, als Bumipol aufbegehren wollte. »Nur die Ruhe, Bruderherz. Doktor Steflov hat mir gerade seine Diagnosedaten von Eleonora Afarid geschickt. Die Rumalerin liegt noch immer im künstlichen Koma. Der gute Doktor hat Restspuren des Dunkellebens in ihrem Gehirn entdeckt. Es lagert sich offenbar direkt an den Axonen der Nervenzellen an und beeinflusst dadurch die Erregungsleitung.«

»Das ist der Mechanismus, über den Hondro direkt auf den Geist seiner Opfer zugreift.« Bumipol nickte. Die dramatischen Ereignisse auf Rumal waren erst wenige Stunden alt und standen ihm noch frisch im Gedächtnis. »Aber wie steuert er die Impulsgebung? Jedes Gehirn ist anders – und Hondro ist in der Lage, Hunderte von Individuen gleichzeitig zu kontrollieren. Ich habe mir Hondros medizinische Unterlagen aus seiner Zeit als Obmann von Plophos angesehen. Das Lakeside Institute hat meine Diagnose bestätigt: Er ist kein Mutant. Er hat nicht einmal die Anlagen zu einer paranormalen Begabung.«

»Dann hat ihn das Dunkelleben stärker verändert, als wir bisher angenommen haben«, stellte Sianuk fest. »Ich vermute, er projiziert die eigenen Gedanken unmittelbar in die Verschaltungen innerhalb der Großhirnrinde seiner Opfer. Wir wissen, dass unser Gehirn weit mehr Daten empfängt und verarbeitet als aussendet. Ein paar Gigabyte mehr oder weniger würden da gar nicht auffallen.«

»Aber wie kriegt er das hin?« Bumipol warf theatralisch die Arme in die Luft. »Schon die Übernahme einer kleinen Schiffsbesatzung würde weit mehr Impulskoordination erfordern, als ein menschliches Gehirn zu leisten imstande ist. Hat Steflov irgendwelche Erklärungsansätze hierfür gefunden?«

Sianuk nahm das Pad wieder auf und blätterte mit den Fingern durch die gespeicherten Dokumente. »Nein«, antwortete er schließlich. »Die Zerebralstruktur von Eleonora Afarid weist keine Modifikationen auf. Weder physiologisch noch chemisch. Vielleicht greift Hondro das Unterbewusstsein an.«

»Vielleicht«, stieß Bumipol missmutig hervor. »Vielleicht aber auch nicht. Sein Einfallstor kann ebenso gut der Schläfen- oder der Frontallappen sein. Oder er attackiert das Wachbewusstsein überhaupt nicht und arbeitet mit einer induzierten Hypnose. All diese Theorien sind nicht mehr als akademische Spekulationen, solange wir nicht mehr über die allgemeinen Vorgänge in unserem Hirn wissen.«

»Womit wir wieder bei der Grundlagenforschung wären.« Sianuk grinste. »Soll ich Steflov zu einer Konsultation einladen?«

»Meinetwegen.« Bumipol hob die Schultern. »Ich glaube nur nicht, dass es viel bringen wird. Sag ihm, dass ich mir diese Afarid gern persönlich ansehen würde.«

»Was soll das bringen?«

»Keine Ahnung. Aber im Moment stehen wir vor einer Wand. Wenn du bessere Ideen hast, würde ich sie liebend gern hören.«

Einige Sekunden lang sagte keiner der beiden Brüder na Ayutthaya etwas. Dann gellte erneut der Alarm durch das Labor – und diesmal war er nicht Teil einer experimentellen Simulation!

2.

Quaere et invenies

 

Perry Rhodan verfolgte das Schauspiel von seinem Sessel in der Zentrale der CREST II aus. Der flammende Stern stand im Frontsektor des kuppelförmigen Holodoms und schleuderte seine Protuberanzen nach allen Seiten. In jeder einzelnen Sekunde verschmolz der Gigant Millionen Tonnen Wasserstoff zu Helium und erzeugte dabei Unmengen an Licht und Wärmeenergie.

»Wenn der Fusionsprozess einer Sonne stoppt, weil ihr der Brennstoff ausgeht«, sagte Sarah Maas, »kann sie der Gewalt ihrer eigenen Schwerkraft nicht mehr standhalten und fällt in sich zusammen.« Die Funk- und Ortungschefin hatte die Rolle der Erzählerin übernommen, die die Bilder aus der Astronomischen Abteilung für alle Anwesenden kommentierte. »Je nachdem, wie viel Masse der Stern besitzt, verwandelt er sich in einen Weißen Zwerg, ein Schwarzes Loch ... oder eben in einen Neutronenstern.«

Die Holosonne verlor ihr Feuer und schrumpfte zu einer bedrohlich wirkenden, wabernden Kugel aus undefinierbarer Finsternis. Sie schwamm auf einer Scheibe aus blauem Licht. Aus ihren Polen schossen Fontänen aus flimmerndem Weiß wie die Wasserstrahlen eines Springbrunnens in die Höhe, zersplitterten auf ihrem Weg in Tausende von glitzernden Perlen und verteilten sich in der umgebenden Schwärze.

»Neutronensterne entstehen, wenn die Masse der Sonnenleiche etwa 1,4-mal bis dreimal so groß ist wie die Masse von Sol«, erläuterte Maas. »Sie bestehen nicht aus Atomen. Der Druck im Innern eines Neutronensterns ist vielmehr so hoch, dass die Elektronen in ihre Atomkerne stürzen, dort mit den Protonen verschmelzen und zu Neutronen werden. Der Stern wird dabei so stark komprimiert, dass sein Durchmesser nur noch zehn bis zwanzig Kilometer beträgt. Lediglich seine etwa einen Kilometer dicke Außenhülle enthält dann noch Elektronen, weil der Druck dort etwas geringer ist. Neutronensterne haben die größte Dichte aller bisher im Universum entdeckten Objekte.«

Auf der schwarzen Kugel erschienen dünne Linien, die wie Flüsse eines Mündungsdeltas mäanderten und sich rasend schnell auf der Oberfläche ausbreiteten. Nach und nach änderte der geschrumpfte Stern seine Farbe in ein dunkles Rot. Nur an den Polen sprühten grelle Lichtgeysire, als hätte man dort riesige Wunderkerzen entzündet.

»Bei der Geburt eines Neutronensterns herrschen Temperaturen von rund hundert Milliarden Grad Celsius. Außerdem ist die Gravitation so stark, dass die Fluchtgeschwindigkeit eines hypothetischen Objekts, das den Himmelskörper verlassen will, bei bis zu achtzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit liegen kann. Zur Erinnerung: Auf der Erde beträgt dieser Wert lediglich elf Kilometer pro Sekunde.«

Die in der Zentrale schwebende Kugel hatte angefangen, sich zu drehen, wurde schneller und schneller. Das helle Aderngeflecht auf ihrer Schale verschwamm mit dem düsteren Rot zu einem milchigen Rosa.

»Neutronensterne rotieren unglaublich schnell«, sagte Maas. »Geminga dreht sich pro Sekunde ungefähr fünfmal um sich selbst, ist dabei aber immer noch langsam. Es gibt ähnliche Objekte, die sich mehr als tausendmal pro Sekunde um ihre Achse drehen. In der Zeit, die die Erde benötigt, um einen einzigen Tag-Nacht-Zyklus zu vollenden, schaffen sie fast hundert Millionen Umdrehungen.«

Die Rotation der Holokugel war inzwischen mit bloßem Auge nicht mehr aufzulösen. Ihre Ränder flimmerten wie die Luft über einer asphaltierten Straße im Hochsommer.

»Durch die starke Drehbewegung entstehen große Mengen an Energie, die als Strahlung freigesetzt werden. Allerdings kann diese aufgrund des gewaltigen Magnetfelds nur an den Polen entweichen.«

Erneut veränderte sich die Darstellung unter dem Holodom. Für einen Moment sah es aus, als hätte sich der Neutronenstern wieder in eine Sonne zurückverwandelt. Dann war die Kugel zu einer schwach leuchtenden Sphäre geworden, die von einer stilisierten Rotationsachse und einem schräg dazu verlaufenden Netz von Magnetfeldlinien durchschnitten wurde.

»Pulsare sind spezielle Neutronensterne«, erläuterte Maas die Simulation. »Bei ihnen stimmt die Achse des Magnetfelds nicht mit der Rotationsachse überein. Dadurch wird der Stern zu einer Art Leuchtturm. Er sendet sozusagen zwei Wellenbündel aus, die man klar und deutlich anmessen kann. Es entsteht ein je nach Rotationsgeschwindigkeit charakteristischer Puls, den unsere Positroniken unter anderem zur Positionsbestimmung vor Überlichtetappen nutzen. Und genau deshalb heißen die Dinger auch Pulsare.«

»Vielen Dank«, sagte Perry Rhodan. »Ich denke, dass uns allen diese kurze Auffrischung unserer astronomischen Kenntnisse gutgetan hat.«

Der Holodom zeigte nun wieder eine positronisch aufbereitete Darstellung der tatsächlichen stellaren Umgebung. Die CREST II hatte den rund achthundert Lichtjahre von der Erde entfernten Standort des sogenannten Geminga-Pulsars erreicht, neben Vela der erdnächste Pulsar. Der Name leitete sich von der etwas sperrigen wissenschaftlichen Bezeichnung »Gemini Gamma ray source« ab. Das Objekt war bereits im Jahr 1972 durch Satellitenmessungen entdeckt worden.

»Alle Ortungsergebnisse stimmen mit den gespeicherten Werten der Datenbanken überein«, meldete Akilah bin Raschid, die Erste Offizierin.

Rhodan nickte. Er wusste, dass es bereits vor mehr als fünfundzwanzig Jahren eine Forschungsexpedition in diese Region der Galaxis gegeben hatte. Damals war man auf der Suche nach den sogenannten Geminga-Drusen gewesen, Hyperschwingquarzen von außergewöhnlicher Güte, die an Reinheit und Stabilität alles übertrafen, was man zuvor in der 5-D-Technik gekannt hatte. Man war auch fündig geworden; allerdings war der Großteil der Kristallstrukturen hyperphysikalisch ausgebrannt gewesen. Für den spärlichen Rest hatte sich der Aufwand einer kommerziellen Förderung nicht gelohnt.

Als Rhodan aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm, drehte er sich kurz zur Seite. Merkosh hatte die Mutantenlounge verlassen und war neben ihn getreten. Offenbar war es ihm in dem speziell für Besucher eingerichteten Aufenthaltsbereich der Zentrale langweilig geworden. Die Offizierin in der Uniform des Sicherheitsdiensts, die dem Oproner zugeteilt war, wirkte angespannt, ließ ihn jedoch gewähren.

Rhodan seufzte innerlich. Obwohl Merkosh nun schon seit einem halben Jahr offizieller Staatsgast der Terranischen Union war, begegneten ihm viele Menschen noch immer mit Misstrauen. Insbesondere wenn er die Nähe des Protektors suchte – und das tat er häufig –, legten die Sicherheitskräfte ein beinahe paranoides Verhalten an den Tag. Die permanente Anwesenheit eines persönlichen Aufpassers war ein Zugeständnis gewesen, das Rhodan schweren Herzens hatte machen müssen.

»Ein faszinierender Ort, finden Sie nicht?«, fragte Rhodan.

»Zweifellos«, stimmte der Gläserne zu.

Diese Bezeichnung für den zwei Meter großen Außerirdischen hatte sich aufgrund seiner teilweise transparenten Haut schnell durchgesetzt. Der Anblick der von außen fast frei einsehbaren Blutgefäße und Organe, die unter der milchigen Epidermis arbeiteten, war nach wie vor gewöhnungsbedürftig, zumal Merkosh in Sachen Kleidung einen eher freizügigen Stil bevorzugte und seinen Oberkörper meist unbedeckt präsentierte. Für einen Moment wurde Rhodan durch das Gehirn abgelenkt, das hinter den gleichfalls durchsichtigen Schädelknochen schimmerte, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Weltraum.

Die CREST II hatte gerade das gigantische Materieband durchquert, das die Geminga-Region wie ein Staubnebel umgab. Es bestand zu großen Teilen aus schweren Elementen wie Gold oder Uran und war früher womöglich ein Planet gewesen. Die Gravitation und der sogenannte Pulsarwind – hauptsächlich elektrisch leitfähiges Plasma – rissen immer wieder große Materiemengen aus dem Band heraus. Im Laufe der Zeit war auf diese Weise in einer Entfernung von rund zwölf Lichtstunden vom Pulsar ein großes Massefeld entstanden, eine Ansammlung von Asteroidentrümmern und Milliarden Kleinstkörpern, die direkt in der Projektionsrichtung eines der beiden Impulspole des Pulsars lag.

Der Drusenfriedhof, dachte Rhodan. Dort hatte die seinerzeitige Expedition Unmengen der ausgebrannten Geminga-Geoden gefunden. Die Kristallperlen hatten in den meisten Fällen einen Durchmesser von wenigen Zentimetern. In tieferen Gesteinsschichten traten sie sogar oft nur als mikroskopische Strukturen auf, deren Abbau alles andere als einfach war.

»Absolut nichts.« Die Stimme von Sarah Maas klang wütend und enttäuscht zugleich. Nach ihrem kurzen Auftritt als Dozentin hatte sie sich wieder ihren Ortungskontrollen zugewandt. »Wenn sich Hondro hierher zurückgezogen hat, versteckt er sich verdammt gut.«